Eduard Graf von Keyserling
Bunte Herzen
Eduard Graf von Keyserling

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Der Abend kam mit dem Tee auf der Veranda. Da der Mond spät aufging, lag der Garten in tiefer Dunkelheit da, die Wolkenwand war am Himmel höher hinaufgestiegen, während der westliche Himmel noch voller Sterne hing. Zuweilen huschte das blaue Licht eines Wetterleuchtens über den Garten und ein plötzliches Wehen schüttelte an den Bäumen, so daß man allerort das Obst in den Rasen fallen hörte. Auf der Veranda waren nur die roten Spitzen der brennenden Zigarren sichtbar und die Stimmen der Sprechenden nahmen etwas Weiches, Beruhigtes an, als wollten sie zu den verhallenden Tönen stimmen, die durch die Nacht irrten. Lisa saß neben dem Leutnant und sprach von Griechenland. »Sehen Sie, Marathon, was war mir früher Marathon? eine Jahreszahl, vierhundertneunzig, glaube ich, aber an jenem Abend, so im Abendrot über der Ebene, es klingt unwahrscheinlich, aber ich sagte zu – zu Katakasianopulos, ich sagte Katakasianopulos, ich fühle Miltiades.«

»Allerdings, sehr merkwürdig,« meinte der Leutnant. Er war jetzt so passioniert für die Jagd, daß er täglich auf Rebhühner ging, abends sehr müde war und nur matt der Unterhaltung folgen konnte.

Der Professor sprach mit Graf Hamilkar wieder über Träume. »Der Traum ist für uns eine Wirklichkeit wie jede andere,« meinte er. »Ja,« versetzte der Graf ein wenig undeutlich, denn er nahm die Zigarre beim Sprechen nicht aus dem Munde, »nur eine Wirklichkeit, die wir beim Erwachen immer wieder durchstreichen. Das sind so Erlebnisse, die wir immer wieder in den Papierkorb werfen.«

»Schön, sehr schön,« fuhr der Professor eifrig fort, »aber das tun wir in dem sogenannten wachen Leben auch. Wenn ich erwache, so sehe ich den Traum mit meinen wachen Augen an und dann erscheint er mir unwirklich; aber diese wachen Augen sind eben nicht auf den Traum eingestellt. Und dann, mit allen Erlebnissen geht es so, was ich in einem Augenblicke erlebe, daran glaube ich fest, und im nächsten Augenblicke sehe ich darauf zurück und es erscheint mir unwirklich und falsch und ich streiche es aus. Also bitte, der Himmel, der ist jetzt für mich die große schöne Halle, in der die vielen blanken Lichtchen beieinander stehen in der hübschen Sommernacht und sich einander zublinzeln. Das ist wirklich, was geht das mich an, ob ich morgen vielleicht ihn durch ein Teleskop ansehe, also durch ein Auge, das nicht für mich berechnet ist, und er dann ganz anders ausschaut. Sehen Sie, eine Sternschnuppe. Die Litauer sagen, wenn sie eine Sternschnuppe sehen: da geht einer zu seinem Mädchen. Gewiß, jetzt ist für mich diese Sternschnuppe einer, der zu seinem Mädchen geht. Das ist mein Erlebnis. Bitte, morgen streiche ich es wahrlich aus und denke dabei an Asteroiden oder solche Sachen, deshalb ist es für mich doch heute einer, der zu seinem Mädchen geht, bitte.« Alle hatten zum Himmel aufgeblickt und den Stern gesehn, der eilig durch das Dunkel glitt, in weitem Bogen an den anderen Sternen vorüber, als wollte er ihnen ausweichen, hastig und heimlich. »Dieses Ausstreichen,« meinte Graf Hamilkar, »wenn wir's nur auch dann könnten, wann wir wollen.«

Billy sah noch immer zu den Sternen auf. Dieses mit dem Stern, der zu seinem Mädchen geht, hatte ihr plötzlich die ganze freudige Ungeduld ihrer Liebesgeschichte wiedergegeben und sie fühlte sich wie zugehörig zu jener großen heimlichen Gemeinde derer, die unten auf Erden still und hastig durch die Nacht ihrer Liebe entgegeneilen.

Oben in ihrem Zimmer küßte Billy Marion und sagte: »Diese Nacht wollen wir schlafen, ganz tief schlafen. Aber Marion, sieh mich doch nicht so an, als ob ich gestorben wäre.« Marion wollte etwas sagen, schlich aber dann ängstlich und schweigend hinaus.

»Lina,« befahl Billy der Kammerjungfer, »morgen wünsche ich lange zu schlafen und keiner, hören Sie, keiner soll mich stören.«

Allein geblieben, begann sie leise und geschäftig hin und her zu gehen. Sie kleidete sich um, zog ein braunes Tuchkleid an, setzte ihren Hut auf, hüllte sich in ihren Regenmantel, nahm ihren Regenschirm in die Hand, schrieb auf einen Zettel »Ich bin bei ihm« und legte ihn auf die Toilette und saß dann da wie eine Reisende, die im Wartesaal auf den Zug wartet. Draußen donnerte es zuweilen. Unten im schlafenden Hause riefen durch die stillen Zimmer die altbekannten Stimmen der Uhren einander zu.

Billy stieg über die Hintertreppe leise in den Garten hinab. Am Himmel hing schweres Gewölk. Die Nacht war heute ganz voll Stimmen und Tönen, ein Windstoß fuhr in die Bäume und ließ sie erregt aufrauschen. Welke Blätter liefen auf dem Wege raschelnd vor Billy her. Irgendwo knarrte ein Fensterladen, ächzte ein Zweig. Es war, als irrte ein Ereignis durch die Dunkelheit und weckte den schlafenden Garten. Billy ging sehr schnell, so schnell wie als Kind, wenn sie durch das dunkele Wohnzimmer in die helle Kinderstube kommen wollte. Ein Blitz fuhr über den Himmel und riß die Dunkelheit wie eine schwarze Decke von dem Teich, von den nachdenklich über das Schilf gebogenen Weiden, von den still in all dem Schwarz liegenden Wasserrosen, aber all das schien so fremd, als hätte es Billy nie gesehen. Sie hastete weiter, sie dachte und fühlte nur eins, dort an der Linde bei ihm sein, dort war Sicherheit, dort war alles überstanden. Als sie aus dem Park hinaustrat, erhellte wieder ein Blitz das Land und sie sah eine schwarze Gestalt, die spitze Kapuze des Regenmantels über den Kopf gezogen, am Stamm der Linde lehnen. »Boris!« rief Billy aus. »Still!« erwiderte Boris »komm.« Er legte ihren Arm in den seinen und zog sie mit sich fort. Sie gingen über eine feuchte Wiese, dann an einem Gerstenfelde entlang, in dem ein Wachtelkönig aufgeregt schnarrte, als gäbe er ein Signal. »Wohin gehen wir?« fragte Billy leise. Boris blieb stehen. »Du fragst?« sagte er, »wenn du dich fürchtest, führe ich dich zurück. Ich führe dich bis an das Haus, ganz sicher, noch ist es Zeit.«

»Und du?« fragte Billy zögernd.

»Ach ich!« erwiderte Boris und das klang so kummervoll, so unendlich einsam, daß Billy wieder von jenem schmerzvollen bewundernden Mitleid geschüttelt wurde, das sie Boris gegenüber ganz wehrlos machte. »Nein, nein«, rief sie, »gehen wir.« Sie überschritten nun ein Stück Sumpfland, das weiß von Wollgras war und unter ihren Schritten leise schnalzte.

»Das klingt so«, bemerkte Billy, »wie Küsse, von denen Kammerjungfern sprechen«, und sie lachte dabei. Sie hatte das starke Bedürfnis zu lachen, etwas Lustiges zu sagen. Hinter dem Sumpf begann der Wald. Boris blieb ab und zu stehen, um sich in der Finsternis zurechtzufinden, pfiff einmal leise und ein Pfiff antwortete. Endlich gelangten sie auf dem Waldwege an einen Wagen; ein Mann stand dort, Billy sah das im Schein eines Blitzes für einen Augenblick, dann wieder tiefes Dunkel. Boris sprach leise mit jemand, es war von Gewitter und schlechtem Wege die Rede. Sie hörte, wie Pferde ihre Geschirre schüttelten, dann schob Boris sie in den Wagen, stieg selbst hinein, schlug die Tür zu und langsam setzte sich auf dem holperigen Waldwege das Gefährt in Bewegung.

Der Wagen war eng und dunkel, die heraufgezogenen Glasfenster klirrten leise, dahinter lagen der Wald und die Nacht wie schwarze Sammetvorhänge. Zuweilen warfen Blitze ein jähes blaues Licht in dieses Dunkel. Es begann heftig zu regnen, ein lautes gleichmäßiges Rauschen umgab die Fahrenden, die Tropfen trommelten auf dem Verdeck des Wagens und klopften an die Scheiben. Boris seufzte auf, ein tiefer Seufzer des Behagens und der Erleichterung. Er zog Billy zu sich heran, er drückte sie fest an sich, daß es fast schmerzte, er schüttelte sie ein wenig. »So ist es gut, so ist es gut!« flüsterte er. Seine Stimme klang nicht mehr tragisch, sondern knabenhaft und ausgelassen. Und dann wurde er besorgt: »Aber du frierst, natürlich, ich habe für einen Mantel gesorgt, ich habe für alles gesorgt!« Er hüllte sie in einen großen seidenen Mantel, der leicht nach Moschus roch. »So ist es gut, nicht wahr, das ist der Mantel der alten Frau von Worsky. Mein Freund Ladislas hat ihn mir gegeben, du weißt, er wohnt dort an der Grenze in Padony mit seiner alten Mutter; ein guter Junge! er hat viel für uns getan, er kennt dort alle an der Grenze, er hat uns die Wege geebnet, vielleicht sehen wir ihn noch diese Nacht. Ist der Mantel warm?« – »Ja,« meinte Billy, »aber er riecht nach Madame Bonnechose.« Boris ärgerte sich: »Verflucht! Er soll nicht nach Madame Bonnechose riechen; nichts soll nach deinem Zu Hause riechen. Das ist fort, versunken.« »Über die Grenze sagst du?« fragte Billy. Boris' Stimmton nahm wieder etwas Gequältes an, als er antwortete: »Ja – ich weiß nicht, frag' jetzt nicht, dir bleibt ja doch nichts anderes übrig, es wird schon alles gut, aber jetzt denken wir überhaupt nicht. Das ist es, wonach ich mich gesehnt habe, das ist es, was ich haben mußte, ich wäre gestorben, wenn ich es nicht gehabt hätte, hier so mit dir zusammen sitzen, eng, eng, und um uns ist es ganz dunkel und schwarz, alles ist fort, ist ausgelöscht, die dumme Welt trommelt an den Wagen und kann nicht herein, und du und ich sind ganz allein und haben nichts anderes zu tun als beieinander zu sein. Fühlst du das? sag?« Und er drückte sie wieder fest an sich und schüttelte sie ein wenig. »Ja, ich glaube,« antwortete Billy, »aber sprich noch, sprich noch so.« – »Wozu ist denn«, fuhr Boris fort, »das ganze Leben da, als nur für solche Augenblicke, in denen wir alles vergessen können. Dafür plagt man sich doch, läßt sich demütigen und pumpt Geld, damit für eine kurze Zeit alles von einem abfällt und wir nur eines fühlen und eines denken: Billy!« Er küßte sie ganz fest auf die Lippen. »Nicht wahr, du fühlst wie das alles abfällt von dir, es wird ganz blaß und wesenlos, der langweilige Garten zu Hause und Josef mit der Tischglocke und der Tee mit den Butterbrötchen und diese Billy mit dem weißen Kleid, die nichts tun und nichts denken durfte. All das ist unwirklich und es gibt nur ein Wirkliches, das bin ich. Sag', fühlst du das?«

Billy lehnte den Kopf an Boris' Schulter und schloß die Augen. Gewiß, das war alles sehr fern, der Garten, ihr Zimmer mit niedergelassenen Vorhängen, die schlafende Marion, die altbekannten Stimmen der Uhren in den stillen Zimmern, fremd und unwirklich, als gehöre es nicht zu ihr. Aber hier der Wagen mit seiner Enge und Finsternis, das Rauschen des Regens, das Klirren der Fensterscheiben, waren die wirklich? waren die Hände wirklich, die sie faßten, drückten und schüttelten, als gehörte sie nicht mehr sich selbst, als gehörte sie einem anderen, die Lippen, die sich heiß auf die ihren drückten, diese Stimme, die leise und leidenschaftlich in die Dunkelheit hineinsprach. Und sie selbst, wer war sie denn mit dem Körper, mit dem Blut, in denen sich ein seltsames Fieber hervorwagte. Sie fühlte, wie die Billy, die sie gekannt und an die sie geglaubt hatte, in ihr hinschmolz, es war ihr, als ließe etwas sie los, das sie bisher gehalten hatte, und nun trieb sie dahin und alles war jetzt gleich, es gehörte ja doch nicht zu ihr, jenes Brennen und Fiebern, dem zu lauschen und zu gehorchen jetzt ihr einziges Geschäft war. Sie schwiegen nun beide. Der Regen schien stärker zu werden, immer häufiger huschte das eilige Licht der Blitze über den schwarzen Wald. Der Wagen kam nur mühsam vorwärts, schüttelte und wiegte sich. Eine große Müdigkeit machte Billy die Glieder schwer, als gehörten sie ihr nicht und unvermerkt glitt sie in den Traum hinüber, in jenes qualvolle Träumen des beginnenden Schlafes, in dem die Traumgestalten uns so aufdringlich nahekommen. Es war das Gesicht ihres Vaters, das vor Billy auftauchte, dicht vor ihr, so dicht, daß die lange weiße Nase Billys Nase berührte wie etwas Kaltes, und in den strengen eisengrauen Augen regten sich kleine goldene Punkte wie stets, wenn er böse war. Sie hörte ihn auch sprechen, die ruhige, ein wenig näselnde Stimme: »Ja wenn das mit dem Ausstreichen immer so ginge«, sagte er. Ein starker Donnerschlag ließ Billy auffahren, sie wußte nicht, wo sie war, nur etwas Schweres und Trauriges lastete auf ihr. Sie fror. Auch Boris neben ihr war aufgeschreckt, wie angstvoll griff er nach ihr. »Wir haben geschlafen«, sagte er, »nein das können wir nicht, dann kommt wieder alles Mögliche, vor allem der Morgen kommt dann, dieses verfluchte Licht, wie das herankriecht.« Fröstelnd drückten sie sich aneinander. »Es sollte gar nicht mehr Tag werden, sterben sollten wir jetzt, nicht wahr, so in einem Blitz, plötzlich eine starke blaue Helligkeit und dann wieder diese gute warme Finsternis.«

Plötzlich hielt der Wagen. Boris ließ das Wagenfenster hinunter und steckte den Kopf heraus. Durch das Niederrinnen des Regens blinzelte ein gelbes Licht, ein Hund bellte wütend. »Was gibt es?« rief Boris. Dann öffnete er ungeduldig den Wagenschlag und sprang hinaus. Billy hörte ihn aufgeregt sprechen; eine brummende Männerstimme antwortete ihm, dann mischte sich noch eine Stimme hinein, hoch und schnarrend, die heiter und gesellschaftlich klang, als lachte ein Herr in einer Quadrilleunterhaltung über seinen eigenen Witz. Billy, allein geblieben, fürchtete sich, sie fürchtete sich vor der Dunkelheit, vor den Stimmen draußen, vor dem was geschehen würde und dem, was sie getan hatte, so die einfache, schmerzhafte Furcht des kleinen Mädchens mit dem schlechten Gewissen. Boris öffnete wieder den Wagenschlag. »Komm,« sagte er, »wir müssen aussteigen, der Kerl weigert sich weiter zu fahren, der Weg soll unmöglich sein, eine Brücke soll kaputt sein, was weiß ich!« Er war offenbar sehr ärgerlich. Er half Billy aus dem Wagen und führte sie durch die Wasserlachen einige morsche Stufen hinauf. »Vorsichtig, hier ist alles verfault,« sagte wieder die hohe, schnarrende Stimme. Sie traten in einen Flur, in dem es nach Rauch und Zwiebeln roch, von da in ein Wohnzimmer, in dem ihnen eine schwere überheizte Luft entgegenschlug. Hier war es hell, zwei Kerzen brannten auf einem weißgedeckten Tisch, an der Seite über einem kleinen Schenktisch hing eine qualmende Petroleumlampe. Geblendet blinzelte Billy in das Licht, das Zimmer schien ihr voller Menschen zu sein. Jemand nahm ihr den Mantel ab und die schnarrende Stimme sagte: »Ihre Augen müssen sich erst an den Glanz des Wolfschen Salons gewöhnen, Komtesse.« »Setz' dich, setz' dich«, rief Boris und schob sie zu dem großen, schwarzen Sofa, das vor dem gedeckten Tische stand, hin. Jetzt erst unterschied Billy die Gestalten im Zimmer. Da war ein langer Jude mit schwarzem Bart und grellen braunen Augen, er lächelte ganz süß. In der halboffenen Tür drängten sich Kinder im Hemde, unter wirren, schwarzen Haaren schauten sehr große Augen dunkel wie Onyxkugeln unverwandt zu Billy hinüber. Hinter dem Ladentisch saß eine Jüdin, der falsche, rotbraune Scheitel war ein wenig zu tief in die Stirn gerückt, das gelbe, regelmäßige Gesicht, die langen, braunen Augen drückten eine starre, hochmütige Geduld aus. Neben Boris stand ein Herr im Reitanzuge, er trug Sporen an den Stiefeln, sein feines, scharfgeschnittenes Gesicht lachte, er zeigte dabei sehr weiße Zähne unter einem kleinen Schnurrbart, der ihm wie zwei tintenschwarze Kommas auf der Oberlippe saß. »Mein Freund Ladislas Worsky,« stellte Boris vor, »das ist ein Freund! Bei dem Wetter ist er hinübergeritten, nur um uns zu sehen und uns vor irgendeiner Brücke zu warnen.« Ladislas zeigte wieder seine weißen Zähne. »O,« meinte er, »das ist das Verdienst meiner alten Reitstute, die findet den Weg bei jedem Wetter und in jeder Dunkelheit, vielleicht weil sie nur ein Auge hat. Aber Freund Wolf, den Samowar heran und was sonst da ist. Der Kindersegen soll abtreten, machen Sie es etwas gemütlich, und Mutter Wolf machen Sie ein liebenswürdigeres Gesicht. Boris, mein Alter, keine Verstimmungen! Setzen wir uns zum Souper.« Und er setzte sich an den Tisch, beugte sich zu Billy vor, sah sie mit den blanken Augen aufmerksam und ein wenig frech an und begann sich zu unterhalten, heiter und höflich, als säße er in einem Salon.

»Souper, nun ja, was man so nennt, die Delikatessen unseres Freundes Wolf können wir nicht brauchen. Eier allenfalls, in die dringt das alte Testament nicht ein. Da habe ich mir denn erlaubt, von unserer alten Mamsell zu Hause heimlich ein kaltes Huhn herauszulocken und es mitzubringen.« Er wickelte das Huhn aus einem Papier, legte es auf den Teller und begann es zu zerlegen, sehr sauber und regelrecht; ein wenig zu zierlich und dann wieder zu schwungvoll waren dabei die Bewegungen der weißen Hände mit den vielen blitzenden Ringen. Er sprach dabei immerfort vom Wetter, vom Wege, vom Juden Wolf, und Billy antwortete, als sei er ein junger Herr, der seinen ersten Besuch machte und sie mußte ihn empfangen. »Bitte, dieses Stück, Komtesse«, sagte er und legte Billy einen Hühnerflügel auf den Teller, »das ist ein spanisches Huhn; meine Mutter interessiert sich für Hühnerspezialitäten. Aber Boris, du sprichst ja nicht, tu n'es pas en train, mon vieux, du hast unrecht, Bruder. Du hast allen Grund guter Laune zu sein, kolossal viel Grund.« Dabei verbeugte er sich leicht gegen Billy, »aber das wollen wir schon machen; Wolf geben Sie von Ihrem sündigen Sekt her; unser Freund Wolf nämlich hat immer Sekt auf Lager, um damit auf heimlichen Wegen die Barbaren jenseits der Grenze zu beglücken.«

Essen konnte Billy nicht, die blau und weißen Teller, die Messer und Gabeln, das Tischtuch, alles war ihr zuwider. Drüben hinter dem Schenktisch saß noch immer die Jüdin, das gelbe, regelmäßige Gesicht unbewegt, die mandelförmigen Augen schauten Billy an, gleichgültig, hochmütig und geduldig, »ich ertrage dich, weil ich muß«, schienen sie zu sagen. Diese Augen quälten Billy, es war ihr, als sei sie noch nie so angeschaut worden. Sie zwang sich von diesen Augen fortzusehen, auf Ladislas Worsky zu hören, der eifrig in seiner Unterhaltung fortfuhr. Jetzt sprach er von Literatur: »Bourget, ach ja natürlich, sehr fein, aber er will das Frauenherz analysieren, so wie Schmetterlinge auf Nadeln stecken, aber das ist ja gerade das Ding auf der Welt, das sich nicht analysieren läßt. Sie kennen nicht Bourget, Komtesse? Ach ja, die deutschen jungen Damen lesen keine Romane, sie lesen nur Schiller. Nun, Ihr Schiller – – –.« Billy war ihm dankbar für seine Unterhaltung, für das überelegante seiner Bewegungen, für die weißen Manschetten, die er immer wieder aus dem Rockärmel hervorzog, und für die schmalen, frauenhaften Hände voller Ringe. All das legte etwas Bekanntes, etwas Heimatliches in diese fremde, feindliche Umgebung. Billy antwortete, lachte ein wenig, bemühte sich zu tun, als säßen sie auf der Gartenveranda in Kadullen, ja, sie ahmte ein wenig die Weltdamenmanieren ihrer Schwester Lisa nach. Der Sekt kam. »So, bitte, ein anderes Gesicht, Bruder«, rief Ladislas Boris zu und schenkte den Wein ein. »Aber so ist er immer,« wandte er sich an Billy, »je connais mon Boris. Stört ihm etwas sein Programm, dann ist es fort mit der guten Laune, er hat uns immer mit seiner schlechten Laune die halben Sonntage verdorben, nur weil der nächste Tag Montag war. Ja, das ließ sich nicht ändern. Da hatten wir in Prima einen Kameraden, du weißt, Boris, Andreijsky, ein toller, lustiger Junge. Nun plötzlich erschießt er sich. Warum? Man sprach da von Krankheit und solchen Sachen. Nein, ich weiß, er erschoß sich, weil die Ferien zu Ende waren, einfach, weil die Ferien zu Ende waren, er haßte die Schule wie die Sünde. So ist Boris auch.« »Da muß ich doch bitten«, bemerkte Boris. – »Nun, nun,« meinte Ladislas, »ärgere dich nicht, Bruder, du hast gar keinen Grund. Morgen früh ist die Brücke wieder gemacht, hier bist du in Sicherheit, in der reizendsten Gesellschaft, der glücklichste Mensch, also stoßen wir an, auf Ihr Wohl, Komtesse! auf die Erfüllung aller Wünsche!«

Sie ließen die Gläser aneinanderklingen. Boris lächelte matt, das begeisterte Ladislas. »So ist's recht, mein Alter. Sehen Sie, Komtesse, ich bin solch ein harmloser Mensch, seh' ich einen anderen glücklich, dann bin ich wie berauscht. Ich erlebe nie etwas, aber mir ist zumute, als sei das hier mein Abenteuer, als ob Sie und ich, na, gleichviel –.« Er sprang von seinem Stuhle auf, ergriff sein Glas und begann zu singen:

Treibt der Champagner
Das Blut erst im Kreise usw.

Er sang mit einem hübschen Bariton und mit schwungvollen Theaterbewegungen. Der Jude rief »bravo« und klatschte leise in die Hände. In der Tür erschien wieder die Schar der Judenkinder und schaute mit runden, grellen Augen in das Zimmer. Boris und Billy hörten lächelnd zu, nur das Gesicht der Jüdin blieb unbewegt und blickte mit müder Verachtung die drei dort am Tische an. Die leichtherzigen Noten von Mozarts Melodie füllten den qualmigen Raum wie mit etwas Glänzendem und Kostbarem. Boris wiegte sich leicht auf seinem Stuhl, schlug mit den Fingern den Takt auf den Tisch und als Ladislas zu Ende war, nickte er ihm zu und meinte: »Ja, ja, Bruder, das war das Richtige.« »Nicht wahr?« rief Ladislas. Er freute sich so sehr über die Wirkung seines Gesanges, daß er Boris umarmte und auf beide Wangen küßte. Dann setzte er sich wieder an den Tisch, füllte die Gläser. »Erlauben Sie, Komtesse.« sagte er, »daß ich Ihnen die Hand küsse, ich bin so froh, an diesem Glück hier teilnehmen zu dürfen.« Boris lachte ein wenig mitleidig. »Das war immer dein Talent, mein guter Ladislas! Teilnehmen. Erinnerst du dich, wie du als Student eine Zeitlang keinen Wein trinken durftest und mit deinem Selterswasser doch immer früher betrunken warst, als wir mit unserem Wein, nur aus Teilnahme. Du bist dazu geboren, in Prokura glücklich zu sein.« »Bravo!« rief Ladislas, »un mot charmant! Du fängst wieder an witzig zu werden, Gott sei Dank, du hast allen Grund dazu, Bruder, wenn man, wie du, auf der Seite der Wippschaukel steht, die hoch oben ist und nicht allein dort steht – im Gegenteil.« Boris wurde wieder ernst. »Ganz schön, aber vielleicht müssen wir doch ein wenig von Geschäften reden.« Aber Ladislas war empört: »Erbarm dich, Bruder! Warum sollen wir von Geschäften reden! Warum sollen wir die Komtesse damit langweilen? Was ist auch da zu reden, es ist alles geordnet, es wird alles glatt gehen, nein, ich weiß etwas Besseres, wir machen ein Spielchen, da sind Karten, die habe ich mitgenommen. Sie spielen doch, Komtesse? Irgendein Spiel.« Nein, Billy spielte kein Spiel, aber sie wollte zuschauen, die Herren sollten nur spielen. Sie lehnte sich in das Sofa zurück, die überheizte Luft und der Wein machten ihr den Kopf schwer, machten sie schläfrig und ruhig; Ladislas' »es wird schon alles glatt gehen«, klang ihr angenehm in die Ohren. Natürlich, wenn sie nur jetzt schlafen könnte. »Also ein Ecartéchen«, sagte Ladislas und mischte die Karten. »Sehen Sie, Komtesse, ich spiele sehr gern Karten. Warum? Weil das Kartenspiel symbolisch ist. Bitte, Boris, kupiere.« Billy konnte nicht anders, sie legte die Hand vor den Mund und gähnte. »Du bist müde, Kind,« sagte Boris, »leg' dich ein wenig nieder.« »Freilich,« rief Ladislas, »es ist für alles gesorgt.« Er sprang auf und öffnete die Tür zu einem Nebenzimmer: »Bitte. Aber vordem, Komtesse, erlauben Sie, daß ich von Ihnen Abschied nehme, ich reite gleich wieder fort, ich muß zeitig zu Hause sein, damit meine Mutter von meinem nächtlichen Unternehmen nichts merkt.« Er küßte Billys Hand: »Ich danke Ihnen, Komtesse, für das Glück dieser Stunden.« Das klang so gefühlvoll, daß Billy fast gerührt wurde.

Im Nebenzimmer brannte trübe eine Kerze auf einer Kommode. Weiß und goldene Porzellanvasen standen da voller Papierrosen, an der Wand hing eine jüdische Kußtafel. Den meisten Raum im Zimmer aber nahmen zwei mächtige Betten ein, auf denen sich Berge von Federkissen in rotbaumwollenen Bezügen türmten. »Ja, lege dich nieder,« sagte Boris und strich mit der Hand über Billys Haar, »ach Billy, wenn du fühlen würdest wie ich.« – »Warum sagst du, daß ich nicht fühle wie du,« erwiderte Billy ein wenig gereizt, »das ist unfreundlich.« »Nein, nein, ich bin nicht unfreundlich,« meinte Boris, »schlafe jetzt, ich muß mit Ladislas manches besprechen.« Billy legte sich auf das Bett und Boris ging hinaus. Sie hörte die beiden jungen Leute draußen sprechen, anfangs schienen sie Karten zu spielen, dann flüsterten sie eifrig miteinander in polnischer Sprache schnell und zischend. Billy schloß die Augen und lag regungslos da, schlafen wollte sie, aber dann schien es ihr, als stünde neben ihr etwas, etwas das drohte, das heranschleichen wollte, es schien ihr, als müßte sie wachen, als wüßte sie auf ihrer Hut sein. Sie schlug wieder die Augen auf, die Flamme der Kerze wurde von einem Zugwinde leicht bewegt, irgendwo im Hause wimmerte ein Kind, ein leiser unendlich kummervoller Ton, und um sie her lagen die roten Federkissen mit ihrem widerwärtigen üppigen Schwellen und atmeten einen süßlichen Staubgeruch aus. Sie warfen große Schatten an die Wand und die runden weichen Formen zitterten sachte. Ein unendlicher Ekel schüttelte Billy, warum war sie hier, was hatte sie hier zu tun? Ja so, sie liebte ja Boris. Wie war das doch? konnte sie es nicht wieder haben, dieses heiße Gefühl des Mitleids und der Sehnsucht, das alles in ihr veränderte, ihr Mut zu allem gab und das Unmöglichste selbstverständlich machte. Auch dazu war sie jetzt zu müde. Schlafen wollte sie jetzt – irgendwo wo es still und sicher und rein wäre. Sie schloß wieder die Augen, um nicht dieses Zimmer zu sehen, wollte an zu Hause denken, allein auch diese Gedanken gaben keine Ruhe, sie schmerzten. Also an etwas ganz Friedliches wollte sie denken, etwas, das keine Vorwürfe machen konnte, an die Möbel im Gartensaal, wie sie unter ihren weißen Baumwollebezügen in der Dunkelheit standen, an die großen Blumensträuße, die dort in den Vasen welkten und ihre Blätter mit einem ganz leisen Ton auf den Tisch niederregnen ließen. Ja daran, nur daran wollte sie denken.

Sie mußte doch ein wenig geschlafen haben, denn als sie jetzt auffuhr, schien es ihr, als sei sie fortgewesen irgendwo, wo sie geborgen war, wo sie bekannte Stimmen hörte, und nun fiel sie wieder jäh in diesen fremden Traum hinein. Es war noch da, dieses Zimmer, mit der dumpfen Luft, die Wände mit den sachte zitternden Schatten, die weichen roten Kissen saßen um sie her und warteten, alle waren sie noch da und mußten weiter geträumt werden. Und dann stand da noch jemand vor dem Bett ganz regungslos. Es war Boris, aber auch er seltsam fremd und unheimlich. Das flatternde Licht der Kerze ließ Schatten über sein Gesicht hinfahren und es schien, als verzöge es sich, nur die dunkelen Flecken der Augen waren unbeweglich auf sie gerichtet. Müde und mutlos lehnte sich Billy in die Kissen zurück und schloß die Augen.

»Was ist geschehen«, sagte sie ganz leise.

»Nichts ist geschehen«, erwiderte Boris ebenso leise.

»Ist er fort?« fragte Billy weiter.

– »Ja, Ladislas ist fort.«

»Warum stehst du so da?«

Als Boris nicht antwortete, wiederholte Billy die Frage weinerlich und klagend. Da hörte sie, wie er am Bette niedersank. Er umschlang sie mit seinen Armen, sie fühlte, wie sein Gesicht kalt und schwer auf ihrer Brust lag, wie ein seltsames Beben seinen Körper schüttelte, als weinte er.

»Du sagtest doch, es wird alles gut werden«, sagte Billy und ihre Stimme klang wieder weinerlich und gereizt. »Warum sprichst du nicht? Ich weiß ja nicht, ich glaubte, daß ich bei dir sein muß, daher ging ich mit. Du sagtest doch, es wird alles gut werden.«

Boris klammerte sich fester an Billys Arm, er schob sich hinauf, jetzt lag er mit dem Oberkörper auf ihr, sein Gesicht war dem ihren ganz nahe, nun küßte er sie mit trockenen hungrigen Lippen. »Ja,« flüsterte er, »es wird alles gut, wenn du nur willst. Aber ich fürchte mich so furchtbar vor dem einen ....«

»Du fürchtest dich auch,« erwiderte Billy tonlos, »ja dann –«

»Nein, hör',« fuhr Boris fort und sein Flüstern wurde seltsam heiß und leidenschaftlich, »wenn du nur willst. Ich fürchte mich vor morgen, wenn es grau und hell wird, und wir müssen etwas tun und müssen sorgen, und die Menschen kommen, und alles ist so häßlich, die anderen und wir, und unsere Liebe, ach Billy, das habe ich nie ertragen können, so der nächste Morgen nach einem Glück –«

»Wir können es doch nicht ändern, daß es Morgen wird«, meinte Billy immer noch mit dem gereizten Ton.

»Doch, wir können das«, sagte Boris atemlos vor Erregung und seine Hände preßten sich um Billys Schultern so fest, daß es sie schmerzte. »Wir sind doch beisammen, wir können so glücklich, so glücklich sein, daß wir keinen Morgen mehr sehen wollen. Das gibt es. Du wirst sehen. Komm', du und ich, und dann vertragen wir nichts als zu sterben.« Er stammelte das, ganz nah auf sie hinabgebeugt, das Gesicht bleich und böse und seine Hände zerrten fieberig an Billys Kleid.

– »Wie können wir denn sterben?« versetzte Billy müde.

»Wie – ist gleich,« erwiderte Boris ungeduldig, »du wirst sehen, wir können dann nicht weiterleben.«

Billy schlug die Augen auf und schaute Boris scharf und angstvoll an. »Hast du das schreckliche, kleine Revolver, welches du mir zu Hause im Garten zeigtest, und von dem du sagtest, daß es dein Freund sei?« fragte sie.

»Ja, ja, aber warum davon sprechen,« antwortete Boris ungeduldig, »wir denken jetzt nur an uns, an unser Glück. Willst du, sag'? Wir sind einer bei dem anderen und nichts ist da, als nur wir und wir sterben lieber, als daß irgend etwas anderes nahe kommt.«

Billy richtete sich ein wenig auf, sie schob Boris' Hände, die heiß an ihrem Körper entlang fuhren, wie etwas Lästiges fort. Ihre Augen wurden groß und klar vor Angst, aber ihre Lippen zuckten wie in einem spöttischen und ein wenig verächtlichen Lächeln: »Glücklich sein – hier bei diesen häßlichen, roten Kissen. Ach bitte geh jetzt. Du – du bist wie das andere hier, ich fürchte mich auch vor dir!«

Boris ließ Billy los und richtete sich auf. Jetzt kniete er vor dem Bett, ließ die Arme schlaff niederhängen und nagte an seiner Unterlippe. Sein Gesicht trug den Ausdruck kummervoller Enttäuschung. Billy lehnte sich wieder in die Kissen zurück, wandte das Gesicht zur Wand und schloß die Augen. Regungslos lag sie da wie ein geängstetes Kind und horchte gespannt auf das leiseste Geräusch. Boris schwieg eine Weile, dann sagte er einmal: »Aber Billy«, und dies war wieder die Stimme, die sie kannte; aus ihr wehte es sie an wie der duftende Atem des heimatlichen Gartens, und der Boris, den sie kannte, und die Billy, die sie kannte, und ihre Liebe – alles war für einen Augenblick wieder da. Sie wollte sich umwenden, allein sie schloß die Augen nur noch fester, sie wußte, wenn sie die Augen aufschlüge, dann wäre das alles doch fort. Sie hörte sich selbst sagen, überlegen und verdrossen: »Sterben, nein, gewiß nicht. Wenn du sonst nichts weißt!«

Wieder schwieg Boris und Billy wartete in angstvoller Spannung. Da hörte sie, wie er sich erhob, einige Schritte machte, vor sich hinmurmelte: »Ja, das ist etwas anderes, da ist nichts zu machen« und dann langsam und zögernd aus dem Zimmer ging. Sie hörte, daß er die Tür nur anlehnte, im Nebenzimmer auf- und abschritt, stehen blieb, etwas in ein Glas goß und wieder auf- und abging. Sie lauschte aufmerksam dem leisen ruhelosen Knarren dieser Schritte, lauschte mit jener schmerzhaften Wachsamkeit, mit der wir etwas verfolgen, das uns droht, das uns angreifen will. Denn dieser Ton wurde seltsam ausdrucksvoll. Billy glaubte aus ihm kurze ärgerliche Worte, eine mißmutig vor sich hinscheltende Stimme herauszuhören. Als dann der Rhythmus dieser Stimme sich änderte, hielt Billy in Erregung den Atem an. Jetzt geht er auf den Fußspitzen, sagte sie sich, jetzt nähert er sich der Tür. Boris trat wieder sachte in das Zimmer und blieb an dem Bettende stehen. Sie hörte deutlich das leise Aneinanderklingen der Berlockes an seiner Uhrkette, dann wurde es ganz still. Billy rührte sich nicht, sie wartete mit der Ergebung, die wir im Traum haben, auf deren Grund unbewußt die Hoffnung ruht, das Erwachen wird kommen und uns von den Traumereignissen erlösen. Boris begann zu sprechen, klanglos, müde: »Natürlich schläfst du nicht. Du willst mich täuschen. Bitte, bitte, laß dich nicht stören. Ich bitte nie zum zweiten Male. Man versteht mich oder man versteht mich nicht. Du verstehst mich nicht, gut, gut, es ist immer dasselbe. Ihr versteht immer nicht.« Er hielt inne und es war wunderlich, wie das Mädchengesicht mit den geschlossenen Augen, den fest aufeinandergepreßten Lippen errötete und erbleichte. »Es wundert mich nur,« fuhr Boris fort, »daß du hierhergekommen bist. Um korrekt zu sein, dazu brauchen wir nicht hier zu sein. Ja, aber so ist es immer, man glaubt zusammen sehr hoch zu stehen, hoch über allem, was klein und dumm ist, man glaubt, nun kommt der große Augenblick, auf den man sein ganzes Leben gewartet und dann ist es wieder nichts, man ist doch allein und du, du bist doch dort unten geblieben in der Welt von – von – Madame Bonnechose«.

Er schwieg wieder und Billy dachte: »Lachte er jetzt?« Es war in seiner Stimme etwas gewesen, das so klang. Sie drückte die Augenlider fester zu; nicht um eine Welt hätte sie dieses traurige und hochmütige Lachen sehen wollen, vor dem sie sich immer gefürchtet hatte auch in Augenblicken, in denen sie Boris am stärksten liebte. Boris machte einige Schritte, blieb wieder stehen: »Nur Verantwortung auf mich nehmen, sonst nichts, nein ich danke. Aus etwas, das ganz schön und groß hätte sein können, machst du etwas Häßliches und Albernes. Da spiele ich nicht mit. Lächerlich zu sein verstehe ich nicht, dazu haben wir Polen kein Talent.« Wieder machte er einige Schritte, wieder wartete er, ja er wartete, das wußte Billy, allein es kam ihr keinen Augenblick der Gedanke, sie könnte die Augen aufschlagen, sie könnte zu ihm sprechen, ihn zurückrufen, sie hatte nur einen Gedanken, ganz still liegen, sich nicht regen, dann geht vielleicht auch das vorüber. Boris war jetzt an der Türe, sie hörte das leise Knarren der rostigen Türangeln und auf der Schwelle sagte er noch mit einer Stimme, die seltsam fremd und verändert klang, mit der Stimme eines, der irgendwo ganz allein kummervoll und hoffnungslos zu sich selber spricht: »Nein, das nicht, das bin ich so müde, immer nur für ein Mißverständnis leben.« Er ging und lehnte die Tür wieder an und Billy hörte wie er im Nebenzimmer hin und her schritt und sich dann auf das alte knackende Sofa warf.

Das Gewitter hatte aufgehört, beruhigt und gleichmäßig rann ein feiner Regen nieder und klopfte ganz sachte an die Fensterscheiben. Billy lag noch immer still da. Warum sollte sie sich regen? Warum sollte sie die Augen aufschlagen? Um sie her war nichts, das zu ihr gehörte, das teil an ihr hatte, nichts, das sie als Leben empfand. Ein nie erlebtes Gefühl des Alleinseins ergriff sie körperlich, etwas, das sie krank machte, sie frieren ließ.

Boris hatte mit seiner seltsam veränderten Stimme von Glücklichsein und Sterben gesprochen. Diese Worte hatte sie schon einmal gehört zu Hause zwischen den Johannisbeerbüschen, aber dort klang es anders, dort klang es traurig und schwül und süß, sie verstand es dort und es erschien ihr als etwas Mögliches und Leichtes, wenn Boris es wollte. Allein hier – sterben, das war unverständlich und widerwärtig wie alles andere hier, das war eben dieses furchtbar rätselhafte Gefühl der Einsamkeit, das jetzt kalt über sie hinkroch. Sie muß daliegen und das Leben ist unendlich weit, sie sieht es wie einen Fleck ganz gelb von Sonnenschein, ganz bunt von Herbstblumen und bekannte Figuren gehen durch diesen Sonnenschein; vor dem Waschhause steht die Wäscherin mit der weißen Schürze, am Nelkenbeete kniet der Gärtner mit dem großen gelben Strohhut und unter dem Birnbaum steht ihr Vater und zieht den Duft der Augustbirnen und der Pflaumen in seine lange weiße Nase. Billy sieht das, spürt das, riecht das und doch lebt das alles ohne sie, ja sie selbst ist dort, sie sieht sich, ihre Liebe ist dort, Boris, alles, aber sie kann nicht zu sich selber hinkommen. Billy richtet sich auf, die Augen weit offen, der Mund sehr rot im weißen Gesicht und um die Lippen den entschlossenen eigensinnigen Zug, den sie anzunehmen pflegten, wenn Billy fühlte, daß sie etwas haben mußte, nach dem sie sich sehnte.

Sie stieg leise aus dem Bett, schlich zur angelehnten Türe und schaute durch den Spalt. Boris lag auf dem Sofa und schlief. Das Haar hing ihm wirr in die Stirn, das bleiche Gesicht trug den gramvollen und zugleich hilflosen Ausdruck, den ein schwerer Schlaf über ein Gesicht breitet. Auf dem Tisch stand die Sektflasche und ein halbgeleertes Glas. Die Kerze war tief niedergebrannt und der einzige Ton im Zimmer war ein leises Stöhnen, das aus Boris' halbgeöffnetem Munde drang, klagend und dann wieder wie in kleine hohe wie spöttische Laute umschlagend. Billy zog die Türe vorsichtig an. Geschäftig nahm sie nun ihren Mantel und ihren Hut, ging an das Fenster und öffnete es. Der Zugwind verlöschte die Kerze; draußen schien es noch dunkel, der Regen flüsterte in der Finsternis, die großen Tannen rauschten, ein lautes tiefes Rauschen, ein herrlich befreites Atmen aus unendlich weiter Brust, und Billy mußte auch atmen, ganz tief, sie schwang sich auf das Fensterbrett und sprang hinaus.

Der Wind trieb ihr den Regen in das Gesicht und benahm ihr den Atem. Sie stand einen Augenblick da, leicht vorgebeugt, wie jemand, der im Seebade steht und erwartet, daß eine Welle über ihn hingehe. Dann lief sie in die Finsternis hinein mit festen eigensinnigen Schritten, über dem nassen Wege lag eine matte, blinde Helligkeit. Dieser folgte Billy. Klatschend sprang das Wasser an ihren Beinen hinauf, wenn sie in die Pfützen trat, von ihrem Hut rannen kleine kalte Bäche hinter ihren Mantelkragen. Alles war gegen sie, alles war feindlich, was da rings um sie her flüsterte, gurgelte, kicherte und rauschte. Es war furchtbar und sie fürchtete sich auch, aber sie hatte es nicht anders erwartet und sie mußte eben vorwärts. Dabei fand sie in sich etwas, das sie bisher nicht in sich gekannt hatte, sie fand in sich das erregende Gefühl böser Wachsamkeit und gleichsam verbissener Neugier, die das Wesen des Mutes sind. Denken konnte sie nicht, sie hatte nur auf der Hut zu sein. So stürmte sie fort. Der Weg wurde jetzt dunkel. Die großen Tannen rauschten ganz nahe um sie her, zuweilen schlug ein nasser Zweig nach ihr oder wollte sie festhalten und dann stieß sie ihn von sich ingrimmig und kampflustig. Eine große, traumhafte Resignation dem Unbekannten und Lauernden gegenüber machte sie fast gefühllos. Wunderlich war es dabei, wie die ganze Zeit über ein Bild vor ihr stand und empfunden und gesehen werden wollte. Sie sah sich selber deutlich, als ginge sie neben sich selber her, die schmale Gestalt im braunen Regenmantel, den nassen Hut auf dem Kopf, ein wenig vorgebeugt, wie sie die fremden schwarzen Wege entlang lief, unaufhaltsam und willenlos wie eine Kugel, die eine kräftige Hand hinausgeschleudert hat, vorwärts über die Wurzeln, die sich ihr hinterlistig in den Weg stellten, unter Zweigen durch, die sie aufhalten wollten und sie mit Wasser überschütteten, an großen dunklen Vögeln vorüber, die über den Weg rauschten und erschreckende Klagetöne in die Nacht hineinriefen. Aber das mußte so sein, so war das Leben außerhalb der Gartengitter von Kadullen, so war es, wenn man sich wieder zu den Gartengittern von Kadullen durchkämpfen mußte. Und es war Billy, als fühlte sie, daß da in der finsteren Welt um sie her viele solche einsame Gestalten schwarze Wege hinabliefen eilig, eilig. Diese Kameradinnen der Nacht empfand sie so stark, daß sie ihr unheimlich und dennoch ein wenig tröstlich waren. Der Weg wurde immer deutlicher und blanker, Bäume und Sträucher standen jetzt deutlich in einem grauen Licht, Nachtraben klatschten mit den Flügeln, der Tag kam. Aber Billy schaute nicht auf. War es furchtbar diesen Traum zu träumen, so fürchtete sie sich dennoch davor, aus ihm zu erwachen. Sie wußte, dann würde dieses Fieber des Mutes und der gedankenlosen Ergebung von ihr weichen, dann würde sie keine Kraft mehr haben. Den Kopf auf den Weg niedergebeugt stürmte sie weiter, zuweilen war sie mitten in einem weißen Nebel, dann ging sie wieder über Moos hin wie über grün und roten Sammet. Merkwürdig still war es um sie geworden, Regen und Wind mußten aufgehört haben. Plötzlich ging sie ganz in rotem Licht. Sie fühlte dieses Licht wie etwas, das wehe tut, sie kniff die Augen zusammen und beugte den Kopf tiefer. Allmählich wurde das Licht golden, überall lag greller Glanz, überall flimmerte es, in der Luft begann es zu summen, im Moose zu rascheln. Billy fühlte, wie um sie her geschäftiges Leben erwacht war und sie ging schneller, es war wie ein Wettlauf mit diesem Tage, der so ruhig und wach in all seinem Glanze herankam.


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