Eduard Graf von Keyserling
Bunte Herzen
Eduard Graf von Keyserling

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6. August.

Es überraschte mich heute morgen, als Joseph die Vorhänge von den Fenstern zurückzog und einen Strom gewaltsamen Sonnenlichtes in das Zimmer ließ, daß das gestrige Erlebnis fort war oder doch nur wie ein Traumbildchen vor mir stand, das vor der Morgensonne in eine verschleierte Ferne rückte.

Etwas war doch geblieben, eine mir ungewohnte Freude daran, den Tag zu beginnen, als stände etwas Angenehmes bevor. Und als ich dann meinen Tee trank, die Zeitungen und die Briefe las, wollte der gestrige Besuch bei Daahlens fast ein gewöhnliches Gesicht annehmen. Ein Teebesuch – eine hübsche Frau – was weiter. Ich konnte das Mystisch-Verhängnisvolle darin nicht mehr so recht finden, dessen ich gestern doch so sicher war. Ich mußte plötzlich an die Zeit denken, da ich als Gymnasiast in den Sommerferien meine Cousine Alma liebte und am Morgen erwachte, froh den verliebten Tag zu beginnen. Aber es war doch da –, nur daß am Morgen unser Denken wacher ist und dieses Denken ist dem Fühlen gegenüber so plump. Das Feinste unseres Denkens liebt die Dämmerung wie Claudias Augen.

Am Vormittage bin ich gewohnt zu arbeiten. Die goldene Kette muß zurückgestellt werden. Einer leichten, etwas mechanischen Arbeit bedurfte ich jetzt. Ich begann einen platonischen Dialog zu übersetzen: »Die Liebenden« – eine etwas pädagogische Liebe. –

Ein sicheres Zeichen, daß etwas in mir vorgeht, war eine gewisse Unruhe – die machte, daß ich nach einiger Zeit die Feder fortlegte und ausging. Ich hatte ohnehin noch etwas mit meinem Schneider zu besprechen. Ich ging also in die Mittagsglut hinaus in die Stadt, die um diese Zeit wie eine große gemeinsame Wohnstube (schlecht gelüftet) aussieht. Ein jeder tut, als sei er allein. Niemand wundert sich, wenn ich vor fremden Haustüren auf fremden Bänken sitze – vor den niedrigen Fenstern stehe und zuschaue, wie da drinnen der Mittagstisch gedeckt wird. Männer in Hemdsärmeln lehnen zu den Fenstern hinaus. Mädchen stehen an den Haustüren, gähnen und strecken die Arme – wie im Bett. Das unterhielt mich. Diese ganze Welt war für mich so beiläufig, ich war hier zu Besuch, um die Zeit zu vertreiben. Meine Wirklichkeit war die dämmerige Wohnstube da draußen, das bunte Figürchen unter dem alten Steinportal. Und ich begann mich wieder stark darauf zu freuen.

Der Gang hatte mich ermüdet. Nach dem Essen als ich den Livius zur Hand nahm, wurden mir die Augenlider schwer. Ich legte mich zurück. Die Fliegen brummten in einem Sonnenstrahl, die Lupinen und Erbsenblüten dufteten sehr süß. Es war köstlich sentimental ruhevoll. Nur eigentümlich, nicht an Claudia dachte ich, sondern an Alma – die Cousine, die ich als Gymnasiast geliebt hatte. Sie trug weiße Kleider, breite, bunte Schärpen, einen über den Rücken niederhängenden Zopf und Schnürstiefelchen. Wenn sie die Gartenwege entlang ging, folgte ich ihr gern, stach mit einem kleinen Spaten ihre Fußspuren aus dem Wege – legte den Sand in ein Körbchen und trug ihn zu einem stillen Platz im Park, dort häufte ich ihn zu einem Hügel auf, dem Almahügel – das Monument meiner Liebe.

Mit dem Umkleiden, um zu Daahlens zu gehen, begann ich ziemlich früh. Als ich vor dem Spiegel stand, fiel es mir auf, daß wir doch recht fremd unserer äußeren Erscheinung, unserem Gesicht gegenüberstehen. Ich lächele und will in dieses Lächeln eine ganz innige Bedeutung legen, ich fühle es – wie es vom Herzen warm in die Lippen steigt, und nun seh ich dieses Lächeln – fremd – mir unverständlich. Unser Äußeres führt doch die Aufträge, die unser Wesen ihm gibt, nur sehr obenhin aus. Mein Gesicht, regelmäßig etwas feierlich, ist darin glaube ich recht ungelenk, nur die Augen, graublau mit einem intensiven ernsten Blick – die führen manchen Auftrag besser aus.

Die Sonne war schon im Untergehen, als ich in die große Allee einbog. Der Duft der von der Hitze getrockneten Blätter auf dem Wege, des reifen Hafers, der in Garben auf dem Felde stand, – gab mir sofort alles wieder, was ich gestern erlebt hatte.

In der Villa waren heute die Vorhänge zurückgezogen. Die Fenster und die Glastüren zur Veranda standen offen. Von dem ein wenig tiefer liegenden Garten – aus dem Schatten der mächtigen alten Bäume wehte es kühl und ein wenig feucht in die Zimmer. Claudia kam mir an der Verandatüre entgegen. Sie trug ihr blaues Kleid und eine Korallenschnur um den Hals. Die braunroten Augen sahen mich wieder mit dem ruhig wartenden Blick an. »Oh«, sagte sie, »wie hübsch, daß Sie kommen. Mein Mann wird sich freuen. Er ist eben in sein Zimmer gegangen, um etwas an dem Manuskript zu ändern, das wir heute gelesen haben.« Wir lehnten am eisernen Geländer der Veranda und schauten in den Garten hinaus. »Ja«, sagte ich, »ich habe mich den ganzen Tag darauf gefreut.«

Ich wunderte mich, daß das so einfach herauskam, denn ich hatte mir viel kompliziertere Dinge zurechtgelegt.

»Heute wird es hübsch hier«, bemerkte Claudia, »ein wenig Mond ist schon da.« Die Sonne war untergegangen, die Luft wurde blau. Über den zackigen Wipfeln der großen Ahornbäume hing eine schmale, weiße Mondsichel. Wir schwiegen. So an dem Gitter zu stehen, nebeneinander und in das Herabdämmern hinein zu blicken – ihre Gegenwart zu fühlen war wunderbar ruhevoll. Aber endlich mußte doch etwas gesagt werden.

»Wie heimlich dunkel diese Wege sind,« begann ich, »dort unten höre ich auch Frösche.«

Claudia nickte: »Ein kleiner Weiher ist unten. Die Frösche, ja die höre ich kaum mehr, ich bin sie so gewohnt. Die Wege – ja sie sind sehr heimlich, später im Jahr etwas unheimlich, wenn so die Blätter rascheln. Mein Mann darf abends nicht heraus dann. Ich gehe gern in der Dunkelheit da umher.« – »Allein?« fragte ich. – »Ja«, sagte sie, »oder nein, Julchen geht hinter mir her.«

»Julchen?«

»Ja – Sie kennen sie nicht – natürlich. Unsere Mamsell. Sie ist schon lange hier.«

»Julchen«, meinte ich, »klingt so gemütlich. Ich glaube nicht, daß es unheimlich sein kann, wenn Julchen hinterher geht.«

Sie lächelte ein wenig.

»Gott! ich bin an Julchen so gewöhnt, daß ich sie vergesse. Es ist wie mit den Fröschen.«

»Ich möchte dieses Julchen doch sehen«, meinte ich.

»Ich will sie Ihnen mal zeigen«, sagte Claudia.

Wir schweigen wieder.

Unten am Weiher begann ein melancholischer Wasservogel immer den gleichen hellen Ton vor sich hinzusingen und aus den feuchten dunklen Gängen des Parkes wehte uns ich weiß nicht welche Traurigkeit an. Ich hatte plötzlich starkes Mitleid mit der kleinen Frau, die einsam hier durch die raschelnden abendlichen Herbstwege ging – aber Mitleid, das fast körperlich wohltat. Das war mir neu und interessant an mir. Aber das ist wohl immer so, wenn uns ein anderes Leben ganz nahe kommt.

»Und dann?« fragte ich. Claudia warf den Kopf ein wenig zurück, um mich anzusehen. – »Wie?« –

»Ich meine, was Sie dann tun nach diesem Gange?«

Ich fragte sie aus, wie wir ein kleines Mädchen nach seinem Tage ausfragen. Es war mir, als hätte ich ein Eigentumsrecht auf dieses Leben.

»Dann«, sagte sie und zuckte leicht mit den Schultern, »dann lese ich meinem Manne vor.«

»Wieder das Manuskript?«

»Nein, andere Reisebeschreibungen. Er liebt es, den Fehlern der anderen auf die Spur zu kommen. Er sagt, die anderen lügen.«

»Das mag wohl sein.«

»Ja, das werden sie wohl«, meinte Claudia, unendliche Gleichgültigkeit im Ton. Hinter uns erscholl Daahlens knarrende Stimme. – »Bitte, mein Lieber, versuch' doch nur zehn Kilometer auf diesen Steinen zu gehen, ja, ja.« Er sprach mit dem Baron Spall – Fred Spall. Sehr lärmend begrüßte er mich: »Ach, das ist schön. Also Sie haben wir auch eingefangen. Das wird gemütlich. Schön hier, was? Das ist 'n Garten. Mystisch heiliger Hain.« Lebhaft sprach er auf mich ein.

Ich hörte nicht zu, ich mußte hinübersehen, zu Spall hinübersehen, der sich neben Claudia an das Gitter lehnte, sich vertraulich zu ihr beugte – er war ja ein Vetter – und etwas erzählte und lachte. Claudia blickte gerade vor sich hin und ihr schöner Mund zuckte so seltsam wie in einer Qual. Natürlich, ich verstand. Spall war verliebt in sie und sie mochte ihn nicht, den schönen Spall mit dem schmalen Mädchengesicht, den sentimentalen Augen und den blanken, blonden Locken. In dem hübschen Mädchengesicht nahm sich das Monokel im linken Auge und das böse Lächeln der knabenhaft roten Lippen fast gespensterhaft aus.

»Und das Essen, Claudia, Kind,« rief Daahlen, »wie weit ist's denn?« – »Gleich,« sagte Claudia, »Julchen holt den Wein.« Daahlen lachte sehr laut. – »Sehr gut, unsere Vorsehung heißt Julchen. Wir wandeln im heiligen Haine und Julchen sorgt für den Leib.«

Das Abendessen war sehr gepflegt und Daahlen lachte und erklärte und sprach von den Speisen aller fünf Weltteile. Er ließ kaum einen anderen zu Wort kommen. Nur Spall unterbrach ihn zuweilen, um eine Stadtnachricht mitzuteilen. Daahlen fragte dann weiter und sie begannen wild zu klatschen. Ich schwieg soviel wie möglich, es war mir angenehm, mit Claudia zusammen zu schweigen, es war, als verstünde sich unser Schweigen. Claudia, nah' auf ihren Teller niedergebeugt, aß aufmerksam die kleinen, guten Sachen, Eier à la Meyerbeer, Hühnersteaks mit Krebssauce.

»Sie essen gern?« fragte ich sie halblaut.

»Ja,« sagte sie ernst, »wenn es etwas Unterhaltendes ist.«

Spall hatte das gehört und lachte: »Das ist echt Claudia, verlangt von dem armen Hühnerkotelett, es soll sich essen lassen und dabei unterhaltend sein.« Er hatte dabei eine Art, sie mit den sentimentalen Augen anzusehen, als gehörte sie ihm. Claudia errötete leicht und schob mißmutig die Unterlippe vor, wie ein böses kleines Mädchen: »Na, ja, dabei ist doch nichts.«

»Echt weiblich«, dozierte Daahlen. »Die Frauen sagen wie Römer zu den Gladiatoren: stirb, aber gefall' mir. Mir fallen da die – Neger ein.«

Ich hörte nicht recht, wie es bei den Negern war, ich dachte an Spall. Der konnte mich nicht beunruhigen.

Nein, mein Lieber, so kommst du ihr nicht nah' mit diesen Augen, die keine Distanz halten!

Die Fenster zum Garten hin standen offen. Die tiefe Dunkelheit der großen Bäume schaute herein, über den schwarzen Wipfeln hatte die Mondsichel jetzt ein starkes weißes Leuchten.

»Hören Sie die Frösche – unsere Tafelmusik«, sagte Daahlen.

Nach dem Essen gingen wir wieder auf die Veranda hinaus, saßen in bequemen Korbstühlen. Der Diener brachte kalte Ente in silbernen Bechern. Die große Ruhe der Nacht machte auch Daahlen eine Weile schweigsam. Dann wandte er sich an mich und sprach von einer Mondnacht am Kongo. Claudia und Spall saßen etwas abseits. Spall sprach leise. Einmal antwortete Claudia, schnell, hart, wie mir schien. Du arbeitest für mich, mein Lieber, dachte ich. Ich wunderte mich, wie glücklich und sicher ich mich fühlte. Spall erhob sich. – »Komm,« sagte er, »wir wollen ein wenig zu den Fröschen gehen.« – Claudia erhob sich auch, machte einige Schritte, dann wandte sie sich hastig – ja, ich täusche mich nicht, hilfesuchend zu mir. »Ach, Herr von Brühlen, ich wollte Ihnen ja den Weiher zeigen.« Ich stand ein wenig zögernd auf. Konnte ich Daahlen allein lassen? In dem Lichte, das durch die Türe auf die Veranda fiel, sah ich deutlich, wie Spalls hübsches Gesicht sich verzog. Er kehrte kurz um und setzte sich in seinen Stuhl zurück. »Ach so – dann will ich Daahlen nicht allein lassen«, meinte er. »Machen wir ein Ecarté?« Claudia und ich gingen in den Garten hinunter. Es machte mich zuerst ein wenig befangen, so allein mit ihr in die Nacht hineinzugehen. Unter den Bäumen war es kühl wie unter einem Kirchengewölbe und sehr dunkel. Ich hörte nur den leisen Ton ihrer Schritte und der leichten Musselinschleppe auf dem Kies. Dann sprachen wir von dem Garten und von der Hitze und von Lavendel, glaube ich, der von der Terrasse her zu uns herüber duftete. Höflich und ruhig waren unsere Stimmen, aber ich es empfand es deutlich, wie die Dunkelheit uns eng verband. Wir waren einander viel näher, als unsere Stimmen einander waren; ich spürte deutlich, als hätte ich sie gefaßt, ihre Hand in der meinen, schmal und kühl wie nächtliche Blumenblätter; ich fühlte, wie ich den Arm um ihre Taille legte, der Skabiosenstrauß an ihrem Gürtel mußte jetzt ein wenig feucht vom Tau sein. Gott, die wirklich äußere Berührung ist doch immer das letzte Symbol, die letzte Hilflosigkeit dieser heimlichen Zwiesprache unserer Körper. Ich weiß nicht, wie das Gespräch darauf kam, aber Claudia sagte: »Sie heißen Magnus?«

»Ja, Magnus!« erwiderte ich. »Ich bedaure das. Man heißt eigentlich nicht Magnus.«

»Ein Familienname?«

»Ja, mit dem Namen geht es, wie mit dem Leberflecken, den ein Ahne hat, und dann taucht er immer wieder auf.«

»Ich liebe meinen Namen auch nicht«, meinte Claudia sinnend. »Claudia klingt so, wie – wie etwas, das nicht lebt.« »Claudia«, wiederholte ich und versuchte etwas Musikalisches in den Ton zu legen, das mißlang jedoch. »Früher stellte ich mir dabei eine große römische Gestalt vor, schwere, gerade Gewandfalten.«

»Und jetzt?«

»Jetzt – ich las den Namen gestern im Livius und da, da spürte ich den Duft von dem großen Beet dort vor Ihrer Treppe.« »Ach das,« sagte Claudia, »das riecht nach Einsamkeit.«

»Nach Einsamkeit?«

»Ja, finden Sie das nicht? Wenn die Nachmittagssonne grell darauf scheint und die Blumen so warm durcheinander duften, das ist so einsam – so einsam.«

Wir blieben am Weiher stehen, eine grüne Pflanzendecke lag auf dem Wasser. Der Mond legte ein wenig weißes Licht auf die schwarze Fläche.

»Was steht da drin?« fragte ich – denn mitten im Teich stand eine große dunkle Gestalt und schien ihre Arme in die Finsternis hinauszustrecken.

»Das dort«, sagte Claudia, »ist eine Danaide aus Stein, aber ihre Hände und das Sieb sind fortgebrochen.«

»Na, dann hat sie also Ruhe«, bemerkte ich. Claudia lächelte ein wenig. »Ja – ja – nun hat sie Ruhe.«

Langsam gingen wir am Ufer entlang, hörten den Fröschen zu, die unter der Pflanzendecke eifrig plauderten, erzählten, der eine dem anderen das Wort vom Maul nahm. Ich war in ganz unwahrscheinlicher Stimmung, sehr weit von allem, was mir sonst wirklich schien, allein mit Claudia in dieser dämmerigen Welt, über der es wie Schmerz lag, aber wie Schmerz, den ich mit Claudia gemeinsam zu tragen hatte, als gingen wir engverbunden einen gemeinsamen Leidensweg. Das ist, glaube ich, sehr charakteristisch für meinen Zustand. Claudia bog in einen dunklen Laubengang ein, der ein wenig steil hinauf dem Hause zuführte. Die Dunkelheit brachte sie mir wieder ganz nah – mir war es wieder, als nähme ich ihre kleine Gestalt, ja als küßte ich ihren wundervollen kühlen Mund.

»Sie lieben nicht die Einsamkeit, Baronin?« fragte meine Stimme höflich.

»Ach Gott!« erwiderte Claudia, »ich bin sie so gewohnt – so – so – wie –«

»Julchen«, schlug ich vor.

Sie lächelte. »Ja – wie Julchen.«

»Sind Sie soviel allein gewesen?« fragte ich, was vielleicht zu dreist war.

»Das ist es nicht«, meinte sie. Einsam – ist man, glaube ich, wenn man wartet – sitzt und wartet. Warten macht einsam.«

»Sehr richtig«, schaltete ich ein – was stillos war.

»So bei uns zu Hause«, fuhr Claudia fort. »Wir waren fünf Schwestern, immer nur ein Jahr zwischen uns – wir waren immer zusammen. Wir kamen wenig hinaus – wir gingen auch ungern ins Dorf. Unsere Kleider saßen so schlecht. Ich glaube, mein Konfirmationskleid war das erste, das nicht zwei Schwestern vor mir getragen hatten, ich war so klein. Es war kein Geld da und wir mußten sehr sparen.« Sie lachte mit dem harten Unterton des Lachens halberwachsener Mädchen.

»O!« sagte ich nur, was ich jetzt bedaure.

»Ein Schusterjunge sagte, wenn wir vorübergingen – ach, die fünf Modejournale. – Beliebt waren wir nicht. Auch zu Hause, wenn was passierte, waren immer die fünf Komteßchen schuld.«

Ich hätte etwas sagen sollen, ich sagte jedoch nichts – ich liebte Claudia nur sehr stark in diesem Augenblicke.

»So trieben wir uns in dem großen Garten umher «, erzählte Claudia weiter und ich glaubte ihrer Stimme anzuhören, daß sie lächelte. »Viel wurde für diesen Garten nicht getan. Nur Kohl war da gepflanzt und die Obstbäume waren vermoost. Aber viel Stachelbeeren waren da. Auch die waren zurückgegangen, sie waren klein und haarig geworden. Bei denen lagen wir gern. Wenn die Sonne auf Stachelbeerbüsche scheint, das riecht nach warmer Wolle, nicht wahr?«

»Ja – ich – ich erinnere mich recht –«

»Ja und das ist einsam, wir lagen da, aßen die kleinen haarigen Beeren – und warteten, daß etwas kommen sollte.« Gott! Wie deutlich ich sie sah, die Mädchen mit den hellroten Haaren und schlechtsitzenden Kleidern und den schönen, wartenden Gesichtern bei den besonnten Stachelbeerbüschen – –

»Und es kommt immer«, sagte ich.

»Ja – natürlich«, erwiderte Claudia.

»Und dann«, fuhr ich fort – ich unterstrich die Worte –, »dann müssen wir gehorchen.« Vielleicht etwas lebhaft kam das heraus.

Claudia blieb stehen. Ihre Stimme wurde jetzt leise vor Erregung: »Nicht wahr, wir müssen – ganz gleich, wir müssen.« Das war, glaube ich, etwas Entscheidendes, was ich da gesagt hatte.

Wir traten aus dem Dunkel der Bäume auf die Terrasse vor dem Hause hinaus. Auf der Veranda, wie ein gelbes Lichtbildchen in all dem Schwarz, sahen wir die beiden Herren beim Schein zweier Kerzen mit Weingläsern bei den Karten sitzen, die Profile hell beschienen. Um Spalls Kopf legten die blonden Locken ein schwaches goldenes Glänzen. Claudia lachte lustig auf. »Das ist hübsch«, meinte sie. Ich wunderte mich, daß sie nach der Erregung, die wir beide eben gefühlt hatten, so lachen konnte. Als wir auf die Veranda kamen, bemerkte Spall spöttisch: »Nun – in Lyrik gemacht?« Dabei sah er Claudia wieder mit dem seltsam gierigen Besitzerblick an. Claudia wandte sich ab und trat in den Schatten an das Geländer zurück. »Du treibst sie gewaltsam zu mir her, mein Lieber«, dachte ich.

»Famos da unten,« begann Daahlen, »Stimmung, nur zuviel Stimmung. Meine Frau liebt das. Ich nenne das Depression kneipen.«

Bald darauf gingen Spall und ich fort. Unterwegs bemerkte Spall:

»Eine merkwürdige Frau – meine Cousine« – »Eine scharmante Dame«, erwiderte ich. Das war das Kälteste, was ich fand, das errichtete gleichsam eine Barriere um Claudia.

So – und jetzt will ich schlafen – nicht denken. Diese Gefühle dürfen wir nicht jeden Abend sorgsam wie unsere Kleider zusammenfalten und fortlegen. Mir ist's, als säße ich in einem Traum und müßte mit ihm sehr behutsam umgehen, um nicht zu erwachen.

8. August.

Das kann ich wohl jetzt schon mit Bestimmtheit sagen, die Liebe ist eine Beschäftigung – eine Beschäftigung, welche die Tage ausfüllt.

Bisher in meinem Leben habe ich, glaube ich, wenig für andere getan. Es hat sich so gemacht, daß ich alles nur für mich tat. Jetzt ist es mir, als täte ich alles, auch das Geringfügigste, für einen anderen – für sie. Bisher ließ ich die Menschen nicht nahe an mich herankommen – ich mußte allein sein können. Jetzt ist es mir, als sei ich nie allein – ich spüre immer die Gegenwart eines andern – ihre Gegenwart. Und was tue ich denn all diese Tage voll grellen Sonnenscheins hier hinter meinen gelben Vorhängen im starken, süßen Duft der Erbsenblüten und Edellupinen. Ich übersetze Plato, sehe Korrekturen nach, ordne meine Bibliothek, aber eigentlich tue ich immer etwas anderes – und immer dasselbe. Fühlen ist die Hauptbeschäftigung. Ich verstehe die Feldgrille jetzt, die den langen Sommertag hindurch bis in die Nacht hinein eifrig, leidenschaftlich denselben Ton vor sich hingeigt, als wäre dieser Ton das einzig Wichtige in der Welt. Dieses sind Beobachtungen, die ich gesichert halte. Zu Daahlens wollte ich diesen Abend nicht gehen. Das schien mir richtig zu sein. Claudia sollte wieder einmal allein durch den Park gehen, allein im Mondenschein am Weiher stehen. In solchen Augenblicken des einsamen Fühlens wachsen unsere Empfindungen klarer und stärker, als in den beruhigenden und berauschenden Augenblicken des Zusammenseins. Ich ging aber am Abend zur Allee hinaus, setzte mich auf eine Bank und sah zu, wie die Abendsonne in den Fenstern der Daahlenschen Villa brannte. Dort wollte ich sitzen, bis die Dunkelheit kam. Es würde mir gut tun, meinte ich, umgeben zu sein von der flüsternden Gemeinde der Liebespaare. Zu mir auf die Bank setzte sich ein kleines Ladenfräulein, ein rundliches, blondes Mädchen. Sie legte die Pappschachtel, die sie trug, neben sich auf die Bank. Müde streckte sie die Füße von sich, klappte die Spitzen der gelben Schuhe aneinander. Den kleinen Knabenstrohhut schob sie ein wenig zurück, einige feuchte blonde Löckchen kräuselten sich auf der Stirn. Das Gesicht war rund und rosa, hübsch weich waren die nemophilenblauen Augen zwischen die ein wenig fetten Augenlider gebettet. So ein ruhevoller Friede lag über der Gestalt. Es war ordentlich beruhigend, daß dieses Mädchen neben mir saß. Sie schaute zu mir herüber und dann wieder fort – wie sie das alle tun. Diese Mädchen brauchen alle ruhig und sicher dieselbe Methode – wie beim Bügeln oder Handschuhanziehen. Wenn sie sich bewährt hat, wozu eine neue suchen? So begann ich mit ihr zu sprechen: – Es war heiß. – Ja, es war heiß. – Sie wollte wohl hier warten, bis es kühl wurde. – Freilich, das wollte sie. – Wartete sie sonst noch auf jemanden? – Nein, auf wen denn? – Nun, man ist doch zu zweien an Sommerabenden. – Das wohl – aber sie hatte keinen. – War er fort? – Ja – fort. Ein tiefer Seufzer straffte die rot- und weißgestreifte Bluse. »Sie heißen Toni?« sagte ich.

»Wie wissen Sie?«

»Sie sehen so aus.«

»Ja, Toni Ledrer, ich bin bei Großmann im Handschuhladen in der Herrnstraße.« – »O ich weiß, das ist der große Laden, in dem es immer so dämmerig und feierlich ist. Eine strenge, ältere Dame mit einer goldenen Brille sitzt an der Kasse und die jungen Mädchen streichen ganz still und ernst den Kunden die Handschuhe über die Hände.« – »Die Alte ist böse«, beichtete Toni, »und sprechen darf man gar nicht und wenig sitzen.«

»Dann kommen Sie abends hierher, um zu sitzen und zu sprechen?«

»Ja, wenn wer da ist zum Sprechen,« meinte Toni träumerisch. »Ich wohne so hoch, da sind die Nächte so heiß. Man hat keine Lust zu Bett zu gehen.«

»Sie haben wohl so eine kleine Lampe mit gelbem Licht und stehen ganz weiß vor dem Spiegel und heben die Arme hoch, um sich das Haar aufzubinden« – –

Toni sah mich erstaunt an: »Nun ja, – wie soll man das anders machen?« Die Dämmerung war gekommen. Durch die Blätter der Kastanien blitzte der Mond.

»Gehen wir ein wenig«, schlug ich vor.

Toni stand gehorsam auf, strich ihr Kleid glatt und nahm die Pappschachtel. Langsam gingen wir die Allee hinab und bogen in die kleinen, finsteren Nebenwege ein.

»Nehmen Sie nicht meinen Arm?« fragte ich.

»Ich bin so frei«, erwiderte Toni. Sie nahm meinen Arm, wie alle diese Mädchen unsere Arme nehmen. Sie hängen sich ein wenig schwer ein, drücken unsern Arm leicht gegen ihre Brust. Zu sagen hatten wir uns nichts. Es war auch genug, so aneinandergelehnt zu spüren, wie unser Blut den gleichen Takt hielt – es tanzte zusammen. Und Tonis hatte einen friedlich-energischen Takt. Wenn an einer Biegung des Weges plötzlich die Mondhälfte in einem hellen, leeren Himmel sichtbar wurde, dann blinzelte Toni hinauf und sagte: »Wie schön. Ach, überhaupt der Mond.«

»Gehen wir zu Bohrer essen«, schlug ich vor.

»Das ist ja nicht nötig«, meinte Toni, »heute am Werktag.«

Wir gingen doch hin. Auf der stillen Veranda erregte unser Erscheinen Aufsehen. Der alte Herr, der Herr mit dem faltigen Gesicht, die kleine, bleiche Kellnerin, alle hoben die Köpfe und sahen uns ernst und vorwurfsvoll an. Der alte Hund, der am Eingang saß und zum Mond emporschaute, knurrte leise.

»Was wünschen Sie?« flüsterte die Kellnerin.

Wir setzten uns in eine Ecke. Die Ebene vor uns war voll eines weißen, nebeligen Lichtes und einsamer denn je. Toni streckte wieder unter dem Tische die Füße von sich und legte die Hände flach auf den Tisch, dann aß sie langsam, sorgfältig, kaute die Bissen, indem sie zum Monde aufsah. Wir tranken einen kleinen, säuerlichen Schaumwein. Toni seufzte zuweilen so tief, daß die weiß- und rotgestreifte Bluse krachte.

»Warum seufzen Sie?« fragte ich.

»Weil es hier so gut – so gut ist«, meinte sie. »Man hat seine Ruh« – und sie gähnte diskret. Ja, mir wurde auch so wohlig und schläfrig zu Sinn. Es war mir, als hätte ich den ganzen Tag über gearbeitet und dürfte nun die Glieder von mir strecken und ruhen. Ich wollte mich ein wenig unterhalten. »Ist es schwer, den Leuten die Handschuhe anzuziehen?« fragte ich.

»Ach«, sagte Toni, »ich bin daran gewöhnt. Ja, manche halten die Hand schlecht. Aber wollen wir nicht von Handschuhen sprechen.«

Nein – wir wollten nicht von Handschuhen und den Mühsalen des Lebens sprechen. Wozu auch sprechen!

»Es ist spät«, sagte Toni endlich, und wir gingen. In den schmalen Wegen zwischen den Jelängerjelieberbüschen blieb sie stehen, ganz nah vor mir.

»Ich gehe hier hinab«, sagte sie. – Ich küßte sie. Ihre Lippen waren weich und warm, wie die Lippen eines schläfrigen Kindes. »Sonntag bin ich um zwei Uhr schon frei«, bemerkte sie im Fortgehen.

Auf dem Heimwege hielt das angenehme, beruhigte Gefühl an. Aber als ich in mein Zimmer trat, war wieder Claudias erregende Gegenwart da. Ich legte mich gleich zu Bett – ich war müde und habe gut und fest geschlafen.

Aber im Einschlafen dachte ich wieder an Toni, es war mir, als würde ich von dem ruhigen, kräftigen Takt ihres Blutes in Schlaf gewiegt. Für das, was mir mit diesem Mädchen begegnet, muß sich doch auch eine Formel finden lassen.– –

10. August.

Heute war ein schlechter Tag. Gleich beim Erwachen spürte ich das. Frühmorgens war ein Gewitter niedergegangen, das wirkte wohl noch auf meine Nerven. Die Luft war kaum abgekühlt, die Sonne stach wieder.

Eine unangenehme Nüchternheit war in mir, die allem widersprach, was ich gefühlt hatte, die höhnte und mit allem in mir zankte. Claudia war fern und fremd. An allem war überhaupt nichts. Dazu kam noch, daß Joseph beim Frühstück erzählte, er sei heute morgen der Baronin Daahlen begegnet. »Sie ritt. Der Stallknecht ritt hinter ihr. Der Baron Spall war auch dabei.«

Dieser Bericht erregte in mir ein Gefühl unendlichen Widerwillens – so ein körperliches Unbehagen. Ich mußte den Tee und das gerüstete Brötchen, das ich eben sorgsam mit Butter bestrichen hatte, stehen lassen. Die eigentlichen Erscheinungen der Eifersucht sind das nicht. Ich bin nicht eifersüchtig auf Spall. Claudia haßt Spall, das habe ich an ihren Blicken, an der müden Art, wie sie sich von ihm abwendet, gesehen. Claudia wird nur einer Liebe gehorchen, die bis zum äußersten mit der Distanz zwischen ihr und dem Geliebten kämpft. Erst wenn beide sagen: Wir können nicht mehr – dann gehorcht sie. Das habe ich verstanden. Aber dennoch... So werde ich mich denn recht elend bis zum Abend hinziehen.

Ein seltsam unwirkliches Leben, das ich führe. Nur dort auf der Veranda wird es wirklich, vor dem dunklen, feuchten Garten, in der Traumbeleuchtung des Mondes, bei dem leisen Ton von Claudias Musselinschleppe auf dem Kies. So fühlen wohl die Fledermäuse, wenn sie am Tage in den finsteren Ecken wie kleine, schwarze Teufel an der Wand hängen und durch eine Spalte in das Tageslicht blinzeln, ob das dumme Licht noch da sei, das allem widerspricht, was sie abends erleben, wenn sie mit dem kleinen, schrillen Jauchzer über die mondbegrenzten Wipfel flattern.

Nachts.

Heute begegnete mir etwas Eigenes, eine Kleinigkeit, die mir doch einen nicht unwichtigen Zug zu dem Bilde von Claudias Leben lieferte.

Claudia war mir heute nicht recht nah. Sie schwieg viel; wenn sie sprach, klang es leicht gereizt, wobei der herbe Unterton ihrer Stimme besonders deutlich herausklang. Ihr Mund hatte heute eine herrlich bitter-tragische Linie. Spall bemühte sich sehr glänzend und ausgelassen zu sein. Daahlen lachte viel über ihn, aber Claudia schien das zu ärgern. Spall hat auch so eine verwandtschaftlich aufdringliche Art, mit ihr zu verkehren – als gehörten sie zusammen. Ungeschickter kann man nicht sein. Ich fand wenig Gelegenheit, mit Claudia zu sprechen. Wir unterhielten uns eine Weile über das Gewitter und über Pferde. Ich war sehr reserviert und formell – was richtig war. Dennoch wollte ich ihr einige Worte sagen, leise und erregt und bedeutsam, Worte, die sie empfinden mußte, als drückte ich flüchtig ihre Hand und sagte – »Ich weiß – wie – wir – beide leiden« – – aber mir fiel das Rechte nicht ein, Daahlen war heute besonders in Erzählerlaune und nahm mich ganz in Beschlag. Er schilderte mir einen schwierigen und langwierigen Weg, den er irgendwo in Afrika gemacht haben wollte. Schließlich zwang er mich, mit ihm in sein Arbeitszimmer zu gehen, um diesen uninteressanten Weg auf der großen Karte, die dort an der Wand hing, zu verfolgen.

Als wir wieder auf die Veranda heraustraten, waren Spall und Claudia fort. Sie mochten wohl in den Garten hinuntergegangen sein.

Daahlen erzählte weiter, aber es schien mir, als verwirrte sich der Weg, als kämen wir nicht recht vorwärts. Zuweilen hielt er inne, spähte in den Garten hinab, über dem jetzt sehr hell ein großes Stück Mond hing, und murmelte: »Sind sie das?« »Nein« – sagte ich – »das Weiße, das ist das Tuberosenbeet.« – »So – so« meinte er – – »hm – macht nichts – allons – allons!«

Im Mondlicht sah ich deutlich, daß sein braunes, scharfes Gesicht mit dem mausgrauen Bart sich wunderlich verzog – wie bei einem siechenden Schmerz.

»Na ja, also,« fuhr er fort – »wir waren also fünf Kilometer von dem Dorfe Biri-biri.« – Er war aber nicht bei der Erzählung, sondern sah beständig in den Garten hinaus und ich hörte nicht zu, sondern sah auch in den Garten hinab und wir warteten beide gespannt.

– – »Da sind sie!« entfuhr es mir plötzlich.

»Wo – wo?« fragte Daahlen. »Ja – ich seh' – na also.«

Claudia und Spall traten jetzt aus dem dunklen Laubgang auf die hellbeschienene Terrasse hinaus.

Er ist eifersüchtig, der Arme – dachte ich – ja, es wird vielleicht der Augenblick kommen, da wir ihn nicht schonen können. Das Leben ist grausam. Aber mir war es auch lieb, daß die beiden wieder zur Veranda hinanstiegen. »Also – so kommen wir glücklich nach Biri-biri,« berichtete Daahlen erleichtert und setzte sich knarrend in den Korbstuhl.

Claudia und Spall kamen auf die Veranda. Claudia ging, als sei sie müde. Daahlen erzählte weiter, als sähe er sie nicht.

Am anderen Ende der Veranda standen zwei Stühle. Spall schlenderte darauf zu, warf sich in den einen und rückte den anderen für Claudia zurecht. Claudia machte auch einige zögernde Schritte zu ihm hin – dann wandte sie sich schnell ab – ja ich weiß es – mit Widerwillen, mit Angst, ich sah das deutlich in den Umrissen der zarten, leicht in den Falten des Musselinkleides schwankenden Gestalt. Entschlossen kam sie zu mir herüber und setzte sich auf den Sessel, der neben mir stand – schutzsuchend – – zu mir gehörig. Seit meinen Knabenjahren hatte ich nicht mehr dieses starke Freudengefühl empfunden, das uns von Kopf bis zu Fuß mit einer süßen Wärme erfüllt. Nun kam eine köstliche Stunde – Claudias Hand lag auf der Armlehne ihres Sessels, meine auf der Lehne des meinen. Unsere Hände waren einander nah – sie sehnten sich nach einander, sie fühlten einander. Hätte ich wirklich Claudias Hand ergriffen, so wäre das trivial gewesen. So etwas tut Spall vielleicht. Aber so war es gut. Die Ahornwipfel standen still und schwarz im Mondlichte. Daahlens Stimme erzählte jetzt ruhig knarrend, sprach die barbarischen Negernamen tönend in die nächtliche Stille hinein.

12. August. Sonntag Nacht.

Zu Daahlens wollte ich heute nicht gehen. Besuche am Sonntage sind nicht stilvoll. Aber ich ging um zwei Uhr schon aus. Der Tag war sehr hell – blitzblank, wie in Sonntagskleidern. In den Straßen roch es nach den Sonntagsbraten, die durch die geöffneten Fenster herausdampften. Die große Allee war noch einsam. Hie und da ein geputztes Dienstmädchen, das Gesicht rot vom starken Waschen, das auf seinen Sonntagskameraden wartete. Ich bog zur Daahlenschen Villa ein. Ich wollte beobachten, wie der Anblick dieses Hauses, das in Mondschein und Dämmerung mir zu einem erregenden Traumbilde geworden war, in der Wirklichkeit des gelben Mittagslichtes auf mich wirke. Das schien eine nötige Ergänzung. Das Haus mit seinen niedergelassenen Jalousien stand da sehr still, wie schlafend im Sonnenschein. Nur an der einen Schmalseite, dort wo die Küchenräume liegen, war ein Stuhl in einen schmalen Schattenstreifen hinausgestellt. Dort saß eine Frau in blauem weißgetüpfelten Kleide – ein großes, bleiches Gesicht mit mehreren Kinnen unter einer weißen Haube, runde, schwarzgefaßte Brillengläser. Das war wohl Julchen. Sie hielt ein Buch und sang mit näselnder Stimme einen Choral. Das hatte so den zitternden, schläfrigen Takt, nach dem die Kohlweißlinge das große, bunte Beet vor der Freitreppe umflatterten. Ich ging um das Haus herum, außen am Gartengitter hin. Ich wollte die Terrasse im Tageslicht sehen. Da war sie. Da war auch Claudia. Sie trug ein weißes Batistkleid und einen großen weißen Batisthut und ging die Lavendelstreifen entlang, die den Weg einfassen, um mit einer Gartenschere Lavendel abzuschneiden. Als sie bis nah an das Gitter kam und sich aufrichtete, erblickte sie mich. Ich grüßte. Sie lächelte ein wenig und nickte. Als sie so dastand, das Gesicht blaßrosa unter dem grellen Gekräusel des Haares, gefiel sie mir so stark, daß es mir die Kehle zuschnürte. Seit meinen Knabenjahren war mir das nicht mehr begegnet, daß ich so stark empfand, daß ich fast weinen wollte. Claudia fühlte das – sie mußte das fühlen – sie hielt still – in der Hand den großen Lavendelstrauß, die Augen weit offen, schaute sie mich an, als wollte sie sagen: »Du siehst, so ergeht es uns beiden«. »Ach, Herr von Brühlen,« versetzte sie dann, »Guten Morgen! Wollen Sie nicht ein wenig hereinkommen und meine Lavendel riechen? Da im Gitter ist die kleine Türe.« – Ich trat zu ihr in den Garten. Sie streckte mir den sommerwarmen Lavendelbusch entgegen.

»Ich schneide ihn gern,« sagte sie, »und lege ihn zu der Wäsche. Das riecht so gut altmodisch.« »Ja, meine Mutter hatte die Schränke auch voll davon«, meinte ich. Ich war befangen. Meine Stimme klang ein wenig atemlos, das Herz schlug mir heftig.

»Sie gehen schon so frühzeitig spazieren?« fragte Claudia.

»– Ja – ich – ich wollte den Garten und – und vielleicht Sie, Baronin, um die Zeit sehen. – Bisher ist mir das so – so visionär, Dämmerung – und Mondschein – ich glaubte« –

»– Und nun?« fragte Claudia neugierig.

»– Nun? – Ja – das Visionäre bleibt – nur – die Vision hat andere Farben – jetzt eine Vision in weiß, rotgold und lavendelblau –«

Claudia hatte sich auf einen umgestürzten Schiebkarren gesetzt, der auf dem Wege lag, und schaute aufmerksam zu mir auf. »Das ist gut«, meinte sie. »Wir dürfen Visionen nicht – wie man sagt – materialisieren – sagt man nicht so? – Visionen sind doch unverantwortlich«. – »Wie?« – Claudia schaute nachdenklich auf ihren Strauß nieder: »Ich träume gern, das ist so angenehm. Man liegt und ist an dem, was man erlebt, nicht schuld – tut nichts dazu. – Es nimmt einen und trägt mit sich fort.« »Das tut das Leben ohnehin – ob wir wollen oder nicht«, bemerkte ich ziemlich erregt.

Claudia schaute auf, ein wenig verwundert.

»Ja – nicht wahr?« sagte sie. Dann entstand eine Pause. In meiner Unterhaltung mit Claudia kommen diese Pausen häufig. Ich glaube, es sind die Augenblicke, in denen unser Gefühl besonders stark zusammenklingt.

»Sie haben schon gearbeitet, Baronin?« begann ich formell. Das schien mir wichtig. »Mit meinem Mann – das Manuskript – ja«, erwiderte Claudia obenhin. »Das war wohl interessant?«

»Gott!« sagte Claudia, und zuckte leicht mit den Schultern, sie schob die Unterlippe vor. Diese Bewegung hatte so sehr etwas von einem trotzigen, kleinen Mädchen, daß ich an die fünf Komteßchen in dem großen Garten denken mußte, die stets an allem Unheil schuld waren.

»Gott – ich hasse diese Neger mit ihren unmöglichen Namen und ihren dummen Sitten. Aber wissen Sie, was ich noch mehr hasse?«

– »Nein?« –

»Die Kilometer. – Immer – und überall sind die da. Man denkt Afrika – da ist Licht und große Blumen und Farben. Nein – es ist nur ganz voll von diesen langweiligen Kilometern.«

»Ja, die lassen sich nicht gut vermeiden«, bemerkte ich ziemlich geistlos. Aber so war es vielleicht richtig in diesem Moment, da sie gegen ihren Mann sprach.

»Wieso,« sagte Claudia wegwerfend – »ich geh' – aber ich geh' nicht Kilometer.«

Wieder stockte die Unterhaltung. Ich hätte jetzt kameradschaftlich scherzen müssen. Aber ich war zu erregt.

»Sehen wir Sie heute Abend?« fragte Claudia.

»Ach, heute Sonntags«, erwiderte ich zögernd.

»Gott! unter Freunden«, meinte Claudia.

Dieses »unter Freunden« sollte eine Barriere sein. Ja, wir wollen Barrieren zwischen uns setzen, gefällig gegen unser Gewissen sein, das doch stärker ist.

Eine Glocke erscholl im Hause.

»O – Zeit sich anzukleiden«, rief Claudia erschrocken, wie ein kleines Mädchen, das zu spät zur französischen Stunde kommt. Wir reichten uns flüchtig die Hand und ich ging nachdenklich meinen Weg zurück. In der Allee auf der gewohnten Bank saß Toni. Sie trug eine weiße Seidenbluse, einen goldenen Gürtel und zuviel Rosen auf dem Hut. Ihr Gesicht war erhitzt und die Augen gerötet.

»Du hast geweint?« fragte ich.

Sie fuhr mit dem Handrücken über die Augen und machte ein böses Gesicht.

»Ich warte so lange,« sagte sie – »ich dachte, Sie kommen nicht.«

»Ah – das ist's! Na also gehen wir.« Toni erhob sich und nahm meinen Arm, sicher, ein wenig rauh. Sie nahm von mir Besitz, als von ihrem Sonntagsrecht. Sie gefiel mir heute nicht besonders. Schweigend gingen wir die Allee hinab. Auf einer Bank saß ein Mädchen mit einer hellen Bluse und zuviel Blumen auf dem Hut.

»Die weint auch«, sagte ich.

Da wurde Toni beredt: »Nu ja. Die Woche plagt man sich und freut sich auf den Sonntag und zieht sich seine guten Sachen an und dann kommt er nicht« –

»Ja – ja, das ist unrecht«, sagte ich. Wie verständlich das war. Die Liebe ist hier so klar – eine Einrichtung – ein Recht. Wir gingen aus der Stadt hinaus über die große Ebene hin. Die Wege waren hier laut von sonntäglichen Spaziergängern. Überall die geputzten Mädchen erhitzt und zufrieden am Arm ihres jungen Mannes. Anfangs verstimmte mich alles, aber dann überkam mich beruhigend das Gefühl, eingereiht zu sein in eine Ordnung, fast in einen Beruf. Wir gingen weit hinaus, dort wo es einsam wird. Die Sonne stach auf das Weideland nieder. Eine Kiesgrube lag dort. Wacholder, Heidekraut, Katzenpfötchen wuchsen an den Wänden. Ein großer Stein lag auf dem Grunde und sonnte sich. Wir stiegen ab – streckten uns dort aus. Toni nahm ihren Hut ab, streckte ihre Glieder – blinzelte mit den Augen in der Sonne. »Ah! das ist gut«, stöhnte sie. – Das ganze Behagen der Sonntagsfaulheit kam über sie, strahlte ordentlich von ihr aus. Ich lag auf dem Rücken. Wacholder, Wermut, Schafgarben dufteten so warm, als säßen wir in einer Küche, in der Kräuter gekocht würden. Kleine Schmetterlinge, bronzefarben und stahlblaue Farbenfleckchen, flirrten vorüber. Leise vor sich hinsingend, bummelten Hummeln durch die Luft und hingen ihre Samtleiber an die Glocken des Benediktenkrautes. Toni plauderte vor sich hin von anderen Sonntagen, an anderen Ausflugsorten mit anderen Herren – wie das so schön gewesen wäre.

Ich schloß die Augen. – Ich wollte wieder die Vision in rotgoldweiß und lavendelblau haben. – Gott! aber auch auf mir lag die feiertägliche Trägheit. Das mit der Vision und Claudia und mir – das war so kompliziert und das faule, rosa Mädchen neben mir war so einfach und selbstverständlich. Mir vergingen die Sinne, ich schlief wohl ein wenig.

Dann hörte ich Toni vor sich hinsingen, eintönig und schläfrig. Ich schlug die Augen auf. Auf ihren Ellenbogen gestützt, lag sie da, – die Füße hoben und senkten sich taktmäßig.

Zwischen den Lippen hielt sie einen Grashalm und in der Hand einen Wacholderzweig, mit dem sie langsam auf den Boden schlug. – »Rai – la – la – la.«

»Toni,« sagte ich, »hast du – früher einmal – das Vieh gehütet?«

Toni schaute auf.

»Sie haben geschlafen. – Das Vieh? Ja, da unten bei uns habe ich die Schafe gehütet.« »Dann lagst Du so den ganzen, langen Tag.«

»Ja – lang – lang war der Tag.«

»Und wenn du den langen Tag so da lagst, wartetest du da immer auf etwas?«

Toni dachte nach:

»Warten? Ich weiß nicht. Ja, ich wartete, daß die Mutter zum Essen ruft.«

»Ach ja – auf das Essen hast du gewartet – natürlich. Du – komm näher.«

Toni schob sich über das Gras zu mir hin – schmiegte sich eng an mich.

»Ist's so gut?« fragte sie.

Ja, so war's gut. Ich weiß nicht, wie lange wir dort unten in der Kiesgrube geblieben sind. Die Sonne schien schon schräg über die Ebene. Musikklänge kamen zu uns herüber. Das regte Toni auf.

»Das ist die Musik von Deibler – und das von Bohrer«, sagte sie.

»Du willst wohl dahin?«

»Ja, da müssen wir auch noch hin«, erwiderte sie bestimmt. Nun und dann gingen wir zum Deibler. In dem großen Biergarten unter den staubigen Bäumen saßen die Menschen Kopf an Kopf. Die Luft war schwer von Bierdunst. Erhitzte Kellnerinnen schleppten große Portionen Kalbsbraten und Schweinebraten und Papierservietten heran. An allen Tischen die geputzten Mädchen mit ihren jungen Leuten. Auf den Gesichtern lag es wie Abspannung, in den Augen wie schläfrige Enttäuschung. Die Männer hatten vom Trinken rote Köpfe und waren recht laut. Zwei stritten sich und das Mädchen weinte. Die Militärkapelle schmetterte einen Marsch. Später kam ein Kornettsolo, Schuberts Ständchen. Die Leute wieder still, streckten sich vor süßem Gefühl auf den Bänken. Die Mädchen schauten starr vor sich hin und verzogen ein wenig das Gesicht, als wollten sie weinen.

»Nun?« fragte ich Toni.

»Sehr schön!« erwiderte sie. Die Arme unter der Brust gekreuzt, saß sie da, in den Augen auch den schläfrigen, enttäuschten Blick. Die Traurigkeit dieses zu Ende gehenden Sonntags lag schwer auf uns allen. Dagegen gibt es nur Eines – zusammen nach Hause gehen – sich aneinander drücken und vergessen.

»Komm«, sagte ich zu Toni.

Wenn das jetzt nicht hier stünde, so wäre es für mich fort, als sei es nicht gewesen. So muß wohl der Sonntag sein für alle die, welche arbeiten. Es bleibt von ihm nichts Erregendes, nur etwas Müdigkeit – einige welke Feldblumen, die Arbeit kann wieder beginnen und man kann an den nächsten Sonntag glauben. Auch ich gehe heute wieder daran, an meiner erregenden und rätselvollen Liebeserfahrung zu arbeiten.

13. August nachts.

Der Mond steht jetzt rund und hell über dem Daahlenschen Park. Claudia hielt sich heute von mir fern. Einen Augenblick sprachen wir miteinander, gleichgültige Dinge, und ihre Stimme hatte etwas Fremdes – etwas Gläsernes und Lebloses. Ich verstand das. Auch ich bemühte mich, ganz kalte Höflichkeit – gleichsam fern von ihr zu sein. Ich weiß, wir litten beide.

15. August.

Heute spielte ich mit Daahlen auf der Veranda Schach. Claudia und Spall sprachen am anderen Ende der Veranda miteinander ziemlich leise, aber ich hörte ihren Stimmen an, daß sie sich stritten.

»Was habt ihr denn?« fragte Daahlen. Da kam Claudia zu uns, setzte sich still neben mich. Spall ging bald. Unter tiefem Schweigen spielten wir die Partie zu Ende, dann wandte ich mich zu Claudia. Sie hatte sich tief in ihren Sessel hineingesetzt, ein wenig in sich zusammengekrümmt. Die Augen weit offen, starrte sie zum Monde auf. Das Gesicht erschien vom Mondlicht bleich, die Augen sehr dunkel. Ich mußte zu ihr sprechen, gleichviel was, nur damit der Ton meiner Stimme sie liebkose.

»Nicht wahr, Baronin, der Vollmond gibt uns einen Rausch – einen kühlen Rausch?«

Daahlen griff das auf.

»Sehr gut. Der Mondschein hat etwas Frappiertes. Hier nicht, in Afrika. O! Sie verstehen sich auf Nuancen – Sie sind ein Lebenskünstler.«

»Wie ist das, ein Lebenskünstler?« fragte Claudia und es klang gereizt, fast feindselig.

»Ein Lebenskünstler, liebes Kind,« dozierte Daahlen, »lebt eben ein Kunstwerk, lebt so, daß andere sich an seinem Leben erbauen können wie an einem Kunstwerk.«

»So«, meinte Claudia und lachte böse und malitiös. »Das muß nicht amüsant sein, so – so druckfertig zu leben. Wenn man ein Kunstwerk macht, dann weiß man, denke ich, auch immer im voraus, was kommen muß.«

Ich hielt es für richtig, bedeutungsvoll einzuschalten: »Das wissen wir doch ohnehin.«

Aber Claudia widersprach eigensinnig.

»Das finde ich nicht.«

»Wir wollen nur nicht daran glauben«, fuhr ich fort und auch meine Stimme klang gereizt. Claudia zuckte leicht mit den Schultern. Daahlen begann ganz unmotiviert, wohl um uns zu beschwichtigen, von den Niam-Niams zu erzählen. Dann ging ich. So muß es sein. Wir kämpfen und leiden beide.

16. August.

Liebe treibt eines zum andern, nicht damit wir eines das andere glücklich machen, wie man sagt. Diese Glücksrechnung geht die Liebe nichts an. Vielleicht bereiten wir einander Schmerz. Weiser ist es, nicht zu lieben. Liebe ist alogisch und wir kämpfen gegen sie an, aber sie ist stärker als unsere Logik und das ist ihr Zauber.

17. August.

Claudia ist still und bleich. Wir haben kein Wort miteinander gesprochen, das – uns etwas anginge. Aber sie sitzt still neben mir, unsere Hände liegen nah beieinander und sehnen sich nacheinander.

18. August.

Mir ist zuweilen, als fühlte ich ein tiefes Erbarmen mit Claudia und ihrer Hilflosigkeit. Ich kann ihre Hilflosigkeit an der meinen messen.


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