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Die Freiheit der Persönlichkeit.

Ueber der Pforte unserer Zeit steht
Verwerte Dich!

Max Stirner.

 

Die Freiheit der Persönlichkeit – dieser Ausdruck ist beinahe ein Schlagwort geworden, bevor auch nur die Wenigsten ahnten, welchen Begriff diese Worte in sich schliessen. Wie viele wissen wirklich, was es kostet, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Jahr um Jahr zu trachten, den Inhalt dieser Worte zu verwirklichen? Wer ist wach gelegen, nachgrübelnd über das, was sein eigenstes Ich sei, oder wie es wirklich zu seinem Ausdruck kommen könne?

Seine Persönlichkeit freizumachen – das verlangt unter anderem, angespannt den Tönen in seinem eigenen Innern zu lauschen, um den Grundton selbst zu entdecken. Und hat man diesen gefunden, dann ist die nächste Bedingung für die Befreiung der Persönlichkeit, dass man mit offenen Augen das suche, was man braucht, und es nehme; dass man sich in der rechten Weise für seine eigene Ausbildung nähre, dass man seinen eigenen Erlebnissen entgegengehe, sich seine eigenen, bedeutungsvollen Gewohnheiten schaffe und so seine Eigenart stärke. Und andrerseits, dass man jenen Erlebnissen, Studien und Gewohnheiten aus dem Wege gehe, die den eigenen Stil stören oder ihm entgegenwirken würden. Die Anlage zur Individualität äussert sich – wie jede andere bedeutende Anlage – in erster Linie als Vermögen der Selbstverteidigung gegenüber allem, was ihr Eintrag thun will. Der geborene Individualist hat schon von der Kinderstube und der Schulbank an instinctiv seine Spiele, seine Bücher, seine Arbeitsweise, seine Freunde gewählt. Er hat früh den Mut gehabt, seinen eigenen Schmerz und seine eigene Freude zu zeigen, seinen eigenen Geschmack und seine eigenen Fehler. Er hat sich nicht abplatten, bleichen oder abrunden lassen.

In der ersten Jugend hat man selten Gelegenheit, seine Persönlichkeit durch Handeln auszudrücken. Aber umsomehr giebt sich da der geborene Individualist durch Widerstand zu erkennen und ist so im allgemeinen ein alles eher als liebenswürdiges junges Wesen! Doch, wenn dann die Zeit des Handelns kommt, hat er vielleicht gerade so sein Vermögen zu unterscheiden entwickelt, er weiss, wann er wagen, wann er sich stille halten soll; wann er trotzen kann, wann er sich beugen muss; wann er abwarten darf, wann er sich zu entschliessen hat; wann er Anderen folgen kann und wann dieses ein Fortgleiten von sich selbst sein würde. Jede solche Wahl ist jedoch nur eine taktische Uebung für die grossen Schlachten, mit denen man die Freiheit der Persönlichkeit gewinnt. Diese Schlachten spielen sich in der inneren Welt ab, wo es die Ehrlichkeit gegen unsere Gedanken und unsere Träume gilt, gegen unsere Zweifel und unsere Gefühle, unsere Anschauungen und unsere Impulse. Da bedarf es eines scharfen Blickes, um alles emporzuholen, was im eigentlichsten Sinne unser ist, aus jener halbdunklen Tiefe, die man Seele nennt; da bedarf es eines feinen Gehörs, um der spröden, stillen Stimme zu lauschen, die in unserem Innern unser Innerstes offenbart, aber die so oft von dem Ererbten, dem Eingelernten, dem flüchtig Erfahrenen übertönt wird. Unser bewusstes Ich bringt so oft unser besseres, impulsives Ich zum Schweigen. Wir verwechseln so leicht den Schrei der Leidenschaft mit dem Seufzer unserer tiefsten Lebenssehnsucht. Wir halten so oft die toten Reflexbewegungen unseres Gefühls für Lebenszeichen. Wir lügen so häufig unsere Gefühle fort und nennen es Rücksicht; wir halten so gerne an verbrauchten Gedanken fest und nennen es Treue.

Darum bedeuten alle Freiheiten der Welt wenig für die Befreiung der Persönlichkeit und aller Zwang der Welt verhältnismässig wenig für ihre Hemmung. Das Tiefentscheidende ist, ob die Individualität Stärke genug hat, ihre eigenen Fesseln zu sprengen, dann hat sie auch übergenug Stärke, sich durch alle anderen Hindernisse zu zwingen.

Ein Mensch, welcher von der Leidenschaft erfüllt ist, ganz er selbst zu sein, mit allen Pulsen zu leben, sein innerstes Ich auszudrücken – hat nie ein ruhiges, aber immer ein reiches Dasein. Für ihn singt und klingt das Leben, denn er dichtet es selbst, im Fleiss des Alltags und im Rausch der grossen Stunden, in den Jahren des Schmerzes und in den Augenblicken der Freude. Er weiss, dass das Erlesenste, was er den Anderen schenken kann, zugleich das Höchste ist, was er für sich selbst zu thun vermag: wagemutig das Dasein mit stets echten und – wenn möglich – auch starken und schönen Aeusserungen seiner eigensten Persönlichkeit zu erfüllen. So gewinnt er, für sich und Andere, neue Lebenswerte und neue Lebensanreize. So erweitert er, nach Massgabe seiner Kräfte, seinen Winkel des Daseins; so überwindet er, soweit es ihm gegeben ist, die Hindernisse, welche das Sterbende dem Lebenden in den Weg legt. Ein tief selbstbewusster Mensch verlangt von Anderen nur Freiheit für seine Individualität. Und darum vermag weder Hass noch Hohn, weder Anerkennung noch Missfallen ihn von seinem eigenen Wege abzulenken oder seine innere Harmonie zu erschüttern, so lange er sich seinem eigenen Pathos treu fühlt, mit jener Treue, die seine ganze Religion, sein ganzes Sittengesetz ist. Eine solche Treue schliesst unter anderem den Mut in sich, hinab in die Tiefe seines eigenen Wesens zu blicken und die Folgen der dort gemachten Entdeckungen zu tragen – auch wenn die innere Folgerichtigkeit des Lebens sich nur dadurch erringen lässt, dass man zuweilen die der Gedanken oder der Handlungen opfert. Und sie schliesst noch einen anderen Mut in sich, den, die Achtung der Menschen entbehren zu können. Das ist die einzige Möglichkeit, stets seine eigene zu behalten, während man diese oft opfern muss, falls man sucht, die Anderer zu erringen. Darum ist eine Persönlichkeit, erst dann vollkommen stark, wenn sie nicht länger fürchtet, irgend eine andere Achtung zu verlieren, als ihre eigene!

Es kommt vor, dass diese Stärke die allgemeine Meinung besiegt. Denn diese Meinung weicht – wie andere wilde Tiere – vor einem mutigen Blick zurück, aber zerreisst den Fliehenden.

Wie dies auch werden mag: auch der Individualist, der gezwungen ist, seinen Weg einsam zu gehen, hat dabei das beste Geleit: nicht die Menschen, welche sind, sondern die, welche kommen.

*

Die Mehrzahl hat noch so wenig über den Individualismus nachgedacht, dass der Ausdruck »Die Freiheit der Persönlichkeit« in ihrer Phantasie sofort das Bild z. B. eines Herrn hervorruft, der den Tag damit anfängt, die Füsse auf den Frühstückstisch zu legen, und ihn damit beschliesst, die Frau eines Freundes zu verführen, während es ihm in der Zwischenzeit womöglich gelungen ist, einen Meineid, eine Wechselfälschung und einen Meuchelmord zu begehen! Auch die, deren Phantasie einen zahmeren Flug hat, hegen doch die Vorstellung, dass die Befreiung der Persönlichkeit in sich schliesst: dass ein jeder frei seinen Trieben und Leidenschaften folge.

Der hingegen, welcher über den Gegenstand nachgedacht hat, sieht ein, dass die Triebe gerade das Nicht-Individuelle, das Allgemeinmenschliche sind und dass man, solange man von seinen Trieben beherrscht wird, keine Persönlichkeit ist. Das kleine Kind, der Wilde, der rohe Mensch weisen bloss Möglichkeiten zur Individualität auf. Diese tritt erst durch die besondere Art hervor, wie Triebe und Leidenschaften zu höheren Lebenswerten umgearbeitet werden. Da jedes Menschen Grundwesen durch ererbte Anlagen bestimmt ist, so finden sich auch grössere oder geringere Anlagen zur Persönlichkeit. Aber mögen diese Anlagen nun grösser oder geringer sein, so werden sie doch durch die Erfahrungen von Freude und Schmerz, durch Erziehung und Bildung, durch Gewohnheiten und Lebensverhältnisse modifiziert. So entwickeln sich Triebe zu Gefühlen und Gefühle zu Gedanken oder Vorstellungen. Das verhältnismässig unzusammengesetzte Naturwesen wird zusammengesetzt, differenziert, d. h. immer mehr individualisiert, immer weniger generell, oder mit anderen Worten, immer weniger von blinden Trieben und Leidenschaften bestimmt. Triebe und Leidenschaften sind notwendig, das will sagen berechtigt, wie jedes andere Moment der Persönlichkeit. Aber keine Eigenschaft der Persönlichkeit darf so einseitig entwickelt werden, dass die Entwicklung aller anderen Eigenschaften gehemmt wird. Dieses würde sowohl die Freiheit wie das Glück der Persönlichkeit vernichten. Es ist eine alte Erfahrung, die mit tragischer Deutlichkeit auch unsere Zeit bestätigt, dass der Mensch, den seine Triebe in der Gewalt haben, so charakterlos wird, dass er, bei einem gewissen Stadium physisch-psychischer Zusammengebrochenheit angelangt, jedes Gefühl seiner Integrität, seiner Würde, des Zusammenhangs seines Lebens verliert, sich haltlos von einem Extrem ins andere stürzt und leicht in hundert Pfade gelenkt wird, von denen keiner sein eigener ist.

Frei ist nur der Mensch, der weder von seinen eigenen Gelüsten, noch durch den Willen der Anderen dazu getrieben wird, gegen seine Natur zu handeln. Nur sein eigenes Handeln kann ihm Glück schenken. Glück ist das volle Machtgefühl, welches durch die Entwicklung aller Kräfte in der grösstmöglichen Freiheit zu der grösstmöglichen Vollkommenheit entsteht. Die Befriedigung des unpersönlichen Triebs kann also tierischen Genuss schenken, aber nichts, was menschliches Glück genannt werden kann.

Jede unfreie, unpersönliche Handlung, die der individuell Entwickelte begeht, quält ihn wie eine Sünde gegen sich selbst, mag er sie nun begangen haben, weil er in dem Augenblick einem Triebe oder weil er einer Sitte sklavisch unterworfen war. Die ganze befreite Persönlichkeit begeht jedoch keine solchen Sünden und kaum auch irgendwelche anderen! Sie kann allen Kräften und Mächten ihres Wesens volle Bewegungsfreiheit lassen, weil sie sie in ihrer Hand hat und sie durch die leiseste Bewegung zu lenken vermag, so wie der geübte Segler sein Fahrzeug, der sichere Reiter seinen Traber. Er empfindet den Genuss, sich so weit als nur immer gehen lassen zu können und sich doch niemals zu vergehen; sein ganzes unbewusstes Ich spontan hervorquellen zu lassen, in der Gewissheit, dass nichts Niedriges oder Kleinliches, nichts Rohes oder Unschönes an den Tag kommen könne. Die Erde hat keinen edleren Rausch zu bieten, als dieses stolze, machtausstrahlende, selbstherrliche Glück der ganz frei gewordenen Persönlichkeit. Bei einem solchen Menschen kann man keine Fehler entdecken, nur Grenzen. Aber innerhalb der Grenze ihrer eigenen Möglichkeiten ist das Material der Persönlichkeit zur Vollkommenheit veredelt.

Auch bevor dieses höchste Entwicklungsstadium erreicht ist, kann eine wirkliche Persönlichkeit nur auf ihre eigene Weise fehlen, nach dem Gesetze ihres Wesens. Denn in einem geschlossenen und einheitlichen Ich gehören die Fehler mit zum Stil des Charakters, so wie der Schatten zu der Form der Gestalt. Ja, ein Charakter entscheidet sich zuweilen dafür, einen Fehler beizubehalten, der unauflöslich mit einer gewissen Stärke verbunden ist; aber er begünstigt weder Tugenden noch Fehler, zu denen er in keinem persönlichen Verhältniss steht. Und er wählt mit unfehlbarem Instinct den für sein Temperament höchsten Wert, mag dieser eine Freude oder ein Leiden sein, eine That oder ein Traum, eine Tugend oder eine Untugend. Für einen solchen Menschen ist es in des Wortes buchstäblicher Bedeutung unmöglich, aus unbeherrschtem Trieb oder Leidenschaft ein Verbrechen zu begehen. Eine durchgearbeitete Ausformung der eigenen Individualität bringt überdies ein immer feineres Gefühl der Grenzlinien für das Eigene auch in seinem Verhältnis zu Anderen mit sich. Wer sich selbst, seine wirklichen Bedürfnisse versteht, wer behutsam und wählend ist, so dass er sich nicht mit Geringerem als seinem Eigensten begnügen kann und sich nie verleiten lässt, über seine eigene Grenze hinauszugehen, dieser Mensch wird auch rücksichtsvoll der Eigenart Anderer gegenüber sein. Aber wenn es sich begiebt, dass er sich vor der Eigentümlichkeit oder dem Recht eines Anderen oder vor einem gewissen Gesellschaftsgesetz nicht beugt, so ist das, weil sein Gewissen diese Eigentümlichkeit, dieses Recht oder dieses Gesetz nicht gutheissen kann. Er kränkt sie dann, nicht von unfreien Impulsen getrieben, sondern mit klarem und reinem Bewusstsein. Und während er für Andere wie für sich selbst alles unnötige Leiden hasst, hat er in sich den Mut entwickelt, dessen er bedarf, um ein notwendiges Leiden zufügen zu können.

Man kann ein ungefährdeteres Leben haben als der Individualist, wenn man der Mehrzahl angehört, den Passagieren auf dem grossen Dampfer, der uns unter der Flagge der Gesellschaftsmoral sicher über die Wellen führt. Jeder Einzelne braucht sich da nur passiv zu verhalten, um in den Hafen zu kommen. Aber neben dem grossen Dampfer sieht man wie »einsam in gebrechlichem Kahn der Segler aufs weite Meer sich wagt ...«, sich hinauswagt bei unendlich grösserer Gefahr, aber mit unendlich grösserer Kraftanspannung, Herrscherfreiheit und Lebensfülle!

*

Man hört freilich – z.B. bei den Jubelfesten des Protestantismus – dass Jeder jetzt in seinem eigenen Gewissen seinen höchsten Richter habe. Aber sobald man dieses Princip des Individualismus behaupten will, beeilen sich die Wächter der Ordnung hervorzuheben: wie ein solcher Subjectivismus jedes Gesellschaftsleben unmöglich machen würde!

Nun ist es jedoch so, dass das Gewissen der Mehrzahl noch mehr von dem Ererbten als von dem Individuellen bestimmt wird, dass es in den meisten Fällen nur ein Echo des sozialen Rechtsbewusstseins geworden ist. Was not thut, ist gerade, das einzelne Gewissen zu entwickeln, das das einzige wirkliche Gewissen ist. Und diese Entwicklung vollzieht sich auch durch Irrtümer, denn »wenn das Gewissen fehlgreift, so kann es das nur dann entdecken, wenn es seinem eigenen Wege folgen durfte.« Darum gereicht jeder anhaltende Gewissenszwang, der vom Staate gegen die Einzelnen geübt wird, auf die Länge dem Staate selbst zum Schaden. Denn das Gesellschaftsgewissen wächst, verfeinert und erhebt sich nur unter günstigen Bedingungen für die Freiheit des einzelnen Gewissens, das will sagen, dass die Individuen nach der Sicherheit ihres eigenen Gewissens leben und auf eigene Verantwortung handeln können. Dabei entstehen jene Conflicte und Situationen, durch die das Gewissen Aller zur Prüfung und Wahl erweckt wird, und so bildet sich ein neues moralisches Bewusstsein der ganzen Gesellschaft aus.

Aber diese ethische Neugestaltung vollzieht sich nicht dadurch, dass schwache Menschen Verbrechen gegen die Moralgebote begehen, die sie noch weiter gutheissen, oder dadurch, dass zügellose Menschen ihren Trieben, den Gesetzen zum Trotz, freien Lauf lassen. Sie vollzieht sich nur durch jene, welche aus Naturwesen Gesellschaftswesen geworden sind und aus Gesellschaftswesen Individualitäten. Dieses giebt ihnen das Recht, die soziale Moral zu prüfen, und zu entscheiden, ob sie ihr in irgend einem gegebenen Falle folgen wollen oder nicht. Dieses macht ihren aufrührerischen Trotz zum Grundstein der Moralgebote einer späteren Generation. Und da die Menschen die Moralgebote für ihre Bedürfnisse geschaffen haben, besitzen sie auch das Recht, sie umzuwandeln, wenn sie neue Bedürfnisse haben. Die Kantische Forderung, das Individuum solle so handeln, als ob seine Handlung Gesetz für alle Menschen würde, ist diametral der individualistischen Auffassung entgegengesetzt, die das grösstmögliche Glück für die Mehrzahl und den grösstmöglichen Culturfortschritt davon erhofft, dass man schliesslich keine absolute, für alle verbindende Regel anerkennen, sondern sich in jedem individuellen Falle seine eigene Regel schaffen werde. Die, welche nicht jene ethische Entwicklung erreicht haben, die das Recht zu ethischer Neugestaltung giebt, sondern die nur erwachsende Kinder sind, oder Pflichtmenschen ohne individuelles Gewissen, oder Triebmenschen ohne soziales Gewissen – alle diese brauchen den gesellschaftlichen Zwang, um das Recht anderer nicht zu verletzen. Und selbst der ausgeprägte Charakter bedarf in gewissen Epochen seiner Entwicklung dieser Stütze. Aber der Zweck der Gesellschaft ist erst dann erreicht, wenn die Gesellschaft durch die ethische Selbstherrlichkeit der Individuen überwunden ist!

Hier ist der Punkt, wo ein Idealist sich als conservativ oder radical erweist. Der conservative Idealist glaubt, dass die Gesellschaft – ebenso wie die Familie, die Kirche, das Vaterland – in ihrer jetzigen Form ewige Ideen oder abgeschlossene Entwicklungsformen sind. Der radicale Idealist wagt zu denken, dass Alles, was ist – Staat, Religion, Ehe – anders und besser werden könne. Diesem Glauben wird das Misstrauen entgegengebracht, das der Selbsterhaltungstrieb des Seienden gegenüber dem Werdenden ist. Dieser Zweifel ist die tragische Angst des Alters, der Zweifel am Leben und an dem grossen Gesetz des Lebens, der Erneuerung. Was in unserer Zeit das Gealterte vor allem fürchtet, ist gerade die Befreiung der Persönlichkeit. Was das Junge vor allem hofft, ist die Befreiung, durch die das Dasein nicht länger von unfruchtbarer Idealität erfüllt sein wird, sondern von verwirklichten Idealen.

Es wird sich dann zeigen, nicht dass das Gute das Glück ist, wie das Christentum es predigt, sondern dass das Glück das Gute ist. Dieses Glück wird möglich, wenn der Cult des Individualismus religiös geworden ist, wenn er in sich alle anderen Lebensinteressen begreift.

Die Bekenner dieser neuen Religion werden – wie ich schon oben darlegte – ausserordentlich feine Gewissen haben, wenn es sich darum handelt, ihrem eigenen Dämon zu folgen, ihre Handlungen nach ihrer Ahnung von den höchsten Möglichkeiten des eigenen Wesens zu prüfen. Auch eine Handlung, die weder Anderen, noch dem Individuum selbst schadet, ja, die nur von ihm selbst gekannt wird, kann, wenn sie den Stil der Persönlichkeit stört, den Individualisten jahrelang grämen, so wie ein unverbesserlicher Fehlschlag des Meissels den Bildhauer grämt. Hingegen aber fehlt ihm jedes Schuldgefühl gegenüber jedem anderen Ideal als seinem eigenen – ein Schuldgefühl, das stets den begleitet, der gezwungen ist, jeden energischen Impuls, jede spontane Handlung mit einem von aussen gegebenen Muster zu vergleichen. Wie mancher Christ z. B., der ein starkes Selbstgefühl hat, bringt nicht einen Teil seines Lebens auf seinen Knieen zu, um sich zu dem Bekenntnis der Demut zu zwingen, selbst nichts wert zu sein! Wie mancher Christ, der von Natur aus ein lebhaftes Gerechtigkeitsgefühl oder ausgesprochene Sympathieen besitzt, hat nicht in gleicher Weise gekämpft, um ein Unrecht zu vergeben und weiter den zu lieben, der es begangen hat! Ist es ihm nicht gelungen, so verbleibt sein Gewissen krank, und mit vollem Recht, denn er hat sein Vorbild nicht erreicht. Der hingegen, dessen Ethik die des Individualismus ist, sieht das Selbstgefühl insoweit als berechtigt an, als man die Möglichkeiten, die es vorspiegelt, verwirklichen kann. Und er betrachtet den Impuls, der nach gewissen Erfahrungen ihn veranlasst, eine Person für immer unter die Sphäre seiner Sympathie zu stellen, als einen Teil seines individuellen Selbsterhaltungsinstincts. Da der Individualist das Recht eines Anderen zu einer ihm selbst unsympathischen Persönlichkeit zugiebt, wird für ihn Rachsucht ebenso unmöglich wie Verzeihung. Aber er löscht ganz einfach einen solchen Menschen aus seiner Seele aus: er gehört von nun ab einer anderen Rasse, einer anderen Zeit an, als seiner eigenen. Dieses beleuchtet, wie das Schuldgefühl in seiner christlichen Bedeutung aufhört, wenn die Menschen aufhören, Copieen des christlichen Originals zu sein. Aber das bedingt nicht Zügellosigkeit. Die Bewegungsfreiheit des Individualisten ist von Zügellosigkeit so weit entfernt, wie die Kraftprobe des Athleten von den Luftsprüngen des Kindes. Jener hat seine Freiheit mit der höchsten Mühe errungen. Aber dafür ist seine Freiheit leichter, sicherer, natürlicher als die der Natur!

Die Menschheit erreicht so eine zweite Unschuld, sie gewinnt ein Eden wieder, wo Adam und Eva sich an den Früchten des Baumes der Erkenntnis, an Gut und Böse sättigen – aber wo sie doch ruhig unter dem Baum des Lebens bauen und hausen können, nachdem der strenge Wächter an der Pforte des Paradieses lächelnd sein scharfschneidendes Schwert zu ihren Füssen niedergelegt hat.

Wenn das Princip des Individualismus Fleisch von unserem Fleische, Blut von unserem Blut geworden ist, dann werden die Eltern wie die Gesellschaft ebenso eifrig bestrebt sein, durch die Erziehung originelle Wesen zu schaffen, als sie es jetzt sind, sittliche Wesen zu bilden. Ein absolut »braves« Kind wird dann eine ebenso trauriger Anblick sein, wie ein missgestaltetes. Man soll in dem Kinde die Energie des Naturwesens bewahren, aber sie auf die edle Aufgabe richten, ein Culturmensch zu werden. Und die Energie der Natur kann bewahrt werden, wenn das Kind seine Leidenschaften und Triebe behalten darf, aber lernt, dass es – um des Menschen willen, den es in sich birgt – den Tiger zähmen und den Affen züchtigen muss, die es auch in sich trägt. Des Kindes Erziehung zu individueller Humanität wird da schon an der Brust der Mutter beginnen. Und sie muss durch einen Unterricht fortgesetzt werden, der dem jetzigen diametral entgegengesetzt ist. Es soll dabei nichts anderes Obligatorisches geben, als die Erlernung der einfachen Fertigkeiten, die Gabel und Messer bei der Festmahlzeit des Wissens bedeuten. Dann soll diese jedem nach einem Speisezettel mit auserlesenen und kräftigen Gerichten geboten werden, von dem Erzieher jedes Kindes besonders gewählt und zusammengestellt. Nach einigen Generationen so erzogener Individualisten kann man so erst anfangen zu beurteilen, was die Idee des Individualismus aus der Menschennatur machen kann.

Es war sonnenklar, dass diese Idee, von einer unvorbereiteten Generation in Handlung umgesetzt, verschiedene abschreckende Folgen zeitigen musste. Sein eigenes Ich zu suchen, sein eigenes Leben auszuleben, seinem eigenen Temperament zu folgen – diese Mahnungen wurden – für den Jahren oder der Seele nach unreife Menschen oder für solche, für die die Sinnlichkeit der ganze Inhalt des Ichs war – schlecht angewendete Schlagworte. Für stark ausgeprägte Individualitäten war die Versuchung eine andere, nämlich die – gestützt auf den in tieferem Sinne wahren Gedanken: alle Schaffenden sind hart – die Roheit oder die Härte, die Selbstgenügsamkeit oder die Kälte, die List oder die Heftigkeit in ihrem Temperament als einen wesentlichen Teil ihrer Persönlichkeit zu bewahren, als eine Steinhalde, die nicht bebaut werden dürfe; wenn sie nicht die Energie ihrer Eigenart, die Stärke ihrer Schaffens- und Handlungskraft verlieren wollten. Die beiden Arten von »Selbstbehauptern« missbrauchen jetzt Nietzsche als Verteidigung ihrer Zügellosigkeit oder Brutalität, ihrer Selbstsucht oder Rücksichtslosigkeit. Alles lässt sich ja missbrauchen – wozu hat das Christentum nicht als Vorwand gedient?! Und Nietzsche ahnte sein Schicksal, als er Dornenhecken um seinen Garten wünschte, damit das Vieh nicht einbrechen könne! Für jeden ernsten Leser Nietzsches ist trotz seiner unbewussten und seiner absichtlichen Widersprüche das ganz klar, was einer seiner Commentatoren dargelegt hat: dass Nietzsches grosser Grundgedanke – dass jeder mit allen Kräften seines Körpers, seiner Seele und seines Willens streben solle, seine Persönlichkeit zu steigern und, wenn möglich, zu der Höhe des Uebermenschen zu gelangen – dass dieser Gedanke mittelbar der Gattung und nicht bloss dem Individuum zugute kommen wird und mithin im letzen Grunde kein egoistisches, sondern ein altruistisches Ziel ist. Und wie Nietzsche selbst seine Lehre vom Uebermenschen verwirklicht hat, darüber weiss man jetzt so viel, dass es für immer zu Ende sein sollte mit dem unwissenden Geschwätz über Nietzsche als Propheten der Zügellosigkeit, über ihn, der von Natur aus die strengste Wahrheitsliebe hatte, die ausgeprägteste Neigung zu höfischen, würdigen Formen, ein grosses Bedürfnis nach sympathischer Freundschaft, eine frohe Zufriedenheit bei einfachen Lebensgewohnheiten, eine ungemein rücksichtsvolle Selbständigkeit, ein absolut selbstbeherrschtes Wesen. »Die Ethik des Christentums war ihm zur zweiten Natur geworden,« und jede unfeine Handlung für ihn ein Ding der Unmöglichkeit.

Wie sehr auch die inferioren »Uebermenschen« der Gegenwart die Lehren dieses Meisters missbrauchen, so werden diese Missbräuche doch auf die Länge ungefährlich. Denn früher oder später stossen sie auf die feste Grenze der eigenen Individualität: die Individualität der Anderen. Der roh Rücksichtslose, der kalt Selbstgenügsame wird so immer einsamer; damit sinkt seine Persönlichkeit und mit ihr auch der Wert des Lebenswerks, für das er die Energie seiner Rohheit bewahren wollte. Der sittlich Zügellose findet sein Correctiv in dem Widerstand der Gesellschaft oder der höher stehenden Individuen. Ja, auch der sittliche Neugestalter kommt nicht früher zu seinem Recht, als bis er sich sein Recht verschaffen und es beweisen kann! Er muss darum genau seine Kosten berechnen, seine Gefahr kennen und wollen. Und in diesem Kampf zwischen dem Pathos der Gesellschaft und dem des Individuums, in diesen Schwierigkeiten für die Selbstbehauptung des Uebermenschen liegt das Correctiv gegen die Gefahren, welche sonst aus der Forderung – der gerechten Forderung – einer grösseren ethischen Freiheit für die Höherstehenden und einer geringeren Freiheit für die Tieferstehenden resultieren würden. Der berechtigte Egoismus aller Anderen wehrt den unberechtigten – oder berechtigten – Egoismus des Einzelnen ab. Schon das Kind gelangt im allgemeinen dazu, die Erfahrungen zu machen, durch welche man ein Gesellschaftsglied wird: dass es uns nämlich auf die Dauer nicht gelingt, unsere Lust auf Kosten der Unlust anderer zu finden. Und den Erwachsenen gegenüber, die das nicht in der Kindheit gelernt haben, hat die Gesellschaft das Recht – so lange sie die Macht hat – einen Druck auf jene Selbstbehauptung auszuüben, die der der Anderen zu nahe tritt. Der Uebermensch kann folglich seine neuen Freiheitsforderungen nicht eher ohne heftige Conflicte verwirklichen, als bis es ihm gelungen ist, in der Mehrzahl den Wunsch zu erwecken, dieselbe Freiheit gemessen zu dürfen. Dann erst wird das Gesetz oder die Sitte umgewandelt, die den Einzelnen gehindert haben, »sich Freiheiten zu nehmen.« In den meisten Fällen ist jedoch der Individualist, wenn er zur Klarheit darüber gekommen ist, was sein wirkliches Interesse verlangt, bereit, den Gesetzen der Gesellschaft Gehorsam zu zeigen und zu halten, weil er weiss, dass er ohne diese genötigt sein würde, seine Kräfte zu vergeuden, um sich gegen die brutale Gewalt zu verteidigen, und es ihm dann nur höchst unvollkommen gelingen könnte, sein wesentliches Ich zu entwickeln.

Und wenn der Individualist Anlage zur Harmonie hat, so sieht er auch bald ein, dass nicht die rohe, sondern die veredelte Kraft die stärkere ist, dass nicht das Stangeneisen, sondern das gewalzte Stahlband, das man um den Finger wickeln kann, der höchste Ausdruck der Eigenart des Metalls ist. Energie in der zartesten Seelenregung; Feinheit in dem gewaltigsten Kraftausbruch; rücksichtsloser Mut, den Gedanken bis zu den kühnsten Consequenzen zu verfolgen und die Vorurteile bis in ihre heiligsten Schlupfwinkel, aber Milde gegen jedes Wesen, das leiden kann – das ist die vornehme Stärke der harmonischen Persönlichkeit! Und eine solche Persönlichkeit vergeudet keinen Tropfen des Traubenmostes, der ihr aus dem Becher einer anderen reichen Persönlichkeit credenzt wird. Sie führt mit behutsamen Händen den Becher an die Lippen und leert ihn mit der Andacht einer sacramentalen Handlung.

Ein so ausgebildeter Individualist kann – insoweit er nicht zugleich Anarchist ist – mit dem conservativen Gesellschaftserhalter nur in Beziehung auf das Mass des Zwanges, durch den die Gesellschaft das Recht aller schützen soll, in Streit geraten. In diesem Falle werden natürlich die Ansichten der Individualisten untereinander verschieden sein. Aber – um mit einigen Beispielen die Art der Meinungsdifferenzen zu beleuchten, die auftauchen können – so nehme ich an, dass die allermeisten Individualisten das Recht des Staates anerkennen, den zu strafen, der den Gottesdienst anderer stört, nicht aber hingegen dessen Recht, jemanden zu gewissen kirchlichen Handlungen zu zwingen. Auch der Individualist meint, dass strenge Strafen Gewalt und Verführung treffen sollen, aber dass ein entwickeltes Weib sich frei in Liebe hingeben dürfe. Viele Individualisten würden ein Gesetz herbeiwünschen, das alle Kinder gegenüber ihren Eltern rechtlich gleich stellte, und ein anderes, durch das die Ehe verboten würde, wo eine elende Nachkommenschaft mit Gewissheit vorauszusehen wäre. Solche Gesetze würden dem verbrecherischen Leichtsinn eine Grenze setzen, mit dem – in und ausser der Ehe – neue Wesen in die Leiden des Lebens geschleudert werden. Aber als einen solchen Leichtsinn kann der Individualist es nicht betrachten, wenn ein entwickeltes Weib bewusst und mit vollem Verantwortlichkeitsgefühl die Mutterschaft ausserhalb der Ehe wählt. Mit Rücksicht auf das Recht einer dritten Person erkennen viele Individualisten es als nützlich an, wenn die Ehe eine gesetzliche Form erhält, aber sie verwerfen jede Form, die den beiden Teilen Besitzrecht auf einander einräumt oder die Freiheit hindert, die Ehe aufzulösen. Der Individualist ist überzeugt, dass je mehr die Persönlichkeit sich entwickelt, desto vielfältiger die Art wird, wie die Menschen das erotische Zusammenleben gestalten werden. Je mehr die Grundlage der Gesellschaft die Arbeitsteilung geworden ist, nicht die Familie, in desto höherem Grade ist ja auch die Ordnung des Familienlebens Privatsache geworden. Und die Entwicklung wird sich ganz bestimmt in dieser Richtung weiter bewegen. Für den Schutz der Kinder findet vielleicht die Zukunft irgend eine neue Form des Matriarchats, z. B. dass jede Mutter von der Gesellschaft für eine gewisse Zeit einen gewissen Unterhalt für ihre Kinder erhält.

Ein Individualist kann zugeben, dass Ehre und Erwerb des Individuums gegen die Missbräuche der Druckfreiheit geschützt werden müssen, aber er will nicht ein Wort eines Paragraphen bestehen lassen, das gegen die Freiheit der Forschung, des Gedankens und des litterarischen Schaffens gewendet werden kann

Mancher Individualist will dem Staate nicht nur seine jetzige Macht geben, das Leben der Individuen zu schützen, sondern erhöhte Macht, all die mittelbaren Morde zu hindern, die der Industrialismus begeht. Dagegen sind die meisten Individualisten der Ansicht, dass jeder Mensch – in der Regel – selbst ein Recht über sein Leben hat, und dass, wenn er es sich nimmt, nicht in feiger Flucht, sondern als Folge eines durchdachten Entschlusses, dieses in gewissen Fällen eine sittliche Handlung sein kann.

Zum Schutze des Lebens in dem Productionsfieber der Gegenwart gehört auch die Möglichkeit eines Ruhetages in der Woche. Und der Individualist heisst es gut, wenn der Staat diese Möglichkeit allen Arbeitern wahrt; aber nicht, dass der Staat auch nur im geringsten jemanden hindert, seinen Ruhetag nach seinem Behagen zu verwenden – am allerwenigsten durch aufgezwungenen Gottesdienst.

Auch ein sehr ausgesprochener Individualist kann einer Gesetzgebung zustimmen, die die Schwachen hindert, sich durch berauschende Getränke zu Grunde zu richten. Aber der Individualist wird ein absoluter Gegner jeder Forderung sein, die darauf hinausginge, dass die Schwachen den Starken Gesetze vorschreiben, dass die Selbstbeherrschten sich einen für sie unnötigen Zwang auferlegen aus Rücksicht auf die Unbeherrschten. Diese zu erziehen, ihnen das Vorbild des freien Masses zu zeigen, dass ist die individualistische Art, diese und ähnliche Probleme zu lösen.

Wenn die Idee des Individualismus die Gesellschaft tief durchdrungen hat, dann werden die Aufgaben der Gesetzgebung schwieriger, aber weniger zahlreich sein, als jetzt. Die Entwickeltsten wollen dann weder ihre eigene Freiheit opfern, noch die Entwicklung der Tieferstehenden durch einen interimistischen Zwang. Und dieses wohl abzuwägen, wird schwer sein, aber nicht unmöglich. Was jetzt schon feststeht, ist, dass kein denkender Individualist die Freiheit als Ziel betrachtet, sondern als Mittel, oder eigentlich als Grundbedingung der Entwicklung. Die Freiheit steht in einer ewigen Wechselwirkung mit der Entwicklung, so, dass je mehr Entwicklung gewonnen wird, desto mehr Freiheit man erreicht, und je mehr Freiheit, desto mehr Entwicklung. Denn nur Kampf und Spiel befreiter Kräfte führen schliesslich zu der bewussten und durchgearbeiteten, zur zweiten Natur gewordenen sittlichen Harmonie. Der Standpunkt des jetzigen Individualisten dürfte sich so formulieren lassen: dass das Gesetz, dessen nähere oder fernere Wirkung die ist, dass das Individuum ebenso wie die Gattung mit erhöhter Selbstbestimmung ein gesünderes und schöneres Leben leben kann, nützlich ist, auch wenn es eine vorübergehende Einschränkung der Freiheit mit sich bringt. Dagegen sieht er jedes Gesetz, das mit ausschliesslicher Rücksicht auf die Unbeherrschten erlassen wird und um ihretwillen die Selbstbeherrschten der Freiheit beraubt, die sie gut anwenden, als einen Rückschritt oder einen Umweg in der Entwicklung an.

Weil der Individualist die Macht der Persönlichkeit, ihre Lebensfülle, ihr Recht auf Selbstbestimmung steigern will, sieht er oft im Capitalismus und Industrialismus der Gegenwart – trotz der reichen Kraftentwicklung, die er einzelnen Individuen ermöglicht hat – das grosse Hindernis für die Freiheit der Persönlichkeit. Der Capitalismus ist im Innersten ebenso lebenzerstörend und ebenso feindlich gegen die Cultur des Individuums wie der Militarismus, der ja in gleicher Weise eine reiche Kraftentwicklung für einzelne Persönlichkeiten ermöglicht, aber gleichzeitig die Mehrzahl zu Herdenmenschen hinabdrückt.

Der Individualist kann also seine Hoffnungen auf eine Gesetzgebung richten, durch welche die missbrauchte Freiheit, die den Capitalismus in seiner jetzigen Form geschaffen hat, aufgehoben würde. Aber er hasst den Gedanken an einen neuen Freiheitsmissbrauch, den, durch welchen der Bruchteil im Ganzen aufgehen, ja für das Ganze geopfert werden müsste – wie die sozialistische Forderung lautet.

Die, welche von der sozialen Neugestaltung das Glück der Menschheit erwarten, aber nicht zugeben, dass dieses Glück wesentlich auf der Befreiung der Persönlichkeit beruht, sondern im Gegenteil der Opferwilligkeit grössere Bedeutung für das Glück der Menschen zuschreiben als der antisozialen Selbstbehauptung – diese haben relativ Recht, solange der Kampf gegen die sozialen Missverhältnisse fortdauert, die die Mehrzahl des menschenwürdigen Daseins berauben, welches erst eine wirkliche Individualisierung ermöglicht. Aber sie vergessen, dass die Frage im grossen Ganzen der Selbstbehauptung der Unterklasse gegenüber dem Egoismus der Oberklasse gilt! Und sie haben absolut Unrecht, wenn sie annehmen, dass – unter den neuen Verhältnissen, die, wie man hofft, die Umgestaltung schaffen wird – irgend ein Glück möglich sei ohne das Lust- und Machtgefühl, welches durch die reichstmögliche Kraftentwicklung entsteht. Es ist nicht genug, dass einige wenige Reiche nicht mehr länger viele Arme unterdrücken können. Die vielen geistig Armen dürfen auch nicht einen Einzigen der geistig Reichen unterdrücken! Eine neue Gesellschaftsordnung, welche Allen Entwicklungsmöglichkeiten gäbe und die Arbeitsbedingungen erleichterte, würde zweifelsohne ein bedeutungsvolles Mittel für das Wachstum der Persönlichkeit sein, aber auch nicht mehr als das. Nur wenn dort eine grössere Freiheit für die Individualität erreicht werden kann, werden glücklichere Menschen die besseren Lebensbedingungen gemessen. Sonst können diese bloss die tierische Zufriedenheit gutgefütterter Sklaven hervorrufen.

Die altruistische Moral – sei sie christlich, positivistisch oder sozialistisch – leidet an derselben Einseitigkeit: sie betrachtet nämlich die Tugend unbedingt als das, was Anderen unmittelbar nützt, und das Laster als das, was ihnen unmittelbar schadet. Das Dasein ist jedoch so reich, dass diese Definition nicht annähernd den ganzen Inhalt des Problems umfasst. Es liegt eine unendlich tiefe Philosophie in Blakes Dichterworten:

Abstinence sows sand all over
The ruddy limb and flaming hair;
But desire gratified
Plants fruits of life and beauty there.

Ich habe im Vorhergehenden vom Individualismus als Ethik gesprochen und vom Individualisten als einem bewusst von dieser Ethik Bestimmten. Aber es giebt einen Individualismus der Natur, und dieser ist noch der häufigste, der unreflectierte Individualismus der starken Persönlichkeit, die nur ganz ihr eigenes Ich ausleben will, unbekümmert darum, ob sie so ihr Selbst zu der höchstmöglichen Entwicklung bringt. Diese Individualisten begehen und begingen stets Handlungen, die unmittelbar nur ihr eigenes Glück zum Ziele hatten und oft Anderen grosse Leiden verursachten. Aber mittelbar kommt doch der Egoismus dieser Menschen der Gattung zu Gute. Die Liebenden, welche ihr eigenes Glück in einer Vereinigung suchen, die ungesetzlich oder verbrecherisch genannt wird, geben dadurch oft dem Menschengeschlecht ein begabtes und lebenstüchtiges Glied. Die Herrschernatur, die für ihre Zwecke Hunderttausende opferte, hat mittelbar Resultate hervorgerufen, die viele Generationen hindurch der Menschheit nützten. Das Genie, das zu seiner eigenen Freude schafft, bereitet vielen Menschen Leid, sei es dadurch, dass es sie in egoistischer Kälte übersieht, oder dadurch, dass es sich ihnen mit rasch aufflammender und rasch erlöschender Wärme nähert. Aber die Werke, die das Genie durch seine Selbstconcentration oder durch die Inspiration seines vorübergehenden Gefühls geschaffen hat – diese Werke begeistern die Menschen Jahrhunderte, nachdem die Einzelnen, die das Genie verbraucht, längst aufgehört haben, zu leiden! Und selbst wenn die grosse, zügellose, aber prachtvolle Leidenschaft des Ausnahmemenschen der Menschheit keinen mittelbaren Nutzen bringt, so ist sie doch eine unmittelbare Offenbarung der gewaltigen Dimensionen gewesen, die die Menschennatur – im Bösen wie im Guten – erreichen kann, eine Offenbarung, die auch ihre Bedeutung für die Entwicklung hat.

Würde man jedoch folgerichtig das altruistische Sittengesetz anwenden, so müsste man – aus Rücksicht auf die vielen oder wenigen Zeitgenossen, denen diese Ausnahmemenschen Leiden verursachten – ihre Werke oder Thaten ungeschehen wünschen. Aber dann hätte man auch die Menschheit der Früchte ihres Egoismus beraubt, der Früchte, die an Wert unvergleichlich die Summe des ungeteilten Nutzens übertreffen, die die Menschheit gleichzeitig von den Tugenden der gehorsamen Mitbürgerseelen und der pflichttreuen Dutzendmenschen gehabt hat! Es ist für diese eine harte, aber heilsame Wahrheit, dass die, welche als sittliche Charaktere geboren werden, unvollkommene Naturen sind, während der individuelle Charakter der vollkommene ist, für jeden erwachsenen Menschen, der sein Mass in sich selbst trägt – auch wenn dieses Mass einen Cäsar oder Goethe tief unter die Normalzollzahl des Altruismus stellt!

Und wenn man darum im Namen der altruistischen Moral die Pflichten gegen den Nächsten über die Pflichten gegen sich selbst setzt, oder wenn man verlangt, dass Alle die sozialen Pflichten gleich lieben und sich ihnen in gleichem Grade unterordnen sollen, ja, wenn das Christentum sogar will, dass man Alle gleich liebe – was ist dann all dieses? Es ist eine Vergewaltigung des Princips der Entwicklung, der Auswahl. Als Ausdruck dieses Grundprincips des Daseins wird jedoch der Individualismus, trotz allem, siegreich sein Recht dazusein behaupten, allezeit und Überall, aber vor allem – im Zukunftsstaat!

Für den, der die Idee des Individualismus voll erfasst, erhält die Frage, was ein Mensch glaubt, wenig Bedeutung; die Frage, was er thut, wird ganz belanglos; die Frage, was er ist, wird alles in sich schliessen. Kein Individualist spiegelt sich vor, dass er um irgend eines anderen willen lebe, als um seiner selbst willen, oder mit irgend einem anderen Ziel, als alle Mittel seiner Natur herauszuarbeiten und zu veredeln. Aber je weiter er es in seiner eigenen Actualisierung gebracht hat, desto stärker fühlt er in sich die Mannigfaltigkeit: Anderer Wohl und Weh ist für ihn gegenwärtig und fühlbar wie sein eigenes. Er braucht nicht länger mit Anderen um Freiheit für sein eigenes Wachstum zu kämpfen, und er begünstigt das Wachstum Anderer, weil alle Bäume ein Teil seines eigenen Waldes sind. Er macht dabei mit strahlendem Glücksgefühl die Erfahrung: dass das Grösste, wofür wir leben können, unserer eigenen und anderer Persönlichkeiten Entwicklung ist – ebenso wie das Grösste, wofür wir sterben können, unserer eigenen und anderer Persönlichkeiten Freiheit!

Wenn die Menschen so schliesslich die allgemeine Moral besiegen und die individuelle Sittlichkeit gewinnen, bleibt doch noch immer ein grosses, gemeinsames ethisches Bewusstsein, das ernsteste Bewusstsein des Erdenlebens: das der gesetzgebundenen Notwendigkeit.

»Alles, was geschieht, geschieht mit Notwendigkeit; thue darum alles, was du kannst, und leide dann alles, was du musst.« – Dieses Gebot Schopenhauers ist das erste auf den Steintafeln der neuen Religion. Nichts könnte anders geworden sein, und nichts kann ausgelöscht werden. Die Wirkung meiner Handlungen, so wie sie aus meinem Charakter hervorgehen, wird mein Schicksal. Alles in meinem Wesen und alles in meinem Werke bindet mich unauflöslich an des Lebens Allheit, an die grossen, unbekannten Tiefen, aus denen ich wie eine Welle emporsteige und in denen ich wie eine Welle verschwinde. Aber während des Steigens dieser Welle ist es ihre eigene Bewegung, ihre eigene Form, die sie zu dem macht, was sie ist. Meine menschliche Selbstherrlichkeit kann mich göttlich machen in jenem Augenblinken der Ewigkeit, in der ich eine der Wellen bin, die das Meer bilden, das Meer, das grösser und stärker ist als alle Wellen.


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