Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III. Individualität

Mut.

Es giebt ewig junge Worte; Worte, die nie ein lebendiges Ohr berühren, ohne dieselben Empfindungen hervorzurufen, als da sie vielleicht vor Jahrtausenden zum ersten Mal ertönten – damals ein neugefundener Ausdruck des tiefsten Bewusstseins jener Zeit.

Unter diesen Worten von ewiger Jugend ist eines, das zum ersten Male von den beredtesten Lippen in Hellas erklang:

»Glaubet, dass das Glück in der Freiheit besteht und die Freiheit im Mute!«

Die Bedeutung dieser Worte konnte für Perikles nicht ganz dieselbe sein, wie für uns. Freiheit war damals wesentlich die Unabhängigkeit eines Staates vom andern; der Mut war die Tugend des Vaterlandsverteidigers.

Doch fand sich vielleicht bei Aspasias Geliebtem und Sokrates' Freund schon eine Ahnung der Zeit, in der das grosse Wort Mut noch tiefere Gedanken umschliessen, in der es die unumgängliche Voraussetzung für die Freiheit auch der einzelnen Persönlichkeiten darstellen werde. Die Worte wachsen in demselben Masse, als die Menschheit selbst wächst. Jetzt verstehen wir, dass der Einzelne ebensowenig wie der Staat Glück und Freiheit findet, ohne Mut zu besitzen.

Aber hängt es wohl von uns selbst ab, Mut zu besitzen? Ohne Zweifel. Mut beruht vor allem auf dem Willen, ihn zu besitzen.

Einer oder der andere kommt mit Mut zur Welt. Aber die meisten mutigen Menschen haben ihren Mut selbst erworben. Keine Eigenschaft wächst rascher durch Uebung. Und wäre unsere Zeit sich bewusst, dass Mut der Grund ist, auf dem der Charakter ruht, es könnten fast alle Menschen zum Mut erzogen werden.

Aber anstatt uns zu lehren, auf eigene Verantwortung zu wollen, zu wählen, zu wagen, lehrt man uns uns bücken und winden und dem Traum entsagen, einen eigenen Weg zu gehen, nur unserem Dämon zu folgen. Man prägt uns ein, wie anspruchsvoll es sei, eine Einheit sein zu wollen, wie nützlich, eine der Nullen zu sein, mit denen Millionen bezeichnet werden! Wir werden belehrt, dass der Erfolg im umgekehrten Verhältnis zum Freiheitsstreben stehe, und dass die Möglichkeit des Einzelnen, »sein Glück zu machen«, den Gedanken ausschliesse, seiner Eigenart entsprechend glücklich zu werden. Man zeigt uns den Weg zu den Höhen der Gesellschaft, wo die Vielen dem Vorurteil opfern, und warnt uns, der Minderzahl mit den starren Nacken und den starren Knieen anzugehören.

Wir erfahren früh, wie es den Dummdreisten ergangen sei, die trotz des Parteidrucks auf ihrer Freiheit bestanden; die die Treue gegen sich selbst als bedeutungsvoller ansahen, als die Gleichförmigkeit mit anderen; die sich eigene Grundsätze gestatteten, anstatt sie bei ihren Bekannten auszuborgen; die den Gefühlen in ihrer eigenen Brust lieber folgten, als denen gewisser Freunde; die mit eigenen Gedanken kamen und sich nicht mit der »allgemeinen Meinung« begnügen wollten.

Diese Uebermütigen haben wahrlich ihren Lohn empfangen! Ihre Freunde haben es beklagt, dass sie nie wissen konnten, woran sie mit ihnen seien, oder sie haben sich beeilt, sich von ihnen loszusagen, in tiefem Schmerz über ihren Abfall. Ihre vielen Bekannten haben immer gewusst, dass sie »unberechenbar, charakterlos und unverlässlich« waren. Die am Ruder befindliche compacte Majorität hat klar bewiesen, dass sie gefährliche Menschen seien, Menschen »ohne Grundsätze«!

Um von solchen Urteilen getroffen zu werden, war es gar nicht notwendig, dass diese Menschen mit einer neuen Religion oder einer umstürzlerischen Gesellschaftslehre kamen. Es genügte, dass sie es versuchten, irgend einen Parteidruck, die Sanctionierung eines ungerechten Urteilsspruches, die Ausübung eines Gewissenszwanges zu hindern. Oder dass sie den Charakter eines Menschen verteidigten, obgleich sie nicht seinen Ansichten huldigten, oder seine Ansichten in Schutz nahmen, obgleich sie nicht für seinen Charakter einstehen konnten. Ja, zuweilen war es schon hinreichend, in einem conservativen Kreis behauptet zu haben, dass nicht jeder Radicale ein zweideutiger Charakter sei, oder in einem radicalen, dass nicht jeder Conservative ein Dummkopf sein müsse, um selbst inbetreff seiner Ehrenhaftigkeit oder seiner Intelligenz als zweifelhaft angesehen zu werden! Lässt man sich nicht bei Zeiten warnen, sondern hält an dem Rechte fest, seine Meinung zu sagen, seinem Gewissen zu folgen, nach seinem Verstand zu urteilen – dann sind es bloss Zufälligkeiten, welche entscheiden, ob das Ende der alltägliche, langsame Hungertod ist, oder das grosse tragische Schicksal.

Und doch hat es in jeder Generation Menschen gegeben, die es wagten, ausschliesslich sie selbst zu sein: die schamlos genug waren, auf eigene Faust zu denken, zu handeln, zu lieben, zu dichten, zu schaffen. Sie sind es, von denen wir leben; sie sind es, deren Mut von ihrer eigenen Generation Frechheit genannt und von der Nachwelt als Grossthat besungen oder als Offenbarung angebetet wurde.

Ihre Voraussetzungen waren dieselben wie die unseren. Die Helden aller Zeiten mussten den Versuchungen des Brotes und der Ehre trotzen, der Schulkritik ihrer Zeit, dem Coteriedruck und den Tantenseelen – ja bis hinab zum Beifallsquaken der Rinnsteinfrösche. Aber diese Helden haben gesiegt, weil sie Mut hatten. Und jede Zeit, deren Gedanken sieghaft waren, jede Zeit, die von Glanz und Glut überstrahlt ist, jede Zeit, aus der schaffende oder erneuende Kräfte flössen, ist eine Zeit gewesen, in der viele Menschen Mut hatten. In solchen Zeitläuften ist für den Einzelnen freilich weniger Mut vonnöten, um Mut zu haben. Denn diese Eigenschaft ist die mitteilsamste von allen – mit Ausnahme der Feigheit! Alle leeren, trockenen, glanzlosen Zeiten sind feige. Und in diesen Zeiten gehört für den Einzelnen viel mehr dazu, Mut zu bewahren oder zu erwerben.

Wir leben in einem Zeitabschnitte, der nicht geeignet ist, Mut zu fördern. Uebergangszeiten schwächen den Mut, der ja in hohem Grade auf der Sicherheit fester Ueberzeugungen beruht.

Aber gerade weil in einer kritischen Zeit der Mut leicht verloren geht, sind nur um so schwerer wiegende Gründe dafür vorhanden, ihn wiederzuerobern, weil beständig neue Entscheidungen in neuen Conflicten und neuen Anschauungen in Frage kommen. Es braucht Mut, um die Wahrheit zu suchen, aber auch, um sie entbehren zu können, wenn wir sie nicht zu erreichen vermögen; Mut, um thätig zu sein und Mut, um zu ruhen. Mut braucht es, um das Glück zu ergreifen, wie um es zu opfern. Einmal besteht der Mut im Warten, ein ander Mal im Wagen. Heute braucht es Mut, alleinzustehen, morgen, sich Gesinnungsgenossen anzuschliessen; einmal ist es Mut, sich sein Recht zu nehmen, ein anderes Mal, es aufzugeben.

Ohne Mut kann man nicht hassen, und noch weniger lieben. Ohne Mut kann man nicht in Wahrheit leben, und noch weniger sterben. Lasset uns Mut haben – und wir werden finden, dass wir mehr Freiheit und mehr Glück besitzen, als wir ahnten.

Wir sind nicht so grausam oder so dumm, so kleinsinnig oder so unedel, wie wir erscheinen. Wir sind nur viel feiger, als wir ahnen. Aus Feigheit misshandeln wir, quälen wir, unterdrücken wir, verkürzen wir einander im Recht.

Bekämpfen wir die Feigheit – und das Leben wird schön werden, durch alle schaffenden Kräfte, die frei werden, durch alles Wohlwollen, das werkthätig wird; durch alle Sympathie, die handlungsfrisch, durch alle Gedanken und Gefühle, die unmittelbar werden. Nie geahnte Eigentümlichkeiten werden einen Reichtum an Abwechslung hervorrufen, wo es bisher bloss Armut und Stillstand gab. Die Summe des Lebensgefühls wird vertausendfacht werden, wenn wir alle auf einmal anfangen zu wagen! Wenn wir es wagten, den Glauben zu bekennen, den wir errungen, anstatt den, den wir verloren haben; die Grundsätze zu zeigen, die wir besitzen, nicht die, welche wir nie gehegt haben; und unsere eigenen Erfahrungen zu schätzen, auch wenn sie sich von denen unserer Gesinnungsgenossen unterscheiden! Wenn wir uns erkühnten, unsere Zweifel zu behalten, trotzdem wir bei Anderen Gewissheit begegnen, und unsere Glaubenssätze, auch wenn wir bei Anderen auf Zweifel stossen! Wenn wir uns erlaubten, die Verdienste unserer Widersacher anzuerkennen und die Fehler unserer Gesinnungsgenossen; gabenmild mit unserem Vertrauen zu sein doch sparsam mit unserem Richterspruch! Wenn wir es wagten, demütig vor dem zu sein, was wir nicht wissen, aber stolz auf die Gewissheit, die wir uns erkämpft haben! Wenn wir uns erdreisteten, nach unserem eigenen Gutdünken und unseren eigenen Hilfsquellen zu leben, nach unserem eigenen Geschmack zu geniessen, und es ertragen lernten, dasselbe bei Anderen zu sehen! Wenn wir es versuchten, die Beweggründe der Anderen zu würdigen, auch wenn wir ihre Ansichten angreifen müssen, oder ihre Ansichten zu tadeln, auch wenn wir ihre Persönlichkeit hochachten! Wenn wir es probierten, jede Partei zu verlassen – ausser unserer eigenen!

Und endlich: wenn wir es wagten, unsere Feigheit Feigheit zu nennen, anstatt sie als Ehrfurcht, Anspruchslosigkeit, Gemeingefühl, Mass, Rücksicht und Tact zu verbrämen!

Da würden wir ein ganz neues Dasein erblicken!

Wir könnten Umgang an Stelle von Maskeraden haben; Meinungsaustausch anstatt Wortstreite oder Wortspielereien; Handlungen anstatt Reflexbewegungen; Productivität anstatt Wiederholungen; Erforschung der gegenseitigen Ansicht anstatt Fälschung dieser Ansichten; Lebenserfahrung anstatt Conventionsmeinungen; Gegenstände des Glaubens anstatt Dogmen. Mit einem Worte: wir würden Freiheit besitzen, anstatt wie jetzt in Ställe gezwängt, in Büchsen gepfropft, mit Etiketten versehen, in Partieen sortiert, in Katalogen aufgeführt, in Kategorieen eingeteilt, in Uniformen gesteckt zu werden.

»Aber ob nicht die Selbstsucht zu viel Raum einnehmen würde, wenn der Mut der Persönlichkeit freien Platz bereitete?« wendet irgend ein Altruist ein.

Ist denn nicht gerade die Feigheit grausam? Gehört denn nicht Mut dazu, gut zu sein? Ist nicht die Freiheit die Voraussetzung aller echten Hingebung? Bringt nicht das Glück, selbständig zu sein, auch das mit sich, edelmütig sein zu können?

Ja, musste der Verkünder der Selbstlosigkeit nicht deshalb in den Tod gehen, weil er den Mut hatte, einsam zu stehen, anstatt um sich eine Partei zu bilden; den Mut, er selbst zu sein, indem er die Banden seiner Zeit zerriss; den Mut, an die Freiheit zu glauben?!

Darum kann das Gebot der Güte, Anderen alles zu thun, was man für sich selbst wünscht, nicht im Widerstreite mit der Ausübung des Mutes stehen. Dieses Gebot ist im Gegenteil – von einem andern Gesichtspunkt – derselbe ewige Gedanke, der durch die Mahnung des Hellenen ausgesprochen wurde:

»Glaubet, dass das Glück in der Freiheit besteht und die Freiheit im Mute.«


 << zurück weiter >>