Eduard Graf von Keyserling
Bunte Herzen
Eduard Graf von Keyserling

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Mittagessen war ungemütlich genug. Graf Hamilkar und der Professor sprachen zwar eifrig von fernliegenden Dingen, als sei nichts geschehen, aber Komtesse Betty lächelte nur zerstreut und dachte an andere Dinge. Die einzige Sensation war, daß Lisa heute nicht in schwarz erschienen war, sondern ein malvenfarbenes Musselinkleid trug mit welkrosa Bändern. Boris, sehr bleich, unterhielt sich mit ihr so höflich, als sei er ihr eben vorgestellt. »Empfang bei der Königin von Polen«, flüsterte Bob Erika zu. Die Kinder waren heute unerträglich und mußten immer wieder zur Ordnung gerufen werden. Billys Stuhl blieb leer. Sie lag oben in ihrem Zimmer auf dem Bett halb ausgekleidet, die Haare hingen ihr wirr in das heiße Gesicht, und sie war sehr ungeduldig gegen Marion. Immer wieder mußte Marion ihr wiederholen, was Boris gesagt hatte. »Ganz wörtlich will ich's wissen, du sagst es nicht wörtlich.« »Doch«, versicherte Marion, »so war es, sage Billy, es ist besser, wir sehen uns heute nicht mehr, wir nehmen auch nicht Abschied voneinander, sie soll warten, sie wird Nachricht von mir haben, und dann wird mein und ihr Schicksal ganz in ihrer Hand liegen.« – »Schicksal sagte er gewiß nicht, es ist garnicht sein Stil«, klagte Billy, »und dann entscheiden – was soll ich entscheiden, ach, es ist schrecklich. Und du sagst, Lisa hat heute ihr helles Musselinkleid an, warum denn? und Boris ist natürlich wütend, weil der Papa ihn beleidigt hat.« Sie warf sich wie im Fieber hin und her. »So laß doch die Vorhänge herunter, diese Nachmittagssonne ist zum Sterben traurig; und du machst auch solch ein Gesicht, als wüßtest du etwas, das ich nicht weiß. So sag' es.«

»Ich weiß aber nichts«, beteuerte Marion weinerlich. – »Ach, dann geh', ich will niemanden sehen. Bob kann kommen, der ist noch der einzige, der kann hier so ungezogen sein, wie er will, das wird mich erfrischen.« Aber als Bob kam, war er nicht ungezogen, sondern befangen. Billy in ihrer Erregung war ihm fremd und unheimlich. Da schickte Billy auch ihn fort. »Geh', du bist ein dummer, langweiliger Junge.« Bob ging, aber in der Tür wandte er sich gekränkt um und bemerkte: »Von unglücklicher Liebe verstehe ich nichts.« Nun lag Billy da und horchte auf die Töne, die unten durch das Haus gingen, auf die Stimmen, auf das Zuschlagen der Türen, und sie wartete. Das war jetzt ihr Geschäft. Er hatte es ja gesagt, der arme gekränkte, beleidigte Boris. Wenn sie an das Unrecht, das ihm geschehen war, dachte, dann schwoll ihr Herz vor ungeduldigem Verlangen, etwas für ihn zu tun, ihm und der ganzen Welt zu zeigen, daß sie für ihn, nur für ihn sei. Der Sommernachmittag summte vor den Fenstern, im Hause wurde es still, und es schien Billy, als sei sie in dieser schläfrigen Stunde mit ihrer Erregung ganz allein in einer Welt, die nichts von Erregungen und nichts von Ereignissen wissen wollte. So hielt auch sie still, die Augen zur Decke emporgerichtet. Es schien ihr, als hätte sie unendlich lange so dagelegen, bis endlich der Ton kam, der Ton, auf den sie gewartet. Billy richtete sich auf. Das Rollen eines Wagens, der unten im Hofe hielt, Stimmen, das Zuschlagen von Türen, wieder das Rollen des Wagens, das immer schwächer wurde, endlich langsam verklang. »Er ist fort«, stöhnte sie und sank in ihre Kissen zurück. Große Tränen rannen über ihre Wangen, aber eine innere Spannung hatte sich gelöst. Einer fährt fort, den wir lieben, und wir weinen, das ist doch wenigstens verständlich, und so schlief sie weinend ein.

Als Billy erwachte, war das Zimmer rot von Abendlicht, vom Garten tönten Stimmen herauf, sie hörte die Zwillinge lachen, und auf der Veranda hielt der Vater dem Professor einen Vortrag. Eine neue Lebensunruhe erfaßte Billy, sie stand auf, um aus dem Fenster zu schauen. Ja, dort ging Lisa in ihrem hellen Musselinkleide und sprach eifrig auf den Leutnant ein, der ein wenig steifbeinig neben ihr herging. Die Arme, dachte Billy, will auch ihre Liebesgeschichte haben. Aber es schien Billy, als gäbe es nur eine Liebesgeschichte in der Welt, und das war ihre eigene, alles andere war nur Pfuscherei. Mißmutig kehrte sie zu ihrem Bett zurück, dort zu den anderen konnte sie noch nicht hinunter. Wo nur Marion blieb!

Als Marion kam, mußte sie erzählen. Wie sah er aus, als er fortfuhr? Wie nahm er vom Vater Abschied? Marion hatte natürlich das, worauf es ankam, nicht gesehn, aber eine Botschaft überbrachte sie. »Aber, bitte, ganz wörtlich«, ermahnte Billy. »Ja, gewiß, so sagte er«, berichtete Marion: »Kommen Sie morgen um zwölf Uhr Mittag zu der Linde, die am Ende des Parks außerhalb des Zauns sieht. Dort soll Billy Nachricht haben. Sagen Sie Billy, nur sie hat zu entscheiden.« »Ach«, jammerte Billy, »wieder dieses entsetzliche Entscheiden! Was ist das? was wird dort an der Linde sein?« Und die beiden Mädchen saßen beieinander und flüsterten über dieses Rätsel, über das sie immer sprechen mußten. Im Zimmer wurde es dämmerig und das Rätsel wurde immer drohender. Billy ertrug es nicht länger, sie schickte Marion fort: »Geh', du sagst ja immer dasselbe. Schick' die alte Lohmann zu mir. Die ist die einzige, die ich von Euch ertragen kann. Sie soll ihre alten Geschichten erzählen.« Die Lohmann kam mit ihrem kleinen gelben Gesicht unter der schwarzen Haube und den von Gicht zusammengezogenen Händen. Sie war eine alte Kinderfrau, die jetzt in einem Stübchen des Untergeschosses ihr Alter damit verbrachte, hinter den Geranienstöcken am Fenster zu sitzen und das Gnadenbrot zu essen. Die Alte kauerte an Billys Bett nieder und begann mit klagender Stimme: »Unser Komteßchen hat es auch schwer, alle haben es schwer, anders ist es nicht«; aber Billy unterbrach sie gereizt: »Aber Lohmann, habe ich dich dazu kommen lassen. Deine alten Geschichten sollst du erzählen, bemitleiden kann ich mich schon selbst.« Und Lohmann erzählte die so oft schon erzählten Geschichten, wie sie als kleines Mädchen mit ihrer Mutter ganz früh im Morgengrauen Milch und Käse zur Stadt brachte. Im Winter war es sehr kalt, in einer kleinen Schänke wärmten sie sich, da saßen auch die anderen Marktfrauen in dicke Tücher gehüllt wie große graue Kugeln, und die kleine Lohmann bekam Warmbier, das war heißes Bier mit Milch und Zucker. Billy sah das alles, das wollte sie sehen, die kleine Schänke voll der grauen Kugeln, es roch nach feuchter Wolle und dem überheizten Ofen, und vor den Fenstern die blaue kalte Dämmerung des Wintermorgens. Das war traurig und friedlich und so weit, weit fort von allen rätselhaften Entscheidungen. »Du, Lohmann«, fuhr Billy auf, »Warmbier wäre noch das einzige, was ich jetzt nehmen könnte, geh', mache mir Warmbier.«

Mühsam ging der Abend zu Ende. Die Lohmann hatte Warmbier gekocht, es schmeckte jedoch so schlecht, daß Billy es nicht trinken konnte. Komtesse Betty und Madame Bonnechose kamen und saßen an Billys Bett, sahen sie teilnahmsvoll an, sprachen über Billys Husten, über Arzneimittel, sprachen vorsichtig über gleichgültige Dinge, besorgt, nicht etwas Gefährliches zu berühren; Billy war froh, als sie alle fort waren und die Nacht begann. Sie wollte versuchen, zu schlafen, allein in der Stille und Dunkelheit wurde das Leben wieder sehr bedrohlich und dazu nüchtern wie Zahlen, die zusammengerechnet werden sollten. Als sie ein wenig einschlief, dauerte dieses Rechnen und Raten fort, und dann hatte sie bei alledem immer etwas zu entscheiden, und sie wußte nicht was und wie. Es mochte ein Uhr sein, als sie erwachte; nein, schlafen wollte sie nicht, das war kein Vergnügen. Durch die Fenstervorhänge drang ein wenig weißes Licht. Sie sprang aus dem Bett, um zum Fenster hinauszuschauen, der Mond schien sehr hell. Still und wach standen die Obstbäume auf den Rasenplätzen und die Stockrosen in den Beeten, und die Helligkeit legte etwas Festliches über den schweigenden Garten. Da wollte Billy dabei sein. Sie kleidete sich eilig an und ging zu Marion hinüber, um sie zu wecken: »Marion, du kannst schlafen? ich habe nicht ein Auge zugetan, komm, steh' auf.« »Ich bin eben ein wenig eingeschlafen«, sagte Marion entschuldigend, »was ist geschehen? wohin müssen wir?« »Wir müssen in den Garten hinunter zu den Johannisbeeren«, sagte Billy. Gehorsam stand Marion auf und kleidete sich an. über die kleine Hintertreppe gelangten die beiden Mädchen in den Garten. Billy atmete tief auf; das war es, der feuchte, süße Atem der Blumen, dieses unwahrscheinliche Licht, das den Himmel, den Garten, die Wiese mit den weißen Nebeln alles so unendlich weit erscheinen ließ, das gab ihr wieder den Rausch, ohne den sie jetzt nicht leben konnte. Hier vermochte sie wieder »Boris! Boris!« zu denken und jenes wunderliche Brennen im Blute zu fühlen, das ihr Mut zu allem gab. Im Obstgarten waren die Erdbeerbeete, die Stachel- und Johannisbeerbüsche grau und glitzernd von Tau, vom Gemüsegarten dufteten die Suppenkräuter gewaltsam herüber, und auf den Kieswegen saßen versonnene Kröten. Die Mädchen stellten sich an einen Johannisbeerbusch und begannen schweigend die kühlen, feuchten Trauben zu essen.

»Ja, jetzt ist es anders«, bemerkte Billy endlich. »Wie das?« fragte Marion geschäftlich.

»Mir ist«, sagte Billy, »als wäre wieder alles ganz leicht, als könnte ich über alles entscheiden. Ich fürchte mich garnicht, und wenn es noch so tragisch ist.« »Tragisch«, bemerkte Marion ein wenig undeutlich, denn sie hatte den Mund voll von Johannisbeeren, »tragisch ist so, wie auf dem Theater.« Von der anderen Seite des Busches ertönte Billys unterdrücktes Lachen: »Aber Marion!« Dann richtete Billy sich auf, hielt eine Traube in die Höhe gegen den Mondschein, sah sie an und sagte feierlich: »Tragisch ist traurig, aber traurig wie seine Augen, traurig, aber doch wunderschön, schöner als alles, was lustig ist.« Dann bog sie den Kopf zurück und ließ die Traube langsam in ihren geöffneten Mund gleiten, und sie fühlte sich in dieser Bewegung ganz festlich, ganz schön, ganz der Mondnacht zugehörig.

Allmählich verlor der Mondschein an Glanz, eine graue Helligkeit mischte sich in ihn und verdrängte ihn, ein Licht, das durch verstaubte Fensterscheiben zu dringen schien.

»Der Morgen kommt«, sagte Billy ernst, »komm, gehen wir.« »Wohin gehen wir?« fragte Marion. »Wir warten auf die Sonne«, bestimmte Billy.

Die beiden Mädchen gingen an das Ende des Gartens, dort, wo die Wiese beginnt, und setzten sich auf eine Bank. Ein wenig bleich und fröstelnd drückten sie sich aneinander, aber Billy saß dennoch ganz aufrecht, die Augen groß und wach, die Lippen wie bereit zu einem erregten Lächeln. Noch fühlte sie die ganze angenehme Festlichkeit jenes Traurigen, das doch wunderschön war. Die Nebel auf der Wiese wurden durchsichtig, der Himmel fast weiß, im Busch begann eine Elster zu plaudern und eine Krähe flog sehr schwarz und schwer in der glasigen Dämmerung. Eine Traumwelt, und Billy empfand auch jene Ergebung, die wir im Traume haben, denn der Traum gibt uns alle Wunder auch ohne unser Zutun. Dann kam Farbe, ein Zug rosenroter Wölkchen legte sich auf den Himmel, über den schwarzen Waldwipfeln sprühte es rot und dann plötzlich war alles voll von der Aufregung eines purpurnen und goldenen Lichtes. »Ah, da ist sie,« sagte Billy, und die beiden Mädchen starrten regungslos wie betäubt auf die aufgehende Sonne. Aber, als die Sonne höherstieg und die Farben alle in dem gleichmäßigen gelben Licht ertranken, da wurde Billys Gesicht wieder ernst und sorgenvoll, da war der Tag wieder mit seinen Verantwortungen und Entscheidungen. »Komm,« sagte Billy zu Marion, und sie schlichen wieder in das Haus in ihr Zimmer hinauf. »Werden wir jetzt schlafen?« fragte Marion. »Wie kannst du daran denken,« erwiderte Billy, »um zwölf mußt du bei der Linde sein, »komm, setze dich hierher.« Sie rückte einen Sessel für Marion heran, sie selbst stieg in ihr Bett, aber sie lehnte aufrecht in den Kissen. So saßen die beiden Kinder beieinander, die Augen fielen ihnen zuweilen zu, dann schlummerten sie, aber wie wir auf der Reise im Eisenbahnwagen schlummern und immer wieder auffahren, in der Angst etwas zu versäumen. Im Laufe des Morgens klopfte Komtesse Betty zweimal an die Tür, aber sie wurde nicht eingelassen. »Nein, nein, wir schlafen,« hieß es. Als Lina, die Kammerjungfer, kam, wurde ihr das Frühstück bestellt. »Sehr viel,« sagte Billy, »Tee und Eier, Schinken, Brot, sehr viel, hören Sie.« Sie fühlte einen wahren Reisehunger.

Bald wurde Billy sehr unruhig, sie fragte Marion immer wieder, ob es nicht Zeit sei, und es war erst elf Uhr, als Marion schon zur Linde hinabgehen mußte. Billy saß still in ihrem Bett mit brennenden Wangen, die Hände gefaltet und lauschte in sich hinein auf die seltsame Spannung ihres Wesens. Ja, es war alles da, das starke Verlangen nach Boris, die schmerzhafte Rührung bei dem Gedanken an ihn, der Mut zu allen Möglichkeiten und die Angst vor dem, was nun kommen mußte. Aber immer wieder empfand sie eine wunderliche Fremdheit jener Billy gegenüber, die all dieses fühlte und all dieses erlebte. Die bekannten Töne des Hauses drangen zu ihr, unten im Garten lachten die Zwillinge, im Korridor schalt Madame Bonnechose ein Dienstmädchen und am offenen Fenster des unteren Geschosses sang die Lohmann einen Gesangbuchvers. Allein die Billy, die unglücklich liebte, die entschlossen war, ihrem Vater nicht zu gehorchen, die entscheiden mußte, sie gehörte nicht mehr zu diesem altgewohnten Leben. Wo blieb jedoch Marion? Billy hob die nackten Arme hoch über den Kopf empor, rang die Hände ineinander und stöhnte: »Ach, ach! warum kommt sie nicht!« Endlich lief es leise auf dem Korridor hinunter und Marion erschien erhitzt und atemlos. Die beiden Mädchen sprachen nichts, Marion reichte Billy stumm einen Brief, setzte sich und starrte sie angstvoll an. Billy war ganz ruhig geworden, sie hielt den Brief in der Hand, ohne ihn zu öffnen. »Wie war es?« fragte sie.

»Dort an der Linde,« berichtete Marion leise, »dort stand ein kleiner Judenjunge. Er hatte sehr große schwarze Augen, über den Ohren hingen ihm zwei fest zusammengedrehte schwarze Locken und er trug einen langen Rock wie ein Erwachsener, der brachte den Brief. Es war recht unheimlich.«

»Natürlich war es unheimlich,« bemerkte Billy, lehnte sich in die Kissen zurück und schickte sich an, ihren Brief zu öffnen und zu lesen.

Boris schrieb. Eine Überschrift fehlte. »Heute Nacht,« hieß es dann, »gegen Mitternacht, bin ich bei der Linde unten am Park und warte. Niemand darf davon wissen. Auf der einen Seite steht alles, was du bisher für dein Leben gehalten hast, auf der andern stehe ich – entscheide. Willst du mich, dann komme. Kommst du nicht, dann verzeihe ich dir und gehe wieder einsam meinen dunkeln Weg. Wir sehen uns nie wieder. Einem so großen Glücke nahe zu kommen und dann wieder von ihm fort zu müssen, ist tödlich.« Auch die Unterschrift fehlte. Billy ließ den Brief sinken, sie brauchte nicht zu entscheiden, sie wußte, daß sie zu ihm gehen würde. Es schien ihr, als habe sie hier kaum mitzusprechen, die andere, die fremde Billy, handelte, und die mußte bei Nacht zu der Linde hinabgehen. Billys Blicke fielen auf Marion, deren Augen unendlich erwartungsvoll an ihr hingen. Billy lächelte und schüttelte ein wenig den Kopf und sagte: »Nein, ich kann dir nichts sagen.« Marion antwortete nicht, aber ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie erhob sich und schlich leise aus dem Zimmer; sie war sehr unglücklich. Die ganze Zeit über war es ihr gewesen, als sei Billys Liebesgeschichte auch die ihre, die Liebe zu Boris, die Aufregungen und Schmerzen hatte sie geteilt, in Billy hatte sie sich geliebt gefühlt, und nun plötzlich wurde sie beiseite geschoben und war wieder nur die Marion Bonnechose, die von allen Komtessenschicksalen ausgeschlossen wurde.

In Billy aber fuhr reges Leben. Sie klingelte nach Lina, sie wollte ihr neues Musselinkleid mit dem rosa Nelkenmuster anziehen, sie rief nach ihrem Korallenhalsband; dabei war sie freundlich und gesprächig mit der Kammerjungfer. Lina mußte von dem Förster erzählen, mit dem sie zeitweilig verlobt war.

Der Tag war sehr schwül geworden, im Westen türmten sich graublaue Wolken. »Wir bekommen ein Gewitter,« sagte Graf Hamilkar, als er auf der Gartentreppe stand und in den heißen Duft des Gartens hineinroch. Komtesse Betty stand neben ihm, neigte den Kopf zur Seite und blinzelte zu den Wolken auf. Über die Gartenwege jagten sich Bob und Billy. Der Graf folgte ihnen mit den Blicken, dann wandte er sich zu seiner Schwester: »Die Gefühlskrise scheint einen guten Verlauf zu nehmen,« bemerkte er. Komtesse Betty jedoch machte ein erschrockenes Gesicht. »Ach, Hamilkar, ich weiß nicht, diese Heiterkeit ist nicht natürlich, ich ängstige mich so um das Kind. Madame Bonnechose meint auch ...«

»Ängstige dich nicht, liebe Betty,« unterbrach sie der Graf, »was auch Madame Bonnechose meint. Die Liebe wird von den jungen Leuten gern als eine Macht angesehn, die elementar, unvernünftig, aber unwiderstehlich ist, gut, dann muß dieser Macht eben eine andere Macht entgegengesetzt werden, die auch für elementar, für unvernünftig und unwiderstehlich gilt. Nun, liebe Betty, diese Macht darzustellen, das ist jetzt meine Rolle.« Er lächelte sein schiefes, spöttisches Lächeln und ging in das Haus, um seine Nachmittagsruhe zu halten. Billy war müde vom Laufen. »Es ist genug,« rief sie Bob zu. Sie strich sich das Haar aus dem heißen Gesicht und sann einen Augenblick vor sich hin. Was sollte sie jetzt tun? denn tun, tun mußte sie etwas, nur nicht stille sein und hineinschaun in das Dunkele, das hinter diesem Tage lag. Als das kleine Fräulein Demme an ihr vorüberging, nahm sie ihren Arm und sagte: »Kommen Sie, Fräulein, wir wollen Pflaumen essen und von Herrn Post sprechen.« Allein in diesen Nachmittagsstunden, in denen die Sonne wie eine schwere goldene Schläfrigkeit über dem Garten lag, war es schwer, das Fieber wach zu erhalten, dessen Billy jetzt bedurfte. Schließlich suchte sie Moritz auf, er sollte sie auf dem Gartenteich hin und her rudern. »Wie, du und ich?« fragte Moritz ein wenig erstaunt und errötete. – »Natürlich, du und ich,« sagte Billy.

Das schien das Rechte zu sein. Es tat Billy wohl, sich halbliegend im Bug des Bootes auszustrecken, vor sich Moritz' erhitztes, friedliches Gesicht, die blauen Augen, die sie mit behaglicher Andacht unverwandt anschauten. Das Wasser war sehr schwarz, hie und da lag eine grüne Pflanzendecke darauf, die unter dem Kiel des Bootes leise rauschte. Wie müde beugten sich die alten Weiden über das Wasser und eine sichere, befriedigte Ereignislosigkeit wohnte hier, eine Ereignislosigkeit, die Billy schwach und feige machte. Warum kann es nicht so bleiben, dachte sie. Wie die kleinen Karauschen regungslos an der Oberfläche des Wassers im Sonnenschein liegen, nur zuweilen ein wenig die Flossen regend, um zu spüren, daß sie leben, das mußte gut tun. Aber plötzlich fiel es sie wie Gewissensbiß an. Es war ihr, als versäumte sie, als verriete sie etwas. Sie fuhr auf. »Fahr' ans Land,« befahl sie. Verwundert schaute Moritz auf. »Ja, ja, ans Land,« wiederholte Billy ungeduldig. Und am Lande, als Moritz sie aus dem Boote hob, fühlte Billy, daß sie etwas tun müsse, was der vornehmen Gelassenheit dieses stillen Teiches, der kleinen Karauschen, der alten Weiden widersprach, ihr in das Gesicht schlug, und sie beugte sich vor und küßte Moritz. »Aber Billy, ich verstehe nicht,« stammelte Moritz und wurde dunkelrot, aber Billy war schon fort.


 << zurück weiter >>