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I. Die Frau

Weibliche Sittlichkeit.

»Das Gesetz verurteilt den zum Hängen, der Banknoten fälscht; gewiss notwendig für den Fortgang des Ganzen. Aber wer die Liebe fälscht, das will sagen: wer sich aus tausend anderen Gründen, aber nicht aus Liebe mit einem Wesen verbindet, das er nicht liebt, und so einen untauglichen häuslichen Kreis bildet – ob der wohl nicht ein Verbrechen begeht, dessen Grösse und unberechenbare Folgen für Gegenwart und Nachwelt weit furchtbareres Unglück verbreiten, als die Fälschung von Millionen von Banknoten!«

C. J. L. Almquist.

 

Die einfachste Formel für den neuen Sittlichkeitsbegriff, der sich gegen das von der ganzen Gesellschaft, aber vor allem von ihrem weiblichen Teile noch hochgehaltene Sittlichkeitsdogma emporarbeitet, dürfte diese sein:

Die Liebe ist sittlich auch ohne gesetzliche Ehe, aber diese ist unsittlich ohne die Liebe.

Der gewöhnlichste Einwand gegen diesen Satz ist, dass die, die ihn aufstellen, alle anderen ethischen Pflichten und berechtigten Gefühle vergessen, um das Geschlechtsverhältnis zu dem centralen Lebensverhältnis zu machen und die Erotik zu dem einzigen ausschlaggebenden Gesichtspunkt für dieses Verhältnis. Aber wenn man den Kampf ums Dasein ausnimmt – der ja nicht ein Lebensverhältnis, sondern eine Lebensbedingung genannt werden muss – was kann dann für den Menschen, als ein von den Gesetzen des Erdenlebens bestimmtes Wesen, centraler sein, als der Grund seines eigenen Ursprungs? Kann man sich ein Moment denken, das tiefer in die Gesamtheit seines Wesens eingreift?

Dass viele Menschen ohne das Glück der Liebe zufrieden leben, dass andere, nachdem sie es erreicht, neue Ziele ihres Strebens suchen, beweist nichts gegen die Erfahrung: dass für die Menschen im allgemeinen das erotische Verhältnis zwischen Mann und Weib das am tiefsten Lebensentscheidende wird, entweder negativ, dadurch, dass sie dieses Verhältnis entbehren, oder dadurch, dass sie es in unglückbringender Weise knüpften; oder positiv, dadurch, dass sie darin des Lebens Fülle gefunden haben.

Die Unterschätzung der Bedeutung des Geschlechtsverhältnisses für die Menschen und der Bedeutung der Liebe für das Geschlechtsverhältnis, bringt all die Unsittlichkeit in dieses Verhältnis, die vom Conventionalismus noch als Sittlichkeit geboten wird.

Man betrachtet jetzt nicht, wie in der Jugendzeit unserer Mütter, Unkenntnis der Seite des Lebens, die die Fortpflanzung der Art betrifft, als die Grundbedingung weiblicher Reinheit. Aber noch sagt die conventionelle Auffassung der Reinheit, dass die Unberührtheit der Sinne zu ihrem Begriff gehört. Und man würde Recht haben, wenn man zwischen Reinheit und Keuschheit unterschiede. Reinheit ist der frischgefallene Schnee, der geschmolzen oder befleckt werden kann; Keuschheit der im Feuer weissgeglühte, gehärtete Stahl. Denn Keuschheit entwickelt sich erst zugleich mit einer ganzen Liebe; die ebenso alle Teilung zwischen mehreren ausschliesst, wie zwischen den Forderungen des Herzens und der Sinne. Das Wesen der Keuschheit ist nach George Sands tiefen Worten »ne pouvoir jamais ni tromper l'âme avec les sens ni les sens avec l'âme«. Und so wie Ganzheit ihr Kennzeichen ist, so ist sie auch ihre Forderung. Diese Keuschheit allein soll das Familienleben kennzeichnen, das in Zukunft die Grundveste für das Glück des Volkes bilden wird.

Es war darum sehr berechtigt, wenn sich die Litteratur im Namen der Allnatur gegen die hyperidealistische Tüftelei wandte, die die Liebe des Herzens zu der hohen, die der Sinne zu der niedrigen gemacht hat; wenn sie verlangte, dass das Weib nicht nur wisse, was eine ganze Liebe sei, sondern dass es, wenn es liebe, sie auch wolle.

Dadurch, dass sich von Zeit zu Zeit mächtige Stimmen erhoben, welche, gleich der George Sands oder Almquists, rücksichtslos die Ehe unsittlich nannten nicht nur, wenn sie ohne gegenseitige Liebe eingegangen, sondern auch, wenn sie ohne eine solche fortgeführt wird, ist ein reineres Bewusstsein der Entstehungsbedingungen des ungeborenen Geschlechts erwacht, ebenso wie der persönlichen Würde des Mannes und der Frau. So wird man schliesslich dahin gelangen, dass kein fein empfindendes Weib anders Mutter wird als durch gegenseitige Liebe; dass man diese Mutterschaft, gesetzgeweiht oder nicht, als die einzig echte ansieht, jede andere hingegen als unecht. So wird man zu einem solchen Gefühl der »Heiligkeit der Generation« erwachen, zu einer solchen Erkenntnis der Bedingungen der Gesundheit, Stärke und Schönheit des Geschlechts, dass jedes eheliche Zusammenleben, das in weltlichen oder bloss sinnlichen Motiven, in Klugheitsgründen oder im Pflichtgefühl seinen Ursprung hat, als verbrecherische Fälschung der höchsten Werte des Lebens, wie Almquist es nennt, angesehen werden wird. Und dasselbe gilt von jedem ehelichen Zusammenleben, das unter dem Zwang, dem Ueberdruss oder der Resignation eines der beiden Teile fortgesetzt wird. Man wird von dem Bewusstsein durchdrungen werden, dass die ganze ethische Anschauung, die jetzt in und mit der Ehe dem einen Gatten Rechte über die Persönlichkeit des andern giebt, ein rohes Ueberbleibsel aus niedrigeren Kulturstadien ist; dass alles, was im Zusammenleben zwischen Mann und Weib getauscht wird, nur die freie Gabe der Liebe sein, nie von einem der Beiden als ein Recht gefordert werden kann. Man wird einsehen, dass, wenn der eine Gatte das Zusammenleben nicht länger in Liebe fortzusetzen vermag, dieses aufhören muss; dass alle für immer verbindenden Gelöbnisse, die unser Gefühlsleben betreffen, eine Vergewaltigung unserer Persönlichkeit sind, da wir für die Umgestaltung unserer Gefühle nicht verantwortlich sein können. Wenn auch dieses neue Sittlichkeitsideal im Anfange auflösend auf viele unechte Ehen wirken und viele Leiden hervorrufen sollte, so ist doch all dieses Leiden notwendig. Es gehört mit zu dem Durchbruch der neuen erotischen Ethik, die das Menschentum auf jenem Gebiete erheben wird, auf dem jetzt Sklavensinn und Stumpfsinn unter heiligem Namen Mann und Weib erniedrigen; auf dem die gesellschaftliche Convention die Prostitution neben der Monogamie sanctioniert, den Verführer, aber nicht die Verführte die soziale Achtung behalten lässt, und die unverheiratete Frau, die in Liebe Mutter geworden ist, gefallen nennt, aber die verheiratete Frau, die ohne Liebe dem Manne, der sie gekauft hat, Kinder schenkt, ehrbar.

Das erotisch-ethische Bewusstsein der Menschheit kann nicht gehoben und verfeinert werden, wenn man nicht das neue Sittlichkeitsideal mit allen seinen Folgerungen klar aufstellt.

Man begegnet dabei zweierlei Widersachern. Die Einen sind die Bekenner der conventionellen Sittlichkeit. Die Andern sind Anhänger der flüchtigen Verbindungen, für die man den Namen der »freien Liebe« missbraucht.

Jene stellen schon jetzt ganz dieselben Sittlichkeitsforderungen an den Mann wie an die Frau. Sie behaupten, dass der Cölibat für keines der Geschlechter erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringe. Sie meinen, das sociale Pflichtgefühl, nicht die gegenseitige Liebe, müsse der Grund der ehelichen Treue sein. Sie halten die reine Liebe für unberührt von aller Sinnlichkeit.

Das sind dieselben Sittlichkeitsdogmen, die sich in den letzten Jahren unter anderem in dem Streben geäussert haben, alle Farbenglut weiss zu tünchen, alle Nacktheit in Litteratur und Kunst zu drapieren. Die Bekenner dieses Dogmas sehen freilich ein – da sie doch, um mit dem Anfange anzufangen, einen Blick in die Bibel und Homer geworfen haben – dass das Unternehmen zu umfassend werden würde, wenn es sich auch auf die klassische Litteratur erstrecken sollte. Aber um so angelegentlicher bethätigten sie ihren Eifer gegen die moderne Litteratur und Kunst. Und – wenn sie nicht energischem Widerstand begegnen – wird das Feigenblatt bald auch bei uns den Sündenfall des Geschmacks und der Seelen bezeugen.

Die »freie Liebe« hat jedoch auch ihre Fanatiker, die zu ebenso krassen Extremen gehen. Sie haben den Sinn für die seelenvolle und treue Hingebung verloren, die sie als eine Unwahrscheinlichkeit oder einen Conventionalismus betrachten, unter den die Menschennatur sich nicht ohne Heuchelei beugen könne. Denn da die Erfahrung zeigt, dass lebenslange Liebe oft eine Illusion ist, so solle man gar nicht anfangen, auf eine solche zu hoffen. Die sogenannte Bohême wurde ebenso monomanisch in ihrem Kreisen um diesen einen Punkt, das Recht der Sinne, wie die Sittlichkeitszeloten in dem Kreisen um ihren Punkt, die Unterdrückung der Sinne. Beider äusserste Consequenz würde ein Rückschritt zu tieferen Culturstadien sein, in dem einen Falle zur Askese des Klosters, in dem andern zur Promiscuität des Wildheitszustandes. Beide Teile vergessen die Wirklichkeit des Lebens. Die Einen übersehen sie bei ihren absoluten Forderungen ohne Rücksicht auf Temperament oder Verhältnisse; bei ihren Behauptungen von der unbedingten sittlichen Ueberlegenheit des Weibes und bei ihrer Unterschätzung der Bedeutung des erotischen Lebensgebiets für die volle Harmonie von Mann und Weib. Die Anderen übersehen sie, wenn sie die Frau sittlich ebenso ungebunden machen wollen wie den Mann; wenn sie alle Leiden der in einem solchen ungebundenen Dasein geborenen und erzogenen Generation vergessen; wenn sie nichts über die Natur des Weibes durch die vielen jüngeren und älteren Frauen lernen, die ein einsames und dennoch gesundes, arbeitskräftiges Leben führen, in der tiefen Ueberzeugung, dass, da sie die grosse, gegenseitige, lebenentscheidende Liebe nicht gefunden haben, jedes Zusammenleben mit einem Manne Erniedrigung und Unglück sein würde. Die Entwicklung hat durch mannigfaltige Einflüsse Ganzheit, Continuität in der Liebe zu einem durchgreifenderen Lebensbedürfnis für das Culturweib gemacht, als für den mit ihr in der Entwicklung gleichstehenden Mann. Während darum ein Mann in der Regel ein erotisches Verhältnis ohne Bitterkeit löst, wenn er zu lieben aufgehört hat, leidet eine Frau, selbst nachdem ihre Liebe aufgehört hat, daran, dass das Verhältnis nicht Lebensdauer gewonnen hat.

Diese, die immer bestimmtere erotische Ganzheitsforderung des individuell entwickelten Weibes, macht es, dass sie immer inniger wünscht, auch die Persönlichkeit des Mannes so ganz zu erhalten, wie es ihr Glück und ihr Stolz ist, die eigene geben zu können. Diese Ganzheitsforderung ist es, die, wenigstens bei uns germanischen Völkern, die Frau zu der sogenannten »freien Liebe« weder geneigt noch psychologisch geeignet macht. Das geht nicht zum wenigsten aus dem Schicksal Derer hervor, die sie erprobt haben.

Freie Liebe ist übrigens eine ebenso unsinnige Zusammensetzung wie gesetzliche Liebe. Denn ebenso, wie kein äusseres Gebot die Liebe hervorrufen oder zurückhalten kann, sondern diese, in diesem Sinne, immer frei ist, so ist sie doch, wie alle Gefühle, von gewissen psychologischen Gesetzen gebunden. Und ist sie es nicht, so hat sie den Namen Liebe nie verdient. Es ist mit der Liebe wie mit dem menschlichen Antlitz: Die individuellen Verschiedenheiten sind unendlich, aber es finden sich gewisse gemeinsame Züge, die alle diese verschiedenen Gesichter zu menschlichen Gesichtern machen, alle diese verschiedenen Gefühle zu menschlicher Liebe. Und in jeder Zeit giebt es für beide einen Typus, den man als edler erkennt, als die übrigen.

Diese edelste Art der Liebe ist von einem Schriftsteller Man sehe: Viggo Drewsen: En Livsanskuelse grundet paa Elskov (Eine auf die Liebe begründete Lebensanschauung) und: Forholdet mellem Mand og Quinde belyst gjennem Udviklingshypotesen (das Verhältnis zwischen Mann und Frau, beleuchtet durch die Entwicklungshypothese). geschildert worden, der versucht hat, zu zeigen, dass eine auf den Evolutionismus gegründete Lebensanschauung nicht zur Lockerheit in den sexuellen Verhältnissen zu führen brauche. Er legt dar, wie das erotische Gefühl sich, gleich allen anderen Gefühlen, von einem unzusammenhängenderen, gleichartigen und unbestimmten Zustand zu einem zusammenhängenderen, verschiedenartigen, bestimmten entwickelt hat und so vom einfachen Geschlechtserhaltungstrieb schliesslich zu einer ganz persönlichen, innerlichen Liebe erhoben ward. Der höchste Typus dieser Liebe ist die, welche zwischen einem Manne und einem Weibe derselben Wesensart entsteht; die mit Notwendigkeit Gegenliebe fordert, um vollendet zu werden, und sich darum mit keiner anderen Art von Gegenliebe als einer entsprechenden erotischen begnügen kann. Diese vollendete Liebe umschliesst das Sehnen der beiden Liebenden, ganz zu einem Wesen zu werden, sich gegenseitig zu befreien und zu dem vollkommensten Wesen zu entwickeln. Wird die Liebe so durch das Zusammenleben vollendet und vollzogen, dann kann sie nur Einem und nur einmal gegeben werden. Dieser Gedanke des dänischen Schriftstellers ist mit der gedrängten Kürze des Dichters bei Björnson ausgedrückt, wenn er von der Empfindung, bei dem geliebten Wesen »sein Selbst verdoppelt zu fühlen« sagt: »Das ist die Liebe, alles Andere ist nicht Liebe.« Dieses die ganze Persönlichkeit befreiende, sammelnde und vertiefende Gefühl, die Eingebung zu Grossthaten und Geniewerken ist das Gegenteil der flüchtigen, bloss sensuellen Erotik, welche die Persönlichkeit knechtet, zersplittert und veräusserlicht.

Nur die grosse Liebe ist es, die ein höheres Recht hat als alle anderen Gefühle, und die durch ein Leben ihr Recht beweisen kann.

Wer diese Liebe als entscheidend für die Sittlichkeit in einem erotischen Zusammenleben ansieht, kann nicht der Meinung sein, dass äussere Bande notwendig seien, um diesem Zusammenleben ethischen Wert zu geben. Sociale Rücksichten, Klugheit und Feingefühl anderen gegenüber kann freilich in gewissen Fällen das gesetzliche Band wünschenswert machen. Aber das kann der echten Liebe ebensowenig erhöhte Weihe geben, als einem Verhältnis, in dem dieser Inhalt fehlt, irgend eine Weihe überhaupt. Und wenn es auch zu dogmatisch wäre, schon jetzt den höchsten Typus der Liebe als ethische Norm an alle Verhältnisse zwischen Mann und Weib anzulegen, da das Leben ja zeigt, dass die höchste Liebe noch selten ist wie die höchste Schönheit, so ist es hingegen nicht verfrüht, zu behaupten, dass diese Liebe, gesetzgeweiht oder nicht, sittlich ist und dass, wo sie bei einem der Teile fehlt, ein sittlicher Grund vorliegt, das Verhältnis aufzulösen. Das sich immer mehr klärende Bewusstsein, dass die Liebe der Ehe entraten kann, doch diese nicht der Liebe, ist von der modernen Gesellschaft schon teilweise durch die Erleichterung der Ehescheidung anerkannt. Und es ist nur eine Frage der Zeit, dass das Gesetz abgeschafft wird, das einem Teil die Möglichkeit giebt, den anderen gegen seinen Willen zurückzuzwingen – so widerstreitet schon jetzt diese Möglichkeit jedem entwickelten Begriff von der Freiheit der Liebe – die nicht dasselbe ist, wie die sogenannte »freie Liebe«.

Es ist nicht historisch wahr, wie behauptet wird, dass es die eine oder die andere Auffassung der Sittlichkeit, die eine oder die andere Form des Eingehens oder der Auflösung der Ehe war, die sich im letzten Grunde als entscheidend für den Bestand oder den Fall der Völker erwiesen hat. Bei den Juden wie bei den Hellenen, bei den Römern wie bei unseren germanischen Vorvätern bestanden, in ihrer kräftigsten Blütezeit, viele als sittlich angesehene Rechte, die die Gegenwart als unsittlich ansieht. Das Entscheidende für das gesunde Leben dieser Völker war, dass das, was sie als Recht ansahen, für sie verbindende Kraft hatte: mehr die Stärke des Pflichtbegriffs als die Art des Pflichtbegriffs bestimmt die sittliche Gesundheit eines Volkes. Nicht wenn die Ideale erhöht werden, sondern wenn sie verloren gehen, ist gesellschaftliche Gefahr im Verzuge. Es bedarf eines ausgebildeten historischen Sinnes, um gleichzeitig den Zusammenhang und den Unterschied zwischen Verfall und Neugestaltung zu sehen. Oder auch, es bedarf des grossen Blickes auf die Wesentlichkeit des Lebens; des Blickes, den schon Sophokles besass, wenn er seine Antigone dem höheren Gesetz der Zärtlichkeit folgen und die Gesetzesverletzung begehen liess, die nach der damaligen Anschauung zu allgemeiner Zügellosigkeit führen musste, wenn sie ungestraft bliebe.

Das neue Eheideal ist jetzt in der Bildung begriffen, durch all die vielen litterarischen und persönlichen Meinungsaneinanderstösse, deren Anlass es ist. Ja, es bildet sich auch unter all den Conflicten des Lebens, zu denen die Ehen so viel Stoff geben. Gewiss gehen jetzt Gatten auseinander, weil sie von allem Anfang an die Treue als unmöglich betrachtet und sie nicht einmal angestrebt haben. Aber viele andere Trennungen haben weit zusammengesetztere, psychologische Ursachen. Wenn die beiden Teile sich jung vermählen, führt sie die persönliche Entwicklung oft in ganz entgegengesetzte Richtung; haben sie sich in reiferen Jahren verheiratet, so machen schon die vom Anfang an ausgeprägten individuellen Verschiedenheiten das Problem des Zusammenlebens zu einem schwer lösbaren. Die stark entwickelte Sensibilität des modernen Menschen gegenüber Stimmungen, Nüancen, Launeschattierungen macht Mangel an Sympathie noch unerträglicher, aber auch eine wirkliche Sympathie weit beglückender. Die ganze Mannigfaltigkeit der psycho-physischen Einflüsse und Eindrücke, die die Mitglieder eines Heims auf einander, zu Behagen und Unbehagen, Gemütlichkeit und Ungemütlichkeit, Harmonie und Disharmonie, ausüben, werden jetzt in allen Verhältnissen, und vor allem in der Ehe mit vervielfältigter Intensität empfunden. Es sind die am individuellsten entwickelten, verfeinertsten Naturen, für die die Nüancen des Zusammenlebens, nicht seine einfachen Grundfarben, Glück oder Unglück bedeuten.

Zu dieser allgemeinen Gefühlsverfeinerung kommt noch die erhöhte Sensibilität des Weibes für die Disharmonie zwischen dem, was es von der Ehe wünscht, und dem, was sie ihm in Wirklichkeit giebt, weil das Zusammenleben oft die Freiheit, das Verständnis vermissen lässt, das ihr sympathisches Gefühl jetzt verlangt. Denn die Lebensgewohnheiten der Ehe haben nicht annäherungsweise die Entwicklung genommen, die der individuellen Entwicklung der Contrahenten, besonders der Frau, entsprechen würde. Aber während alle diese hier flüchtig angedeuteten Ursachen ihr Teil zu der Vermehrung der Ehescheidungen beitragen, schafft andererseits das verfeinerte Gefühlsleben ein immer innigeres eheliches Zusammenleben. Man findet Eheleute, die einander beim Eingehen der Ehe volle Freiheit zugesagt haben, das Verhältnis zu lösen, wann immer einer es wollte, oder Gatten, die ihrer Ehe nie die gesetzliche Form gegeben haben, und die doch voll und reich die Liebe »in Lust und Leid« verwirklichen, in verständnisinniger Zusammenarbeit, in gegenseitiger treuer Hingebung. Man hat Verfechter der sogenannten freien Liebe gesehen, die selbst so ausgeprägte Einehenaturen waren, dass ihr Leben zerstört war, wenn der andere Teil ihre eigenen Theorien anwandte. Es ist immer der Charakter, der schliesslich den Ausschlag giebt. Er kann den radicalen Theoretiker zu einem sittlichen Muster und die auf conservativem Grund ruhenden Gesellschaftsstützen zu Spielbällen der Leidenschaft machen; den Verteidiger des Egoismus grossartig opferwillig, aber einen Verkünder des Christentums selbstisch in seiner Liebe.

So viele Köpfe, so viele Sinne; so viele Sinne, so viele Schicksale. Und an dieses ganze zusammengesetzte, mannigfaltige, unberechenbare erotische Leben, mit seinen unergründlichen Tiefen, ein unveränderliches ethisches Mass anlegen zu wollen, wenn man das Verhältnis zwischen Mann und Weib beurteilt, und dieses Mass zu dem entscheidenden auch für den ethischen Wert der Persönlichkeit im übrigen zu machen – das ist ebenso naiv, wie der Versuch des Kindes, in seinem kleinen Eimer das abgrundtiefe, wundererfüllte, sturmgejagte Meer heraufzuholen.

Die Liebe, wie das Leben, wird glücklicherweise ein ewiges Mysterium bleiben, das das Wissen nicht zu durchdringen, die Vernunft nicht zu regeln vermag. Was man von der Zukunft hoffen kann, ist nur, dass die Menschen mit geschärfterem Gehör den Geheimnissen ihres eigenen Lebens lauschen werden. Ein entwickelteres und differenzierteres Seelenleben wird ihnen einen sichereren Instinct oder eine schärfere Analyse geben, die sie verhindern werden, eine vorübergehende Stimmung von Sympathie, Zärtlichkeitsbedürfnis oder Stolz mit einem lebenentscheidenden Gefühl zu verwechseln. Jetzt hingegen glaubt Mancher, eine Sturzwelle der Bewunderung, der Dankbarkeit oder des Mitgefühls sei das ganze Meer, der Reflex des Feuers eines anderen das heilige Feuer selbst.

Niemand kann mit Gewissheit das schliessliche Resultat der tiefen Umwälzung des Gefühls und der Sitten, die sich jetzt vollzieht, voraussagen. Aber das Eine scheint zweifellos: dass die Gefahr für die Zukunft der Menschheit kaum darin liegen dürfte, dass das neue Ideal eine allgemeine Zügellosigkeit im Gefolge haben könnte. Eher eine so individuelle, differenzierte und verfeinerte Liebe, dass das erotische Glück immer schwerer zu finden sein wird und die Idealisten der Liebe immer häufiger den Cölibat einem Compromiss mit ihren grossen Forderungen an die sympathische Liebe vorziehen werden.

Manchmal die Erfahrung, oft nur der Traum von einer solchen, die feinsten Schattierungen der Seele, die zartesten Vibrationen der Sinne mitfühlenden Liebe – einer Liebe, die allverstehende Zärtlichkeit, allumfassende Innigkeit ist – hat die erotischen Forderungen und das erotische Dasein von Tausenden von Menschen zu einer Sphäre grösserer Sehnsucht, glühenderer Keuschheit, als die ihrer Mitwelt ist, erhoben. Es ist diese Erfahrung oder dieser Traum, die schon jetzt anfangen, in der Kunst und in der Litteratur der Gegenwart Gestalt anzunehmen. Gewiss ist die tiefe Disharmonie zwischen dem Wesen des Mannes und dem des Weibes lange das Grundthema gewesen, besonders in der modernen Litteratur. Aber mitten durch die wilden, zerrissenen Tongänge erklingt ein neues Leitmotiv, das schwellen und ansteigen und den Raum mit einer jetzt erst bloss geahnten Harmonie erfüllen wird.

Eine der Bedingungen dafür, dass diese Harmonie so volltönig als möglich werde, ist, dass das Weib im Leben wie in der Litteratur anfange, ehrlicher zu werden, und die Männer eifriger, zu lauschen, wenn das Weib etwas über sich mitteilt. Die Männer haben verlangt – und mit Recht – dass die Frauen aus ihren Bekenntnissen über die Conflicte zwischen männlichem und weiblichem Wesen lernen. Aber die Frauen sind durch die conventionelle Auffassung der weiblichen Reinheit eingeschüchtert worden, den Männern tieferen Einblick in ihre erotischen Lebenserfahrungen zu gewähren.

Erst wenn die Frauen anfangen, die Wahrheit zu sprechen, wird die Litteratur allseitig die noch unbekannten Tiefen des erotischen Temperaments der Frau beleuchten. Bis jetzt waren es fast ausschliesslich männliche Dichter, durch die man Offenbarungen vom Weibe erhalten hat. Je näher diese Dichter dem Leben standen, desto gewisser haben sie den höchsten Ausdruck des ewig Weiblichen so gesehen, wie auch die grössten Dichterinnen es sahen: in der erotischen Liebe und in der Mutterliebe. Und die Ganzheit in der Hingebung der Frau war es, welche für sie ihre höchste Keuschheit war.

Die grossen Dichter sind es, die die Jugend lehrten und noch immer lehren, den »Allherrscher Eros« tief zu verehren.

Dieses ist das einzige Sittlichkeitsprogramm, das eine Zukunft hat. Nur indem man ihm folgt, wird es nach und nach gelingen, zu verhindern, dass das erotische Gefühl als brutaler Trieb auftritt oder dass die Ehe auf einer flüchtigen Laune aufgebaut wird.

Ein negatives Reinheitsideal – selbst incarniert in Jesu Gestalt – kann nicht erwärmen, und so auch auf die Länge die Jugend nicht schützen. Was allein eine nicht unterdrückende, sondern umbildende Macht über den brutalen Trieb hat, ist ein höheres Gefühl, welches derselben Lebenssphäre angehört, wie der Trieb selbst.

In die Seele der Jugend mit Flammenschrift das grosse Liebesideal einzubrennen, heisst, ihr eine wirkliche ethische Stärke geben. So entsteht in der Menschheit der unausrottbare, unüberwindbare Instinct, dass ein erotisches Verhältnis nur als Ausdruck einer beiderseitigen, allumfassenden Liebe eintreten soll. So lernt die Jugend die Liebesehe als das centrale Lebensverhältnis betrachten, und wird von dem Wunsche durchglüht, Körper und Seele für den Eintritt in dieses Allerheiligste der Natur zu entwickeln und zu bewahren, darin Mann und Weib selbst ihr Glück finden, während sie ein neues Geschlecht dem Glück erschaffen. So werden immer mehr junge Menschen einsehen, dass ihr eigenes Glück sowohl, wie das der kommenden Generation, grösser wird, je reicher sie ihre Persönlichkeit der Liebe geben können. Knaben und Mädchen, Jünglinge und Jungfrauen, Männer und Frauen werden durch die gemeinschaftliche Erziehung, durch Zusammenarbeit und kameradschaftlichen Umgang das gegenseitige Verstehen entwickeln; und dieses wird die Feindlichkeit zwischen den Geschlechtern aufheben, in der die Individualisierung der Gegenwart – und die dadurch gesteigerten Persönlichkeitsforderungen – bis auf weiteres ihren Ausdruck gefunden hat.

Die Gewohnheiten des einzelnen Heims werden sich differenzieren, anstatt dass wie jetzt dieselben conventionellen Bräuche für alle ehelichen Heimlebensverhältnisse aufrecht erhalten werden. Nach einigen Generationen so erzogener Geschlechter, unter dem Einfluss so geordneter Verhältnisse, wird man viele Ehen jener Art sehen, von der man schon jetzt nicht so wenige sieht, in denen nicht die pflichttreue Resignation, sondern gerade die Freiheit die Treue stärkt. Da wird die Liebe als das Zarteste und Kostbarste im Leben gehegt; da haben Egoismus und Selbstlosigkeit eine vollkommene Harmonie erreicht, weil jeder der Gatten das Glück bloss besitzt, indem er das des anderen schafft. Das ist das Zusammenleben, welches der norwegische Dichter zeichnet, wenn er die Ehe »ein sehnsuchtsvolles Einandersuchen, ein energisches Sichselbstbehaupten, um sich selbst geben zu können, eine stets wachsende Innigkeit des Verstehens, ein Verhältnis, das das ganze Leben hindurch vertieft wird,« nennt.

So vorbereitet, wird vielleicht das absolute Menschenideal zur lebenden Wirklichkeit werden; nicht als ein einzelner Mann, und nicht als ein einzelnes Weib, sondern als ein Mann und ein Weib, die den Menschen eine neue Religion geben werden: die der Glückseligkeit.

*

Die Mehrzahl bezweifelt freilich noch, dass die Ehe zu dieser höchsten Daseinsform des Lebens werden könne, in der die Hingebung des Ich und die Selbstsucht des Ich zu einer vollkommenen Einheit aufgehen. Man behauptet, dass dieser ideale Zustand vielleicht von Ausnahmemenschen erreicht werden könne, doch niemals von Alltagsmenschen, und dass die Moral der letzteren durch den gesetzlichen und den sozialen Zwang Festigkeit zu erhalten vermöge.

Mein Glaube jedoch geht dahin, dass, ebenso wie die Kinder Israels der Feuersäule folgten, so die Alltagsmenschen aus der Entfernung den Ausnahmemenschen folgen, und dass auf diese Weise die Menschheit in ihrer Gesamtheit sich vorwärts bewegt. Die Alltagsmenschen werden schon jetzt von gewissen Begriffen bestimmt, die am Ende des vorigen Jahrhunderts nicht einmal für Ausnahmemenschen entscheidend waren. Die Vernunftehe, zum Beispiel, wird schon von vielen als Niedrigkeit aufgefasst. Die elterliche Gewalt tritt äusserst selten auf, sei es, um die Kinder zu einer Ehe ohne Liebe zu zwingen, oder um von einer solchen abzuhalten. Selbst die oberflächliche Erotik unserer Tage ist ernsthaft im Vergleich mit der leichten seichten Galanterie des 18. Jahrhunderts. In den geologischen Ablagerungen der Gesetzgebung, und noch mehr in denen der Litteratur, kann man diese Erhöhung des Niveaus der erotischen Gefühle studieren. So überzeugt man sich davon, dass die Forderungen und Conflicte des Ausnahmemenschen nach und nach auch die des Alltagsmenschen werden, wenn auch diese um einige Generationen hinter den Ausnahmenaturen zurück sind, die von neuen Gefühlen, neuen Conflicten bewegt werden.

Gewiss kann es unter den jetzigen unvollkommenen Verhältnissen um der Kinder willen manchmal eine Pflicht sein, die äussere Form der Ehe nicht zu sprengen. Aber nicht einmal diese Pflicht kann als allgemein-giltig gepredigt werden. Nur das Individuum selbst vermag in jedem einzelnen Falle die sowohl für die Kinder als für die Gatten selber beste Lösung eines innerlich zerfallenen ehelichen Verhältnisses finden. Wenn man die Entwicklung in ihrer Gesamtheit betrachtet, ist es um so erfreulicher, je früher die Menschen aufhören, die jetzige Ehe gutzuheissen; denn um so früher wird die Umgestaltung hervorgezwungen, durch die die Ehe ihre Festigkeit bloss von innen erhält. Erst dann wird man voll die Erfahrungen machen und die Mittel finden können, durch die die Treue gestärkt und das Glück geschützt werden kann. Aber diese Mittel sucht man nicht, so lange man sich auf die Macht des gesetzlichen Rechts und der sozialen Meinung verlässt, das zusammenzuhalten, was die Liebe nicht eint.

Die immer fortschreitende Individualisierung der Liebe deutet darauf hin, dass die Einehe wahrscheinlich die Form des erotischen Zusammenlebens von Mann und Weib bleiben dürfte. Aber diese Regel wird fürderhin wie bisher viele Ausnahmen haben, da Gefühle sich ändern können. Die Conflicte, welche so entstehen, werden Leiden im Gefolge haben, aber nicht die Bitterkeit oder den Machtstreit, den das eheliche Eigentumsgefühl jetzt so oft veranlasst. Das tiefe Bewusstsein, dass die Liebe nicht zu dem Gebiet der Pflicht, sondern nur zu dem der Freiheit gehören kann, wird jenen der Gatten, der die Liebe des anderen verloren hat, dieselbe Resignation vor dem Unausweichlichen empfinden lassen, als wenn ihm der andere durch den Tod entrissen worden wäre.

Und in den Fällen, in denen das Individuum zu dieser Resignation nicht fähig ist, soll das Gesetz wie die Sitte es doch für den einen unmöglich machen, den anderen gegen seinen Willen zurückzuhalten. Jeder der Gatten soll Herr über seine Person und sein Eigentum, über seine Arbeit und seine Lebensweise sein: das Zusammenleben soll in jedem besonderen Fall durch individuelles Uebereinkommen gestaltet werden und das Gesetz nur die Rechte und Pflichten der Gatten in Beziehung auf die Kinder bestimmen.

Wenn es auf diese Weise dahin gekommen sein wird, dass weder Mann noch Weib im äusseren Sinne durch die Schliessung oder Auflösung der Ehe etwas zu gewinnen oder zu verlieren haben, dann erst tritt das erotische Problem in seinem ganzen Ernst hervor.

Viele Missgriffe, viele Karrikaturen, viel tragisches Misslingen wird natürlich die Folge der Freiheit sein. Grosse Wellen haben grosse Schaumkämme. Ein neues Prinzip kann nicht in Kraft gesetzt werden, ohne dass es neue Verirrungen mit sich bringt. Aber man kann doch überzeugt sein, dass die Gesetze des Lebens – zu welchen das gehört, dass Leiden die Missbrauche der Freiheit begleitet – schliesslich vermögen werden, alles in seine rechten Grenzen zu bringen. Nichts hat wohl mehr Leiden zur mittelbaren Folge gehabt, als das Christentum, und obgleich Jesus das wusste, zögerte er doch nicht, der Menschheit diese sprengende, neuschaffende Kraft zu geben. Aber es ist vor allem seine Idealität, welche seinen jetzigen Bekennern fehlt, die grosse Idealität, die es wagt, an die Macht des Inhalts vor der der Formen zu glauben.

Es ist darum ganz natürlich, dass diese gesellschafterhaltenden Christen dem neuen Sittlichkeitsideal mit eitel Befürchtungen entgegentreten. Sie glauben, dass ein Weib, dessen bewusstes Ziel »Selbstbehauptung in der Selbsthingebung« ist, die unmittelbare frische Ursprünglichkeit dieser Hingebung einbüssen werde. Sie glauben, die Ehe müsse untergehen, wenn die Stütze ihrer Entwicklung nicht mehr Band und Gebot ist, sondern die eigene Lebenskraft. Sie glauben, die Sittlichkeit werde untergehen, wenn die Jugend lernt, die Liebe zwischen Mann und Weib als das centrale Lebensverhältnis aufzufassen. Diese Befürchtungen und hundert ähnliche haben alle einen und denselben Ursprung.

Das ist die christliche Lebensauffassung, welche die grosse, gesunde, starke Ueberzeugung der Antike von der Heiligkeit der Natur erschüttert hat. Maria war die »jungfräuliche Mutter«, Jesus Cölibatär, Paulus betrachtete die Ehe als das kleinere von zwei Uebeln. So lernte man erst den ledigen Stand als das Höhere und die Ehe als das Niedere ansehen. Die Folge der christlichen Lebensauffassung wurde dann, dass das Geschlechtsverhältnis an und für sich als unheilig betrachtet wurde, das Menschliche an und für sich als sündenverderbt, die Selbstsucht an und für sich als böse und die irdische Glücksforderung als die grösste Selbstsucht.

Darum steht jetzt die christliche Lebensanschauung – seit sie ihre grosse Culturaufgabe, die Entwicklung des Altruismus, erfüllt hat – als Hindernis der einheitlichen Anschauung da, aus welcher schliesslich das Glück der Menschheit erwachsen soll.

Niemand, der tief denkt oder fühlt, träumt, dass dieses Glück leicht errungen werden könne. Der folgerichtige Glaube des Monismus an die Menschennatur kann erst nach und nach das Leben durchsetzen. Und bis dahin wird für die Mehrzahl Leiden die erste Folge der Freiheit sein. Selbst für die Wenigen, denen die Verhältnisse schon jetzt das Glück gegeben haben, muss dieses in demselben Masse unvollkommen sein, in dem sie Sympathie mit all dem Leiden um sich fühlen. Aber vor allem ist das Glück selten, weil die Genialität für das Glück noch so selten, ja die seltenste Genialiät überhaupt ist. Sie besitzen, heisst, dem Leben mit der Demut eines Bettlers nahen, aber es mit der stolzen Generosität des Fürsten behandeln; heisst, seiner Gesamtheit das tiefe Verstehen eines Dichters entgegenbringen und jedem seiner Augenblicke die hingebungsvolle Einfalt eines Kindes; heisst, jede naheliegende Freude ganz geniessen und doch die zufällige Freude für die bleibende aufgeben können.

Das Glück liegt so weit von der Menschheit; aber sie muss den Anfang damit machen, dass sie wagt, es zu wollen. Dieser Mut ist es, den das Christentum gebrochen hat, als es die Seele von der Erde auf die Ewigkeit richtete und der Entsagung den höchsten Platz unter den ethischen Werten gab. Durch die Umwertung aller Werte, die jetzt vor sich geht, wird jedoch das Glück diesen Platz erhalten.

Wer für den tiefsten aller Gedanken streitet, Spinozas Gedanken, dass »Freude Vollkommenheit ist«, der streitet mit Siegesgewissheit, wie einsam er auch steht, wie viel von seinem Herzblut im Streite auch verspritzen mag.

Wir leben noch im Innersten nur von dem, wofür wir sterben. Und Alles, wofür wir gestorben sind, wird leben, wenn die Zeit da sein wird, in der Alles, was wir selbst gelitten haben, für uns nichts bedeutet, doch das, wofür wir gelitten haben, für Andere Alles bedeutet.


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