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Erstes Buch

 

1

Das Tor des Krankenhauses fiel hinter Georg Weidenbach ins Schloß. Er hüstelte, als er die rauhe Straßenluft einatmete, und stülpte den Mantelkragen in die Höhe. Und schon schlug er, fast automatisch, jenen Weg ein, den er in tausend Träumen und Phantasien während seines Krankenlagers gegangen war. Er verlor sich rasch im Gewimmel jener endlosen Straßenzüge, die quer durch die Stadt nach dem Alexanderplatz führen. Hier, am Alexanderplatz, war in einem Warenhaus seine Geliebte als Verkäuferin tätig, Christine, »der schwarze Teufel mit den Augen eines wilden Hengstes«, wie der Zeichner Katschinsky sie genannt hatte. Seine Geliebte, und wenn man wollte, seine Frau. Oder durfte er sie nicht so nennen? Nach all dem, was sich zwischen ihnen ereignet hatte? Und das war, bei Gott, nicht alltäglich!

Trotz der Knappheit seiner Barschaft, die zu äußerster Sparsamkeit mahnte, hätte Georg wohl die Elektrische nehmen können, aber er empfand es als eine Art Wollust, diese Stunde zwischen der Entlassung aus dem Krankenhaus und dem Wiedersehen mit Christine bis auf die letzte Minute und Sekunde auszukosten.

Ja, nun kam er also, treibend in diesem Strom hastender Menschen und jagender Wagen, und sie sah ihn nicht! Sie ahnte es nicht, daß er, Schritt für Schritt, immer näher kam. Würde sie zu Boden sinken? Er lächelte mit geweiteten Augen, ein erregtes, fast verzücktes Lächeln, aber so elend hatte ihn die Krankheit gemacht, daß sein Lächeln wie eine Grimasse des Schmerzes aussah. Er keuchte leise. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, die Knie zitterten ihm.

Das lange Krankenlager hatte ihn der Gegenwart entfremdet. Menschen, Stimmen, Gesichter, Gebärden erschienen ihm fremd, als sei er nach Jahrzehnten in diese Stadt zurückgekehrt, als sei er verändert in sie zurückgekehrt. Das monatelange Rauschen des fiebernden Blutes hatte seine Sinne verfeinert, so daß er Bewegung und Lärm um vielfaches verstärkt empfand. Die Straße jagte, die Straße donnerte, und fast überkam ihn eine Beklemmung.

Menschen und Gefährte schienen von einem wilden Strom fortgerissen zu werden, sie glitten und schossen vorüber, um in den Wirbel der Seitenstraßen geschleudert zu werden. Funken stoben aus den Rädern, blaues Feuer spritzte durch die nasse Luft. Omnibusse, mit Menschenleibern dicht beladen, Gesicht an Gesicht, bleich und fahl, schwankten wie Schiffe in den Strudel der Plätze, wo sie auf und ab stampften wie auf hoher See, und versanken. Der Boden zitterte und schwankte, die Luft gellte, es knallte wie von Explosionen. Wahrhaftig, es war wie in einer Schlacht.

Aus einem dicht über den düsteren Häusern hängenden lehmfarbenen Himmel fiel gleichmäßig ein feiner Sprühregen wie durch ein dünnes Sieb herab. Der Regen lag in Bläschen auf den schwarzen steifen Hüten der Herren, auf den Pelzen der Damen. Er hing auf den Schnurrbärten der Trambahnführer, und wenn man das Gesicht etwas schräg hielt, so netzte er, angenehm kühlend, Augenlider und Wangen.

Schritt für Schritt – und sie ahnte es nicht!

Würde sie einen ihrer wilden Schreie ausstoßen? Würde sie die Arme in die Luft werfen und an seine Brust stürzen, angesichts der Käufer, angesichts der Kolleginnen, angesichts der strengen Augen der Aufsichtsdame? Oh, Christine – nein, nein, sie kümmerte sich um nichts …

Die großen Scheiben des Warenhauses blendeten, drinnen schwankten Lichter und Menschen. Georgs Herz schlug: Die Stunde war da, tausendmal ersehnt und erträumt. In wenigen Minuten würde er sie sehen – würde er alles erfahren, Aufklärung erhalten über all das Unbegreifliche. Oder –? Sein geschwächter Körper bebte.

Um ganz offen zu sein, es gab ja manches, das nicht so einfach war. Er hatte nur nicht den Mut, es sich einzugestehen. Wie oft war er mitten in der Nacht aus dem Schlafe aufgefahren, um mit offenen Augen dazuliegen, bis der Tag graute? Wenn Christine etwa, nehmen wir es an, auch das war ja möglich – wenn sie nicht mehr hier sein sollte? Seit Wochen – warum betrügst du dich? –, seit Monaten hatte er, seit genau drei Monaten, keine Antwort mehr auf seine Briefe erhalten …

Die trockene Wärme beruhigte, die Lichter, die Teppiche, die den Schritt dämpften. Eine Art von Wohlbehagen, ein Gefühl des Geborgenseins kroch über seinen durchfrorenen Körper, Röte überzog seine eiskalten, nassen Wangen.

Wie herrlich die Seide schimmerte! Eine Kaskade bunter Seidenstoffe stürzte aus einem hohen Brunnenbecken herunter in den Saal, funkelnd im Licht. Das Silber in den Vitrinen blitzte. Ein Verkäufer schleuderte einen Ballen Tuch auf den Ladentisch, daß er sich wie eine Schlange entrollte, die Schere blitzte in der Luft. Es roch nach feinem Leder, Juchten, nach den Parfüms der Frauen, die vorüberglitten. Die Türen der Aufzüge klirrten, Menschenbündel flogen in die Höhe, stürzten blitzschnell ins Bodenlose.

Hier war Reichtum, Luxus, Überfluß. Es sah ganz so aus, als gäbe es auf dieser Erde weder Hunger noch Kälte noch Entbehrungen. Das Riesengebäude mit seinen hundert Sälen war von oben bis unten angefüllt mit Waren. Die Waren waren bis zur Decke aufgeschichtet, sie überschwemmten die Säle, sprengten die Wände, überströmten die Wandelhallen und Treppenhäuser. Aber, war es nicht auffallend, im Vergleich zu diesen ungeheuren Warenmassen war die Zahl der Käufer nur gering. Man drängte sich nicht wie früher, stieß einander nicht an, kein Gedränge an den Kassen. Die Verkäuferinnen saßen hinter den Tischen, polierten sich die Nägel, färbten sich die Lippen, tuschelten. Glatzköpfige Herren gingen in den Gängen hin und her und blieben ab und zu stehen, um eine abgeschabte Stelle des Läufers zu untersuchen. Eine auffallende, fast bedrückende Stille herrschte in dem Warenpalast.

Nun brauchte man nur noch das Lager der Damenkonfektion zu durchqueren, an einigen gespreizten Wachspuppen vorbei, und man war in Christines Reich: Wäsche, Linnen, Spitzen für Damen.

Georg verbarg sich hinter einer dieser gezierten Puppen, die heiter glänzte und ihn mit ihren Augen verführerisch anstrahlte. Von hier aus vermochte er die Abteilung »Damenwäsche – Spitzen« unauffällig zu überblicken. Auch hier, wo früher tausend eifrige Hände erregt in den Waren wühlten, waren nur vereinzelte Käuferinnen zu sehen. Eine dicke Dame in einem rötlichen Pelz, wie ein dicker Hamster, einige halbwüchsige Mädchen mit hohen fleischroten Strümpfen.

Wie oft stand dieser Saal, glitzernd von Lichtern, wie eine Vision vor seinen Augen, während er in schlaflosen Nächten in die Ampel des Krankensaals starrte!

Plötzlich aber – plötzlich verspürte Georg einen Riß in der Brust, als sei ein Blutgefäß zersprungen: dort stand Christine!

Er hielt sich an der glänzenden Wachspuppe fest, an dem dünnen Kimono, das sie über den nackten, lackierten Beinen trug: an der Kasse lehnte, in einem blau-weiß gestreiften Kleide, ein Mädchen, das, einen Zettel in der Hand, mit der Kassiererin sprach. Beine und Arme etwas dünn, der Nacken mager, aber die Hüfte breit. Über dem Nacken ein Gewirr von Locken, schwarz, blauschwarz, lebendig bei jeder kleinen Bewegung, fliegend, und immer in Erregung. Die Damen schienen sich zu zanken. Die Kassiererin setzte den Kneifer auf und beugte sich ärgerlich über den Zettel.

Georgs Herz schlug. Wie lange schon mochte sich die Kassiererin über den Zettel beugen? Die Wachspuppe, die er mit den Fingern berührte, begann zu schwanken und drohte über ihn zu stürzen.

Plötzlich aber wandte sich das Mädchen mit den schwarzen Locken ab und kam geradewegs auf ihn zu …

Es war nicht Christine. Ein flaches, ödes Gesicht, wie Insulaner sie aus Kokosnüssen schneiden, die Augen flach wie Kürbiskerne, leer, ausdruckslos. Er blieb betäubt stehen. Das hölzerne Gesicht kam immer näher, wurde größer und ging vorüber.

Aber – so sagte er sich –, und er fühlte, daß er sich mit einer Hoffnung betrog, um sich zu beruhigen, sie kann ja in einer andern Abteilung tätig sein, nicht wahr? Langsam, leise zitternd in den Knien, wanderte er durch alle Stockwerke des Warenhauses. Höhlen aus blitzenden Messern, Grotten aus funkelndem Kristall. Phonographen schrien, elektrische Sonnen glühten ihn an. Er spähte, forschte. Nirgends.

Als er wieder die Straße betrat, war es Nacht geworden. Es regnete noch immer. Die Häuser schienen geborsten, und das Licht brach aus allen Fugen und zerrann in den Asphaltseen.

Georg verkroch sich in die Ecke einer kleinen Kneipe, um sich mit einem Imbiß zu stärken. Plötzlich aber sprang er auf, bezahlte und eilte zu dem Warenhaus zurück. Es war geschlossen.

»Wie töricht!« rief er aus und schlug sich heftig die Stirn. »Du hättest doch ihre Kolleginnen fragen können. Sie hätten dir gewiß Auskunft gegeben. Einen ganzen Tag hast du verloren, du Narr! Jetzt ist es zu spät.«

 

2

In einer Nebenstraße fand Georg nach langem Suchen ein kleines Hotel, das ihm billig genug schien. Er kroch unter die Decke und schlief, völlig erschöpft, augenblicklich ein, obschon es noch früh am Abend war und die Treppen und Türen des Hotels (für Wochen und Tage!) unaufhörlich knarrten. Nach tiefem Schlaf erwachte er früh am Morgen, dampfend am ganzen Körper, aber erfrischt und in zuversichtlicher Laune. Selbst die mürrischen Mienen der Zimmermädchen und Kellner, die in den Einzelgästen ein schlechtes Geschäft sahen, konnten ihm die Laune nicht verderben.

Er suchte eine Kaffeeschenke auf, und während er sein bescheidenes Frühstück einnahm, entwarf er einen genauen Plan für den heutigen Tag. Es galt vor allem zu handeln, nicht eine Stunde durfte er verlieren: seine Barschaft ging zu Ende! Erstens, sagte er sich, erstens also wollte er nochmals das Warenhaus besuchen, um nach Christine zu fragen. Es gab ja keinen Grund, sich zu erregen, verstehe mich recht, er würde Christine finden, heute, morgen. Berlin war eine Stadt der Ordnung, niemand konnte sich hier verbergen.

Zweitens wollte er bei Winter & Co. vorsprechen, jener Baufirma, bei der er zuletzt als Zeichner beschäftigt war, und anfragen, ob es Arbeit für ihn gäbe. Sollte ihm bei Winter kein Erfolg beschieden sein, nun, so gab es andere Firmen, Hausmann & Brune oder Hegelström oder Feinhardt. Er war nicht verlegen, oh, keineswegs.

Wenn die Zeit reichte, so wollte er – drittens – die wenigen Bekannten und Freunde besuchen, die er in Berlin besaß. Das waren vor allem der Bildhauer Stobwasser und der Zeichner Katschinsky. Vielleicht würden sie ihm raten können, was er beginnen solle. Mein Himmel, sechs Monate waren eine Ewigkeit! Er mußte ganz von vorn anfangen.

Es regnete noch immer, feine Regenschnüre rieselten auf dieses endlose Berlin herab. Die Wasserperlen lagen auf den Haaren der Hunde und auf den Lackschuhen der Damen, die in ihre Mäntel gewickelt vorübereilten. Die Straßenkehrer fegten den gelben Schlamm mit Gummistreifen in die Gosse, und Automobile mit großen Walzen wuschen den Asphalt der Straßendämme.

Das Warenhaus war noch völlig verödet. Die Geländer wurden poliert, es wurde Staub gewischt, der Fußboden gewichst. Die glatzköpfigen Herren gingen auf den Teppichen hin und her und gähnten. In der Damenabteilung wurden die Vitrinen abgestaubt, die Wäsche zurechtgelegt.

»Christine März?« Die Verkäuferinnen kannten sie nicht.

»März?« sagten sie. »Nein. Es gab große Veränderungen im Personal. Viele Damen wurden entlassen.« Die Kassiererin mit dem Kneifer kam hinzu. Sie kannte Christines Namen. »Ich erinnere mich,« sagte sie. »Aber ich glaube nicht, daß Fräulein März noch bei uns ist. Es scheint mir – wenn ich mich recht erinnere, hat sie vor einigen Monaten gekündigt. Sie hatte etwas Besseres gefunden.«

»Besseres?«

»Vielleicht täusche ich mich. Fragen Sie in der Personalabteilung nach.«

Zu allem Unglück war der Chef der Personalabteilung bei einem Termin auf dem Gericht, und die Schreibdamen wagten es nicht, Auskunft zu geben. Der Chef aber würde bestimmt am Nachmittag hier sein.

Gut, also am Nachmittag.

Bei Winter & Co., wo Weidenbach zuletzt gearbeitet hatte, wurde er mit Anteilnahme empfangen. Man erinnerte sich seiner. An der Tür und den Schalterfenstern erschienen einige neugierige Gesichter. Jemand nickte ihm zu. Der stattliche und nach Pomade duftende Prokurist kam heraus und erklärte ihm höflich, daß eine Vakanz zur Zeit – leider! – nicht offen sei. »Später vielleicht. Versuchen Sie es in einigen Wochen, Herr Weidenbach. Und mit Ihrer Gesundheit geht es wieder besser?« Ein Lächeln, eine Verbeugung.

Georg empfahl sich.

Er erwog, ob es sich überhaupt lohnte, zu Hausmann & Brune zu gehen. Es war eine kleine Firma, die nicht immer mit Aufträgen versehen war. Sie baute Läden aus, Dachwohnungen. Das war ihre Spezialität. Indessen, er beschloß einen Versuch zu machen. Aber – Hausmann & Brune waren nicht mehr zu finden! In den früheren Geschäftsräumen standen, so schien es von außen, Öfen und Herde. Ein Herr, in einen Pelz gehüllt, ging hinter den angelaufenen, nassen Scheiben auf und ab, eine riesenhafte Erscheinung.

Georg klopfte. »Ist hier Hausmann & Brune?«

Ein rothaariger junger Mann, schmächtig und klein, erschien, in einen Pelz eingewickelt, im Türrahmen und putzte sich den Kneifer. »Nein, hier ist Mohrenwitz & Söhne, Öfen und Heizungsanlagen.«

»Und Sie wissen nicht, wohin Hausmann & Brune verzogen sind?«

Der Rothaarige zog sich kopfschüttelnd zurück.

Bei der Firma Hegelström hatte Georg vor zwei Jahren, als er nach Berlin gekommen war, als Volontär begonnen. Diese Firma machte alles: Häuser, Kirchen, Theater, Läden, Innenausstattungen, was man wollte. Hegelström war einer der begabtesten und meistbeschäftigsten Architekten Berlins. Er hatte jahraus, jahrein gegen zwanzig Zeichner sitzen.

Georg aber fand die Bureaus verödet. In dem kleinen dunklen Vorzimmer saß ein älterer Herr, der Prokurist. Georg erkannte ihn wieder.

»Mein Name ist Weidenbach,« sagte er, indem er seiner Stimme einen mutigen Klang gab und ungeniert näher trat, »ich habe bei Ihnen vor zwei Jahren sechs Monate lang als Volontär gearbeitet und frage an, ob Sie Beschäftigung für mich haben.«

Der Prokurist drehte ihm erstaunt den grauen Kopf zu und lächelte hämisch. Er war schlecht rasiert und sah verwahrlost und ungemütlich aus, wie ein verärgerter zottiger Hofhund, der auf Streit wartet. »Beschäftigung?« keuchte er, »Sie wollen Beschäftigung? Sie glauben wohl, daß wir nur auf Sie gewartet haben, Herr Weidenbach? Oder sind Sie hierher gekommen, um sich einen Scherz zu erlauben?« Er stand auf, schob die Hände in die weiten Hosentaschen und weidete sich an Georgs Verlegenheit. »Sie sollten also nicht wissen, daß Hegelström bankerott gemacht hat?«

»Hegelström – bankerott?«

»Ja, junger Mann, und ich sitze hier und verwalte die Masse, das ist meine Beschäftigung. Wir haben umgeworfen. Die Zehlendorfer Terrainkäufe haben Hegelström ruiniert. Ich war immer dagegen gewesen, aber Hegelström hörte ja nicht auf mich. Seine Gläubiger haben ihm ohne Gnade die Kehle zugezogen. Und Sie wissen das nicht? Wo in aller Welt steckten Sie, daß Sie das nicht wissen?«

Georg entschuldigte sich, er sei lange Zeit krank gewesen.

Der Prokurist ächzte: »Ich sitze hier noch bis zum Ersten. Dann liege auch ich auf der Straße. Sie wissen also nicht, was mit Hegelström geschehen ist? Ganz Berlin sprach wochenlang von nichts anderem.«

»Nein, wie sollte ich es wissen?«

»Er hat sich vergiftet, junger Mann. Uns allen wird schließlich nichts anderes übrig bleiben, als Arsenik zu fressen. Die Zeiten sind miserabel. Hegelströms Sozius ist Antiquitätenhändler geworden, wie viele Architekten. Er hat einen kleinen Laden in der Kantstraße. Besuchen Sie ihn. – Ja, nun erinnere ich mich wieder an Sie, Herr Weidenbach. Sie haben seiner Zeit die kleinen Villen entworfen, die Hegelström so gut gefielen, nicht wahr?«

»Es waren kleine Landhäuser für Zehlendorf.«

»Ja, richtig. Und Sie waren krank, sagen Sie? Warten Sie einmal – es ist mir so, als habe man mir etwas von Ihnen erzählt? Oder habe ich über Sie etwas in den Zeitungen gelesen?«

Georg wurde blutrot.

Der Prokurist aber gab es gottlob sofort auf, in seinem Gedächtnisse nachzuforschen. »Es sind schwere Zeiten für das Baugewerbe, Herr Weidenbach,« fuhr er fort. »Es gibt keine Aufträge, und die meisten Neubauten wurden eingestellt. Raten? Nein, ich kann Ihnen keinen Rat geben, ich wüßte nichts.«

Georg war schon in der Türe, als ihm der Prokurist hämisch lachend nachrief: »Vielleicht gehen Sie zu Schellenberg! Versuchen Sie es doch einmal bei ihm!«

»Schellenberg? Wer ist Schellenberg?«

»Schellenberg, das ist ein Unternehmer, der den Arbeitslosen zwanzig Pfennig die Stunde bezahlt, und dazu verspricht er ihnen eine Villa auf dem Monde. Ich sehe schon, Sie haben nicht übel Lust, zu ihm zu gehen – hahaha. Aber nun leben Sie wohl, Herr Weidenbach.«

Bestürzt verließ Georg das Haus.

Er hatte heute nicht mehr den Mut, bei anderen Firmen sein Glück zu versuchen. Kurz entschlossen sprang er auf eine Elektrische, um nach Charlottenburg zu fahren, wo sein Freund Stobwasser wohnte.

 

3

Karl Stobwasser sah nicht aus wie ein Bildhauer, eher wie ein Schneider. Es war ein kleiner schmächtiger Bursche mit einem schmalen Kopf, etwas schiefem Mund und auffallend spitzer, langer Nase. Auf der Baugewerbeschule in der Provinz – wo Weidenbach sein Mitschüler war – hatten seine vorzüglichen Steinmetzarbeiten und Holzschnitzereien die Bewunderung der Mitschüler und selbst der Lehrer erweckt. Vor zwei Jahren war Stobwasser nach Berlin gegangen, fest entschlossen, seinen Weg als Bildhauer zu machen. Er hatte auch bald Erfolge, wenn auch nur geringe. Ein angesehener Kunstkritiker hatte lobend auf seine Holzplastiken hingewiesen.

Stobwasser hatte seine Werkstatt im Hofe einer Charlottenburger Mietskaserne in einer Art Remise oder Stall aufgeschlagen. Dieses kleine Loch nannte er sein Atelier. Neben der Werkstatt befand sich ein wirklicher Stall, aus dem ununterbrochen eine Ziege in den kleinen finsteren Hof hinausjammerte, sooft sich nur ein Schritt vernehmen ließ.

Stobwasser war zu Hause, Gott sei Dank! Eine heisere, krächzende Stimme antwortete auf Georgs Klopfen. Als er in den kleinen, eisigkalten, halbdunklen Raum eintrat, fuhr ein verwilderter Kopf aus den Decken einer kleinen Eisenbettstelle empor. Eine lange, spitze Nase war das einzige, was Georg klar erkennen konnte.

»Wer ist es?« fragte die heisere Stimme des Bildhauers, und Nebel dampfte aus seinem Munde.

»Ich bin es, Georg.«

Der Bildhauer fuhr noch höher aus den Decken empor und richtete seine spitze Nase auf Georg. Er bewegte den wilden Haarschopf hin und her und vermochte kein Wort hervorzubringen.

»Wie? Wer?« rief er dann erschrocken aus.

»Georg!«

»Aber ist es möglich?« Stobwasser warf erregt die Arme in die Luft. »Du? Weidenbach? Ist es denkbar? Aber – verstehe mich – du siehst, daß ich es nicht fassen kann! Man hat mir doch gesagt, daß du – gestorben seist!«

»Nein, ich lebe noch,« entgegnete Georg mit einem leisen, bitteren Lachen.

Der Bildhauer schüttelte fassungslos den Kopf. »Wie ist es denkbar?« rief er aus. »Wer erzählte es denn nur? Katschinsky? Die Jenny Florian? Ich verstehe es nicht, wie konnte man es denn erzählen, wenn es nicht wahr war? Oh, mein armer Kopf, ich kann gar nicht denken! Nun, einerlei, wie das Gerücht aufkam – du lebst!« schrie Stobwasser mit heiserer Stimme. »Du lebst also noch! Ach Gott sei Dank! Dreimal war ich im Krankenhaus, um dich zu besuchen, aber man hat mich nicht vorgelassen! Und dann also – dann erzählte man es im Café! Lieber Himmel, was für Dinge geschehen können!« Er streckte Georg beide Hände entgegen. »Nun, Gott sei gelobt! Umarme mich, Bruderherz! – Oder bist du aus dem Jenseits gekommen, um mir einen Besuch abzustatten? Wie?« Der Bildhauer lachte und hustete. Glühendheiß brannten seine Hände. Er schwieg eine Weile, während er Georg mit großen, glänzenden Augen betrachtete. »Laß dich ansehen, alter Freund,« sprudelte er dann außer sich vor Freude hervor. »Wie wunderbar ist es doch! Und ich trauerte schon um dich. Und manchmal, es ist wahr, da habe ich dich beneidet. Nein, wie wunderbar ist es doch! Und da kommt er also plötzlich herein –!«

Georg sah sich in der kahlen Werkstatt um. »Wo sind deine Tiere?« fragte er, um von dem Thema abzulenken, das ihn peinigte. Früher war Stobwasser stets von einer Menge von Tieren umgeben gewesen: Papageien, Katzen, Kakadus, Mäusen.

»Meine Tiere?« Der Bildhauer ließ den Kopf sinken. »Meine lieben Tiere? Ach, es war zu kalt für sie hier, ich habe keine Kohlen. Eine Dame, eine barmherzige Seele, hat sie in Kost und Logis genommen. Seit Wochen bin ich nicht wohl. Selbst ein Hund würde in diesem Loch krank werden. Setze dich doch, Georg. Ich war eben aufgestanden, um etwas Tee zu kochen. Auf dem Wandbrett dort steht eine Tasse, nimm diese Tasse für dich und gib mir das Glas.«

Der Bildhauer nahm das heiße Glas in die Hände und wurde von Frost geschüttelt. »Schade, schade. Auch nichts kann ich dir anbieten, nicht einmal einen Kognak. Es ist zu ärgerlich!«

»Und wie ging es dir, seit wir uns nicht sahen, Stobwasser?«

Stobwasser führte das Glas mit zitternden Händen zum Munde und versuchte, den heißen Tee zu schlürfen. »Ich kann es immer noch nicht fassen, liebster Kamerad – aber sprechen wir nicht mehr davon. Ja, du fragst, wie es ging? Gut und schlecht. Es war nicht so einfach durchzukommen,« sagte er heiser, »aber ich verlor den Mut trotz allem nicht. Du weißt ja, ich hatte damals drei Figuren zu modellieren für die Villa eines Seifenfabrikanten. Nun, die Figuren mißfielen leider der Madame und wurden wieder heruntergeschlagen, und ich bekam keinen Pfennig. Ich konnte ja klagen, siehst du, so sind sie, die reichen Leute. Aber ich konnte ja nicht einmal den Anwalt bezahlen. Dann verkaufte ich eine kleine Holzschnitzerei, aber der Käufer zahlte nur eine geringe Summe an, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Die Reichen können sich nicht in die Lage des Armen versetzen. Sie können sich nicht vorstellen, daß man dasitzt und auf jeden Schritt horcht. Dann hatte ich Aussichten, die sich nie verwirklichten. Und nun bin ich krank und liege hier. Aber nun erzähle du,« schloß der Bildhauer, indem er das Glas abstellte und sich in die Decken hüllte. »Das Sprechen strengt mich an.«

»Ich? Es gibt nichts zu erzählen von mir,« wich Georg aus.

Stobwasser blickte ihn mit großen, fiebernden Augen an. »Nichts zu erzählen, sagst du? Man sollte doch meinen! Höre, Weidenbach, wir haben ja stundenlang über dich diskutiert und sind uns doch nicht klar geworden.«

»Worüber wolltet ihr euch denn klar werden?« unterbrach ihn Georg verlegen, mit leiser, hilfloser Stimme.

»Es war uns allen unerklärlich,« flüsterte der Bildhauer und streckte den Kopf so nahe wie möglich an Georg heran. »Es ist mir noch wie heute! Zwei Tage vorher waren wir alle zusammen in Potsdam, Katschinsky und Jenny Florian, du und die kleine Christine, und wir waren ja in solch ausgelassener Laune. Oh, du meine Güte!! Und zwei Tage später, da kommt Katschinsky zu mir hereingestürzt, hier herein in mein Atelier und sagt: ‚Weißt du schon – Weidenbach –?‘ Und ich sagte: ‚Unmöglich, wie soll das nur möglich sein!‘« Der Bildhauer brach ab, neigte sich vor und fragte noch leiser, während seine Augen doppelt so groß wurden: »Sage mir doch, Weidenbach, weshalb hast du es getan?«

Weidenbach erhob sich hastig und stammelte irgend etwas.

Augenblicklich versuchte Stobwasser ihn zu beruhigen. Beschwörend streckte er die Hand aus. »Setze dich wieder, Weidenbach, ich bitte dich! Ich will nicht mehr davon sprechen. Es gibt Dinge, die man selbst seinen Freunden nicht sagen kann. Aber, wie gesagt, es war uns unerklärlich, denn wir waren doch alle in solch vorzüglicher Laune, damals. Nun, ich verstehe, man tut manches, und später –« Der Bildhauer hustete.

»Wie geht es Katschinsky?« unterbrach ihn Georg.

»Katschinsky?« Stobwasser lachte leise. Irgend etwas Lustiges war ihm eingefallen beim Klang dieses Namens. Er streckte die spitze Nase zur Decke. »Ich weiß es nicht. Du kennst ja Katschinsky, man sieht ihn oft wochenlang nicht. Er brachte mir den Kunden, der mir die kleine Holzplastik abkaufte und bis heute nicht bezahlte. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Es soll ihm nicht schlecht gehen. Er ist elegant und vornehm geworden, verkehrt in Tanzdielen und Spielklubs. Soviel ich weiß, ist er beim Film angekommen. Höre, Weidenbach, eben denke ich daran, was wirst du beginnen? Hast du schon eine Beschäftigung?«

»Ich suche etwas. Ich fragte heute da und dort an.«

»Schön. Höre. Gehe sofort zu Katschinsky. Er hat ja Verbindungen in allen Kreisen, und ohne Verbindungen ist heute schwer etwas zu machen. Vielleicht kannst du auch beim Film ankommen?« Ein Hustenanfall unterbrach Stobwasser, dann fuhr er lebhaft fort: »Und Christine, Georg, wie geht es Christine?«

Pause. Stille.

»Ich habe Christine im Warenhaus gesucht, aber sie scheint nicht mehr dort beschäftigt zu sein.«

Der Bildhauer richtete sich erstaunt auf. »Scheint? Scheint? Aber stehst du denn nicht in Verbindung mit Christine?« schrie er vor Erregung.

Leise antwortete Georg: »Christine schrieb zuletzt nicht mehr. Meine Briefe, meine letzten Briefe«, schaltete er ein, da er sich vor dem Freunde schämte, »kamen als unbestellbar zurück.«

Stobwasser erwiderte nichts. Er lag lange still, und sein Atem pfiff. »Die Frauen sind merkwürdig,« sagte er dann, mit einem neuen Hustenanfall kämpfend. »Sonderbar. Ich hätte es nicht für möglich gehalten,« fuhr er fort, während er Georg mit seinen großen, fiebernden Augen aufmerksam betrachtete. »Und du hast dir doch ihretwegen – es ist doch ganz gewiß, sonst wäre es ja überhaupt unverständlich –, du hast dir doch Christines wegen eine Kugel in die Brust geschossen, Weidenbach?«

Wiederum erhob sich Weidenbach. Er trat einen Schritt zurück, schwieg, blickte zu Boden. Dann erwiderte er ganz leise, so daß Stobwasser ihn kaum verstehen konnte: »Sprich nicht mehr davon, Stobwasser, ich bitte dich herzlich. Was geschehen ist, ist geschehen. Es gab eine Szene zwischen Christine und mir, es gab immer Szenen und immer heftigere, und schließlich wußte ich nicht mehr, was ich tat.«

Stobwasser drückte Georgs Hand. Nach langem Schweigen sagte er: »Welch ein Satan, diese Christine! Und dabei ist sie noch kleiner als ich! Ach, und sie hörte auf, dir zu schreiben. Ja, die Frauen! Der Teufel soll sie holen, alle zusammen. Weißt du, Weidenbach, ich glaube, diese periodischen Störungen machen die Frauen völlig verrückt. Sie wissen nicht, was sie tun. Nun wohl, Christine hin, Christine her. Vergiß sie, Weidenbach – es gibt hundert Christinen!«

Georg schüttelte den Kopf. »Du täuschst dich, es gibt nur eine,« entgegnete er.

Stobwasser saß keuchend in den Decken und sah Georg lange an. »Also – trotz alledem?« rief er überrascht aus. »Nun, sie war ja ein wundervolles Mädchen, diese Christine, zugegeben. Sie war ein herrliches Geschöpf, gütig und wild in einem und voll toller Einfälle. Aber gehe jetzt, Weidenbach,« keuchte er, »das Sprechen tut mir weh. Die Brust schmerzt mich. Ich bin so glücklich, daß ich dich wiedersah, alter Freund. Und komme bald wieder, ich liege hier tagelang. Du kannst auch bei mir wohnen, wenn du willst. Wir können recht gut zu zweien hier hausen. Und der Kaufmann kann ja jeden Tag bezahlen, ich habe ihm geschrieben. Lebe wohl, Weidenbach, und vergiß nicht zu Katschinsky zu gehen, er weiß stets Rat.«

Schon im Hofe hörte Georg Stobwasser noch husten. Aus dem Ziegenstall schob sich zwischen Lumpen der Kopf der hungrigen Ziege, die Georg kläglich nachmeckerte.

 

4

»Heißes Wasser nennen Sie das?« rief Katschinsky unwillig der Wirtin zu. Noch immer tyrannisierte er die alte gutmütige Frau. Sie ließ sich alles von ihm gefallen. Er mochte bezahlen oder nicht, sie scharrte ihre letzten Groschen für ihn zusammen, denn sie hatte sich in den hübschen Jungen vergafft.

Katschinsky war eben dabei, sich zum Ausgehen fertig zu machen. Während er sich mit dem Apparat den weichen, kaum sichtbaren blonden Flaum von Wangen und Kinn schabte, unterhielt er sich mit Georg. Es war warm und hell in seinem Zimmer.

»Stobwasser? Natürlich werde ich Karl besuchen,« sagte er mit seiner immer etwas spöttisch und hochmütig klingenden Stimme. »Aber ich will Ihnen etwas sagen, Weidenbach. Dieser Stobwasser ist ein kurioser Bursche. Ich bringe ihm einen Käufer, er kauft ihm eine Plastik ab, macht eine Anzahlung, und nun schreibt ihm dieser unglückselige Stobwasser fortgesetzt Mahnbriefe.«

»Es geht ihm nicht gut, zur Zeit, Katschinsky,« warf Georg ein.

»Nun, wem geht es gut, frage ich? Man tut so etwas nicht, es verstimmt den Käufer. Es hätte nicht viel gefehlt, so hätte er Karl die Plastik zurückgeschickt.«

»Stobwasser ist krank. Er hat nicht einmal Geld, um zu heizen.«

»Trotzdem, trotz alledem, Sie müssen zugeben, Weidenbach –«

Katschinsky hatte offenbar ganz vergessen, daß sie sich früher geduzt hatten. Er hatte augenblicklich einen um eine Nuance förmlicheren Ton gewählt, als sein Blick Georgs abgetragene Kleidung streifte. So schien es Georg wenigstens.

Für Kurt Katschinsky, den Maler und Zeichner, hatte er immer Bewunderung empfunden und sich ihm ganz von selbst untergeordnet. Einige Karikaturen Katschinskys waren in Witzblättern erschienen. Katschinsky hatte in der Juryfreien mit Erfolg ausgestellt, und es bestand für Georg kein Zweifel, daß Katschinsky den Weg zum Ruhm betreten hatte.

Katschinsky war ein ungewöhnlich hübscher junger Mann. Er war blond und trug das Haar peinlich genau gescheitelt. Er wirkte größer, als er tatsächlich war, und auch schlanker. Er hatte große graue Augen und das etwas zarte und blasierte Gesicht eines verwöhnten Muttersöhnchens. Er war der Sohn einer Beamtenwitwe in Hamburg, die ihren letzten Pfennig für ihn opferte. So kam es, daß Katschinsky stets etwas Geld hatte und es sich leisten konnte, Jenny Florians Freund zu sein, einer jungen Schauspielerin, die zu den schönsten Frauen Berlins zählte. Wenn diese beiden jungen Menschen sich auf der Straße oder in einem Restaurant zeigten, so richteten sich stets alle Augen voller Bewunderung auf sie.

»Darf ich eine Frage an Sie richten?« fragte Katschinsky, während er sich mit einem heißen Tuch, das die alte Wirtin gebracht hatte, das Gesicht abtrocknete und Georg durch den Spiegel mit seinem schönsten, liebenswürdigsten Lächeln zulächelte.

»Fragen Sie ruhig.«

»Ich meine, Weidenbach« – der Maler puderte Wangen und Kinn mit einer zarten flockigen Quaste – »es interessiert mich: tut es weh – das, Sie verstehen mich?«

Georg antwortete nicht. Das Blut stieg ihm in die Wangen.

Da begann Katschinsky zu lachen. »Ach, es fehlte noch, daß Sie mir böse sind, lieber Freund. Es interessierte mich. Ich werde es ja nie tun, ich hätte gar nicht den Mut dazu. Und einer Frau wegen – ach, du lieber Himmel!« Er goß eine Essenz ins Haar und zog sorgfältig den Scheitel. Dann legte er den Kragen an und knüpfte mit großer Sorgfalt die Binde. Er schien für eine Weile die Anwesenheit Georgs ganz vergessen zu haben.

Katschinsky war stets gut gekleidet gewesen, und doch staunte Georg über die Eleganz des modischen Anzugs, den er heute trug. Die Hosen, an den Hüften weit geschnitten, waren tadellos gebügelt. Dazu trug Katschinsky Seidenstrümpfe und Lackschuhe. Die Krawatte war aus schiefergrauer schwerer Seide.

»Ich freue mich, daß es Ihnen gut geht, Katschinsky,« sagte Georg – und er schämte sich des heimlichen Gedankens, daß Katschinsky ihm vielleicht aus der Verlegenheit helfen könnte. Die Wärme des Zimmers hatte Georg aufgetaut. Seine Stimme wurde leichter, sein Benehmen freier.

»Der Schein trügt,« erwiderte Katschinsky, indem er kokett den Kopf über die Schulter drehte und spöttisch lächelte.

»Sie haben gewiß Erfolge? Stobwasser deutete es an.«

Katschinsky prüfte mit einem Handspiegel die Zähne, wobei er das Gebiß von den Lippen entblößte. Seine Zähne waren vorbildlich schön, regelmäßig, schneeweiß. »Erfolge!« rief er aus und lachte leise. »Es ist eine sonderbare Art von Erfolgen!«

»Haben Sie viel gearbeitet?«

Katschinsky schüttelte den Kopf. »Nein, nein,« erwiderte er und polierte sorgfältig die Nägel, »ich habe fast nichts gearbeitet, seitdem wir uns nicht mehr gesehen haben. Es ist eine Müdigkeit über mich gekommen, eine ungeheure Müdigkeit. Ich bin wohl stets ehrgeizig gewesen, Weidenbach, aber ich hatte nie eine große Energie. Wozu auch? Im übrigen habe ich nicht die geringste Begabung.«

»Sie sollten keine Begabung haben, Katschinsky!« rief Georg erstaunt aus und lachte, seit langer Zeit zum erstenmal.

Katschinsky sah einen Augenblick auf. Der bedingungslose Glaube an sein Können, der so deutlich aus Weidenbachs Lachen klang, hatte seiner Eitelkeit geschmeichelt. Er errötete leicht. »Nein, nein,« sagte er, »ich habe es einmal geglaubt, aber ich sehe jetzt ein, daß ich kein Talent habe. Ich kann nur nachahmen, was andere vorgemacht haben. Ich müßte arbeiten, viel arbeiten, aber dazu fehlt mir die Energie.«

»Was tun Sie also?«

Katschinsky zog die Schultern hoch. »Sie sind ein ehrlicher Junge, Weidenbach,« sagte er, während er die Hände mit Puder einrieb. »Es ist möglich, daß Sie einmal ein großer Künstler werden, gerade weil Sie so einfach und aufrichtig empfinden. Ich will Ihnen nichts vormachen. Meine Mutter ist gestorben, und ich habe die Möbel, die sie mir hinterließ, verkauft. Für den Erlös habe ich mir Garderobe angeschafft. Ich tat das nur aus Eitelkeit, aber es stellte sich heraus, daß es das Vernünftigste war, was ich tun konnte. Ist es Ihnen nicht aufgefallen, Weidenbach, daß es hier in Berlin Hunderte von jungen Männern gibt, die elegant gekleidet sind – Bügelfalten, Monockel, elegante Schuhe –, und man weiß nicht, wovon sie leben. Aber sie haben das Aussehen der Sorglosen, ihre Gesichtsfarbe ist gut, die Hände sind gepflegt. Auf den Kleidern auch nicht ein Stäubchen. Sie gehen auf dem Kurfürstendamm spazieren und trinken in den Hallen der vornehmen Hotels um fünf Uhr Tee. Wovon leben all diese jungen Leute, Weidenbach? Nun, sie werden es Ihnen nicht verraten. Sie bilden eine Klasse für sich. Und erst, wenn Sie sich so kleiden wie diese jungen Männer, haben Sie die Möglichkeit, in ihre Geheimnisse einzudringen.«

»Also wovon leben sie denn?« unterbrach Georg den Maler ungeduldig und sah ihn mit einem neugierigen Blick an.

»Wovon wir leben?« antwortete Katschinsky, und ein eitles, zynisches Lächeln umspielte seinen schönen Mund. »Das ist nicht so leicht gesagt. Nun, wir leben, und wir leben nicht schlecht. Können Sie tanzen, Weidenbach, gut tanzen? Nun, so kommen Sie mit mir in eine Tanzdiele, um fünf Uhr. Ich führe Sie ein. Sie tanzen ein paar Schritte, man wird Ihnen Tee, Gebäck, Zigaretten und Liköre servieren, und wenn Sie besonders gute Figur machen, wird man Sie noch honorieren. Sie werden erfahren, daß es elegante Restaurants gibt, wo man mit einer hübschen Dame, die natürlich ebenfalls ohne jeden Tadel gekleidet ist, ganz umsonst zu Abend speisen kann.«

»Ist es möglich?« fragte Georg.

»Ja, es ist möglich,« erwiderte Katschinsky, dem die Verblüffung dieses armen, abgehetzten, bleichen, vom Regen zerweichten Weidenbach Vergnügen bereitete. Er schlüpfte in das Jacket und strich es mit den Händen am Körper glatt. Dann begann er mit leisen Schritten auf und ab zu gehen, und in seinem Gang drückten sich Befriedigung über die tadellose Kleidung und jenes Wohlbehagen aus, das eine sorgfältige Toilette bereitet. Sein schönes Gesicht strahlte von einem leichtsinnigen Lächeln, während er plauderte. »Man macht Bekanntschaften, knüpft Beziehungen an. Zuweilen trifft man auch da und dort eine hübsche Dame, die einen in ihr Haus einlädt. Man ißt und trinkt und läßt es sich wohl sein. Und dann, das ist das Allerwichtigste, gibt es eine ganze Menge von Spielklubs, die sich erkenntlich zeigen, wenn man ihnen zahlungskräftige Mitglieder zuführt. Man kann auch spielen, wenn man es versteht. Aber, um ehrlich zu sein, Weidenbach, darin bin ich noch Dilettant. Ich habe einen Freund, früherer Offizier der russischen Garde. Oh, der versteht zu spielen! Nimmt er nur die Karten in die Hand, so ist das Glück auf seiner Seite. Sie sehen, Weidenbach, so lebt man also. Und wenn man so leben kann, weshalb soll man sich anstrengen? Kunst – wer will heute in diesem Lande etwas von Kunst wissen, wer versteht etwas von Kunst. Diese Zeiten sind vorläufig vorüber.« Plötzlich hielt Katschinsky inne. Er blieb stehen und blickte Georg nachdenklich an. »Es gibt übrigens noch etwas, womit man mühelos Geld verdienen kann!« rief er dann lebhaft, von seinem Einfall begeistert, aus. »Hören Sie, Weidenbach, vielleicht wäre dies etwas für Sie!«

In Weidenbachs Augen erwachte Hoffnung.

»Ja, mein lieber Junge, ich glaube, ich habe es gefunden! Am Ende sind Sie zu mir gekommen, weil Sie Geld brauchen und sich sagten, Katschinsky hat vielleicht etwas. Aber Weidenbach, Sie brauchen nicht zu erröten, um Himmelswillen. Ich kann Ihnen nur dies sagen,« Katschinsky zeigte lächelnd seine schönen Zähne, »es gibt in der Welt nichts Törichteres, als vor einem Katschinsky zu erröten. Aber, um es nicht zu vergessen. Diese eine Sache, die vielleicht etwas für Sie wäre! Kokain!«

»Kokain,« flüsterte Georg enttäuscht.

Katschinsky lachte laut auf. »Ja, Kokain!« rief er aus. »Sie scheinen wenig begeistert zu sein, und die Sache ist doch so einfach. Sie versuchen Kokain aufzutreiben. Sie werden schon Leute finden, die Kokain haben, und wir könnten dann zusammen arbeiten. Für die Abnehmer sorge ich. Was sagen Sie dazu?« Katschinsky lachte laut und fröhlich.

»Das ist nichts für mich,« stammelte Georg. »Ich bin nicht für solche Dinge geschaffen. Ich habe dazu nicht die geringste Begabung.«

Katschinsky betrachtete ihn mit einem leisen Bedauern in den grauen Augen. »Schade, sehr schade,« sagte er dann leise. »Ich befürchte, daß Sie es nicht leicht haben werden, Weidenbach. Nein, Sie sind nicht für solche Dinge geschaffen, das sehe ich. Sie sind nur für die Arbeit geschaffen. Sie werden ewig arbeiten, und die andern werden den Nutzen von Ihrer Arbeit haben und Sie auslachen?«

»Nun, so lassen Sie sie lachen. Meinetwegen, wenn ich nur Arbeit habe,« antwortete Georg, indem er sich erhob. Der Zynismus Katschinskys widerte ihn plötzlich an. »Sie sind nicht böse, Katschinsky, daß ich Sie besuchte?«

»Böse, wieso? Ich versäume ja nichts. Ich gehe hier auf und ab und warte auf einen telephonischen Anruf. Ich muß wissen, wo heute abend gespielt wird, und dann, sehen Sie, habe ich eine Verabredung im Bristol.«

»Und Jenny, Jenny Florian?« fragte Georg, schon den Hut in der Hand. »Wie geht es Jenny Florian? Ist sie noch in Berlin?«

Katschinsky erbleichte. Er blieb augenblicklich stehen. Seine Augen schillerten böse, und sein hübscher, knabenhafter Mund wurde plötzlich hart und herrisch. Dieses Gesicht würde Georg nie vergessen. Es war hochmütig und kalt und verriet allzu deutlich, daß Katschinskys freundliches und liebenswürdiges Benehmen nur Verstellung war.

»Sie sollen Jennys Namen nie mehr aussprechen!« herrschte Katschinsky Georg an, und wie ein eigensinniges Kind stieß er mit dem Schuh auf den Boden. Sofort aber sah er ein, daß er Georg verletzt hatte, und er versuchte es wieder gutzumachen. »Verzeihen Sie,« sagte er mit ruhigerer Stimme, obwohl die Worte noch zitterten. »Vergeben Sie mir, daß ich erregt wurde. Aber sooft ich an Jenny denke, könnte ich rasend werden. Sie hat Karriere gemacht, Weidenbach. Sie fährt in einem wunderbaren Mercedeswagen, und Sie sollten einmal sehen, wie sie lächelt, wenn sie mich grüßt, ganz als sei ich ihr einmal auf einer Gesellschaft so nebenbei vorgestellt worden. Jenny Florian, ich will Ihnen eines verraten, Weidenbach, ist eine Frau, die es weit bringen wird! Sie ist die gewandteste Schauspielerin auf der Bühne des Lebens, die es gibt. Auf der Bühne versagte sie. Sie wissen, daß sie es versuchte. Sie versucht es jetzt mit dem Film, wir werden ja sehen, wie weit sie kommt. Allerdings – in diesem Falle steht eine Finanzmacht hinter ihr. Im Leben aber, das muß man zugeben, spielt sie ihre Rolle wunderbar! Sie spielt nur gegen sehr hohe Gage. Und sie wird jedes Engagement sofort brechen, wenn Sie ihr mehr bieten können.« Katschinskys Gesicht war während der letzten Worte – er deklamierte etwas – wieder erbleicht. Seine Lippen bebten. In seinen hellgrauen Augen funkelte ein kalter böser Glanz.

In diesem Augenblick schrillte das Telephon.

»Hier ist der Anruf,« sagte Katschinsky erregt und reichte Weidenbach flüchtig die kühle Hand.

»Leben Sie wohl, Weidenbach,« sagte er, ohne Georg anzusehen, und eilte an den kleinen Schreibtisch, wo das Telephon stand.

 

5

Georg stieg langsam die Treppe hinab. Er hat sich ja sogar die Lippen gefärbt! dachte er. Er roch nach Essenzen, Puder und Zahnwasser des Malers.

Das also war Katschinsky, vor dem er sich neigte, dachte Georg, während er, verwirrt von dem Besuch, zur Station der Untergrundbahn eilte. Wenn er mit den Zügen Glück hatte, so konnte er noch vor Geschäftsschluß am Alexanderplatz sein. Enttäuschung und Traurigkeit bemächtigten sich seiner. Was war aus Katschinsky geworden? Was machte diese Zeit und diese Stadt mit den Menschen? Ein Verräter, ein Abtrünniger, ein Schamloser. Er wollte es sich nicht eingestehen, daß er Katschinsky geliebt hatte und zwei Jahre lang um seine Freundschaft warb. Und wie erregt er wurde, als er Jennys Namen nannte? Wie er sie sofort beschimpfte. Was war geschehen? Nun, er würde ihn nicht wiedersehen, lebe wohl!

Gerade noch zur rechten Zeit erreichte Georg das Warenhaus. Die Verkäufer und Verkäuferinnen, erschöpft von der trockenen verbrauchten Luft, warfen schon Blicke auf die Zeiger der Uhren. Der Chef der Personalabteilung aber, ein kleiner runder Herr, hatte eigentlich schon Schluß gemacht und empfing Georg mit einer verdrießlichen Miene. Er zog die Brauen zusammen und sah nun wahrhaft vergrämt und verzweifelt aus.

»Ich bin ja eigentlich kein Auskunftsbureau, junger Mann,« rief er aus, »aber immerhin – Christine März, sagen Sie? Nun, einen Augenblick. März, Christine – sie hat vor drei Monaten die Firma verlassen und wohnte damals –« Er schrieb die Adresse nieder und reichte Georg den Zettel mit den Fingerspitzen, als klebe Schmutz daran. Es war eine etwas verrufene Straße.

Georgs Gesicht aber leuchtete. Augenblicklich machte er sich auf den Weg, und blitzschnell, wie ein Mensch, dem die Verfolger auf den Fersen sind, schoß er durch die Menge, die in der Zeit des Geschäftsschlusses die Straßen überschwemmte. Außer Atem und mit Schweiß bedeckt erreichte er das bezeichnete Haus. Er blieb stehen und sah sich dieses Haus an. Sofort schüttelte er, enttäuscht und niedergeschlagen, den Kopf.

Die Adresse war vom August, und jetzt war man im November. Es war recht gut möglich – ja es war sicher, er fühlte es – daß Christine nicht mehr in diesem Hause wohnte. Immerhin, vielleicht würde man ihm Auskunft geben können.

Und während er langsam und etwas zaghaft auf das Haus zuging, quälten ihn wiederum die alten Gedanken, die ihn seit drei Monaten marterten: Weshalb hatte sie plötzlich keine Nachricht mehr gegeben? Hatte sie Berlin verlassen? O nein, er fühlte, daß sie in der Stadt war! War sie gestorben? O nein, er fühlte, daß sie lebte! War sie krank? Lag sie in irgendeinem Krankenhaus? Vielleicht. Unmöglich, gänzlich unmöglich war es ja, daß sie ihn verlassen haben könnte, ohne ein Wort. Hatte er nicht Beweise ihrer Liebe und Leidenschaft, wie? Gab es größere Beweise als das, was Christine getan hatte?

Wie eine gewöhnliche Mietskaserne im Osten sah das Haus aus, ebenso verwahrlost, dunkel und finster wie die Häuser ringsum. Neben dem Toreingang war eine Kneipe. Zwei bezechte Kutscher standen darin, kleine Schnapsgläschen in der Hand. Hier trat Georg ein und fragte nach der Adresse des Schlossers Rusch. Rusch? Das sei richtig hier. Im dritten Hof, parterre.

Die Höfe waren klein und eng, eigentlich nur Lichtschächte. Es brannten winzige Laternen, und die Wände sahen wie mit Schimmel bedeckt aus. Da und dort glomm ein trübes Licht, der Geruch schlechten Fettes, mit dem gekocht wurde, drang aus den Türen. Aus dem dritten Hof kam eine kleine Frau, ein Tuch über den Kopf geschlagen. Georg beugte sich vor, um unter das Tuch blicken zu können: das kleine bleiche Gesicht einer älteren Frau, die still und lautlos weinte.

Der dritte Hof war der kleinste. Er war ganz dunkel, und das Regenwasser plätscherte aus irgendeiner durchlöcherten Rinne mitten auf den Hof herab. Zwei Parterrefenster des Hofes zeigten hinter herabgelassenen fleckigen Vorhängen mattes Licht.

Diesen Vorhängen tastete sich Georg entgegen. Sofort roch er, daß er an der rechten Stelle war. Er roch die Werkstatt eines Schlossers. Noch einen anderen Geruch unterschied er – den Geruch von Kerzen.

Die Türe zur Wohnung des Schlossers war nur angelehnt, und Georg lugte durch den Spalt. Sein Herz schlug so sehr, daß es ihm nicht möglich gewesen wäre, jetzt irgendein Wort zu sprechen. Drinnen glitzerte es – was war es doch? – Kerzenlicht, wie ein Christbaum. Er hatte in der Erregung die Tür berührt, so daß der Spalt sich vergrößerte. Da sah er, daß in der Stube, der Werkstatt des Schlossers, die Leiche einer dicken, behäbigen Frau aufgebahrt lag. Zu beiden Seiten des fahlen, gutmütig lächelnden Gesichts standen zwei flackernde Kerzen. Er hörte ein gurgelndes Schluchzen und dann ein lautes Räuspern. Ein Schatten reckte sich über Wände und Decke, und eine laute, rauhe Stimme sagte: »Ist jemand hier?«

»Ich bitte zu verzeihen, daß ich störe,« stammelte Georg, und schon näherte sich die Gestalt der Türe.

Ein großer breitschultriger Mann stand vor Georg. Seine Augen waren verweint. Er hatte sich offenbar mit den schmutzigen Fäusten die Augen ausgerieben, so daß dicke schwarze Ringe um die Augen lagen, wie eine phantastische Brille.

»Was wollen Sie?« fragte der Mann unwirsch und heftete den Blick scharf und funkelnd auf Georg.

»Ich komme sehr ungelegen,« erwiderte Georg leise. Der Blick dieses Mannes erschreckte ihn. »Ich wollte eine Auskunft haben.« Er fragte, ob Christine März noch hier wohne?

Das Gesicht des Schlossers nahm einen verächtlichen Ausdruck an. »Die!« knurrte er. Oh, die sei schon lange, lange nicht mehr hier. »Aber was wollen Sie von ihr, junger Mann? Wollen Sie etwa die Schulden bezahlen, die diese Person hinterlassen hat? Sie ist noch zwei Monate Miete schuldig.«

Georg stammelte eine Entschuldigung und wich zurück.

Der Schlosser Rusch trat aus der Türe und rief ihm nach: »Es ist noch eine Pappschachtel von dieser Person hier, mit alten Lumpen! Vielleicht wollen Sie die Pappschachtel haben? Ich werde sie Ihnen bringen.«

»Ich will nichts,« erwiderte Georg, indem er in den Torweg eilte.

»Nun, so warten Sie doch!« polterte Rusch. »Weshalb gehen Sie so rasch. Warten Sie doch! Es ist ja alles nicht so schlimm gemeint. He, Sie!«

Bei der Kneipe, die am Ausgang des Torwegs zur Straße lag, holte ihn der Schlosser ein. Nun erst bemerkte Georg, daß der Schlosser mit dem beschmutzten Gesicht betrunken war.

»Sie wollten nach Christine fragen?«

»Ja.«

»Nun, ich werde Ihnen von Christine erzählen.«

»Sie wollten?«

»Ja, kommen Sie.« Er drängte Georg mit dem Eigensinn eines Betrunkenen in die Kneipe. »In aller Gemütlichkeit,« fuhr er fort, indem er Georg auf einen Stuhl schob, »in aller Gemütlichkeit wollen wir sprechen. Bringe zwei Kognak, Anton!« schrie er dem hemdärmeligen Wirt zu. »Ja, Christine – ein feines Kerlchen, ein apartes Kerlchen, aber –«

»Ich wollte Sie ja nicht erschrecken und beleidigen, mein Herr,« wandte er sich wieder an Georg und schob ihm ein Glas Branntwein hin. »Es war nicht meine Absicht. Sie haben gesehen, daß meine Frau dahinten tot liegt, und aus diesem Grunde bin ich bei jeder Gelegenheit gleich so außer Rand und Band.« Er goß sich den Kognak in die Kehle und nötigte Georg zu trinken. »Trinken Sie, junger Mann, damit Sie Farbe bekommen. He Anton! Auch Christine liebte es, zuweilen ein Gläschen zu trinken. Sie war garnicht so zimperlich.«

»Christine?« unterbrach ihn Georg verwundert.

»Ja, Christine. Am Abend, da tranken sie zuweilen ein Gläschen zusammen, Ihre Christine und sie, die nun dahinten liegt.« Rusch deutete mit dem Daumen hinter sich.

»Einmal nun, sehen Sie, da stieg sie in eine Droschke ein – und hast du nicht gesehen – auf der andern Seite fiel sie wieder hinaus. Und wir lachten, hahaha! Alles lachte. Was ist dabei, wir haben alle unsere Schwächen.«

»Christine fiel aus der Droschke?«

»Aber nein, nein. Sie fiel aus der Droschke, sie, die nun dahinten liegt. Trinken Sie doch, trinken Sie aus, damit ich sehe, daß Sie mir nichts nachtragen.«

Georgs Augen brannten. Seit wann Christine nicht mehr bei ihm wohne?

Der Schlosser dachte nach. Er kniff das beschmierte Gesicht zusammen. »Seit wann?« erwiderte er. »Lassen Sie mich nachdenken? Ja, seit wann? He, Anton, erinnerst du dich? Diese kleine Schwarze, weißt du, die soviel lachen konnte.«

»Verkehrte sie auch hier, in diesem Lokal?« fragte Georg, bemüht, sein Erstaunen zu verbergen.

»Ja, gewiß. Sie verdarb niemand den Spaß, lachte, scherzte, erzählte Schnurren. Ein feines wildes Kerlchen. Sie wollte ja zum Theater gehen. Sie erzählte immer Großes von einer Schauspielerin, die einen Millionär zum Freund hatte. Mit ihr zusammen wollte sie zum Theater gehen. Oder zum Kino.«

Das sind alles Phantasien, dachte Georg. Er ist ja betrunken. »Auch Sie wissen nicht, wo Christine hingezogen ist?« fragte er.

Der Schlosser kniff wieder das beschmierte Gesicht nachdenklich zusammen. Es sah aus, als begänne er zu weinen. »Lassen Sie mich nachdenken, mein Herr,« antwortete er. »Mir scheint – eines Tages verschwand sie – ich weiß es nicht. Lassen Sie mich nur nachdenken.«

Abermals brachte der Wirt zwei neue Gläschen Kognak.

»Tun Sie mir Bescheid, mein Herr,« drang der Schlosser in Georg. »Sind Sie Künstler? Christine erzählte immer, daß sie mit Künstlern verkehre. Auf Ihre Gesundheit! He, du, Anton,« wandte er sich plötzlich an den Wirt. »Ob man es wohl riskieren kann? Sie liegt da hinten, und die Tür steht offen. Sie trägt noch den Ring an der Hand. Hier in diesem Hause lebt solch ein Gesindel, das vor nichts Respekt hat. Hier in dieser Stadt ist alles möglich, mein Herr. Ich kannte einmal einen verflixten Burschen, der erzählte mir, er brach in einer Villa im Grunewald ein, und plötzlich, was sieht er: einen toten Juden, der aufgebahrt liegt. Aber das hat ihn nicht abgehalten, das ganze Silber auszuräumen. Sehen Sie, mein Herr, solche Menschen gibt es hier.

Und nun will ich Ihnen noch eine Geschichte erzählen,« fuhr er berauscht fort, rückte näher und legte die schwere Hand auf Georgs Arm. »Hören Sie, noch eine Geschichte, und eine so merkwürdige Geschichte, wie Sie sie noch nicht gehört haben werden. So etwas lesen Sie nicht einmal in der Zeitung.

Sehen Sie, junger Herr, ich bin heute nicht mehr der jüngste, aber vor zwanzig Jahren, da hätten Sie mich kennen sollen. Da war ich ein toller Kerl. Ich hatte da ein Mädchen, sie hieß Mariechen. Sie hatte Augen wie ein Reh, so groß und sanft. Und sie war zart und schlank, nur so groß, sehen Sie, kaum so groß wie eine Konfirmandin. Aber wie die Frauen so sind, sie wollte Schuhe aus Lackleder, dann wünschte sie sich Schuhe mit grauem Einsatz, und wenn sie die Schuhe mit grauem Einsatz hatte, dann wünschte sie sich Knopfstiefelchen. Und so ging es immer fort. Und wie es mit den Schuhen war, so war es auch mit den Hüten. Ich arbeitete damals in einer Fabrik in Weißensee, und mein Lohn reichte nicht aus, alle die Schuhe und Hüte und Kleider zu kaufen, die Mariechen sich wünschte. Wenn ich sie aber nicht kaufte, dann ging Mariechen zu einem andern, denn die Männer liefen alle hinter ihr her.

Nun hören Sie aber weiter,« fuhr Rusch fort, »hören Sie weiter, und Sie werden staunen. In der Fabrik arbeitete ein Kollege. Er war ein einfacher Schlosser, aber wenn er am Sonntag ausging, so konnten Sie glauben, er sei ein Baron. Wie er das machte, das war unbegreiflich. Er hieß Roth.

Eines Tages nun kam dieser Roth zu mir und sagte: Höre, Rusch, willst du viel Geld verdienen? Ich sagte, warum nicht, denn Mariechens Geburtstag war nahe, und ich hatte auch nicht einen Pfennig Geld in der Tasche. Mariechen hatte im Jahr dreimal Geburtstag. Aber ihre Augen waren so schön, und wenn sie sprach, diese schöne Stimme, und wenn man mit ihr tanzte, und alle verdrehten die Hälse nach ihr, nun, weshalb sollte sie nicht dreimal im Jahre Geburtstag haben? Ich will es Ihnen kurz erzählen. Dieser Roth brachte mich auf Abwege. Es ist lange her, und es ist ja keine Schande. Sehen Sie, dieser Roth ging durch verschlossene Türen, genau so wie der Wind durch ein offenes Fenster geht. Wir arbeiteten also zusammen, und Mariechen hatte gute Tage. Wir waren vorsichtig und übernahmen uns nicht. So ging es eine lange Weile. Aber nun hören Sie, nun kommt das Interessante. Wir gingen ja nun viel aus und tanzten, Roth, Mariechen und ich. Eines Tages nun sagte Roth zu mir, wir können eine Menge Geld verdienen. Dieser Lederhändler ist verreist, bei dem ich das elektrische Licht repariert habe. Hast du Courage? Ich sagte, weshalb nicht. Wir gingen tags vorher um das Haus, und Roth zeigte mir ein Fenster und sagte mir, ich werde also vorausgehen, und wenn ich dieses Fenster aufmache, so steigst du ein. Morgen abend, sagte Roth, morgen abend ist Neumond, da wollen wir die Sache machen.

Aber nun hören Sie, Herr, nun kommt das Interessante. Eine Straße vorher verließ mich Roth und sagte mir, in genau einer Viertelstunde wirst du nachkommen. Es ist jetzt ein Viertel vor zwölf Uhr. Komme du Punkt zwölf. Ich komme Punkt zwölf. Das Fenster wird langsam aufgemacht, und ich steige ein. Wissen Sie, mein Herr, was nun passierte?«

»Nein,« sagte Georg, der nur aus Höflichkeit zuhörte. »Wie sollte ich es wissen?«

Rusch lachte, daß seine dicke Zunge zwischen den Bartstoppeln sichtbar wurde. »Sofort ergriffen mich zwei Paar Arme. Ich war der Polizei in die Hände gefallen. Haben Sie in Ihrem Leben so etwas gehört?«

»Also hatte Roth Sie verraten?«

»Er hatte mir eine Falle gestellt, und ich war in diese Falle gegangen. Er und Mariechen wollten mich loshaben, und so ließen sie mich hochgehen.

Nun, ich bekam zwei Jahre, und ich schwieg.

Aber ich sagte mir, wenn ich herauskomme, seid ihr beide verloren. Und als ich herauskam, sehen Sie, mein Herr, da kaufte ich mir ein Messer und einen Revolver, und ich sagte mir, wartet nur ihr beiden, wo ich euch auch finde! Aber es war schwer sie zu finden. Ich arbeitete am Tage, abends aber besuchte ich immer eine Reihe von Tanzlokalen. Und nun hören Sie, Herr, nun kommt das Interessanteste.« Rusch goß sich ein neues Glas hinunter. »Nun kommt das Interessanteste, mein Herr. Eines Abends komme ich in ein kleines Tanzlokal in Treptow. Es war nicht sehr voll, und plötzlich, wen sehe ich? Roth und Mariechen. Ich gehe auf sie zu, und was glauben Sie? Ich hatte die Hände in den Taschen und hatte den Revolver und das Messer bereit. So kam ich also auf sie zu. Roth riß sofort aus. Aber Mariechen, was glauben Sie, was sie tat? Mariechen fiel in die Knie und schrie so jämmerlich, wie ich nie einen Menschen schreien hörte. Und dabei hob sie die Arme in die Höhe. Und was glauben Sie, was geschah? Ich vergaß meinen ganzen Zorn und alle Eide, die ich geschworen hatte. Ich hob Mariechen auf und sagte, aber Mariechen, was gibt es denn zu brüllen? Und sie weinte und schluchzte, und ich beruhigte sie. Da wurde sie endlich ruhig, und sie sagte, sie werde jetzt wieder bei mir bleiben. Denn sie liebe mich viel mehr als diesen Roth. Das tat sie auch, mein Herr. Und sehen Sie, solche Dinge gibt es auf der Welt.«

Plötzlich hob Rusch die beiden großen Fäuste in die Luft und brüllte: »Und nun ist sie tot, Mariechen! Nun liegt sie da hinten und ist tot! Mariechen! Mariechen!« Er schlug sich mit der Faust auf den Kopf.

»Nun, Rusch, beruhige dich,« sagte der Wirt. »Du wirst es schon verwinden.«

»Und nun ist Mariechen tot!« brüllte Rusch nochmals.

Georg erhob sich, um zu gehen.

»Nein, nein, bleiben Sie bei mir,« bat der Schlosser, »bleiben Sie bei mir. Ich muß einen Menschen haben, mit dem ich reden kann. Ich werde Sie nicht mehr mit meinen Geschichten belästigen. Wir wollen von Ihrer Christine sprechen.«

Und er fing an zu erzählen, wie gut Christine zuerst mit seiner Frau ausgekommen sei. Sie haben immerzu Kuchen gebacken – ah, fein! Dann aber habe sie ihre Stellung verloren und sei in Verlegenheit geraten. Da sei öfter ein kleiner, blonder Herr gekommen mit einem Kneifer und habe sie ausgeführt. Und später, da sei ein hagerer, dunkler gekommen, vielleicht ein Russe. Er kam immer in den Hof und pfiff – so eine traurige Weise …

Georg sprang auf, und er war so rasch verschwunden, daß der Schlosser ins Leere griff, als er mit den beiden Fäusten nach ihm langte.

 

6

Die Herrlichkeit in dem kleinen Hotel, in dem Georg Unterschlupf gefunden hatte, dauerte nicht lange. Schon nach wenigen Tagen konnte er die Dachkammer nicht mehr bezahlen, und eines Morgens schlich er sich in aller Frühe aus dem Hotel – die kleine Handtasche mit den Habseligkeiten ließ er zurück. Mochten sie sehen wie sie zurecht kamen.

Nun, da er merkte, daß es abwärts mit ihm ging, daß der Boden unter seinen Füßen einbrach, rang er seinem erschöpften Körper die letzten Kräfte ab. Er wehrte sich.

Vom grauenden Tag bis zur sinkenden Nacht war er unterwegs. Treppauf, treppab. Er holte seine Papiere hervor. Stunden des Wartens. Geduld. Wie andere Stellungslose las er an den Anschlägen der Zeitungen die noch nassen Zeitungsblätter, um davonzustürmen, irgendeiner blassen Hoffnung entgegen. Er verlor nicht den Mut, mit jedem Tag nahm er den Kampf mit neuer Zähigkeit auf. Er stand nicht mehr bescheiden in der Ecke, er trat vor, fragte, forderte. Seine Stimme klang sicherer, sein Blick wurde tapfer.

Immer mußte er an die Geschichte jenes Kapellmeisters denken, die man ihm einmal erzählt hatte. Dieser Kapellmeister kam völlig unbekannt und ohne einen Pfennig in der Tasche in eine größere Provinzstadt, und am Abend dirigierte er bereits die Oper. Die beiden Kapellmeister waren plötzlich erkrankt. Heute ist er einer der ersten Operndirigenten Deutschlands.

Weshalb sollte ihm, Georg Weidenbach, das Glück nicht ebenfalls zulächeln? Und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre es ihm wie jenem Kapellmeister ergangen. Er sprach bei einem der ersten Architekten Berlins vor, zu dem er sich bis heute noch nicht gewagt hatte. Es schien nicht ohne Aussicht. Nicht das höfliche Lächeln und gelangweilte Abwenden des Blickes. Man bat ihn zu warten. Eine Fabrik war abgebrannt und sollte so schnell wie möglich wieder aufgebaut werden. Siehst du, dachte Georg, und er erinnerte sich an seinen Kapellmeister, den man wenige Minuten vor der Vorstellung in den Frack steckte. Eine Fabrik mußte im rechten Augenblick abbrennen, damit er – aber ein hagerer, glatzköpfiger Herr trat ins Wartezimmer, streifte seinen dünnen, abgeschabten Mantel mit einem raschen Blick und schüttelte bedauernd den Kopf. So war es also nichts.

Nun, wenn nicht hier, so anderswo.

Auf den Bahnhöfen gab es dann und wann für eine Dienstleistung, eine Auskunft ein paar Groschen zu verdienen. Aber man mußte einen schnellen Blick und rasche Beine haben. Die Konkurrenz lauerte.

Mittags dampften auf dem Alexanderplatz drei Feldküchen der Heilsarmee und zwei Küchen eines großen Zeitungsverlags. Scharen von Weibern und Männern, elend, zerlumpt, bleich, stellten sich in endloser Reihe an und schoben sich geduldig vorwärts. Hier erhielt man einen Napf heißer Suppe, es war nicht viel, aber es war doch etwas. Neugierige umdrängten die Küchen. Einmal kam sogar ein Photograph, um eine Aufnahme zu machen. Georg wandte den Kopf ab. Sollte ihn etwa Katschinsky auf dem Bilde sehen, während er in einer vornehmen Diele den Tee schlürfte?

Schwer waren die Nächte. Sie waren die Hölle. Rot lohte der Himmel zwischen den schwarzen Häusern. Ein Zufallsquartier, Wartesäle der Bahnhöfe, Asyle. Georg hatte eine Schlafstelle im Norden entdeckt, wo man für ein paar Groschen auf dem Fußboden übernachten konnte. Hier lag Körper an Körper gedrängt, und selbst auf den Gängen lagen die erschöpften Leiber. Man mußte über sie wegsteigen. Die Ausdünstungen dieser zusammengepferchten, mit Schmutz bedeckten Menschen benahmen den Atem. Georg fiel zumeist erst gegen Morgen in Schlaf. Da lag er also mit offenen Augen. Die Schläfer schnarchten, röchelten und stöhnten. Manche schrien wirr im Traum. Es schliefen Männer und Frauen und Kinder durcheinander, und zuweilen kam aus einem Winkel ein wollüstiges Stöhnen, bis irgendeine Stimme ungehalten knurrte. So war es in dieser Stadt, deren Straßen am Tage mit Gummiwalzen reingefegt wurden.

Ein paarmal fand Georg seinen Platz neben einem jungen Mädchen, einem Kind eigentlich noch, mit dünnen Beinen und kleiner, unentwickelter Brust. Auch sie lag schlaflos. Oft sah er ihren Schatten ganze Stunden lang aufrecht sitzen. In einer Nacht rückte sie ganz nahe an ihn heran, so daß er ihren mageren Körper spürte, und flüsterte lüstern: Schlafen Sie? Sie zupfte ihn behutsam am Ärmel, beugte sich über ihn. Aber er regte sich nicht, seine Glieder waren vor Entsetzen gelähmt.

Manche Nächte aber schienen kein Ende zu haben. Ruhelos warf er sich von einer Seite auf die andere. Bald zitterte er vor Frost, bald glühte sein Körper wie im Fieber. Die Schläfer röchelten und schrien, und die Stadt grollte zuweilen in der Ferne. Es hörte sich ganz so an, wie wenn das Eis eines Flusses im Frühjahr aufbricht. Mittendurch schien die große Stadt zuweilen zu reißen – arm, reich, elend, gesund, Untergang, Auferstehung. Mittendurch: Tod, Leben, Zerstörung, Wiedergeburt, Freude, Jammer. Er dachte an Stobwasser, der nun unter seiner dünnen Decke hustete. Er dachte an Katschinsky, und er sah den Maler elegant und lächelnd in irgendeinem Spielklub sitzen, wo das Licht von Decken und Wänden blendete. Eigentümlich, die Vision hellerleuchteter und überheizter Räume folgte ihm jede Nacht in seine Finsternis.

Bald würden die Elektrischen wieder fahren und die flinken Autos dahinfliegen, die Geschäftshäuser sich mit frischen, ausgeschlafenen Menschen füllen – noch aber war es Nacht, und noch war die Stadt düster und schrecklich. Gestern Nacht, da hatten sie einen Mann vom dritten Stock herab in den Hof geworfen, sie hatten die Wächter einer Automobilfabrik ermordet, sie hatten einen Schutzmann erschossen. Und so geschah es in jeder Nacht.

Oft auch dachte er an Christine, die ihn betrogen hatte. Dann saß er die ganze Nacht aufrecht.

 

7

An jedem Morgen – in diesen regnerischen Tagen war es noch völlig finster – erschienen die Massen der Arbeitslosen vor den Bureaus der Arbeitsnachweise. Es waren Scharen, Bataillone, Armeen, die die Straßen überfluteten. Jeden Morgen kamen sie fröstelnd und hustend auf ihren dunklen Löchern hervor, in die sie sich in den Nächten verkrochen. Ihre Schuhe waren zerweicht und zerrissen, die abgetragenen, zerfetzten Kleider feucht vom Regen. Viele trugen nicht einmal ein Hemd auf dem Leibe. Sie sahen fahl aus, schmutzig und ungepflegt, und manche krümmte der Husten bis zum Boden.

Da standen sie nun geduldig im Sprühregen, die roten Hände in den Hosentaschen, vertraten sich die Füße und warteten. Sie sprachen wenig. Nur einzelne schrien erregt, redeten von ihren hungernden Weibern und Kindern, fluchten und schimpften auf die Regierung, die Gewerkschaften, die Kapitalisten. Nach einer halben Stunde waren die Arbeitsnachweise schon wieder geschlossen, so gering war die Zahl der offenen Stellen.

Für heute war es vorbei, und so setzten sich die Bataillone der Unglücklichen wieder in Bewegung und zerstreuten sich über die tausend Straßen der Stadt, die sie müde, stumpfe Verzweiflung im Herzen, durchzogen. Was hatten sie verbrochen, daß sie verdammt waren, die müden Füße zwölf Stunden lang über das harte Pflaster zu schleppen?

Eine schwere wirtschaftliche Krise war über die Welt hereingebrochen. Die Märkte waren überfüllt. Die Speicher waren bis zum Bersten angefüllt mit Waren, die die Fabriken aller Kontinente ohne Pause ausspien. Bis tief hinauf den Yangtsekiang, den Amazonenstrom hatten die Schiffe die Waren getragen, bis tief hinein in die Kontinente der farbigen Völker. Die Händler saßen auf ihren Ballen und warteten. Erst wenn diese ungeheuren Lager der Welt anfingen, sich zu lichten, konnte eine Besserung erwartet werden.

Unterdessen lagen die Flotten der Handelsschiffe still in den Häfen. Die Kohlenberge der Zechen häuften sich zu Gebirgen, und täglich schwoll das Heer der Arbeitslosen mehr und mehr an.

Es schien fast ohne alle Aussicht. Tag für Tag, zwei Wochen lang, war Georg mit dem Morgengrauen vor den Arbeitsnachweisen erschienen. Ohne den geringsten Erfolg! Er runzelte die Stirn, seine Gedanken verwirrten sich. Oft schwankte er beim Gehen.

Er war nun genötigt, die Nächte häufig im Freien zu verbringen. Die Nächte waren zur Zeit noch nicht kalt, gottlob. Zufällig hatte er einen kleinen Platz entdeckt, der auffallend windgeschützt war. Hier kauerte er auf seiner Bank, in den Mantel gewickelt. Und auf anderen Bänken kauerten andere Schatten.

Die Automobile tuten, Gelächter, Geschrei, Zank. Liebespaare huschen durch die Schatten, Dirnen standen bei den Laternen, das Täschchen in der Hand. Es kamen Betrunkene, die laut vor sich hinsprachen. Nicht eine Sekunde kam die Stadt während der ganzen langen Nacht zur Ruhe. Und nun kam auch jener langsam knirschende Schritt wieder, den man von weitem schon erkannte. Dann hieß es aufstehen, gehen, um wiederzukehren, sobald der langsame Schritt in der Ferne verklang.

Wie eine Feuersbrunst lohte der Himmel über der schwarzen Stadt. In der Ferne, irgendwo, rauschten die Züge, bald hämmernd, sausend, bald nur feinklingend in der stillen Nacht.

In einem solch rauschenden Zuge war Georg vor zwei Jahren aus der kleinen thüringischen Provinzstadt nach Berlin gekommen, die Augen fiebernd von Träumen, das Herz berauscht von Hoffnungen. Berlin! Stadt der Kühnheit und des zähen Wollens, die Stätte seines Aufstiegs. Hier würde er seinen Weg machen, er fühlte es, als er auf dem Bahnhof aus dem überfüllten Abteil kroch. Diese Gewißheit blitzte aus den Bogenlampen, die so stark und mächtig flammten. Die Stimmen der Stadt, dröhnend und gewaltsam, schrien ihm diese Gewißheit entgegen. Die ganze erste Nacht war er durch diese Stadt gewandert, seinen Träumen hingegeben. Etwas wie Triumph lag in seinen Schritten, daß er diese Stadt erobern werde.

Hart war seine Jugend gewesen. Seine Mutter war eine Witwe, eine kleine fleißige Frau, die noch früher aufstand als die Hühner und noch spät in der Dunkelheit bei ihrer kleinen rußenden Lampe rumorte. Sie wusch, fegte und plättete in den Häusern, und mit ihren vom Munde abgesparten Pfennigen hatte sie seine Erziehung bestritten.

Mit sieben Jahren trug Georg die Morgensemmeln aus, mit acht setzte er im »Goldenen Engel« des Abends die Kegel auf, bis er vor Müdigkeit umfiel. Hier arbeitete er zusammen mit Stobwasser, der noch nebenbei Chorsänger war. Aber von seinem vierzehnten Jahre an mußte er sein Brot ganz allein verdienen. Er machte Schreibarbeiten, zeichnete für einen Möbeltischler, malte ein Schild für einen Krämer, gab Nachhilfestunden. Um sechs Uhr morgens schon kam sein erster Schüler. Es war ein Mechaniker, der in die Baugewerkschule eintreten wollte und dem er die Elemente der Mathematik beibrachte. Am Nachmittag und am Abend unterrichtete er Mitschüler, die der Nachhilfe bedurften. An den Abenden und in den Nächten aber arbeitete er für sich selbst. Sein Traum war es, zu bauen: Museen mit unerhörten Sälen und Kuppeln, mächtige Rathäuser, Theater, riesenhafte Fabriken und Industrieanlagen – und seiner Mutter baute er ein schönes schlichtes Haus in einen Garten. Das war sein schönster Traum. Arme Mutter! Welche Entbehrungen! Während die Mitschüler in den Straßen spazieren gingen, mit Mädchen lachten, Ausflüge machten, Sport trieben, in der Kneipe sangen, saß er zu Hause bei der Arbeit. Während seine Kameraden leichtfertig in den Tag hineinlebten, fing er schon an, das Lachen zu verlernen, das er kaum kennengelernt hatte. Es gab an der Schule kleine Unterstützungen, Stipendien und Freitische. Georg war ein stets erfolgreicher Bewerber. Aber diese Unterstützungen verpflichteten zu einem besonderen Aufwand an Fleiß und Betragen, zu Katzbuckeleien und Danksagungen. Welche Demütigungen! Georg ertrug sie, still, ohne Auflehnung, nur dumpf bedrückt. Nur wenige Jahre, und die Stadt sollte erfahren, wer Georg Weidenbach war! Welch glühende Träume im Gehirn eines jungen Menschen, welche Ausschweifungen der Phantasie!

Und nun saß er hier auf der Bank, einsam in der großen Stadt. Er sah seine Mutter, wie sie in ihrer mit Backsteinen ausgelegten Küche bei der kleinen Lampe scheuerte und wusch, wie sie dann und wann aus der blauen Tasse einen Schluck ihres dünnen Kaffees trank, wie sie die faltigen Lippen dabei spitzte und die Augen zukniff. Er hatte ihr nichts von seinem Aufenthalt im Krankenhaus geschrieben. Sie durfte nicht wissen, wie es ihm ging. Er hatte ihr nur geschrieben, daß die Zeiten hier in Berlin schwer seien und daß man sich zur Zeit mit Hungerlöhnen begnügen müsse, so gering, daß er ihr leider nichts schicken könne.

Die Träume der Jugend kamen wieder, die Versuchungen des Ehrgeizes, während er in der langen Nacht auf der Bank kauerte, und sein Herz erbebte.

 

8

Mitten im Gedräng der Menschenmassen blieb Georg plötzlich stehen. Er runzelte die Stirn – dachte nach. Welcher Gedanke war ihm doch soeben durch den Kopf geschossen? Die Rettung. Ja, Stobwasser.

Vielleicht sollte er doch zu Stobwasser gehen?

Sie waren ja alte Freunde, seit den Tagen, da sie als Knaben im »Goldenen Engel« die Kegel aufgesetzt hatten. Hatte Stobwasser ihn nicht aufgefordert, ihn zu besuchen, hatte er ihm nicht seine Kammer angeboten? Schon begann Georg dahin zu eilen, aber nach wenigen Schritten blieb er, außer Atem, wieder stehen. Er sah Stobwasser in der eisigen Werkstatt liegen, krank, fiebernd, ohne Mittel. Unmöglich konnte er ihm zur Last fallen.

Einige Tage später aber überwältigte ihn plötzlich die Mutlosigkeit, und er konnte der Versuchung nicht länger widerstehen. Es gab keine andere Rettung mehr. Zwei Stunden lang schleppte er sich nach dem Westen, bis er endlich, schwindelig und erschöpft, den Hof erreichte, in dem Stobwassers Werkstatt lag. Kläglich meckernd streckte die Ziege den Kopf aus ihrem Stall. Schon wollte er an Stobwassers Türe pochen: da hörte er drinnen eine Frauenstimme plaudern und lachen. Er schlich sich davon, es war wohl besser so. Er zitterte plötzlich, Schweiß bedeckte seine Stirn, als habe er ein Verbrechen begehen wollen.

Nein, es ging nicht gut mit ihm, er fühlte es selbst.

Er hatte jetzt schon das elende und verwahrloste Aussehen jener Verarmten bekommen, denen die Gutgekleideten, die noch einiges Mitgefühl haben, nicht gerne begegnen. Es gab viele, die den Anblick jener elend aussehenden Menschen, denen man auf Schritt und Tritt begegnete, nicht mehr ertragen. Nur die Stiernacken, die Feisten, die Krieg und Revolution prächtig überstanden hatten, waren nicht aus ihrer Bahn zu bringen. Mit eisigen und harten Blicken sahen sie mitten durch ihn hindurch, ohne ihn zu sehen. Andere rollten in ihren Autos vorüber, die sie von den Sesseln ihres Bureaus zu ihren Villen brachten. Sie blieben sogar vom Anblick der Elenden und den hündischen Blicken der Bettler verschont.

Plötzlich bemerkte Georg, daß er Blut spuckte. Ah, seht an, sagte er sich, ein Rückfall!

Aber bald beruhigte er sich, er war nicht der einzige, dem es so erging. Es waren viele, viele, da draußen im Osten, unter den Arbeitslosen und Armen litt jeder zehnte Mensch an diesem Übel.

In diesen Tagen, da sein Blick immer leerer wurde und sein Schritt immer müder, sah er einmal ganz plötzlich Katschinsky. Fast hätte er ihn übersehen. Es war in der Nähe des Anhalter Bahnhofs. Katschinsky kam mit einem jungen Manne aus einem Blumenladen und überschritt schnell die Straße, beladen mit einem Strauß gelber Rosen, um in ein Auto zu steigen. Er trug einen herrlichen mausgrauen Mantel und einen grauen Plüschhut. Der Geruch seiner Zigarette schwebte in der Luft.

Katschinsky hatte ihn mit einem Blick gestreift. Hatte er ihn erkannt? Ja, ja, o gewiß, er hatte ihn erkannt! Georg beobachtete, wie er nervös in den Wagen kroch.

In diesem Augenblick aber ereignete sich etwas ganz Unverständliches, etwas, was Georg, wenn er sich dessen erinnerte, nie begriff. Plötzlich sprang er mit zwei, drei wilden Schritten auf das Auto zu, um an die Scheibe zu klopfen. Aber der Wagen fuhr in dieser Sekunde ab. Gottlob.

Bleich vor Scham blieb Georg stehen. Er zerbiß sich die Lippe: so ging es nicht weiter, nicht einen Tag länger. Ein Entschluß, ein Entschluß!

Und wieder nahm er seine planlose Wanderung durch die Straßen auf. Da aber erwachte ein Gedanke in seinem Kopf. Weshalb war er nicht schon früher auf diesen Gedanken gekommen?

Er erinnerte sich plötzlich, daß er in einem Asyl für Obdachlose, wo er zuweilen übernachtete, einen kleinen, alten Bettler kennengelernt hatte, der, in eine Wolke von Schnapsdünsten eingehüllt, neben ihm kampierte. Dieser Bettler, ein »Zitterer«, der aus Gewohnheit zuweilen sogar im Asyl zitterte, hatte ihm von einer sagenhaften Firma, einem Großunternehmen erzählt, das Arbeitslose beschäftige. Diese Firma sollte sich in der Lindenstraße befinden, und das Haus wäre nicht zu verfehlen, da es in ein großes Gerüst eingehüllt sei.

»Dahin sollten Sie gehen,« riet der Alte. »Für mich ist es nichts, aber für Sie ist es vielleicht etwas, junger Mann. Fragen Sie getrost nach einem Herrn Schellenberg. Den Namen sagte mir ein Bekannter. Ich ging also in den Neubau und fragte nach Herrn Schellenberg. Dieser Herr Schellenberg, nun, Glück muß der Mensch haben, kam zufällig die Treppe herunter. Was glauben Sie? Er schenkte mir sofort fünf Mark und befahl seinen jungen Leuten, mir Beschäftigung zu geben. Sie gaben mir eine Fahrkarte nach Nauen und sagten mir, da gehst du hin und meldest dich da und da.«

»Sind Sie hingegangen?« hatte Georg geforscht.

»Ich? Was sind Sie denn für einer? Nein, das ist nichts für mich, ich bin zu alt dazu, die Stadt zu verlassen. Ich habe ganz einfach die Fahrkarte am Bahnhof verkauft.«

Es war eine merkwürdige Geschichte, so merkwürdig, daß Georg sie für eine Phantasie des Schnapses halten mußte. Aber jetzt, in diesem Augenblick, da er der Verzweiflung nahe war, sagte er sich plötzlich: Und doch? Vielleicht existiert diese sagenhafte Firma Schellenberg wirklich? Jedenfalls, was konnte es schaden, er konnte ja nachsehen, wie? Es kostete ja kein Geld! Er befand sich in dieser Minute beim Wittenbergplatz, und es war eine ziemlich weite Entfernung bis zur Lindenstraße.

Trotzdem beschloß Georg, sich augenblicklich, jetzt in dieser Sekunde noch, auf den Weg zu machen. Wenn es auch schon spät am Tage war, vorwärts. Und sofort begann er auszuschreiten.

Es war schon reichlich dunkel, nahezu sieben Uhr, als er, keuchend und in Schweiß gebadet, die Lindenstraße erreichte. Ja, nun hatte ihn wieder jegliche Hoffnung verlassen. Das Geschwätz eines Säufers.

Zu seiner größten Überraschung aber fand er tatsächlich ein Haus, das ganz in Gerüststangen eingehüllt war. Es roch nach Kalk und Nässe. Das Erdgeschoß war mit einer Bretterverschalung zugeschlagen, und darauf stand mit riesigen Buchstaben: »Arbeit! Wir geben euch Arbeit! Tretet sofort ein! Jede Auskunft!«

Das Haus war fast dunkel. Nur die obere Etage war hell erleuchtet.

Ein Pförtner trat aus der Loge und sagte mürrisch und übermüdet: »Bedaure, es ist geschlossen.«

In diesem Augenblick kam ein junger Mann in einem langen Arbeitskittel, wie ihn Architekten und Maler bei der Arbeit tragen, über den Korridor und warf einen Blick auf Georg. Dieser junge Mann war bereits im Begriff, in einer Tür zu verschwinden, blieb aber plötzlich stehen und sah Georg mitten ins Gesicht: dieses Gesicht war schneeweiß, die Augenhöhlen schiefergrau, und die Augen darin fieberten ohne Blick und Gedanken.

»Der Arbeitsnachweis ist bereits geschlossen, mein Herr,« sagte der junge Mann und lächelte liebenswürdig. Er blickte zu Boden, dachte nach und winkte dann mit dem Kopfe. »Aber kommen Sie, wir wollen sehen, was ich für Sie tun kann. Schließen Sie das Tor ab,« rief er dem Pförtner zu, »und lassen Sie niemand mehr herein, niemand, hören Sie!« Und zu Georg gewandt, fuhr er fort: »Wir haben in den letzten Tagen fünftausend Leute angenommen und sind mehr als überfüllt. Wir haben keinen Pfennig Geld mehr, um auch noch einen einzigen Mann zu bezahlen. Aber treten Sie ein. Ich sehe, Sie sind leidend, und ich will sehen, was ich für Sie tun kann.«

Georg atmete auf. Seit Wochen hatte niemand mit ihm mit einer solch schlichten Freundlichkeit gesprochen wie dieser junge Mann.

»Ist es möglich, Herrn Schellenberg zu sprechen?« wagte Georg zu fragen.

Der junge Mann sah ihn verwundert an. Er trat sogar einen kleinen Schritt zurück. »Herrn Schellenberg wollen Sie sprechen?« sagte er leise, mit dem Ausdruck äußersten Erstaunens. »Haben Sie besondere persönliche Empfehlungen an Herrn Schellenberg?«

»Nein, nein,« stotterte Georg.

Der junge Mann lächelte. »Es ist ganz unmöglich, Herrn Schellenberg zu sprechen, ganz unmöglich. Herr Schellenberg arbeitet sechzehn Stunden am Tag, und ich selbst, ich gehöre zum Komitee der Ärzte, kann ihn jede Woche nur fünf Minuten sprechen.« Der junge Arzt sah Georg prüfend ins Gesicht und sagte nach einer Weile: »Gehen Sie in dieses Zimmer. Man wird Ihnen unsere Arbeitsbedingungen mitteilen. Leben Sie wohl und alles Gute!«

Georg las irgendein Formular, ohne es zu verstehen. Er war geneigt, Arbeit zu jeder Bedingung anzunehmen, und es konnte ihm völlig gleichgültig sein, was dieser Unternehmer Schellenberg bot. Man informierte ihn, daß er das Haus heute nicht mehr verlassen könne, und wies ihm eine Holzpritsche in einem langen Korridor an.

Es ist alles wie ein Wunder, sagte Georg zu sich, als er sich zerschlagen und fiebernd auf der Holzpritsche ausstreckte. Vielleicht träume ich, vielleicht ist es das Fieber? Vielleicht ist es das Ende? Plötzlich aber schlief er vor Erschöpfung ein.

Als er am Morgen erwachte, befand er sich zu seinem Erstaunen noch immer auf der gleichen Pritsche. Es war also kein Traum, keine Gaukelei des Fiebers gewesen. Man drückte ihm eine Eisenbahnfahrkarte in die Hand, mit der Weisung, sich da und dort, es war der Name einer kleinen Stadt in der Nähe Berlins, bei der Arbeitsstelle zu melden.

Georg bestieg den Zug, und als der Zug aus der Halle fuhr, beugte er sich weit hinaus, um diese Stadt nochmals zu sehen, durch die er wochenlang wie ein Hund, der seinen Herrn verlor, geirrt war.

Die Stadt dampfte. Es regnete noch immer. Wolken von Dampf stiegen aus der Stadt empor und hüllten ganze Viertel in dichten Dunst.

»Ich komme wieder!« sagte Georg. Und – zu scheu, um in Wirklichkeit durch eine Geste seine Erregung zu verraten – breitete er in Gedanken die Arme gegen die Stadt aus. »Ich komme wieder, Christine!«

Und Christine, die irgendwo in diesem unendlichen Meer von steinernen Würfeln verborgen war, streckte ihm die Arme entgegen und erwiderte: »Ich warte auf dich. Komm! Ich liebe dich noch immer!«

Als der Zug die letzten Häuser der Stadt hinter sich ließ, rückte sich Georg auf der Holzbank zurecht, und eine Empfindung, die er lange nicht mehr gefühlt hatte, erfüllte sein Herz. Es schien ihm fast, als sei er glücklich. Trotz allem.

 

9

Die Brüder Schellenberg stammten aus Mecklenburg. Hier auf dem fetten mecklenburgischen Boden, in einer anmutigen, stillen, dünnbesiedelten Landschaft hatte sich vor zwanzig Jahren der Major Schellenberg das Gut Klein-Lücke gekauft, nachdem er seinen Abschied beim Regiment genommen hatte.

Der Major war ein großer Mann, breit, mit sehnigen, schweren Händen, die immer etwas rot waren, und einem kantigen, massiven Schädel. Er war früh ergraut und wurde schnell weiß. In seiner Jugend war er ein leichtlebiger Offizier gewesen, Spieler, unermüdlich im Dienst des Bacchus und der Venus, bis er sich eines Tages ganz plötzlich von der Gesellschaft übermütiger Freunde zurückzog. Irgend etwas hatte sich ereignet, er sprach nie darüber. Eine Frau? Das Schicksal einer der vielen? Wer weiß es? Er lebte fortan nur noch für den Dienst, und es fiel den Kameraden auf, daß er von Jahr zu Jahr schweigsamer wurde. Anfangs lächelte er über ihre Spöttereien, dann überhörte er sie, und schließlich ließ man ihn in Ruhe. Er war streng, gerecht, sein Lebenswandel ohne Tadel, das Muster eines Offiziers. In späteren Jahren war er leicht reizbar. Er neigte zum Jähzorn und war furchtbaren Zornesausbrüchen unterworfen, unter denen er mehr noch als seine Umgebung litt. Die Maßlosigkeit der Jugendjahre schien wieder durchzubrechen. Einen Knecht, der faul im Heu schlief, schlug er einmal mit der Hundepeitsche nahezu tot.

Das Gut des Majors, Klein-Lücke, war nicht groß, kaum vierhundert Morgen, aber es wurde musterhaft bewirtschaftet. Die Felder stachen gegen die Äcker der Nachbargüter derartig ab, daß man glauben konnte, der Boden sei vollkommen verschieden. Die Wagen standen in Reih’ und Glied, blitzblank alles Gerät, die Ordnung musterhaft. Wenn nur eine Schaufel am unrechten Ort stand, so begann die Stimme des Majors zu gellen. Die Ställe! Er liebte Pferde und Vieh leidenschaftlich.

Der Major sprach am Tage kaum zehn Worte. Selbst im Schelten war er wortkarg. Er redete in einer Art von Telegrammstil. Nach der Tagesarbeit zog er sich in seine Bibliothek zurück. Er besaß mehrere tausend Bände und pflegte bis spät in die Nacht zu lesen, während er langsam seinen Rotwein schlürfte und drei Zigarren rauchte. Nie mehr. Sein Spezialgebiet waren Werke über Napoleon, Cromwell, Bismarck, Friedrich den Großen, kurz über Menschen der Tat. Die schöne Literatur interessierte ihn überhaupt nicht. Oft las er die halbe Nacht durch, aber in früher Morgenstunde war er wieder auf dem Hof.

Eines Tages erwachte der Major mit einer leichten Lähmung des linken Armes und der linken Schulter. Der Knecht mußte ihn mit Franzbranntwein einreiben, und als das nichts half, befahl er ihm, ihn mit der Peitsche zu schlagen. »Schlag zu!« schrie er. »Fester! Fester!« Schließlich ging er an einem Stock. Es war nicht Rheuma, wie er angenommen hatte, es war eine Lähmung, die langsam aber stetig fortschritt.

Das Leiden verhinderte den Major, aktiv am Krieg teilzunehmen. Er verwünschte sein Dasein; ohne mit der Wimper zu zucken hätte er sein Leben für sein Land hingegeben. Während der Kriegsjahre war er nachsichtig gegen das Gesinde und fürsorglich für alle Familien. Er schlief nun fast nicht mehr. Große Karten lagen auf den Tischen in der Bibliothek ausgebreitet. Den Verlust des Krieges konnte er nicht verwinden. Er sprach nun überhaupt nicht mehr, zog sich völlig zurück und vernachlässigte sogar den Hof. Am Tage der Unterzeichnung des Friedens von Versailles schoß er sich eine Kugel durch den Kopf. Man hörte einen dumpfen Fall in der Bibliothek, mitten in der Nacht. Es war ein Laut, als falle ein Baum.

Eine Sekunde nach dem Fall wurde das Haus alarmiert durch ein verzweifeltes, hilfloses Weinen, als weine ein entsetztes Kind. Das war die Gattin des Majors. Sie hatte den dumpfen Fall gehört und wußte augenblicklich, was geschehen war.

Margarete Schellenberg war eine zarte, stille Frau, im Wesen völlig verschieden von ihrem Gatten. Sie war verträumt und ging durch die Wirklichkeit wie eine Schlafwandlerin. Sie zitierte Verse von Goethe und Heine und las Romane. Früher hatte sie auch gesungen – Schellenberg hatte sich in ihre süße Stimme verliebt. Sie sang auch jetzt noch zuweilen, mit einer kleinen, rührenden, etwas zittrigen Stimme. Das aber tat sie nur, wenn sie sich unbelauscht glaubte. Sie hatte die zartesten Hände und einen leisen, fast unhörbaren Gang. In den letzten Jahren hatte sie neben ihrem Gatten gelebt, fast ohne von ihm noch beachtet zu werden. Er sah sie kaum mehr, auch wenn er ihr bei Tisch gegenübersaß. Nach dem Tode des Majors verließ sie ihre Zimmer nicht mehr. Der Hof verfiel.

 

10

Die Brüder Schellenberg, Wenzel und Michael, hatten die Statur ihres Vaters.

Sie waren groß, breitschultrig und hatten denselben massiven, eckigen Schädel. Beiden war es eigentümlich, daß immer ein Lächeln auf ihren etwas derben, gebräunten Gesichtern lag, ein fast unsichtbares Lächeln, oft nur der Schimmer einer inneren Fröhlichkeit. Wenzel hatte die stahlgrauen, zuweilen etwas harten Augen des Vaters, während Michael die sanften braunen Augen der Mutter erbte. Allerdings ohne den goldenen Grundton, der die Augen der Mutter auszeichnete, als sie noch jung war, und der herrlich warm funkelte, wenn das Licht tief in die Augen fiel. Wenzel und Michael wuchsen wie junge Wölfe auf Klein-Lücke auf. Der Vater kümmerte sich kaum um sie, ihre Wildheit gefiel ihm. Die Mutter, verschüchtert und still, hatte nicht die Kraft, sie zu bändigen. Sie zitterte nur. Sie waren die wildesten Knaben, die man weit und breit finden konnte. Sie ritten zu zweit, ohne Sattel, auf einem Pferde, einem Hengst, den sonst niemand berühren durfte. Das Tier – sonderbar genug – ließ sich von ihnen alles gefallen. Es stand still, wenn einer der Knaben abstürzte. Sie kletterten auf die höchsten Bäume, sodaß die Mutter fast ohnmächtig wurde, wenn sie sie oben in den Wipfeln schwanken sah. Im Alter von zehn Jahren waren sie schon gewaltige Jäger. Sie jagten, was sie jagen konnten: Vögel, Eichhörnchen, Schlangen, Hasen. Damals lebte auf dem Hof ein Hund, ein Fleischerhund – genannt Isaak – groß wie ein Kalb, ein bissiges und übelgelauntes Tier. Mit diesem Hunde, dessen Augen gelb und böse blendeten und dem selbst der Knecht auswich, balgten sie sich auf der Erde, daß die Kleider in Fetzen gingen. Sie hatten Bogen, nahezu zwei Meter hoch, und schossen riesige Pfeile, die dreizöllige Nägel als Spitze trugen. Sie beschossen sich gegenseitig, und bei einem dieser Kriegsspiele erhielt der jüngere Michael einen Schuß in den Knöchel, der leicht fatale Folgen hätte haben können. Aber es ging gut ab. Seit dieser Zeit hinkte Michael ein wenig.

Mit zwölf Jahren kamen die beiden Knaben zur Schwester der Mutter in die Stadt. In dieser Stadt – einer kleinen Stadt Mecklenburgs – sah man sie auf den Dachfirsten reiten. Bei einem Eisgang trieben sie auf einer Eisscholle, mächtige Prügel schwingend, durch die ganze Stadt, zur Belustigung der Straßenjugend und zum Schrecken der Erwachsenen. Bei einer Brücke, wo sich das Eis staute, kletterten sie, gewandt wie Gemsen, über das Eis ans Ufer, um eine Viertelstunde später wieder auf einer Eisscholle, prügelschwingend, durch die Stadt zu treiben. Es waren richtige Teufel.

Der ältere, Wenzel, wurde Offizier. Der jüngere, Michael, wurde Landwirt und Chemiker.

Nach Beendigung seiner Studien arbeitete Michael einige Jahre in den Laboratorien der Deutschen Stickstoffwerke. Diese Laboratorien bildeten einen Komplex wie ein riesiges Hotel, und hier, inmitten des Luxus der wunderbarsten Apparate, fühlte sich Michael wie im Paradiese. Er war noch nicht dreiundzwanzig Jahre alt, als er ein Verfahren zur Herstellung von Harnstoff erfand, das fast um ein Drittel billiger war als die bekannten Methoden. Sein Name wurde in der Fachwelt bekannt. Die Deutschen Stickstoffwerke beeilten sich, die Erfindung zu erwerben, und auf diese Weise fiel dem jungen Mann eine jährliche Rente von beträchtlicher Höhe in den Schoß.

Michaels neue Methode zur Herstellung von Harnstoff sollte in dem großen Stickstoffwerk Logan am Rhein zuerst praktisch angewandt werden. Umbauten und Einrichtungen würden etwa sechs Monate Zeit beanspruchen. Michael befand sich aber kaum vierzehn Tage in Logan, als jene große Explosionskatastrophe eintrat, die noch in aller Erinnerung ist. Es flogen im ganzen fünfhundert Eisenbahnwaggons Stickstoff in die Luft, vierhundert Menschen wurden getötet, und ein großer Teil des etwa fünfzehn Kilometer langen Werkes von Logan wurde zerstört. Bei dem Explosionsherd entstand ein Loch, in das man eine fünfstöckige Mietskaserne ohne jede Schwierigkeit hätte unterbringen können.

Wie durch ein Wunder kam Michael bei der Katastrophe mit dem Leben davon. Er schlief im Junggesellenheim des Werkes und wurde am frühen Morgen, die Explosion ereignete sich bei der ersten Morgenschicht, aus dem Bett geschleudert. Im gleichen Augenblick schwankte das Haus und zerriß in zwei Teile. Mit einem verknitterten Schlafanzug bekleidet, erreichte Michael inmitten einer Lawine von Schutt das Freie. Was, um Himmelswillen, war geschehen? Er vermochte nicht zu denken, dann aber schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß die Stickstofflager explodiert sein müßten. Die Silos waren in die Luft gegangen! Mauern von Staub verdunkelten die Sonne. Die durch die Explosion zerrissenen Rohre und Röhren, die unter Druck standen, heulten infernalisch, und aus der Staubwolke stieg wie aus einem brodelnden Nebel eine rubinrote, glasige Stichflamme zum Himmel empor. Gestalten stürzten dahin, taumelnd, schreiend, schlugen mit dem Gesicht auf die Erde. Unaufhörlich folgten kleinere Explosionsschläge, und Felsblöcke, wie beim Ausbruch eines Vulkans, surrten heulend durch die Luft.

Die wenigen Überlebenden dieses Teiles des Loganwerkes erinnern sich heute noch an Michael, wie er augenblicklich handelte, dahin, dorthin eilte, um Verschüttete, die fürchterlich schrien, zu befreien. Dann sammelte er ein Häufchen verstörter Arbeiter um sich und disponierte. Und es fiel allen auf, mit welcher Klarheit er, dieser junge Mensch, der mit einer Kruste von Staub und Blut bedeckt in seinem Schlafanzug vor ihnen stand, seine Anordnungen gab.

»Erstens«, sagte er, »müssen wir die Verschütteten befreien. Zweitens müssen wir die Toten bergen. Drittens müssen wir sofort die Straße vom Schutt räumen, um sie für den Verkehr freizumachen. Viertens müssen wir alles, was einzustürzen droht, niederreißen, um weiteres Unglück zu verhüten, und fünftens müssen wir Logan wieder aufbauen. Vorwärts, schafft Leute! Und sofort eine Telephonverbindung!«

Den ganzen Tag über gab Michael den Kolonnen seine Anweisungen, immer in seinem verknitterten Schlafanzug. Aber niemand kam es in den Sinn, darüber auch nur zu lächeln. Erst am Abend gab man ihm einen Mantel, und erst als es dunkel wurde, wusch er sich das Gesicht.

Drei Wochen lang war Michael taub, obschon die Schallwelle der Explosion über ihn hinweggesprungen sein mußte, da sie ihm anders das Trommelfell zerrissen hätte. Irgendeinen Schaden trug er nicht davon. Einige schlaflose Nächte, dann war er wieder vollkommen in Ordnung.

Michael arbeitete hierauf zwei Jahre auf dem großen Versuchsgut der Deutschen Stickstoffwerke, Breda. Er veröffentlichte in dieser Zeit eine Reihe von Aufsätzen über Fragen der wissenschaftlichen Bodenkultur, die die Aufmerksamkeit der landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin erregten. Die Hochschule bot ihm einen Lehrstuhl an, und so geschah es, daß Michael nach Berlin kam. Aber schon nach einem Jahre drehte er diesem Institut den Rücken zu.

Er kapitalisierte seine Tantieme bei den Deutschen Stickstoffwerken und erwarb ein dreihundert Morgen großes Gut in der Nähe von Berlin – Sperlingshof –, das er zu einem modernen Versuchsgut ersten Ranges umwandelte. Die Erde! Mit seiner ganzen Leidenschaft – die Schellenberg taten alles leidenschaftlich – richtete er seine Energie auf die Erde, den Boden, der, fast unbekannt, unerforschter als die chemischen Elemente, seine Geheimnisse streng hütete, ob ihn die Menschen auch schon Tausende von Jahren bebauten.

Es gab keine neue oder alte Methode des Land- und Gartenbaus, die Michael auf Sperlingshof nicht versucht hätte. Es gab keine Maschine, die er nicht ausprobiert hätte. Bodenimpfung, Berieselungsmethoden, Regenanlagen, Glashäuser. In Tausenden von Töpfen standen, sauber etikettiert, verschieden behandelte Versuchspflanzen. Der Boden war schlecht, Sand, aber er vollbrachte Wunder. Wie eine Oase lag Sperlingshof in der kargen Landschaft. Fachleute kamen, staunten, disputierten, kritisierten. Michael arbeitete im Schweiße seines Angesichts. Die chinesische Landwirtschaft! Sie beschäftigte ihn monatelang. Sie gab Aufschluß über vieles. In diese Zeit fiel eine Broschüre, die großes Aufsehen in Fachkreisen erregte. Michael bewies, daß die Großstädte jährlich Hunderte von Millionen an kostbaren Nährstoffen in ihren falsch behandelten Abwässern verschwendeten. Europa, behauptete er, habe zugunsten der Technik in frevelhafter Weise die Probleme des Landbaus vernachlässigt.

Aber nicht jene Probleme allein beschäftigten Michael. Plötzlich taten sich – im Zusammenhang mit ihnen – ganz ungeheure Horizonte auf. In der Einöde von Sperlingshof wurde Michael von sozialen und soziologischen Problemen so leidenschaftlich ergriffen, daß sie bestimmend für sein ganzes Leben werden sollten.

Hier reiften die Pläne, in deren Verwirklichung er seine Lebensaufgabe erblickte!

Die Wintermonate pflegte Michael in Berlin zu verbringen. Er hatte im Osten der Stadt ein paar Zimmer gemietet. Hier arbeitete er Tag und Nacht, und Bücher, Pläne, Zeichnungen, Notizen häuften sich auf allen Tischen.

Seinen Bruder Wenzel sah Michael nur selten. Im ersten Winter kam Wenzel nach Berlin, um sich eine passende Stellung zu suchen – »nicht allzuviel Arbeit und ein hohes Einkommen«. Die Brüder verbrachten fast alle Abende zusammen. Sie waren sich noch immer wahrhaft zugetan, obschon Michael in seiner Entwickelung eine ganz andere Richtung eingeschlagen hatte.

Wenzel, der stets Glück hatte, fand in der Tat eine ausgezeichnete Stellung! Er wurde Sekretär bei dem alten Raucheisen, dem Chef des Raucheisen-Konzerns, dem ein großer Teil des Ruhrgebiets gehörte – »ein deutsches Fürstentum unter der Erde«, wie Wenzel sagte – und der gegen achtzig industrielle Großbetriebe kontrollierte. Wenzel ließ seine Familie nachkommen, Lise und die beiden Kinder, und richtete sich irgendwo im Westen eine luxuriöse Wohnung ein. Seit dieser Zeit sahen sich die Brüder – ohne jeden sonderlichen Grund – ganz selten. Im letzten Winter nur zweimal.

 

11

In diesem Herbst kehrte Michael früher als sonst von Sperlingshof zurück. Ganz plötzlich hatte er die Zelte abgebrochen. Die Pläne reiften! Es gab viele Arbeit hier in der Stadt, und jeder Tag war kostbar. In diesem Winter wollte er die Arbeitsgemeinschaft gründen, eine Gemeinschaft der besten und verantwortungsvollsten Köpfe Deutschlands. Besuche, Besprechungen, Korrespondenz, Arbeit in Hülle und Fülle, fast ohne Pause, sechzehn Stunden am Tag und mehr.

Es war nur zu verständlich, daß er keine Zeit fand, sich nach Wenzel umzusehen. Jeden Tag nahm er sich vor, ihn aufzusuchen. Merkwürdigerweise dachte er in diesen Wochen häufig an den Bruder.

Eines Tages aber fand er unter der eingegangenen Post einen umfangreichen Brief von einer Hand, die ihm bekannt vorkam. Die Schrift und die grünlichschillernde Tinte berührten ihn nicht sympathisch. Da erinnerte er sich, daß es die Schrift der Schwiegermutter Wenzels war, einer Frau von dem Busch, einer arroganten und herrschsüchtigen Dame, der er am liebsten aus dem Wege ging.

Was will sie nur von mir? dachte er erstaunt und schon etwas ärgerlich. Ich habe gehofft, sie würde mir für immer böse sein, wegen unseres letzten Disputs. Sie hatten damals über Sozialismus debattiert, und Michael, den der anmaßende Ton der Frau von dem Busch tief verletzt hatte – sie nannte die Arbeiter nur Tagediebe und Faulpelze, die sich volltrinken –, hatte ihr vor allen Leuten mit ziemlicher Schärfe bewiesen, daß sie nicht einmal wisse, was Sozialismus sei, obschon sie ihn verdamme.

Frau von dem Busch war eine jener Damen, die in ihrem Leben nichts gearbeitet haben, von ein paar gehäkelten Deckchen abgesehen. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend mußten die Mädchen für sie rennen. Sie tat nichts ohne eine ungeheure Verschwendung von Worten, sie verbreitete Unruhe. Immerzu war sie auf Reisen, Nizza, Italien, Marienbad. Ohne Unterbrechung hatte sie es mit den Ärzten zu tun. Ihr Mann war Landrat gewesen und hatte keineswegs Glücksgüter hinterlassen. Wovon bestritt sie ihren Haushalt, ihre Reisen? Niemand wußte es. Sie hatte große Pläne mit ihrer einzigen Tochter Lise gehabt. Irgend etwas ganz Außergewöhnliches hatte sie erwartet, einen Prinzen oder Vanderbilt oder einen russischen Fürsten. Gott mochte es wissen. Sie konnte es Wenzel niemals verzeihen, daß er ihre Pläne zunichte machte.

»Eine verdrießliche Sache,« sagte Michael ärgerlich, nachdem er einen Blick in den Brief geworfen hatte, und steckte ihn in die Tasche. Erst am Abend, als er seine Abendmahlzeit in einem stillen Restaurant einnahm, machte er sich an die Lektüre. Weshalb schreibt sie nicht an Wenzel direkt? dachte er. Was habe ich mit ihr zu schaffen?

Der Brief der Frau von dem Busch versetzte Michael in schlechte, nervöse Laune. Er errötete ein paarmal vor Unwillen, zuweilen aber amüsierte er sich und mußte laut auflachen. Zuletzt aber erschrak er. Was war das? Wenzel?

Frau von dem Busch begann mit der Versicherung, daß sie an Michaels gute Eigenschaften glaube, während sie bei Wenzel zu ihrem Bedauern nie gute Eigenschaften entdecken konnte, so sehr sie sich auch bemüht habe. (Eine boshafte, taktlose Person! dachte Michael.) »Ich schreibe an Sie, Michael, im Vertrauen auf Ihr gutes Herz, wenn Sie auch heute vielleicht noch Weltanschauungen huldigen, die ich nicht billigen kann, ja, die ich bekämpfen muß. Aber Ihre Jugend entschuldigt Sie.« (»Welche Unverschämtheit!« sagte Michael laut vor sich hin.)

»Lises Briefe beunruhigen mich,« fuhr Frau von dem Busch fort, nachdem sie Wenzel erneut einen Hieb versetzt hatte. »Sie schreibt wenig, ausweichend und unaufrichtig. Sie wissen ja, Michael, daß ich gegen diese Ehe eingenommen war. Mein mütterliches Herz hat mich gewarnt. Was könnte Lise heute sein, wer könnte sie sein! Sie verkehrten nie in meinem Hause, Sie können also nicht wissen, wer bei mir aus- und einging, der höchste Adel und sogar Fürstlichkeiten. Alle bewunderten Lise und prophezeiten ihr eine große Karriere, und Professor Livonius sagte, in drei Jahren würde sie Primadonna an der Hofoper sein. Ich verbringe schlaflose Nächte, wenn ich an all das denke. Ich habe meine Tochter Ihrem Bruder nicht gegeben, Sie wissen es. Er hat sie einfach geraubt, geraubt wie ein gemeiner Straßenräuber!« (Hier mußte Michael laut auflachen, so daß die beiden Kellner zu ihm herblickten. In der Tat hatte sein Bruder Lise seinerzeit entführt, es war am Anfang des Krieges, und Wenzel hatte nur fünf Tage Urlaub.)

Nach einer langatmigen, jammernden Betrachtung über den Verfall der Sitten kam Frau von dem Busch wieder zu ihrem Thema zurück. Ihre schlimmsten Befürchtungen, schrieb sie, schienen sich zu erfüllen. »Lise schreibt mir, daß Sie Wenzel schon seit einem halben Jahre nicht mehr besuchten. Ich begreife sehr wohl, daß Sie sich, wie fast alle Menschen, von ihm zurückziehen.« (Oh, wie unverschämt ist diese Alte, dachte Michael zornig.) »Denn, wie Lise mir schreibt, haben nach und nach alle seine Freunde ihn verlassen, auch Lises Bekannte bleiben aus, und sie hatte doch einen so reizenden Kreis geachteter Persönlichkeiten, Legationssekretäre, Attachés und hohe Offiziere. Aus Freundschaft und Achtung zu unserer Familie verkehrten sie bei Lise. Aber es ist kein Wunder, daß einer nach dem andern wegbleibt. Meine Tochter aber ist tief unglücklich, ich fühle es aus jeder ihrer Zeilen. Sie wissen, lieber Michael, daß Ihr Bruder seit drei Monaten nicht mehr im Raucheisen-Konzern tätig ist.« (Wenzel? Was ist mit Wenzel? dachte Michael erschrocken über diese unerwartete Nachricht.) »Weshalb? Wissen Sie den Grund? Und er hatte gewiß dort eine wundervolle und ausgezeichnet bezahlte Stellung. Was ist vorgefallen? Geben Sie mir Auskunft! Lise schweigt sich darüber aus. Von Berliner Bekannten konnte ich Positives nicht erfahren, sie machten nur Andeutungen, die mich noch mehr beunruhigten. Etwas ist hier nicht in Ordnung. Ich wäre nach Berlin gekommen, muß aber zu meiner Schwester nach Bremen reisen und von dort aus nach Frankfurt am Main, wohin mich eine alte Freundin dringend bittet. Ich hätte gewünscht, daß Lise mehr Vertrauen zu ihrer Mutter habe. Gehen Sie zu ihr, machen Sie ihr Vorwürfe! Welch törichter Stolz, sich vor seiner Mutter zu schämen. Aber ich kann mir vorstellen, daß Lise nicht gerne über diese unerquicklichen Dinge spricht. Ich weiß nicht, ob Sie Ihren Bruder letzthin gesehen haben. Lise schreibt mir, daß er in den letzten Monaten von einer außerordentlichen Ruhelosigkeit ergriffen war. Er kam oft tagelang nicht nach Hause. In ihrem heutigen Briefe nun gesteht mir Lise, daß Wenzel seit zwei Wochen in Geschäften abwesend ist. Ich fühle, daß Lise sich in der allergrößten Erregung befindet. Was ist aus Ihrem Bruder geworden?«

Michael hatte diese Mitteilungen mit dem größten Erstaunen und mit einem leichten Erschrecken gelesen. Der Brief schloß mit der Bitte, zu Lise zu gehen, sie auszuforschen und sodann ihr, Frau von dem Busch, ausführlichen Bericht zu erstatten. Ungeduldig warte sie auf seine Nachricht.

Michael erhob sich und schlüpfte in den Mantel. Verstimmt und beunruhigt verließ er das Restaurant.

Er beschloß, Lise morgen zu besuchen.

Am nächsten Tage, etwas nach vier Uhr, machte sich Michael auf den Weg zu Lise. Sie wohnte draußen im Westen, in einer jener Straßen, die sich alle gleichen, in einem jener Häuser voll von falschem Prunk, die alle verschieden sind. Das Treppenhaus war ganz aus Marmor. Neben dem Lift stand eine Bank aus weißem Marmor, auf die sich niemand setzte, weil sie eisigkalt war. Lise aber fand Treppenhaus und Bank herrlich.

Das Mädchen, eine hübsche, schlanke Person mit einem Häubchen auf dem Kopfe, empfing ihn mit freudig erstaunter Miene. »Herr Doktor Schellenberg! Ist es möglich?« rief sie aus und öffnete die Tür so weit als es möglich war.

»Ist meine Schwägerin zu Hause? O ja, ich höre sie.«

Aus Lises Zimmer drang Gesang und Klavierspiel. Lise übte zwei-, dreimal die gleiche Kadenz. Sie hatte einen hohen, etwas spitzen Sopran.

»Gnädige Frau haben Stunde,« sagte das Mädchen. »Ich darf nicht stören. Aber die Stunde muß bald zu Ende sein.«

»Führen Sie mich unterdessen zu den Kindern,« bat Michael.

Sobald er nur den Kopf in das Kinderzimmer steckte, erscholl lautes und freudiges Geschrei der beiden Kinder. Marion, das Mädchen, das die Züge Lises trug, wollte sich augenblicklich auf ihn stürzen. Sie kauerte auf einem Schemel in der Mitte des Zimmers. Der Junge aber, Gerhard – schon jetzt zeigte sein Kopf die breiten und etwas derben Züge der Schellenberg –, schrie die Schwester in erregtem Tone an. »Steige nicht aus, Marion! Du wirst sofort ertrinken! Du kannst ja nicht schwimmen! Und du, Onkel, bitte, gehe nicht weiter. Siehst du nicht, daß dieser Strich der Wannsee ist?« Gerhard saß oben auf dem Kleiderschrank. In der Hand hielt er eine Tute aus zusammengerolltem Papier, die er zuweilen an den Mund setzte, um schauerlich zu tuten. Das Zimmer war in großer Unordnung, die Kinder nicht ganz sauber und etwas vernachlässigt. In der Ecke stand idyllisch ein Nachtgeschirr.

»Was gibt es?« fragte Michael lachend.

»Marion sitzt auf einem Segelboot, das soeben gekentert ist, Onkel,« erklärte Gerhard hastig und erregt vom Schrank herab, denn er fürchtete, das Spiel könnte gestört werden. »Und ich bin der Leuchtturmwächter und tute um Hilfe. Steige nicht aus, Marion, du wirst augenblicklich ertrinken! Siehst du nicht die hohen Wellen? Und der Wind bläst – huh!«

Marion warf Michael hilfesuchende Blicke zu, während sie sich krampfhaft an ihrem Schemel festhielt, als fürchte sie fortgeweht zu werden. In ihrer Angst hatte sie sich das Höschen naßgemacht. Sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen.

»Nur keine Angst, Marion,« beruhigte sie Michael, »wenn du ins Wasser fällst, so ziehe ich dich sofort wieder heraus!«

»Du mußt um Hilfe schreien, Marion! Oh, wie dumm du bist!«

»Hilfe! Hilfe!« zeterte die Kleine.

»Das Rettungsboot kommt!« tutete Gerhard.

Blitzschnell, wie eine Katze, sprang er vom Schrank und rutschte auf einem Stuhl über den Fußboden langsam heran an Marions Schemel. Er warf Marion unter vielen Zurufen eine Schnur zu und zog sie auf ihrem Schemel in eine Ecke. Nun waren sie angekommen.

»Komm hierher, Onkel!« rief der Knabe, »wir sind auf der Pfaueninsel.«

Die Stimme des Knaben, der bisher, vom Spiel erregt, wild und laut geschrien hatte, war plötzlich sanft und weich. »Weshalb kommst du so selten, Onkel? Man sieht dich gar nicht mehr!« fragte er und sah Michael mit einem langen, reinen Blick an. Marion aber kletterte an ihm in die Höhe, wie an einem Baum, und bedeckte seine Wange mit Küssen, während sie die dünnen Arme um seinen Hals legte.

»Ich hatte zu arbeiten,« antwortete Michael verlegen, denn er fühlte, daß der Knabe ihm nicht glaubte.

Gerhard sah ihn von der Seite an. »Ihr mit eurer Arbeit!« sagte er und zuckte geringschätzig die Achsel. »Auch Papa behauptet immer, er müßte arbeiten, und dabei sitzt er doch Tag und Nacht in den Weinstuben.«

»Aber Gerhard!« erwiderte Michael mit sanftem Tadel. »Pfui, wie häßlich. Was sagst du da? Wer sagt dir, daß Papa Tag und Nacht in den Weinstuben sitzt?«

»Nun, Mama,« antwortete der Knabe und verzog die Lippen.

Michael verteilte die Schleckereien und mußte mit Marion zusammen eine Schokoladenstange verspeisen. Sie aß an einem Ende und er am andern, bis sie mit den Lippen zusammenstießen. Nun, aber ja – wollten sie zusammen spielen. Onkel! Sie wußten genau, daß Michael ihnen entrissen wurde, sobald die Gesangsstunde zu Ende war.

»Komm, Onkel!« rief Gerhard, »was wollen wir spielen? Wir wollen den Mont Blanc besteigen, willst du?«

»Nun schön, meinetwegen,« stimmte Michael lächelnd zu. »Wie geht das: den Mont Blanc besteigen?«

Marion aber heulte. »Ich will nicht auf den Mont Blanc. Onkel, man muß auf den Schrank klettern, und ich fürchte mich.«

»Ach wie dumm und albern du bist, du Heullise!« rief der Knabe und stampfte mit dem Fuße. »Fünftausend Meter, was ist schon dabei?«

Michael beruhigte das Mädchen. »Also, Marion, wenn ich in deiner Nähe bin, so wirst du wohl Mut haben. Sieh zu, ich werde dich an der Hand führen, und es wird dir nichts geschehen. Fallen wir herunter, nun was schadet es, so fällst du in meine Arme.«

Gerhard aber betrieb augenblicklich eifrig die Vorbereitungen. Ein Tisch wurde an den Schrank geschoben und auf den Tisch ein Stuhl gestellt. An den Tisch wiederum wurde ein Stuhl gerückt. Nun wurden sie alle drei mit einer Schnur aneinander gebunden, und Gerhard, mit einem Stock bewaffnet, begann den Aufstieg. Er schlug mit dem Stock Stufen in das Eis, er ließ Warnungen ertönen, so daß Marion zu zittern anfing. Schließlich aber ging alles gut ab, und alle drei waren oben.

In diesem Augenblick öffnete das Mädchen die Tür und sagte, während sie in lautes Lachen ausbrach: »Die Stunde ist eben zu Ende, ich werde Sie sofort der gnädigen Frau melden.«

 

12

Das Mädchen lachte noch hell heraus, als es über den Korridor eilte. Michael stieg mit Marion auf dem Arm vom Mont Blaue herab und begab sich in die Diele.

Hinter einer der vielen langweiligen weißen Türen hörte er die erregte Stimme seiner Schwägerin. Sie zankte. Das Dienstmädchen schlüpfte mit bestürzter Miene durch den Türspalt. Gleich darauf öffnete sich der eine Flügel der Tür, und Lise wurde sichtbar. Sie war in höchster Erregung und blickte Michael mit zornigen Augen an.

»Bestellen Sie es dem Herrn nur!« rief sie und schob das zögernde Dienstmädchen in die Diele. »Bestellen Sie dem Herrn, was ich Ihnen sagte: Ich will nichts mehr mit den Schellenberg zu tun haben!«

Verblüfft und betreten tat Michael einen Schritt rückwärts. Er griff mit einer bedauernden Geste nach Hut und Mantel. »Nun, dann lebe wohl, Lise,« sagte er und zuckte die Achsel. »Ich werde mich dir nicht aufdrängen.«

In diesem Augenblick streckten die Kinder die Köpfe in die Diele und riefen: »Michel! Michel!«

Lise trat einen Schritt vor. »Macht, daß ihr fortkommt!« herrschte sie die Kinder an.

Michael ging. Welch eine unerquickliche Szene, dachte er. Wie tief muß Wenzel sie verletzt haben, daß sie so außer sich ist! In großer Erregung stieg er die Treppe hinab. Er bereute nun, daß er die Beleidigung Lises ohne jede Erwiderung eingesteckt hatte.

Aber Lise erschien am Geländer der Treppe und schrie mit einer rasenden Stimme in das Stiegenhaus hinein: »Ich will das Schellenbergsche Gesicht nicht mehr sehen! Ich habe genug davon!« Dann schlug sie die Tür zu, daß das Haus zitterte. Oh, wie böse sie heute war!

Michael hatte indessen kaum das Foyer mit den Marmorsäulen und der weißen Marmorbank erreicht, als das junge Dienstmädchen nachgestürzt kam. »Die gnädige Frau bittet Sie, sofort heraufzukommen. Sie bittet vielmals, sie zu entschuldigen.« Und als Michael, dessen Zorn schon wieder verraucht war, mit ihr die Treppe emporstieg, fügte sie entschuldigend und erklärend hinzu: »Die gnädige Frau ist außer sich. Ihr Herr Bruder hat schon seit Wochen das Haus nicht mehr betreten.«

Lise erwartete Michael in ihrem Musiksalon. Sie streckte ihm erregt die Hand hin, ihre Augen standen voll Tränen. »Verzeihe, Michael,« rief sie aus. »Ich bin in einer Erregung, die unbeschreiblich ist. Du bist mir doch nicht böse, wie? Nein, du bist immer ein guter Kerl gewesen und verstehst alles.«

»Was in aller Welt geht hier vor?« fragte Michael mit gerunzelter Stirn.

»Nimm Platz. Ich werde nach Tee klingeln. Bringen Sie Tee, Anna!« Sie schrie das Dienstmädchen an, um ihre Beschämtheit zu verbergen.

Lise gehörte zur Klasse jener Blondinen, die zur Üppigkeit neigen und Gefahr laufen, frühzeitig ihre reinen Formen zu verlieren. Ihre sanften Wangen waren voll und immer lebhaft gerötet, als sei sie erhitzt, die Augen, die vorhin, als sie erregt war, so groß aussahen, waren von zarter, etwas verblaßter blauer Färbung. Ein heller, lockerer, etwas unordentlicher Haarschopf wippte über der Stirn.

Sie suchte nervös nach Zigaretten und warf sich auf den Diwan, der dicht neben dem Flügel stand. Das Zimmer war voll von Notenblättern und Büchern, in ziemlicher Unordnung. Der riesige Diwan war mit einer lachsroten Decke bedeckt, und darauf waren einige Dutzend Kissen in grellen Farben verteilt. Eine Stehlampe mit rotem Schirm und langen schwarzen Quasten stand neben dem Flügel.

»Wie schön, daß du gekommen bist, Michael,« sagte Lise, nur um etwas zu sagen. So lächerlich es war, versuchte sie dem Dienstmädchen, das den Tee servierte, nach dieser erregten Szene vorzutäuschen, daß alles in bester Ordnung sei. »Du siehst gut aus, braun,« plapperte sie. »Das Landleben bekommt dir gut. Ich war im Sommer in Heringsdorf mit den Kindern und Major Puchmann und seiner Frau.«

Sie plauderte noch dies und jenes, zuweilen mit einem kleinen, glucksenden Lachen, solange das Mädchen im Zimmer war.

Kaum aber hatte das Mädchen das Zimmer verlassen, als sie erregt nach Michaels Hand tastete und mit hilflosem Blick fragte: »Hast du Wenzel gesehen?«

»Ich bin erst seit kurzer Zeit in Berlin,« erwiderte Michael. »Ich habe ihn nicht gesehen und wollte euch heute besuchen.« Er sprach etwas unsicher und stockend, es fiel ihm schwer, sich zu verstellen. Den Brief von Lises Mutter erwähnte er absichtlich nicht. »Was, um alles in der Welt, ist mit Wenzel?«

Lise sah ihn lange an, dann erhob sie sich und ging ein paar Schritte, während sie die Zigarette zwischen den Lippen zernagte. »Was mit Wenzel ist?« fragte sie. Sie blieb vor Michael stehen. »Ich weiß es nicht.«

»Du weißt es nicht?«

»Nein. Ich weiß seit – seit längerer Zeit nichts mehr von Wenzel. Es ist alles merkwürdig. Daß er nicht mehr bei Raucheisen tätig ist, weißt du wohl? Der alte Raucheisen hat ihn entlassen.«

»Entlassen?«

Lise zerknitterte die Stirn. »Entlassen oder nicht entlassen, jedenfalls ist er nicht mehr bei Raucheisen. Und irgend etwas muß ja wohl vorgefallen sein. Ich habe mit einigen Freunden Wenzels gesprochen, die bei Raucheisen arbeiten. Vielmehr nicht ich, ich habe Major Puchmann gebeten, mit ihnen zu sprechen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Denn es gehen Gerüchte, Michael! Aber die Herren machten nur Ausflüchte. Sie sagten nichts. Jedenfalls schied Wenzel von heute auf morgen bei Raucheisen aus.«

Michael versuchte, Lises Hand zu fassen, um sie zu beruhigen. »Vielleicht hat es Wenzel nicht mehr bei Raucheisen gefallen,« sagte er. »Laß dich doch von den Leuten nicht beschwätzen, Lise.«

Lise schüttelte den Kopf. »Beschwätzen?« sagte sie und wurde immer erregter und geriet nahezu wiederum in den früheren Zustand der Verzweiflung. »Beschwätzen? Ich bin doch nicht irgendeine kritiklose Person, Michael. Es ist ja auch gar nicht die Hauptsache, was bei Raucheisen vorfiel. Aber nun höre: die Hauptsache ist, daß Wenzel ohne jede Erklärung, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Hause gegangen ist!«

»Er hat dein Haus verlassen?«

Lise schlug die Hände vors Gesicht. »Ja! Ich verstehe nicht, wie ich das alles ertragen habe. Oh, diese Schmach und Schande, mich hier sitzen zu lassen mit den Kindern. Was soll meine Mutter denken? Ich wagte es ihr nur anzudeuten. Was sollen meine Freunde denken? Müssen sie nicht glauben, ich hätte meine Pflichten verletzt, ich hätte irgendeine Liebschaft angefangen? Meine Verwandten, die alle hohe Beamte und Militärs sind, korrekt bis in die Fingerspitzen – für die es so etwas einfach nicht gibt. Oh, wie furchtbar ist dies alles!«

»Ich verstehe nicht –«

»Ich werde dir alles erzählen,« sagte Lise, indem sie sich Mühe gab, sich zu beruhigen. Sie nahm wieder auf dem Diwan Platz. »Höre zu, Michael. Über ein Jahr war Wenzel bei Raucheisen. Zehn Minuten vor sieben, jeden Morgen, holte ihn das Auto ab. Punkt sechs stand er auf, und er machte sich selbst das Frühstück in der Küche, denn ich konnte dem Mädchen doch nicht zumuten, so früh aufzustehen. Zwischen sieben und neun Uhr abends kam er nach Hause. Wir besuchten Theater, Konzerte, Gesellschaften. Es ging alles vorzüglich. Schon nach einem Vierteljahr hatte Raucheisen Wenzels Gehalt verdoppelt. Ich atmete auf, denn die Jahre während des Krieges, die ich bei Mama zubrachte, waren nicht leicht gewesen.«

»Also bis dahin ist alles gut gegangen?«

»Sehr gut sogar. Er verrichtete seine Arbeit mit einem Eifer und einer Peinlichkeit, die nur ein Offizier kennt. Er war lieb und reizend zu mir. Obwohl er den ganzen Tag arbeitete, war er abends in den Gesellschaften noch in sprühender Laune.« Lise legte die Stirn in Falten. »Vom Frühjahr an aber wurde es anders. Er wurde unruhig, er schlief schlecht, und er brachte Freunde mit ins Haus, die mir nicht sonderlich gefielen. Kennst du Mackentin, einen früheren Oberleutnant der Fliegertruppe?«

»Ich kenne ihn nicht,« erwiderte Michael. »Aber ich hörte seinen Namen.«

»Oh, er hat ein widerliches Gesicht und so freche Augen. Wie eine Ratte. Dann kam noch ein früherer Leutnant. Seinen Namen habe ich vergessen. Sie schlossen sich in Wenzels Zimmer ein, qualmten, tranken und plauderten.«

»Spielten sie?« fragte Michael.

»Nein, sie spielten nicht. Aber sie waren sehr laut, und Wenzel hatte seine Periode. Du weißt, daß er Perioden hat, wo er trinken muß.«

»Nun, Wenzel kann eine gute Menge vertragen,« sagte Michael mit einem breiten Lächeln.

»Ich machte ihm Vorwürfe, aber er sagte nur: ‚Geschäfte, Geschäfte. Davon verstehst du nichts. Warte!‘ Dann kam er oft nach Mitternacht nach Hause und noch später. Er roch nach Wein und Zigarren, und es gab Szenen. Manchmal roch er auch nach zweifelhaften Parfüms. Das sage ich dir!« schrie Lise plötzlich und hielt die verkrampfte Hand vor Michaels Gesicht. »Wenn ich herausbekomme, daß er mich schon damals mit Frauenzimmern hintergangen hat, dann soll es ihm leid tun!«

»Beruhige dich,« unterbrach sie Michael. »Berichte weiter. Vielleicht spielte er. Es ist ja wohl möglich, denn er hatte ja früher zuweilen diese Leidenschaft. Urteile doch nicht so hart.«

»Du verteidigst ihn?«

»Natürlich, denn ich kenne ja auch seine guten Eigenschaften. Kann ein Mensch denn nicht Leidenschaften haben?«

Lise machte die Augen groß. »Leidenschaften? Weshalb? Mit welcher Berechtigung? Aber« – korrigierte sie sich – »meinetwegen auch Leidenschaften – solange andere nicht darunter leiden. Vielleicht hast du recht, Michael. Es ist möglich, daß er in dieser Zeit spielte. Denn zuweilen hatte er viel Geld, und er warf es mit jener unangenehmen Geste auf den Tisch, die er hat, wenn er viel Geld besitzt.«

Michael errötete unwillig. »Unangenehme Geste? Verschwender sind mir lieber als Geizhälse, Lise.«

»Vielleicht urteile ich zu streng, du magst recht haben,« lenkte Lise ein. »Aber kannst du verlangen, daß ich noch nachsichtig urteile – nach allem, was geschehen ist? Nun höre weiter. Schließlich blieb Wenzel ganze Nächte weg. Dann wieder kam er spät in der Nacht, um das Haus schon wieder um vier Uhr morgens zu verlassen. Ich machte ihm Vorwürfe. Er erwiderte nur, er habe zu arbeiten. Dieses Leben war eine Hölle, denn ich wußte, daß etwas mit ihm vorging, daß etwas nicht in Ordnung war. Eines Tages aber erfuhr ich durch Zufall, daß er gar nicht mehr bei Raucheisen tätig war. Er hatte mir nie ein Wort darüber gesagt.«

Michael schüttelte den Kopf. »Es mußte ihm natürlich peinlich sein. Verstehst du nicht, Lise?«

Lise fuhr fort: »Was er aber tat, konnte ich nicht erfahren. Er kam nicht mehr zu mir. Zuweilen schickte er einen Boten mit Geld. Das ist alles, was ich von ihm höre und sehe. Ich aber will seine Almosen nicht! Wenn es nicht anders wird, so werde ich die beiden Kinder nehmen und mich ins Wasser stürzen.«

»Lise!« Michael lächelte.

Lise begann zu weinen. »Und dann die Gerüchte! Denke, Michael, daß alle meine Verwandten hohe Beamte und Militärs sind!«

Nun stieg Michael die Röte ins Gesicht. »Sei nicht böse, Lise,« sagte er, »es langweilt mich, immerzu von deinen Verwandten zu hören. Wir Schellenberg sind auch kein hergelaufenes Gesindel. Mache dich nicht lächerlich –«

»Lächerlich?« Lise tat äußerst erstaunt und verletzt. »Ah, ein Schellenberg!« sagte sie. »Den Ton kenne ich!« Sie stand auf, erregt, feindselig.

Schon bereute Michael. »Laß uns nicht streiten, Lise,« sagte er. Und sofort war auch Lise wieder bereit, einzulenken. »Höre, Lise, sprich jetzt offen: Was, in Teufels Namen, ist vorgefallen?«

Lise nahm Michaels beide Hände, sah ihn an und flüsterte: »Ich weiß nichts Bestimmtes. Aber es gehen Gerüchte. Wenzel – es sind nur Gerüchte, man trug es mir zu – soll eine Unterschlagung begangen haben. Raucheisen wollte keinen Skandal und entließ ihn von einem Tag auf den andern.«

Michael erbleichte. »Wenzel und eine Unterschlagung! Aber Lise, laß dir doch so etwas nicht weismachen! Eher würde Wenzel sich eine Kugel durch den Kopf schießen. Ich kenne ihn ja.«

Lise sank in sich zusammen. »Vielleicht war es auch nicht gerade eine Unterschlagung, Michael. Vielleicht war es nur eine Inkorrektheit. Jedenfalls – wir sind arm und gehören nicht zu dem Gesindel, das heute in Deutschland obenan ist. Wir haben nichts mehr als unseren guten Namen.«

»Du weißt nicht, was Wenzel zur Zeit tut?«

Verzweifelt schüttelte Lise den gelben Haarschopf. »Ich weiß es nicht, nein. Ich weiß nur, daß er mit diesem Mackentin zusammen ist. Sie machen irgendwelche Geschäfte.«

»Nun gut,« antwortete Michael, »ich werde ihn besuchen, wo wohnt er?«

Lise starrte ihn an. »Wo er wohnt? Auch das weiß ich nicht. Ich weiß gar nichts. Ich habe den Boten, der das Geld bringt, schon hier hereingenommen und ihm gedroht, ihn niederzuschießen, wenn er mir nicht seine Wohnung angibt.«

»Aber er sagte nichts?« Michael lachte. »Siehst du, Lise, so war er immer. Immer hatte er so einen kleinen theatralischen Zug an sich. Und wie lange hast du ihn nicht mehr gesehen?«

»Drei Monate.«

»Wie?«

»Drei Monate.«

Michael sprang auf.

»Ja, drei Monate lang ertrage ich dies schon!« schrie Lise. »Und jetzt ist es genug. Jetzt ist es genug!« wiederholte sie.

»Arme Lise! Wie kann ich dir helfen?«

Lise dachte nach. »Helfen? Helfen? Es scheint aussichtslos. Aber –« Sie dachte nach, und plötzlich hob sie das Gesicht in die Höhe, ein Gedanke erhellte ihre Augen. Sie sprang auf. »Höre, Michael,« rief sie, »du wirst gehen und Wenzel suchen.«

»Wie soll ich ihn in dieser großen Stadt finden?«

»Du wirst ihn finden!« rief Lise gläubig und überzeugt, begeistert von ihrem Einfall. »Ja, als sein Bruder wirst du ihn unbedingt zu finden wissen. Du wirst Erkundigungen einziehen. Es wird dir nicht schwerfallen … Höre, Puchmann sagte mir, in der Nähe des Gendarmenmarkts, da sind einige kleine Kaffeehäuser und einige kleine Weinstuben, wo viele Börsenmenschen und Geschäftsleute verkehren. Dort soll Wenzel verkehren. Gehe nur, Michael, und suche ihn.« Sie zog Michael am Ärmel, so daß er aufstehen mußte. »Gehe nun sogleich, und wenn du ihn findest, so erzähle ihm, was ich dir gesagt habe.« Lise brach in Schluchzen aus, warf sich auf den Diwan und drückte das Gesicht in die Kissen.

Vergebens versuchte Michael, sie zu beruhigen.

»Geh! Geh!« rief sie. »Suche ihn, und wenn du ihn gefunden hast, so sage ihm, daß er sofort zu mir zurückkehren soll. Es ist mir schließlich einerlei, was meine Verwandtschaft denkt. Aber höre, Michael,« und Lise schlang ihren Arm um Michael und barg ihren blonden Haarschopf an seiner Brust, »höre und sage ihm, daß ich ihn trotz allem liebe. Es ist mir auch gleichgültig, was er getan hat. Ich werde ihm alles verzeihen. Sage ihm das.«

Michael ging. Lise, das Gesicht in Tränen gebadet, geleitete ihn hinaus. »Und versprich mir eins, Michael, sobald du ihn findest, so gib mir Nachricht. Rufe mich an. Schwöre es mir!«

Michael schwor.

 

13

Michael verließ Lises Haus in großer Beunruhigung. Die ehelichen Zwistigkeiten nahm er nicht allzu ernst. In allen Ehen gab es Differenzen, und in der Ehe seines Bruders hatten sich schon in den ersten Jahren schwere Verstimmungen eingestellt. Zweimal war Lise schon durchgegangen.

Was ihn beunruhigte, ja erregte, das waren Lises Andeutungen über das veränderte Wesen seines Bruders. Wenzel war nie ein leichtsinniger Mensch gewesen, wenn er auch das Leben nie allzu schwer genommen hatte. Er machte sich keine großen Sorgen, in welcher Situation er sich auch befinden mochte. Sein unerschütterlicher Optimismus trug ihn über alle Schwierigkeiten des Daseins hinweg. »Immer Mut! Man muß dem Schicksal nicht aus der Hand fressen!« war sein Wahlspruch. Und es ging immer, um die Wahrheit zu sagen. Mit dem gleichen Optimismus hatte Wenzel den Krieg durchgemacht. »Was soll mir geschehen?« sagte er. »Vielleicht schießen sie mir einen Arm oder ein Bein ab, das ist mir völlig gleichgültig. Mehr können sie mir nicht anhaben.« Und in der Tat, Wenzel trug kaum einige Schrammen in all den vier Jahren davon.

Wenzel hatte »zwei Spezialteufel«, wie er zu sagen pflegte. Der eine war der große Teufel Kohol, der Alkohol, der zweite war der Teufel Karo, der Karobube. Unter den Anfechtungen dieser seiner zwei Teufel hatte Wenzel in gewissen Perioden sehr zu leiden. Der Teufel Kohol verfuhr noch glimpflich mit ihm. Schlimmer war es, wenn er dem Spielteufel verfiel. Er spielte dann Wochen hindurch, er verspielte alles – aber am Schlusse stellte es sich heraus, daß er alle Verluste wieder wettgemacht hatte. »Ein blaues Auge!« Oder: »Zwei blaue Augen!«

Was war nun mit Wenzel geschehen? Hatten seine »zwei Teufel« wieder Gewalt über ihn bekommen? Er schickte Lise Geld, also mußte er entweder im Spiel gewinnen oder auf irgendeine Weise Geld verdienen. Was tat er? Wie lebte er? Michael kannte Wenzels Trotz und Stolz. Er würde eher verhungern als seine, Michaels, Hilfe anrufen, wenn es ihm, wohlgemerkt, wirklich schlecht ging.

Ja, sonderbare und merkwürdige Dinge waren das. Er verlor die Stellung bei Raucheisen, machte Geschäfte mit einem Bekannten, schickte Geld – aber mied Lises Haus. Was war das?

Auf jeden Fall beschloß Michael nun, Wenzel zu »suchen«, und doch hatte er noch vor einer Viertelstunde über die merkwürdige Zumutung seiner Schwägerin lächeln müssen.

»Eine sonderbare Aufgabe,« sagte er, während er rasch dahinschritt. »Ich könnte eher eine Stecknadel in einem Haufen Spreu finden. Aber trotzdem tausend gegen eins steht, wollen wir es versuchen. Nur eine Frau kann solch einen Einfall haben.«

Er nahm ein Auto und befahl dem Chauffeur, ihn zu sämtlichen Weinstuben und Restaurants in der Nähe des Gendarmenmarktes zu fahren.

Schon in der fünften Weinstube stieß er zu seiner größten Verwunderung auf die Spur seines Bruders. Der Oberkellner, an den er sich wenden wollte, kam ihm rasch, mit diensteifriger Miene, mit den Worten entgegen: »Herr Hauptmann Schellenberg ist noch nicht hier.«

Michael war so verblüfft, daß er kein Wort hervorbrachte. Der Oberkellner indessen versicherte, daß ihm die frappante Ähnlichkeit sofort aufgefallen sei. »Ich dachte im ersten Augenblick, der Herr Hauptmann selbst trete ein.«

Ob er wisse, wo sein Bruder sich zur Zeit etwa aufhalten könne?

Der Kellner sann nach. »Wenn ich mich recht entsinne, so verabredete er sich zu einer Partie Schach mit Herrn Hauptmann Mackentin, und zwar, wenn ich mich nicht täusche, im Café Thielscher oder im Café Philipp. Thielscher ist gleich in der Nähe. Das Café Philipp liegt bei der Börse.«

Es wäre doch wahrhaftig wie ein Wunder! dachte Michael und kroch, angeregt von dem Abenteuer, ins Auto.

 

14

In der Tat saß Wenzel Schellenberg zu dieser Stunde im Spielsaal des Cafés Philipp. Er saß mit einem steinernen Gesicht da und starrte auf das Schachbrett, eine tiefe Falte zwischen den Brauen. Wenzel war leidenschaftlicher Schachspieler, ganz wie Michael. Das Spiel faszinierte ihn. Es war fast wie eine Schlacht, Kampf von Gewalten, deren Stärke mit jeder Änderung der Position wechselte. Tag und Nacht konnte er vor dem Schachbrett sitzen, und noch nach Wochen war er imstande, besonders interessante Partien aus dem Gedächtnis nachzuspielen.

Wenzel gegenüber saß Hauptmann Mackentin, mit schmalem, hohem Kopf und grauen Schläfen. Die Nase dieses Herrn stand auffallend schräg im Gesicht. Im Munde hielt er eine Zigarre in der Richtung der Abweichung der Nase, so daß die Nase noch um vieles schiefer im Gesicht zu stehen schien. Dieser Herr blinzelte zuweilen mit einem leisen Lächeln in Wenzels steinernes Gesicht. Er hatte dunkle, rasche, kluge und verschlagene Augen. (Ratte hatte ihn Lise genannt!) Am gleichen Tisch saß in respektvoller Haltung ein wenig abseits vom Schachbrett ein junger, unbedeutend aussehender Mann mit blondem Scheitel und jugendlich roten Bäckchen, wie ein kleiner Leutnant in Zivil.

Trotz der späten Nachmittagsstunde war das Kaffeehaus noch ziemlich dicht besetzt. Aus allen Winkeln stieg dicker Zigarrenrauch empor. Die Börse war heute außerordentlich lebhaft und fest gewesen. Die meisten Effekten waren gestiegen, man erwartete eine Belebung der Geschäfte. Die Erregung der Börse zitterte noch in allen Gesprächen nach.

Wenzel lehnte sich in den Sessel zurück, trank ein Gläschen Wermut und biß die Spitze einer großen Zigarre ab, ohne die Augen auch nur einen Moment vom Schachbrett zu entfernen. Der Herr mit der schiefstehenden Nase hob zwinkernd die dunklen, raschen Augen zu ihm und ließ ein kleines Lachen hören.

»Sie täuschen sich, lieber Freund,« sagte Wenzel. »Sie überschätzen die Stellung dieses Springers, und ich werde es Ihnen beweisen. Die Partie wird aber noch zwei Stunden dauern. Wir wollen sie morgen fortsetzen, wenn Sie nichts dagegen haben, Mackentin.«

Der Herr mit der schiefen Nase erklärte sofort mit einer kleinen Verbeugung sein Einverständnis.

Wenzel wandte sich hierauf an den jungen Mann, der bescheiden nebenan saß und sich augenblicklich etwas steifer aufrichtete, als Schellenbergs Blick auf ihn fiel. »Und nun zu Ihrem Walde, Herr von Stolpe. Es ist eine Sache, die mich sehr interessiert, eine sehr interessante Sache. Was meinen Sie, Mackentin?«

»Mein Vetter kam zufällig wieder einmal nach Berlin und erzählte mir von der Angelegenheit. Ich dachte sofort, daß Sie Interesse dafür haben würden.«

»Also Sie glauben, daß der Wald unter Umständen zu kaufen wäre? Wie groß, sagten Sie?«

Der junge Mann rückte etwas näher und begann mit etwas dünner, knabenhafter Stimme über den Wald zu berichten: es war ein Wald in der Nähe der Oder, soundso groß, der Wald gehörte dem Staat. Die Forstverwaltung hatte beschlossen, den Wald abzuholzen und das Terrain unter Umständen zu verkaufen, konnte sich aber nicht entschließen, die vorliegenden Angebote zu akzeptieren. Ein Vertreter des Raucheisen-Konzerns habe lange Unterhandlungen geführt, zuletzt aber seien alle Unterhandlungen gescheitert.

»Der Vater meines Vetters bekleidet eine einflußreiche Stellung in der Forstverwaltung,« warf Mackentin ein.

»Sie deuteten es mir an,« unterbrach ihn Wenzel. »Also Raucheisen kam nicht zum Ziel?«

»Nein, er hat zu wenig geboten.«

Wenzel lächelte spöttisch: »Raucheisen bietet immer zu wenig. Ich kenne ihn. Sagten Sie nicht, daß der Wald an die Oder grenzt?« Er nahm ein Notizbuch aus der Tasche und begann sich Notizen zu machen. »Fünfhundert Hektar, sagten Sie?«

»Der springende Punkt, Schellenberg,« warf Mackentin mit leicht schnarrender Stimme ein, »der springende Punkt scheint mir der zu sein: Die Forstverwaltung will das Terrain nur abgeben, wenn es zu Zwecken verwandt wird, die der Allgemeinheit der ganzen Provinz sozusagen wiederum zugute kommen.«

»Ich verstehe, Mackentin,« erwiderte Wenzel mit einem leisen Lachen. »Wann kehren Sie zurück, Herr von Stolpe?«

»Ich werde morgen zurückfahren.«

»Fahren Sie morgen mit Ihrem Vetter, Mackentin, und sehen Sie sich den Wald an.«

»Sehr wohl.« Mackentin verbeugte sich.

»Sehen Sie zu, ob das Gelände sich zu Industrieanlagen eignet, und klopfen Sie dann bei den hohen Herren an. Sagen Sie« – wieder erschien das leise Lächeln auf Wenzels Lippen –, »sagen Sie, wir beabsichtigen auf dem Gelände große Industrieanlagen zu schaffen, die den Handel der Provinz günstig beeinflussen würden. Wenn man den Wunsch haben sollte, sich zu beteiligen, so sei dagegen natürlich nichts einzuwenden.«

»Ausgezeichnet, sehr wohl.«

»Vielleicht können Sie auch vorschlagen, daß wir ein Stickstoffwerk auf dem Gelände errichten, das den ganzen Osten mit Stickstoff versorgen soll. Machen Sie ein ausführliches Exposé, so daß wir völlig fertige Vorschläge unterbreiten können. Wir können später ja immer noch tun, was wir wollen. Und was die Zahlungen anbetrifft, drei bis sechs Monate Ziel.«

»Sehr wohl,« antwortete Mackentin.

»Und Sie, Herr von Stolpe,« wandte sich Wenzel an den jungen Mann mit den roten Bäckchen und sah ihm mit einem klaren, festen Blick in die Augen. Sein Gesicht erschien in diesem Augenblick fast hart. »Was fordern Sie als Provision für den Fall, daß das Geschäft perfekt wird?«

Der junge Mann wurde tiefrot.

Wenzel lachte laut heraus: »Man sieht, daß Sie aus der Provinz kommen. Geschäft ist Geschäft!«

Hier griff Mackentin ein. »Mein Vetter verlangt natürlich keine Provision, lieber Schellenberg,« sagte er. »Er wäre dagegen glücklich, wenn er eine Anstellung hier in Berlin bekäme.«

»Schön! Entwerfen Sie den Vertrag, Mackentin. Ich bitte Sie, Herr von Stolpe. Worte kann man vergessen. Die Welt schwankt in diesen Tagen.«

Die beiden Herren erhoben sich.

»Ich spreche Sie heute noch, Mackentin. Es kann etwas spät werden. Und noch etwas – einen Augenblick – es fiel mir etwas ein – noch etwas,« wiederholte Wenzel zerstreut. Sein Blick schweifte durch den Raum des Kaffeehauses. Er war bei seinen letzten Worten völlig unsicher geworden, als habe ihn plötzlich das Gedächtnis verlassen. Irgend etwas hatte ihn verwirrt, und doch wäre er nicht imstande gewesen zu sagen, was es war. Diese Gesichter, die um die Tische herum saßen, kannte er fast alle. Seit zwei Jahren bewegte er sich unter diesen Gesichtern. Sie saßen in den Direktionszimmern der Konzerne, der Banken, der Filmgesellschaften, stürzten sich mit ihren Aktentaschen in ihre Autos hinein. Sie waren immer auf der Jagd von einer Konferenz zur andern, hatten nie Zeit, arbeiteten bis in den späten Abend, um ihre Nerven in der Nacht in irgendeinem Spielklub aufzupeitschen. Vielen von ihnen sah man es bereits deutlich an, daß sie nicht mehr mit fünf, sechs Stunden Schlaf auskamen. Die trockene Luft der Dampfheizung und der Zigarrenrauch der Konferenzzimmer hatten sie vernichtet.

Ja, alle diese Gestalten waren seinem Blick vertraut, jede, er kannte ihre Gewohnheiten, ihren Gang – plötzlich aber war unter ihnen eine Gestalt von völlig verschiedener Haltung aufgetaucht. Von einer gelassenen, ruhigen, sicheren Haltung, und diese Gestalt, die er nur dann und wann zwischen den unruhigen Köpfen und den hin und her eilenden Kellnern undeutlich sah, absorbierte auf eine völlig rätselhafte Art seine Aufmerksamkeit so vollkommen, daß ihm die Worte entfielen. Und plötzlich stand über diesen unsteten Gesichtern, die er seit zwei Jahren um sich sah, ein ganz anderes Gesicht: ein Gesicht der Ruhe und Sammlung, mit einem höchst merkwürdigen und feinen Lächeln. In der Tat, es war sein Bruder.

»Mein Bruder!« rief Wenzel leise aus und erhob sich freudig erschreckt.

In diesem Augenblick sah ihn Michael und kam mit einem frohen Lächeln auf ihn zu. »Ah, da bist du ja!« rief Michael erfreut aus und drückte Wenzels Hand.

»Mein Bruder Michael, meine Herren,« sagte Wenzel, und sein dunkles Gesicht wurde vor Erregung um eine Schattierung dunkler. »Ich habe Ihnen von ihm erzählt. Er ist seinerzeit mit dem Stickstoffwerk Logan in die Luft geflogen, aber es hat ihm, da er ein Schellenberg ist, weiter nicht geschadet. Er ist eine der ersten wissenschaftlichen Leuchten unseres Landes.«

»Oh, ich weiß, ich weiß sehr wohl,« schnarrte Mackentin mit einer etwas steifen Verbeugung, »ich bin sehr wohl informiert. Ihr Bruder erzählte häufig von Ihnen.«

»Da hörst du es!« warf Wenzel ein und lachte.

»Und zwar mit einer gewissen Schwärmerei, die man selten findet unter Geschwistern. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Doktor Schellenberg.«

»Wie kommst du hierher?« fragte Wenzel, nachdem die beiden Herren sich verabschiedet hatten. Erst jetzt schien ihm das Merkwürdige dieses Zusammentreffens aufzufallen.

»Ich war bei Lise, ich wollte dich besuchen.«

Sofort verfinsterte sich Wenzels Gesicht. »Oh,« sagte er. »Ich verstehe.«

Schon bei dem ersten Blick in das Gesicht seines Bruders hatte Michael erkannt, daß mit Wenzel eine Veränderung vorgegangen war. Wenzels Gesicht hatte früher stets ein gutmütiges, spöttisches Lächeln gezeigt. Dieses Lächeln war verschwunden. Das Gesicht war verschlossen, der Blick kalt, und wenn Wenzel lächelte, so war es nicht das leichte, gutmütige, spöttische Lächeln von früher, es war ein flüchtiges, zerstreutes Lächeln, das urplötzlich wieder erstarrte.

»Du hast nichts vor, Michael? Nun, das ist prächtig. Höre, wir haben uns lange nicht gesehen, wir werden einen herrlichen Abend zusammen verbringen und einander ganze Romane erzählen. Komm jetzt, ich werde dich in eine ganz wundervolle Schlemmerkneipe führen. Der Koch war früher bei einem russischen Großfürsten in Stellung.« Mit einer scheuen Zärtlichkeit legte er Michael den Arm um die Schulter, während sie das Kaffeehaus verließen.

 

15

Wenzel war offenbar hocherfreut über das unerwartete Wiedersehn mit dem Bruder. Während sie gingen, legte er den Arm noch fester um Michael. Sein verschlossenes Gesicht löste sich, seine Augen glänzten.

»Wir wollen das Wiedersehen ordentlich feiern, Brüderchen!« rief er aus, nachdem sie in der Ecke eines kleinen, feierlichen Restaurants Platz genommen hatten. »Was für eine wundervolle Überraschung ist das! Nicht für die schönste Frau Berlins würde ich dich austauschen. He, Kellner, wo bleibt ihr so lange? Seht ihr nicht, daß ich einen erlauchten Gast mitgebracht habe?«

Der Kellner verneigte sich vor Michael. Dann harrte er, diensteifrig, den Notizblock in der Hand, in einer Haltung, die Achtung vor dem hohen Trinkgeld ausdrückte. Hinter dem kunstvoll aufgebauten Büfett dienerte der Küchenchef mit seiner hohen weißen Mütze.

»Frische Oderkrebse sind eingetroffen, Herr Hauptmann.«

»Bitte, Wenzel, ich bin gewöhnt, sehr einfach zu essen,« warf Michael ein.

»Du wirst essen, was ich dir vorsetze, und es nicht bereuen. Oderkrebse, sagen Sie?« Wenzel nahm das Einglas aus dem Auge, das er zum Studium der Speisekarte eingeklemmt hatte, und blickte Michael an. »Hörst du? Glaubst du an Vorbedeutungen? Erst vorhin sprach ich mit den beiden Schafsköpfen, die ich dir im Café vorstellte, von der Oder, in ganz besonderer Angelegenheit. Na – also gut, mein Freund, Oderkrebse.«

»Ein halbes Dutzend?«

Nun lachte Wenzel, daß sein starkes Gebiß blitzte. »Ein Dutzend natürlich! Wofür halten Sie uns? In der Brühe gekocht, und dazu, hören Sie, ein Glas von dem alten Sherry, den nur die Stammgäste bekommen. Du mußt wissen, Michael, das Etablissement hat den Weinkeller eines bankerott gewordenen früheren Staatsministers aufgekauft. Kostbarkeiten! Diese Leute waren noch Kenner, das muß man sagen. Also mit den Krebsen bist du einverstanden?«

»Einverstanden, meinetwegen. Seit Jahren habe ich allerdings keine Krebse mehr gegessen.«

»Um so besser werden sie dir schmecken. Aber nun weiter. Sie können einstweilen die Krebse bestellen,« wandte er sich an den Kellner, der mit einer Verbeugung verschwand. »Aber nun höre weiter,« fuhr Wenzel fort. »Sie haben hier ein Konsommee mit Spargelköpfen, ein Tropfen nur, herrlich. Gut, angenommen. Und dann sieh hier, Michael, Forellen, Bachforellen. Wie wäre es damit?«

»Was willst du noch alles bestellen?« fragte Michael.

»Noch alles?« Wenzel lachte. »Aber höre, es beginnt ja erst. Nun kommen die schweren Kaliber. Alles Bisherige war nur leichtes Schützenfeuer, um den Feind zu reizen. Notieren Sie, Kellner. Brathühner mit diversen Salaten, Kalbsrücken mit Champignons. Keinen Widerspruch, Michael. Hierauf Pfirsich-Melba, und dann Käse. Sodann eine Schwadron Schnäpse. Zuletzt Kaffee – aber Sie kennen meinen Geschmack: so stark, daß sich ein Toter im Sarge überschlägt. Den Sekt haben Sie kaltgestellt? So, das wäre erledigt.« Wenzel lehnte sich behaglich in den Sessel zurück. »Du lebst wohl sehr bescheiden auf Sperlingshof, Michael?«

»Ich lebe wie ein Bauer.«

»Prächtig siehst du aus! Braun wie das Brot, das aus dem Backofen kommt! Es ist wunderbar, wie ein Bauer zu leben,« fuhr Wenzel mit einem leichten Seufzer fort. »Zuweilen jedenfalls. Aber auf die Dauer ist es langweilig, sehr, sehr langweilig. Für mich jedenfalls wäre es nichts mehr. Zur Zeit wenigstens. Ich brauche Unruhe, Lärm, Abwechslung – ah, da sind ja die Krebse schon! Und der Sherry! Sieh ihn dir an – die Reliquie eines Weins. Und nun, Michael, laß uns in aller Ruhe genießen. Erzähle mir, wie es dir geht. Erzähle mir von Sperlingshof und deinen Plänen! Du hast gewiß noch die alten Pläne – wie ich dich kenne?« Wenzel zeigte sein altes, gutmütig spöttisches Lächeln und kniff ein Auge zu.

»Natürlich! Ich sehe nun die Lösung in voller Klarheit vor mir!« erwiderte Michael eifrig. »Gerade jetzt bin ich dabei, den Arbeitsausschuß zusammenzustellen. Manche Enttäuschung, viel begeisterte Zustimmung –«

Wenzel schüttelte den Kopf. »Unverbesserlich bist du!« sagte er und zerriß knackend einen Krebs.

»Unverbesserlich? Weshalb sagst du –?«

»Nun, nun – stoße dich nicht an meinen Worten, Michael. Du hast deine Ansichten – ich die meinen. Ich bin zur Zeit etwas skeptisch allen derartigen Dingen gegenüber. Ich sehe die Menschen mit andern Augen an – aber nichts davon! Später wollen wir ja über alles sprechen. Hörst du – über alles! Erzähle, sprich. Ich habe heute zehn Stunden lang gesprochen und bin etwas abgespannt. Erzähle vorläufig nur von dir, ich höre zu.«

Michael berichtete, während sie speisten. Seine Arbeit, seine Versuche, sein »großer Plan«. Seine Augen strahlten, und die Röte färbte ihm das Gesicht. Er konnte nicht von seiner Arbeit und von seinem »großen Plan« sprechen, ohne augenblicklich Feuer und Flamme zu werden.

Plötzlich unterbrach ihn Wenzel, der nur zerstreut zuzuhören schien. »Übrigens, wie hast du mich eigentlich gefunden?« fragte er.

Michael lächelte verlegen. »Ein Zufall! Man hatte mir gesagt, daß du in den Lokalen in der Nähe des Gendarmenmarktes zu verkehren pflegst.«

»Man?« Wenzel runzelte die Stirne und sog eifrig an einer Krebsschere. Er schwieg eine Weile. »Und so hast du dich also auf den Weg gemacht?« fragte er dann spöttisch.

»Es war gar nicht schwer, dich zu finden, so wunderlich es auch scheinen mag.«

Wenzel schüttelte den Kopf. »Nur du kannst so etwas fertigbekommen. Aber sprich weiter. Ich interessiere mich für all diese Versuche, wenn ich auch wenig oder nichts davon verstehe. Ich war Offizier und nur auf mechanische Arbeit gedrillt. Was kann diese berühmte Bodenfräse?«

Michael setzte eifrig auseinander, daß diese Fräse den Boden auf fünfzig Zentimeter Tiefe mit kleinen Messerchen zerschnitt, so daß der Boden rigolt wurde, besser als es ein Gärtner mit dem Spaten je vermöchte, vom Pfluge gar nicht zu sprechen.

»Sehr interessant!«

Michael fuhr fort. Er sprach von Methoden, die geeignet waren, die landwirtschaftliche Produktion zu verdreifachen, zu verfünffachen. »Ich habe zum Beispiel eine Wiese angelegt, nur fünf Morgen, die künstlich beregnet wird. Diese Wiese liefert mehr Futter, als eine gewöhnlich bewirtschaftete Wiese von zwanzig Morgen hervorbringt.«

Wenzel hob den Blick und lächelte. »Du läßt also regnen,« sagte er. »Du läßt den Weizen auf der flachen Hand wachsen? Wie teuer kommt dich das Gras zu stehen?«

»Vorläufig ist es ja noch etwas teuer, zugegeben.«

Wenzel brach in lautes Lachen aus. »Du bist ja ein ausgezeichneter Wirtschafter!« rief er aus.

»Es sind Versuche, mißverstehe mich nicht.«

»Verzeihe, daß ich lachte, Michael. Du weißt, ich verstehe von all diesen Dingen nicht das geringste.«

»Weshalb hast du mich nicht auf Sperlingshof besucht, Wenzel? Du hattest es ja versprochen.«

Wenzel ließ die Gabel sinken. »Ich hatte es versprochen, ja,« sagte er. »Oh, mein Gott, was habe ich nicht alles versprochen im Frühjahr und Sommer? Aber siehst du, ich hatte keine Zeit. Nicht eine Stunde bin ich von Berlin weggewesen, es sei denn in Geschäften.«

»Ich habe es sehr bedauert, daß du nicht Wort halten konntest. Vieles würde dich interessieren. Meine Versuchsfelder, meine Kalt- und Warmhäuser. Es ist eine ungeheure Arbeit, aber sie belohnt sich. Ich habe die überraschendsten Erfolge erzielt, eine fast tropische Vegetation.«

Hier lachte Wenzel wiederum laut heraus. »Tropisch? In dieser fürchterlichen und von Gott verfluchten Sandwüste! Ah, seht an!«

»Nun,« lenkte Michael ein, »lege meine Worte nicht auf die Goldwage. Tropisch mag ja etwas übertrieben sein. Höre weiter.«

Endlich kam Michael auf seinen »großen Plan« zu sprechen. Die Synthese von Industrie und Landwirtschaft. Industrialisierung des Landbaus. An Stelle der anarchischen Wirtschaftsform eine großzügige Planwirtschaft für das gesamte Reich. Produktive Zusammenfassung aller Kräfte der Nation. Systematische produktive Verwendung freiwerdender oder brachliegender Arbeitskräfte …

Der Kellner servierte die Brathühner und den Kalbsrücken.

Wenzel hörte mit gerunzelter Stirn zu. Dieser »große Plan« Michaels – er erschien ihm verstiegen, ja phantastisch. »Ich fürchte sehr,« unterbrach er Michael, der immer eifriger wurde, »ich fürchte, daß du dich trügerischen Hoffnungen hingibst. Es mag wissenschaftlich sehr interessant sein, zugegeben, aber einen Rat will ich dir geben, Michael, und der kostet dich nichts. Wenn du soweit bist – wenn! –, dann sieh zu, daß du dich möglichst schnell nach Amerika verziehst. Hier, höre, in diesem Deutschland, in diesem Europa überhaupt, ist kein Boden für Reformen und derartige Dinge, die sich nicht sofort bezahlt machen!«

Michael schüttelte den Kopf. »Amerika? Sollte es dort besser sein?«

»Vielleicht. Ich lese zuweilen in den Zeitungen, daß irgendein Millionär, der Zeit seines Lebens das Volk ausplünderte, plötzlich für eine Sache Unsummen stiftet. Hast du hier je so etwas gehört? Wie? Ich bitte dich! Bei den Riesenvermögen, die es hier im Lande gibt? Seitdem es keine Ordenssterne mehr gibt und tönende Titel, halten sie die Taschen noch ängstlicher geschlossen. Nein, glaube mir, Michael, hier ist kein Platz für dich, in diesem Lande und in diesem Europa!« Wenzel wurde dunkel vor Zorn.

»Du scheinst kein besonderes Vertrauen in dieses Europa zu setzen!« Michael lächelte.

»Nein! Wahrhaftig nicht! Sprich mir nicht mehr davon!« rief Wenzel aus, und das Blut stieg ihm abermals ins Gesicht. »Lüge, Heuchelei, Egoismus, nationalistischer Wahnsinn und Größenwahn, das ist heute Europa. Ein materieller und moralischer Trümmerhaufen! Lassen wir das.«

»Höre, Wenzel,« entgegnete Michael mit erhobener Stimme, »wenn Europa so ist, wie du es darstellst, müßte man dann nicht um so mehr bemüht sein, diesen Trümmerhaufen wegzuräumen und Europa neu aufzubauen?«

Mit Genuß verspeiste Wenzel die Pfirsich-Melba, die in einem mattsilbernen Pokal serviert wurde. Er schüttelte den Kopf und sagte ruhig und mit einer nicht ganz echten Gleichgültigkeit: »Wir wollen uns nicht ereifern, Michael. Glaube du, was du willst, und laß mir meinen Glauben. Ich fürchte nur, Michael – du wirst deine Wunder erleben. Ich fürchte es, ich fürchte! Kennst du denn diese Menschen? Nein, sage ich dir, du kennst sie nicht. Ich habe mich nun zwei Jahre mit ihnen herumgeschlagen, und ich weiß heute, wie sie sind.« Mehr und mehr redete sich Wenzel ganz gegen seinen Willen wieder in Zorn. Er fletschte die Zähne, während er die Frucht in den Mund schob. »Für diese Menschen hier, für diese sogenannten Europäer, gibt es nur noch ein Ziel: Geld! Geld! Besitz! Dabei schreien sie immer, die Amerikaner seien Tag und Nacht auf der Jagd nach dem Dollar. Sie sind es, ja zum Teufel, sie selbst sind es! Geld! Und wenn der Staat dabei aus den Fugen geht!« Wenzel lachte zornig auf und schlug mit der Hand auf den Tisch. »So sehen sie in Wahrheit aus, mein Brüderchen, verlasse dich auf mich. Alle diese berühmten Herren in ihren tadellosen Cutaways, Gamaschen und Seidenhüten, einer wie der andere. Für sie gibt es weder Umkehr noch Rettung.«

Michael schüttelte lächelnd den Kopf. »Du kennst nur einen geringen Teil der Gesellschaft, Wenzel,« erwiderte er. »Ich kenne einen ganz anderen Teil. Ich kenne hunderte, die uneigennützig von früh bis spät in ihren Laboratorien und Bibliotheken arbeiten.«

»Nun schön, irgendwo in einem Winkel werden noch solche Käuze hausen. Von dir abgesehen, Michael, habe ich noch nie einen kennengelernt.«

»Sieh zu, Wenzel,« fuhr Michael fort, »wenn es für diese Gesellschaft, wie du glaubst, keine Einsicht gibt, so müßte man trotzdem versuchen, sie vor dem Chaos zu retten, indem man soziale Ausgleiche schafft und eine neue Volksgemeinschaft anstrebt.«

Wenzel lachte zornig auf. »Sie wollen ja gar nicht gerettet werden!« rief er. »Sie fühlen ja nicht einmal, daß der Boden unter ihnen schwankt. Sie wollen auch keinen Ausgleich. Zum Teufel, was für Worte gebrauchst du doch? Sie wollen alles für sich allein, und den anderen gönnen sie nichts. Das allein ist ihre Lebensanschauung! Ah, sieh da, jetzt kommen die Schnäpse.«

Michael aber gab sich nicht so rasch geschlagen. Er werde ihm, Wenzel, die Angelpunkte zeigen, um die sich diese Probleme bewegen, und sofort werde Wenzel begreifen –

Nunmehr gab Wenzel es auf, dem Bruder zu widersprechen. Mit großer Sorgfalt mischte er sich aus drei verschieden gefärbten Likören einen Schnaps zurecht. Dann betrachtete er Michael mit einem gutmütigen, nachsichtigen Lächeln. »Nun gut,« unterbrach er ihn endlich, »glaube, was du willst. Ich für meine Person glaube nicht, daß diese Probleme gelöst werden können. Sie sind zu schwer, zu groß, zu verworren.«

»Sie werden gelöst werden, Wenzel! Trotzdem, trotz alledem!« erwiderte Michael voll Überzeugung und Eifer.

Wenzel sah ihn erstaunt an. Dann lächelte er. »Willst du vielleicht diese Probleme lösen?« fragte er und zwinkerte mit den Augen.

»Ja, ich will sie lösen!« schrie Michael, nun war es an ihm, laut zu werden. »Ich, Michael Schellenberg, dein Bruder!«

Wenzel lehnte sich zurück, und es sah ganz so aus, als wolle er wieder in das laute, sarkastische Lachen ausbrechen, das Michael verletzte. Aber er tat es nicht. Er schwieg eine Weile, dann hob er das Glas und sagte: »Nun schön, Michael, auf deine Gesundheit! Vielleicht, es ist ja nicht unmöglich – löst du in der Tat diese Probleme! Denn du hast etwas, was zu diesen Dingen gehört. Du hast noch die Kraft zu glauben. Ich habe diese Kraft längst nicht mehr.« Seine Hand zitterte heftig, als er das Glas zum Munde führte.

In diesem Augenblick trat der Direktor des Restaurants mit einer Verbeugung an den Tisch, um sich zu erkundigen, ob die Herren mit den Leistungen des Etablissements zufrieden seien.

Michael benutzte die Unterbrechung, um das Versprechen einzulösen, das er Lise gegeben hatte. »Ich habe versprochen zu telephonieren,« sagte er, indem er sich erhob. »Wirst du mich eine Minute entschuldigen, Wenzel?«

 

16

Als Michael zurückkam, saß Wenzel in den Stuhl zurückgelehnt, die Zigarre im Munde, und betrachtete ihn mit einem spöttischen, aber gutmütigen Lächeln. »Nun, was sagte sie?« fragte er, und seine grauen Augen blinkten.

Michael errötete. »Lise läßt dich grüßen,« antwortete er. »Und sie läßt dich bitten, sie anzurufen.«

»Sie wird sich wohl noch etwas gedulden müssen.« Wenzels Brauen zuckten. »Sie hat ja Zeit!«

Michael legte die Hand auf den Arm des Bruders und fügte leiser hinzu: »Und sie läßt dich bitten, zu ihr zurückzukehren. Sie quält sich, Wenzel! Was in aller Welt ist zwischen euch vorgefallen?«

Nun flammten Wenzels Augen auf. Sein Gesicht verdunkelte sich. »Ich werde nie, niemals zu ihr zurückkehren,« sagte er mit großer Bitterkeit in der Stimme. Er schlürfte hastig den Kaffee. »Und nun werde ich dir erzählen, Michael,« fuhr er fort. »Wir haben uns lange nicht gesehen, und in dieser Zeit ist vieles geschehen, vieles! Ich werde dir berichten, wie alles gekommen ist. Lange, viel zu lange sprachen wir uns nicht.«

»Es ist nicht meine Schuld, Wenzel. Du weißt es.«

Wenzel atmete erregt. »Also höre,« begann er, »um mit der einen Sache anzufangen: Ich habe nichts gegen Lise, hörst du? Ich schätze sie, ich achte sie. Ich habe sogar etwas Liebe für sie übrig behalten. Manchmal habe ich sogar Sehnsucht nach ihr – und den Kindern. Trotzdem werde ich nicht zu ihr zurückkehren, nie, nie! Und weißt du weshalb, Michael? Ich werde es dir offen bekennen: weil sie mir im Wege ist.«

»Wie soll ich das verstehen?« fragte Michael. »Sie ist dir im Wege? Lise?«

»Nun, die Worte scheinen doch klar zu sein,« fuhr Wenzel mit einem feindseligen Klang in der Stimme fort. »Sie ist mir im Wege! Sagt das nicht genug? Auch ich habe nämlich meine Pläne, mein Brüderchen, genau wie du. Meine Pläne sind allerdings ganz anderer Art, ganz anderer. Und bei diesen Plänen steht mir Lise im Wege. Das ist alles! Übrigens,« unterbrach er sich, »von diesen Plänen wirst du später erfahren. Du hast ja mit Lise gesprochen. Was hat sie dir über mich gesagt?«

Michael gab einen kurzen Bericht seines Besuches. Er vermied es, dabei den Bruder anzusehen.

Wenzels Augen aber waren forschend auf ihn gerichtet. »Und? Und du verschweigst mir nichts? Hat sie mir nicht Vorwürfe gemacht? Hat sie nicht diese Geschichte mit Raucheisen wieder vorgebracht? Schon errötest du! Hat sie nicht auch Andeutungen gemacht, daß ich inkorrekt gehandelt hätte, sogar ein bißchen – sagen wir – sagen wir es offen: ein bißchen ehrlos?«

»Nicht in dieser Form, keineswegs, Wenzel.«

Wenzel lachte bitter. »Da siehst du es. Sie sollte mich kennen, und sie sollte – wäre das nicht das Selbstverständliche – mich decken, für den Fall, daß irgend etwas vorgefallen wäre. Niemand ist auch nur auf den Gedanken gekommen, daß ich bei Raucheisen irgend etwas Inkorrektes getan hätte. Da fing Lise an, Gerüchte auszustreuen. Irgend etwas müsse da vorgefallen sein! Nun, du hast ja gehört, wie weit sie schließlich gegangen ist. Schließlich hat sie ihrer ganzen Bekanntschaft erzählt, daß ich ein Defraudant sei.«

»Ich beschwöre dich, Wenzel!« fiel ihm Michael ins Wort.

Wenzel hob die große Hand und legte den Kopf zur Seite. »Nun, lassen wir das, es ist nicht wesentlich. Soll sie behaupten, was sie will. Sollen die Leute glauben, was sie wollen. Was kümmert es mich? Es ist mir völlig einerlei. Es ist mir sogar einerlei, wenn sie glauben, daß ich Raucheisens Tresor ausgeplündert habe. Ich bin so weit gekommen, daß ich auf das Urteil meiner Mitmenschen keinen Wert mehr lege.«

Michael schwieg. Welche Bitterkeit, dachte er, was muß mit Wenzel vorgegangen sein?

»Sieh, das mit Lise ist also sehr einfach,« fuhr Wenzel, seine Erregung beherrschend, fort. »Sie ist mir im Wege. Das ist die ganze Erklärung. Ich kann sie nicht brauchen. Sie langweilt mich. Ich bin nicht für die Ehe geschaffen, Michael, und du bist es auch nicht, glaube ich. Du weißt, ich habe Lise seinerzeit entführt. Was würde ich heute dafür geben, wenn es möglich wäre, sie ihrer Mutter wieder zurückzubringen!«

»Das ist häßlich von dir!« rief Michael empört aus.

»Häßlich? Vielleicht! Aber es ist die Wahrheit, und ich habe mir vorgenommen, mit dir offen und aufrichtig zu sprechen. Du sollst dann urteilen. Du magst mich dann selbst verurteilen. Aber nun weiter! Ich habe vom frühen Morgen bis in die späte Nacht bei Raucheisen gearbeitet. Ich stand also sehr früh auf, heißt das, und kam erschöpft nach Hause. Lise pflegt lange liegen zu bleiben und nach Tisch eine Stunde zu ruhen. Da ist es natürlich kein Kunststück, am Abend frisch und munter zu sein. Abends gingen wir aus. Sie schleppte mich zu ihrer langweiligen, hochmütigen Verwandtschaft, in Theater, Konzerte. Das alles kostete Kraft und vor allem Geld. Ich schaffte das Geld herbei, und das Geld zerrann in Lises Händen. Sie verschwendet nicht, aber sie versteht nicht zu wirtschaften. Sie hat auch gar keine Zeit, sich mit diesen lächerlichen Dingen abzugeben. Du weißt, sie ist Sängerin. Sie hat eine sehr hübsche Stimme, und du weißt ja auch, daß ein ‚berühmter Gesangspädagoge‘ ihr prophezeit hat, daß sie Primadonna an der Scala von Mailand werden würde. Ich wünsche ihr viel Glück. Wir Männer haben unsern Beruf und machen nicht viel Aufhebens davon. Aber wenn eine Frau einen Beruf hat, so ist dieser Beruf der Mittelpunkt, um den sich alles dreht, Haushalt, Kinder, alles. Natürlich mußte Lise öffentlich auftreten. Sie hat zwei Konzerte gegeben und immerhin einige Erfolge gehabt. Die Konzerte mußte ich bezahlen. Ich bezahlte den Agenten, den Saal, den Pianisten, die Blumensträuße, mit einem Worte, alles. Das Kleid für die Konzerte kostete mich ein halbes Monatsgehalt. Und dazu die Aufregung! Acht Tage vor dem Konzert ist sie krank. Zwei Stunden vor dem Konzert ist sie vollständig heiser. Der Agent fleht. Und schließlich steht sie strahlend auf dem Podium. Soll sie ihren Weg zur Scala machen, aber soll sie es allein tun und mich nicht verrückt machen! Ich gebe dir einen Rat, Michael, wenn du einmal heiraten solltest, so heirate nie eine Frau mit einem Beruf, und vor allem, heirate nie eine Sängerin. Heirate überhaupt nicht, wenn es dir möglich ist! Denn du heiratest ja nicht die Frau allein, du heiratest ihre ganze Verwandtschaft, du heiratest ihre Gewohnheiten, Fehler, Laster, alles.

Lise hat es immer gut gemeint, ich möchte gar nichts gegen sie sagen, aber es lag an ihrer Erziehung, und es lag an ihrer Anschauung, daß sie mich langsam an Händen und Füßen knebelte. Keine Angst, Michael, es waren keine Ketten, die man meilenweit rasseln hörte, es waren dünne Stricke, ein kleiner Ruck, und ich war frei. Es gibt eben Menschen, die auch nicht einen Bindfaden um den kleinen Finger vertragen, und zu diesen gehöre ich. Verstehst du jetzt, Brüderchen?«

Michael saß lange still. »Ich sollte meinen,« begann er dann nachdenklich, »daß sich doch irgendein Weg finden lassen sollte. Vergiß nicht, da sind auch deine Kinder.«

Wenzel schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht sentimental. Zuweilen habe ich Sehnsucht nach den beiden Kleinen. Aber es vergeht wieder. Auch Kinder sind solche Fesseln, und ich habe mir vorgenommen, alle Fesseln abzuschütteln. Ich sehe schon, daß ich dich mit meiner Erklärung nicht befriedigen kann. Du hast noch immer nicht begriffen, daß es unmöglich ist, unter diesen Verhältnissen einen Weg zu gehen, der die ganze Kraft eines Mannes braucht.«

Michael sah den Bruder mit forschendem Blick an. »Was für ein Weg ist das, von dem du immer sprichst?« fragte er.

»Nun, auch das sollst du hören. Aber wir wollen jetzt eine neue Flasche bestellen. He, Kellner!«

 

17

Die neue Flasche war angekühlt. Wenzel biß die Spitze einer Zigarre ab und steckte sie umständlich in Brand. Dann legte er die Hand auf den Arm Michaels.

»Um alles zu verstehen, Michael, muß ich dir aber meine Geschichte mit Raucheisen erzählen.

Du weißt, wie ich zu Raucheisen kam. Ich glaube, ich habe es dir einmal geschildert. Raucheisens Sohn – er war der einzige Sohn des alten Raucheisen, Otto, und da ist noch seine Tochter Esther, jetzige Lady Weatherleigh, die kürzlich diesen englischen Schiffsreeder geheiratet hat –, also dieser Otto Raucheisen hauste mit mir über ein Jahr in einem Unterstand an der Westfront. Er ist gefallen und starb in meinen Armen. Der alte Raucheisen wünschte Näheres zu hören, und da er einer der Gewaltigen Deutschlands war, so schickte man mich hin, um Bericht zu erstatten. Diese Szene werde ich dir nicht erzählen, vielleicht gelegentlich einmal. Darüber spreche ich nicht gerne. Nun, Raucheisen entließ mich mit den Worten, daß er mir jederzeit zur Verfügung stände, wenn ich einmal irgendeinen Wunsch hätte. ‚Sie haben meinem einzigen Sohn in seiner Todesstunde Beistand geleistet‘, sagte er, ‚ich bin Ihnen für immer verpflichtet‘. Schön, schön.

Der Krieg war zu Ende, und ich saß auf der Straße. Vier Jahre lang hatte ich den Buckel hingehalten, die Heimat mit meinem Leibe gedeckt, wie es so schön hieß, und nun konnte ich krepieren. Da ich nichts gelernt hatte und nichts konnte, so wollte ich in das neue Heer eintreten. Aber Lises Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen. ‚Um Himmels willen, wie kannst du, nie, niemals!‘ Sie würde es nicht überleben. Du kennst sie ja, diese eingebildete Närrin!

Schön, ich fügte mich also dieser albernen alten Frau, die mit ihrem Dünkel ihre ganze Umgebung tyrannisiert. Irgendwo würde sich ja wohl Beschäftigung für mich finden. Ich ging von Pontius zu Pilatus, und überall war man sehr höflich, notierte sich meine Adresse, und ich hörte nichts weiter. Viele meiner Kameraden saßen in herrlichen Stellungen. Ja, zum Teufel, wie waren sie zu diesen herrlichen Stellungen gekommen? Sie saßen die letzten Kriegsjahre in Kriegsämtern, Beschaffungszentralen und allen möglichen Institutionen, wo sie Beziehungen zur Industrie anknüpfen konnten. Ich will nichts dagegen sagen, kein Wort, um Gottes willen, mißverstehe mich nicht, aber sie haben eben diese Beziehungen anknüpfen können, und diese Beziehungen haben sich schließlich prachtvoll verwenden lassen. Siehst du, es gab da zum Beispiel Geheimräte, die die Verhandlungen in der Abfindung der Schiffahrtsgesellschaften zu führen hatten, sie sind heute in leitenden Stellungen bei diesen Schiffahrtsgesellschaften. Das sind, mein lieber Freund, die guten Beziehungen. Auf deine Gesundheit!

Also ich hatte keine Beziehungen, und da ich ebensowenig wußte und konnte wie die andern, so kam ich nirgends an. Schließlich, nachdem Lises Briefe immer jämmerlicher wurden und immer flehender, schließlich tat ich das, was Lise und ihre Mutter von vornherein als das Selbstverständliche empfohlen hatten: nämlich, ich wandte mich an den alten Raucheisen. Du kannst meine Gründe verstehen, weshalb ich es nicht gerne tat. Sein Sohn war zufällig in meinen Armen gestorben, und dafür sollte ich – nun, es war nicht meine Sache. Aber schließlich gab ich auch in diesem Punkte nach. Du kannst beobachten, daß ich bisher in allen Punkten nachgegeben habe – nun, das ist jetzt zu Ende.

Ich schrieb also an Raucheisen, und zu meinem größten Erstaunen antwortete er mit wendender Post. Drei Tage später war ich mit einem glänzenden Gehalt engagiert. Ich sage offen: glänzend, denn meine Leistungen waren anfangs gleich Null. Ich wurde zu einem von Raucheisens Sekretären abgerichtet. Punkt einhalb acht Uhr mußte ich anwesend sein. Um sechs Uhr steht Raucheisen auf. Es kommt der Masseur, der Friseur, der Bademeister. Der Kammerdiener kleidet ihn an, und ein Viertel vor sieben sitzt Raucheisen am Frühstückstisch, und ein Viertel nach sieben trägt ihn der Wagen in sein Bureau. Wir Sekretäre harren auf das Klingelzeichen des Gebieters. Wir haben zu erinnern, zu notieren, wir sind lebendige Terminkalender. Wir führen Unterhandlungen mit den einzelnen Direktoren und Abteilungschefs, wir notieren, erstatten Bericht. Es war ein infernalischer Dienst, mit einem Wort.

So verlief mein Leben anderthalb Jahre lang. So lange, mein lieber Michael, dauerte es also, bis ich begriff – kannst du dir denken, was ich begriff –?«

Ohne Michaels Antwort abzuwarten, fuhr Wenzel fort: »Du kannst es dir nicht denken, Michael, also will ich es dir offen sagen – bis ich begriff, daß ich ein vollendeter Narr war! Wie alle andern Sekretäre und Direktoren, die sich um die Sonne Raucheisen drehten. Viele von diesen Narren haben es heute noch nicht begriffen und werden es nie begreifen.«

»Ja, weshalb warst du denn ein Narr?« fragte Michael.

Wenzel brach in ein lautes Gelächter aus. »Weshalb?« erwiderte er, indem er die Gläser auffüllte. »Das sollst du gleich erfahren. Ein Narr war ich und dazu noch ein unwürdiger und lächerlicher Narr! Bei meiner Vorstellung hatte sich Raucheisen meiner natürlich noch erinnert und sich die Mühe genommen, mit mir fünf Minuten zu plaudern, mit einem etwas geheuchelten Interesse zwar, aber immerhin mit einem menschlichen Ton in der Stimme. Er hat mir nie verziehen, daß er weinte – was ist natürlicher? –, als ich ihm den Tod seines Sohnes schilderte. Und doch, dieser Otto Raucheisen hat mich durch und durch mit Blut getränkt, und ich mußte ihm Mut zubrüllen, weil er so schreckliche Angst vor dem Tode hatte. Doch das gehört nicht hierher. Fortan aber war ich für Raucheisen ein Automat wie alle seine Mitarbeiter. Er sah mich von dieser Zeit an kaum noch an. Er hatte eine leise, etwas belegte Stimme, aber er sprach nur so leise, um Kraft zu sparen. Er ist das verkörperte Prinzip der Ökonomie der Kräfte. Da saß er also, der kleine alte Mann, etwas zusammengekrümmt, wachsgelb von seinem Leberleiden, eine gelbe, mattglänzende Glatze mit Wölbungen und Buckeln. Du hast ihn nie gesehen?«

»Nein.«

»Er hat den Kopf eines Römers, in heller Bronze gegossen. Tiefe Augengruben, eine Hakennase, breite, satte Lippen mit tiefen Rissen. Die Unterlippe ist besonders breit und besonders satt. Aber vielleicht ist das mit dem Bronzekopf übertrieben. Man könnte auch sagen, sein Kopf sei in Wachs modelliert, und wenn er die breiten Lippen öffnet, so sieht man kleine Zähne, Puppenzähne, und seine Augen sind wie kleine grüne Glaskugeln, scharf und ängstlich, fast feige. Nein, Michael, er ist jemand, glaube es mir, und wenn ich abfällig über ihn urteile, so mußt du manches abstreichen, denn ich – hasse ihn! Das war er also: Johann Karl Eberhard Raucheisen, dem ein Fürstentum unter der Erde gehört und ein Fürstentum über der Erde. Vor dreißig Jahren hatte er das horizontale Prinzip der Vertrustung begonnen, seit zehn Jahren war er zum vertikalen Prinzip übergegangen. Erst hatte er nur Eisen und Kohle. Dann produzierte er alles, vom Dampfkessel bis zum Rasiermesser. Und heute hat er seine eigenen Dampfer, um seine Produkte zu befördern. Der Konzern ist so groß, daß niemand imstande ist, ihn mit allen seinen Verzweigungen zu überblicken – aber Raucheisen tut es! Ich habe heute noch die größte Bewunderung für ihn, trotz allem. Es gibt keinen zweiten Kopf wie ihn in ganz Deutschland.«

»Wie hast du dich mit ihm verstanden?«

»Eigentlich sehr gut. Ich war ja ein Automat, und unser Verkehr vollzog sich ohne jede Reibung. Langsam aber begann ich den alten Mann zu hassen. Ich haßte seine Kälte, oft saß er da, klein, in sich zusammengezogen, ganz Eis und Gefühllosigkeit. Ich haßte seine menschliche Teilnahmlosigkeit. Zu welchem Zwecke arbeitete dieser alte Mann vom frühen Morgen bis in die späte Nacht? Es galt, dieses große Werk zu verwalten. Gut. Aber weshalb vergrößerte er es fast täglich? Und langsam begriff ich, daß nicht er das Werk dirigierte, sondern das Werk ihn. Er war ein Sklave dieser unheimlichen Maschinerie geworden, die er aufgebaut hatte. Ich fühlte seinen Geiz in allen, auch den kleinsten Dingen. Dieser Geiz war entsetzlich. Ich fühlte seine Habgier. Und ich begriff endlich, daß er gar nicht der Idee diente, dieses Werk zu verwalten, sondern daß es sein einziges und wahres Ziel war, Geld zusammenzuraffen. Und das ist die Wahrheit! Und als ich dies begriffen hatte, haßte ich ihn noch mehr!

Ein einziges Mal, da verriet er sich. Du wirst wissen, daß er wie ein Rasender aufkaufte, mit Krediten der Reichsbank, die er mit entwertetem Gelde zurückzahlte. Ganze Komplexe, Walzwerke, Gruben bekam er fast umsonst. Bei einer großen Transaktion, wo er einen beträchtlichen Teil seines Vermögens einsetzte, wagte einer der Finanzdirektoren einzuwerfen, daß doch der Tag kommen könne, da die Mark plötzlich steigen werde. Raucheisen schüttelte den Kopf und lächelte. Er lächelte nur sehr selten und dann das Lächeln eines eitlen alten Mannes, und dann sah man seine kleinen, schmalen Zähne, die ich hasse. ‚Die Mark wird sinken, bis sie in Atome zersplittert ist,‘ sagte er. ‚Es gibt keine Macht der Welt, sie aufzuhalten, ich weiß es. Ich weiß es seit‘ – nun höre, Michael, seit wann er es wußte! Mit einem triumphierenden Lächeln sagte er: ‚Ich weiß es seit der Marneschlacht und habe danach meine Finanzpolitik eingerichtet.‘«

»Sagte er das wirklich? Oh, wie schändlich!«

»Michael, ich begriff es vorerst nicht! Aber dann begriff ich es, und dann verstand ich es. Seit der Marneschlacht spekulierte er auf das Fallen der Mark. Während ich Narr noch da draußen im Dreck herumlag, während wir uns alle noch in Fetzen schießen ließen, war dieser alte Mann schon längst an der Arbeit, aus unserm sicheren Untergang Geld zu machen.

So kam es, daß ich ihn von Tag zu Tag mehr haßte. Einmal geschah es, daß ich zehn Minuten zu spät kam. Er blickte auf die Uhr und sagte, ohne mich anzusehen: ‚Sie sind zehn Minuten zu spät.‘ Ich erwiderte: ‚Der Wagen wurde aufgehalten.‘ Daran antwortete er nichts mehr, und dieses Schweigen war viel beleidigender als irgendwelche Vorwürfe. In diesem Augenblick fühlte ich ganz das Entwürdigende meines Automatendaseins. Ich fühlte die Unverfrorenheit, die Kälte, die Härte, die scheinbar selbstverständliche Unverschämtheit, die der Reichtum einzugeben scheint.

Ich fühlte, so geht es nicht weiter. Und schon damals – verstehe mich recht –, schon damals begann ich meine Maßnahmen zu treffen. Ich hatte es satt, mich täglich beleidigen und demütigen zu lassen. Der Haß trat mir in die Augen, wenn ich den alten Mann nur ansah. Aber siehst du, er beachtete mich ja gar nicht.

Ein halbes Jahr später hatte ich verschlafen und kam fünfzehn Minuten zu spät. Nun mußt du wissen, daß ich fast anderthalb Jahre bei Raucheisen war und im ganzen acht Tage Urlaub gehabt hatte. An diesem Tage sagte Raucheisen nichts. Ich empfand deutlich die Kälte, die er ausströmte. Am nächsten Tage wurde ich in eine andere Abteilung versetzt. Er hatte kein Wort gesprochen, er hatte sich nicht von mir verabschiedet. Das setzte allen Kränkungen die Krone auf.

Aber die Ungnade des alten Mannes war mein Glück. In dieser Abteilung hatte ich viel mehr Zeit, viel mehr Sammlung, und ich konnte meinen Schlachtplan ausarbeiten. Nun sollst du weiter hören, und es wird dir Vergnügen machen. Aber erst wollen wir den Musikern ein Glas schicken!«

Eine kleine russische Kapelle war in das Restaurant gekommen und hatte zu konzertieren begonnen. Wenzel beorderte den Kellner und ließ der Kapelle Erfrischungen schicken. »Sie sollen das Wolgalied spielen!« Und, schon spielten und sangen die Russen das Wolgalied.

»Höre!« rief Wenzel aus. »Das ist ein Lied! Höre zu, dieses Lied berauscht mich, und ich höre es immer in meinen Ohren, seitdem ich unterwegs bin.«

Michael zog die Uhr und berichtete Wenzel etwas verlegen, daß er Lise versprochen habe, bis elf Uhr telephonisch Nachricht zu geben. »Willst du ihr nicht irgendein gutes Wort durch das Telephon sagen, Wenzel?« bat Michael den Bruder.

Wenzel schüttelte nur heftig den Kopf. Er brauste nicht mehr auf, der Wein hatte ihn schon versöhnlicher und milder gestimmt. Aber er blieb halsstarrig. Michael wagte einen neuen Versuch. Lise sei vorhin am Apparat so außerordentlich erregt gewesen, daß er aufs äußerste erschrocken sei. Lise habe erklärt, daß sie die Nacht nicht überleben würde, wenn Wenzel nicht nach Hause käme. Sie habe gedroht, sich aus dem Fenster zu stürzen.

Nun stieg Wenzel das Blut ins Gesicht. Er beherrschte sich jedoch, sein Atem ging schwer. »So soll sie sich meinetwegen aus dem Fenster stürzen!« sagte er, und sein Mund war hart und brutal. »Möchten doch alle Menschen in die Hölle gehen, die ihre Mitmenschen mit diesen feigen Drohungen quälen!«

Michael stand auf. »Nun, ich werde ihr irgendein Wort sagen, um sie zu beruhigen. Zum Beispiel, daß du sie morgen anrufen wirst.«

»Sage, was du willst,« sagte Wenzel, schon wieder etwas ruhiger.

 

18

Schweren Herzens forderte Michael die Verbindung. Es gab nichts Peinlicheres für ihn, als Notlügen gebrauchen zu müssen. Lieber Himmel, was sollte er der unglücklichen Lise nur sagen? Er würde ihr also erzählen, daß sie einträchtig beisammen säßen, daß er Wenzel versöhnlicher gestimmt habe und morgen bei ihr vorsprechen werde, um ihr über alles zu berichten, daß er – aber, siehe da, Lise war gar nicht zu Hause.

»Gnädige Frau ist ausgegangen,« sagte das Mädchen.

»Sie ist nicht zu Hause?«

»Nein, sie ist bei Major Puchmann und kommt erst gegen zwölf Uhr zurück.«

Michael atmete auf.

Das Wolgalied hatte stürmischen Applaus. Wenzel war aufgestanden und trank der russischen Kapelle mit einer begeisterten Geste zu.

»Spielt es nochmals!« schrie Wenzel den Musikern zu. Er hatte leuchtende Augen. »Welch ein Lied, Michael! Höre doch.«

Die Kapelle spielte das Lied abermals.

»Lise ist bei Major Puchmann,« berichtete Michael, als die Kapelle geendet hatte.

Wenzel lachte laut heraus. »Siehst du!« rief er. »So sind die Frauen! Man darf sie nicht zu ernst nehmen. Ach, wir wollen sofort eine neue Flasche bestellen. He, Kellner!«

»Und nun, Wenzel, erzähle weiter,« sagte Michael, nachdem der Kellner die neue Flasche gebracht hatte. »Du sagtest vorhin, dieses Lied klänge in deinen Ohren, seitdem du unterwegs bist. Unterwegs? Was heißt das? Ein merkwürdiger Ausdruck!«

Wenzel nickte. »Ja,« erwiderte er, »seitdem ich unterwegs bin. Du mußt nämlich wissen, daß ich schon seit Monaten unterwegs bin!«

»Also sprich deutlicher! Was tust du, was willst du? Was hast du vor?«

»Was ich vorhabe, Michael? Ich werde es dir mit einem Worte sagen!« Wenzel sah Michael mit starren, glänzenden Augen an. »Ich bin unterwegs, ein Raucheisen zu werden,« sagte er dann.

Michael begriff nicht. »Ein Raucheisen?«

»Ja, ein Raucheisen!«

Michael sah den Bruder verblüfft und völlig verständnislos an. »Ist es wirklich dein Ernst?« sagte er. »Was heißt das, ein Raucheisen zu werden?«

»Was das heißt? Mißverstehe mich nicht. Nicht einer von jenen kleinen Raucheisen, wie es Dutzende gibt, sondern ein wirklicher Raucheisen. Wenn er es vermocht hat, weshalb soll ich es nicht können? In dieser Zeit des wirtschaftlichen Chaos ist alles möglich.«

Michael war noch immer fassungslos. »Aber ich verstehe nicht, was für einen Sinn soll es haben, was für einen Zweck? Sagtest du vorhin nicht selbst –«

Aber Wenzel unterbrach ihn: »Ein Raucheisen, weißt du, was das bedeutet? Es bedeutet absolute und letzte Unabhängigkeit! Ich will, siehst du, um es kurz zu sagen, auch endlich zu den Leuten gehören, die auf den Knopf drücken, und dann kommen die Sekretäre herein, und die Autos fahren vor. Ich habe keine Lust mehr, als Automat behandelt zu werden und andern Leuten den Narren zu machen. Wozu? Ein schönes Leben, schöne Dinge, Pferde, Automobile, Wein, Frauen, Reisen.«

Michael schüttelte den Kopf. »Aber ist dies ein Ziel?« fragte er. »Kann dies einen Lebensinhalt bilden?«

»Lebensinhalt? Ziel? Was für große Worte. Ich bin kein ägyptischer Pharao.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Wäre ich ein ägyptischer Pharao, so würde ich mir sagen: Es ist einerlei, wie lange und auf welche Weise ich lebe – in meiner Pyramide werde ich ewig leben. Aber ich habe keine Ewigkeit vor mir. Wenn ich tot bin, ist alles zu Ende. Ich bin nicht dünkelhaft genug, um an ein ewiges Leben zu glauben. Fünfzig, sechzig Jahre, und in dieser Zeit muß alles vollendet sein. Alle denken so, heute, mehr oder weniger bewußt. Daher unsere Eile – Schnellzüge, Schnelldampfer, Flugzeuge. Um aber diese fünfzig, sechzig Jahre vollzufüllen, vollzufüllen bis zum Rand, Michael, dazu brauche ich Geld, Geld! Habe ich Geld, so habe ich alles: Freiheit, Gesundheit, die Erde, die Sonne, Schönheit, Liebe – alles andere ist Unsinn.«

Michael war erbleicht. Er schüttelte ganz verstört den Kopf. »Wie töricht, wie töricht,« wiederholte er fast zornig. »Wenzel! Sprachst du nicht selbst vorhin voller Verachtung –?«

»Verstehe mich recht, Michael. Ein Ziel muß der Mensch haben, und wenn es auch nicht gerade ein erhabenes Ziel ist. Was ich soeben sagte, ist meine Philosophie, und danach will ich handeln. Verächtlich oder nicht, das ist mir gleichgültig. Ich habe nicht die Gabe, mich für eine Idee zu begeistern wie du. Ich habe auch, offen gestanden, keinen Glauben an die Menschen mehr.«

»Keinen Glauben an die Menschen mehr?«

»Glauben? Haß, Verachtung, das ist alles, was mir blieb. Oh, ich verabscheue sie. Ich habe ihre Feigheit, Grausamkeit, Eitelkeit, ihren Geiz, ihre Habsucht, Albernheit und ihren schmutzigen Egoismus zur Genüge kennengelernt. Ich glaube auch nicht mehr an sogenannte Ideale. Siehst du, so völlig bankerott bin ich, Michael. Ganz wie diese Zeit und diese Welt, in der alles bankerott geworden ist, Glaube, Wissenschaft, alles.«

»Täusche dich nicht,« warf Michael sofort eifrig ein. »Keineswegs ist der Glaube bankerott. Fühlst du nicht, daß in allen Herzen ein neuer Mystizismus erwacht? Und die Wissenschaft? Der Materialismus ist bankerott, nicht sie. Die Wissenschaft ist soeben in eine neue Epoche eingetreten, die glänzender sein wird als alle vergangenen.«

»Sei es,« entgegnete Wenzel, »du kannst recht haben. Aber du kannst mich nicht überzeugen! Du kannst rufen, so laut und so lange du willst, ich höre und verstehe dich nicht mehr, Bruder. So wahr es ist, daß du der einzige Mensch bist, den ich liebe und achte, so wahr ist das, was ich sage.« Wenzel deutete auf sein Herz. »Hier liegt ein Toter. Er steht nicht mehr auf,« sagte er etwas pathetisch.

Es war nicht so sehr das Bekenntnis Wenzels, das Michael erschütterte, es war der verzweifelte, zynische Ton, in dem er es vorbrachte. »Nun bedaure ich es noch mehr,« sagte er, »daß du mich nicht auf dem Land besucht hast, vielleicht wärst du dort auf andere Gedanken gekommen.«

»Wie konnte ich denn?« erwiderte Wenzel. »Bedenke, mein Ziel reizt mich ebenso, wie dich das deine reizt. Es lockt, und ich kann nicht mehr widerstehen. Es ist zu spät, Michael. Ich bin auf dem Absprung! Hörst du? Ich bin auf dem Absprung. Mehr noch: ich bin schon abgesprungen! In die Leere – in das Nichts vielleicht. Ich weiß, daß es kein großes Ziel ist. Trotzdem! Ob ich zurückkehre und wie ich zurückkehre, wer weiß es? Komm, und nun sollst du etwas sehen, Michael!«

Hastig brach Wenzel auf.

Vor dem Restaurant stand eine elegante, schwarzlackierte Limousine. »Steige ein,« sagte Wenzel mit einer fast knabenhaften Freude über Michaels verblüfftes Gesicht.

»Ist es dein Wagen?« fragte Michael.

»Natürlich ist es mein Wagen. Anders geht es nicht.«

Der Wagen hielt vor einem Bureaugebäude in der Wilhelmstraße. »Folge mir,« sagte Wenzel, und zögernd kam Michael hinterher. An einer Tür stand nichts geschrieben als »Schellenberg«. Ein Diener öffnete, und Wenzel führte Michael durch eine Flucht großer Arbeitsräume voller Schreibmaschinen und Bureaumöbel. Alles war völlig neu. Man roch noch Lack und Farbe.

»Das alles hier ist Schellenberg,« sagte Wenzel mit einem fröhlichen Lachen. »Wir haben diese Räume erst vor einer Woche bezogen. Vorher hauste ich in ein paar Löchern in einem Hof, ganz im Geheimen, sozusagen.« Wenzel öffnete eine Tür und führte Michael in ein sehr bescheiden eingerichtetes Schlafzimmer. Neben der eisernen Bettstelle stand ein Stuhl mit einem Telephonapparat. »Das hier sind meine Privatgemächer,« erklärte Wenzel. »Vorläufig, Bruder, vorläufig nur. Wir wollen sehen, ob ein Schnaps zu finden ist. Ah, siehst du, hier. Ich bitte dich herzlich, Michael, ein Gläschen wollen wir noch trinken, bevor die große Reise weitergeht.«

Michael staunte noch immer. »Was tust du eigentlich?« fragte er den Bruder. »Was für eine Firma hast du? Wie hast du dies alles geschaffen?«

Gerade auf diese Frage hatte Wenzel gewartet. Hätte Michael nicht gefragt, so hätte er von selbst davon zu sprechen begonnen. »Was ich tue?« fragte er und ging, die Hände in den Hosentaschen, auf und ab. »Ich kaufe, ich verkaufe. Ich fing damit an, die Holzladung eines viertausend Tonnen großen finnischen Dampfers zu kaufen. Es war Grubenholz, das der Raucheisenkonzern aus irgendeinem Grunde nicht abgenommen hatte. Ich erfuhr es und kaufte das Holz auf eigene Rechnung. Ich verkaufte die Ladung zwei Wochen später, ohne sie je gesehen zu haben. So fing es an.«

»Hattest du denn Geld?« unterbrach ihn Michael.

Wenzel lachte. »Geld? Ich hatte kein Geld, aber ich hatte Kredit. Damals war ich ja noch bei Raucheisen. Es gab Bankfirmen, die auf meine Vermittlung, Empfehlung und Freundschaft angewiesen waren. Eine einzige Information von meiner Seite konnte ein kleines Vermögen bedeuten.«

»Ah, jetzt fange ich an, zu begreifen.«

»Ich habe, höchst einfach, meine Verbindungen mit dem Raucheisenkonzern benutzt, wie andere ihre Verbindungen benutzten. Es ist vielleicht nicht vollkommen – wie soll ich sagen – honorig, aber ich habe mir diese feinen Unterschiede längst abgewöhnt. Dann kaufte ich ein kleines Bergwerk im Anhaltischen, um es nach einem Monat wiederum an einen Holländer zu verkaufen. Es war ein großes Geschäft, das mir die nötige Anfangsgeschwindigkeit gab, und doch habe ich dafür nicht einen Pfennig Geld ausgegeben. Ich habe das Bedürfnis, mich dir mitzuteilen, Michael, und so will ich dir nicht verhehlen, daß dieses Bergwerk Raucheisen angeboten war. Raucheisen zögerte. Ich kam ihm zuvor und ließ das Bergwerk rasch durch meine Bank ankaufen. Nun brauchte ich Raucheisen nicht mehr. Ich kündigte meine Stellung. Nicht er hat mich entlassen, ich entließ ihn! Das kannst du Lise sagen! Und so ging es weiter. Ich lieh Geld und arbeitete damit, ganz wie andere es machen, ganz wie Raucheisen es macht. Zur Zeit spezialisiere ich mich auf Papierfabriken.«

Michael erhob sich. »Nun gut, ich wünsche nur, daß du es nicht bereust.«

»Schön, dann also lebe wohl! Unsere Wege werden sich wohl vorläufig etwas trennen, so fürchte ich.«

»Ich fürchte es,« antwortete Michael und blickte zu Boden.

»Warte, halt!« rief Wenzel und ging an einen Schreibtisch. »Ich will dir etwas sagen, Michael. Du kannst vielleicht Geld brauchen, für deine Pläne, und ich habe gerade Geld. Nimm es. Wie gesagt, mein Gewissen ist noch nicht ganz so abgestumpft wie das anderer Geschäftsleute. Zuweilen ist es noch ein bißchen beunruhigt. Ich möchte mich sozusagen freikaufen mit diesem Scheck, von gewissen sozialen Verantwortungen, und du tust mir einen großen Gefallen, wenn du ihn annimmst.«

Es war ein Scheck von außerordentlicher Höhe.

»Schön,« sagte Michael. »Ich nehme den Scheck, denn ich gebrauche ja das Geld nicht für mich. Gut, gut, und nun lebe wohl!«

Die Brüder reichten sich die Hände und sahen sich in die Augen. Oh, es hatte keiner Angst vor dem andern, und keiner wich um einen Millimeter zurück.

»Den Wagen!« rief Wenzel dem Diener zu.

»Danke,« antwortete Michael. »Ich gehe zu Fuß. Lebe wohl!«

Und er ging mit der Trauer im Herzen, seinen Bruder verloren zu haben.

 

19

Was Georg Weidenbach in den ersten Wochen nach seiner Abfahrt von Berlin da draußen auf dem Lande erlebte, schien ihm gleich verwunderlich wie das sonderbare Haus in der Lindenstraße.

Er meldete sich in der kleinen Stadt, die man ihm bezeichnet hatte, und hier schickte man ihn in ein Dorf, Dobenwitz, etwa eine halbe Wegstunde entfernt. Die Nacht sank schon über das flache, öde Land, als Georg, erschöpft und vor Kälte zitternd, Dobenwitz zu Gesicht bekam. Bei den ersten Hütten holte ihn ein klingender, mutiger Schritt ein. Ein junger, breitschultriger Mann in einer gestrickten Wolljacke trat dicht an ihn heran und blickte ihm unter den Hut.

»Zur Arbeitsstelle?« fragte er mit einer hellen, freundlichen Stimme, die augenblicklich Georgs Vertrauen gewann. »Nun, so gehen wir zusammen.« Der breitschultrige junge Mann in der Wolljacke war munter und gesprächig. Er erzählte, daß er Schlächter sei, Moritz mit Vornamen, aber es seien elende Zeiten. Seit Monaten sei er ohne Arbeit, obschon er sich die Beine krumm gelaufen habe. »Was willst du?« rief er aus. »Niemand hat Geld, um Fleisch zu kaufen. Die Schlachthöfe sind verödet. Wo sie früher dreitausend Stück antrieben, da treiben sie heute keine fünfhundert an. Da hast du es!«

»Was für eine Arbeit wird man uns hier geben?« fragte Georg, von der Munterkeit des Gefährten ermutigt.

Das wußte Moritz nicht. Es war ihm auch völlig gleichgültig, wenn es nur Arbeit war. Steineklopfen oder Erde karren, einerlei, immer noch besser, als auf der Straße zu liegen. Er hatte nur gehört, daß sie hier außen einen Kanal bauten. Allerdings, um ganz ehrlich zu sein, großes Vertrauen hatte er zu dieser Sache nicht! Etwas stimmte da nicht oder –? Er schob die Mütze ins Genick und kratzte sich den Kopf. Dann entwarf er von diesem Unternehmer Schellenberg kein sonderlich günstiges Bild. Er bezahle nur ein Viertel der Löhne in bar und die übrigen drei Viertel in Versprechungen. »Ha? Wie? Aber was solle man tun? Besser als auf dem Pflaster verrecken. Was bleibt uns armen Hunden übrig?«

Das Dorf lag dunkel und verlassen im Regen. Keine Seele weit und breit, nicht einmal ein Hund schlug an. Das letzte Haus aber zeigte ein matterleuchtetes Fenster. Ein Schatten ging vor dem Hause auf und ab. Georg roch den Rauch von Tabak.

»Arbeitsstelle?« schrie der Schlächter.

»Richtig!« antwortete eine klare Stimme, und der Schatten trat in den Lichtschein. Es war ein noch ziemlich junger schlanker Mann, der eine Pfeife in der Hand hielt. Trotz der Dunkelheit sah Georg, daß er nur einen Arm hatte. »Noch zwei!« rief der junge Mann mit komischer Verzweiflung aus. »Sie senden mir mehr und mehr, der Teufel soll sie holen! Was soll ich mit euch anfangen? Nun, es wird gehen, es muß gehen. Tretet ein!«

Das kleine Haus war eine Art Scheune. Im Lichtschein einer Talgkerze, die auf den Tisch geklebt war, unterschied Georg eine Anzahl von Gestalten, die auf dem Stroh lagen und offenbar schliefen. Ein großer breitgebauter Mann lehnte mit dem Rücken gegen die Wand und starrte sie mit großen fiebernden Augen an, ohne ein Wort zu sprechen und ohne eine Miene zu verziehen. Einer drehte sich im Stroh herum und erwiderte mürrisch ihren Gruß. Woher waren sie alle gekommen, und welches Schicksal hatte sie hierher in die Einöde geführt? Wie lange fieberten die Augen dieses Mannes schon, bis er den Weg nach Dobenwitz gefunden hatte?

Der Einarmige öffnete die Türe und sagte halblaut: »Ich habe nur ein Stück Brot heute abend. Ich war auf euch nicht eingerichtet. Nehmt es aus dem Tisch! Es ist mein Brot, aber ich gebe es euch gern. Und nun gute Nacht, Kameraden!«

Georg erinnerte sich, daß das Unternehmen sich verpflichtete, die Arbeiter zu verpflegen.

»Das also nennen sie Verpflegung,« sagte der Schlächter und schnitt das Brot in zwei Teile. »Hier, nimm! Wenn sie uns morgen nicht besser füttern, laufe ich nach Berlin zurück.«

Dann warf sich Moritz kauend ins Stroh, und bald schlief er ein.

Georg suchte sich ebenfalls einen Winkel und streckte die zerschlagenen Glieder aus. Hinter der Wand rasselte eine Kette, eine Kuh schnob. Das Talglicht erlosch, und nun war es ganz dunkel. Trotzdem konnte Georg sehen, daß der Einarmige ohne Pause vor dem Hause auf und ab ging, wie ein Wachposten. Zuweilen stoben Funken aus seiner Pfeife.

Dobenwitz? Und was soll all das bedeuten? Betäubt von der frischen Luft und ermüdet von der Reise fiel Georg in einen unruhigen Schlaf, die ganze Nacht hindurch von schrecklichen Träumen gemartert. Er empfand es als Wohltat, daß er am Morgen all diese entsetzlichen Träume, in denen auch Christine eine Rolle spielte, völlig vergessen hatte.

 

20

»Aufstehen und fertig machen zur Arbeit!« rief die helle Stimme des Einarmigen, und die Schläfer fuhren aus dem Stroh. »Auch dich meine ich, Kamerad,« fügte er hinzu und zog den Schlächter am Bein. »Immer munter, Kinder!«

Das Frühstück bestand aus warmer Milch und Schwarzbrot.

»Es wird schon besser, siehst du,« lachte der Schlächter und stieß Georg an.

Vor dem Hause wartete auf der Straße ein kleiner Bauernwagen mit einem schmutzigen Schimmel. Der Wagen war beladen mit Sägen, Äxten, Spaten und allerlei Gerät.

»Fahr nur voraus!« rief der Einarmige dem Bauern zu, der auf dem Wagen saß. »Du kennst ja den Weg.« Und der Schimmel setzte sich in Bewegung.

Mißmutig, verschlafen, verstört und vergrämt setzte sich die Rotte von Männern in Bewegung. Sie waren im ganzen zwölf, mit dem Einarmigen, der langsam hinter ihnen herging, dreizehn.

Der Regen hatte etwas aufgehört, und die Felder dampften. Es schien dürftiger Boden zu sein. In dem schiefergrauen, riesenhaften Himmel war ein heller Fleck von noch kälterer grauer Färbung. Dort hinten, irgendwo hinter meilendicken Nebelwänden, mußte sich die Sonne befinden.

Vor ihnen lag ein großer Wald, in den die schmale, schlechtgehaltene Landstraße schnurgerade hineinführte. Offenbar war dieser Wald ihr Ziel. Aus den Äxten und Sägen konnte man auf die Arbeit schließen, die man ihnen zuweisen würde.

Ohne ein Wort zu sprechen trotteten sie dahin. Der große breitgebaute Mann mit den fiebernden Augen, der Georg am Abend aufgefallen war, ein Zimmermann, schwankte zuweilen beim Gehen. Nach etwa einer halben Stunde hatten sie den Wald erreicht, und nach einer weiteren halben Stunde schien es, als ob sie im Herzen eines unendlichen Waldes angekommen wären. Der Einarmige befahl Halt, und der Wagen blieb stehen.

»Abladen!« kommandierte der Einarmige. Niemand rührte sich. Alle standen sie und starrten den Wagen an. Der Einarmige lachte laut heraus. »Seid ihr denn eine Gesellschaft von Narren? Habt ihr noch nie einen Wagen abgeladen? Munter, Kinder, munter. Ich heiße Lehmann und verstehe keinen Spaß!« Aber er lachte, als er diese Warnung aussprach.

»Dahin! Dorthin!« kommandierte Lehmann mit seiner hellen Stimme zuweilen. Er ging langsam auf der schmutzigen Straße hin und her, sog an seiner kurzen Pfeife und lächelte vor sich hin, das zarte Gesicht in die Höhe gerichtet, Regentropfen auf den Augen und auf den frischen roten Wangen. Dann – der Wagen war fast entladen – ging er ein Dutzend Schritte in den Wald und deutete auf einige eingeschlagene weiße Pfähle. »Hier, wo die Pfosten stehen, soll der Schuppen Nr. 1 stehen!« rief er. »Das Unterholz zuerst weg, dann die Bäume. Spaten, Äxte!« Plötzlich blickte er Georg ins Gesicht. »Leiten Sie das Abholzen,« sagte er zu ihm. »Das Material für den Schuppen kann jeden Augenblick kommen, und wir kommen in die Nacht hinein.« Laut schrie er über die Kolonne hinweg: »Wir kehren heute nicht mehr ins Dorf zurück! Munter, Kinder! Arbeitet, damit wir heute Nacht unter Dach kommen!«

Unter Dach kommen? Wie stellte er sich das vor?

Und wieder ging Lehmann auf der schmutzigen Landstraße auf und ab, zwanzig Schritte vor und zwanzig Schritte zurück, und rauchte. Nur zuweilen setzte er sich auf einen Stein, um die Pfeife zu stopfen. Er klemmte sie zwischen die Knie, stopfte den Tabak mit dem Daumen hinein, dann nahm er die Streichholzschachtel zwischen die Knie, strich das Streichholz an und setzte die Pfeife in Brand.

Schon kam Moritz mit einer Axt. Er hatte die Ärmel der Wolljacke hinaufgestülpt, herausfordernd sah er eine Fichte an. Die Muskeln seines Nackens schwollen an, und schon hieb er den Stamm, daß die Späne flogen.

»Was für ein Schuppen soll hierherkommen?« fragte ein kleiner Krummbeiniger mit großem Schnauzbart, Schlosser seines Zeichens, und blickte Georg hilflos an.

»Rede nicht, arbeite!« antwortete ihm Moritz an Georgs Stelle. »Was kümmerst du dich um Dinge, die dich nichts angehen?«

Blaugefroren und zitternd vor Schwäche leitete Georg die Arbeit, die Axt in der Hand. An den eingeschlagenen Pflöcken konnte er erkennen, daß der erste Schuppen etwa zwanzig Schritt lang und zehn Schritt breit werden sollte. Einige Schritte davon entfernt war ein zweiter Schuppen von etwa dreifacher Größe abgesteckt und daneben ein dritter von der gleichen Größe.

»Was soll hier geschehen?« fragte der kleine krummbeinige Schlosser hartnäckig.

»Offenbar sollen wir den Wald abholzen,« antwortete Georg.

Der Schlosser warf einen verzweifelten Blick in die Kronen der hohen Föhren und Fichten empor und schüttelte den Kopf.

Unterdessen war der Wagen völlig abgeladen, und Lehmann gab dem Bauern Instruktionen. Er möge sofort einen Boten ins Depot schicken und sagen lassen, er, Lehmann, lasse die ganze Gesellschaft verfluchen – aber der Einarmige fluchte gar nicht, sondern er lächelte ganz freundlich –, lasse die ganze Gesellschaft verfluchen, wenn man nicht sofort die Autos mit dem Material für den Schuppen sende. Sie säßen hier im Regen. »Radfahrer brauche ich, Boten!« Und der Teufel soll sie holen, wenn das Material nicht heute noch eintrifft. »Du aber,« sagte er zu dem Bauern, »siehst zu, daß du möglichst schnell den Proviant herbringst. Meine Leute müssen essen. Also nun los, mein Freund, und laß deinen Renner laufen.«

Moritz stieß Georg den Ellenbogen in die Seite. »Was sagte ich dir!« rief er. »Es sind die richtigen Ausbeuter! Höre nur, wie der kleine Leutnant kommandiert, wir werden hier nichts zu lachen haben.« Der Schlächter arbeitete, daß ihm der Schweiß über das breite gutmütige Gesicht lief. Nach monatelanger Untätigkeit berauschte er sich an der Arbeit.

Eine Zeitlang hatte der hellgraue Fleck da oben über den finsteren Kronen einen lebhafteren Glanz angenommen. Es waren schon einzelne blendende Flecke sichtbar geworden, und Georg hatte gehofft, die Sonne würde endlich durchbrechen. Nun aber begann es wieder zu regnen. Es war nicht niedergehender Nebel wie vorher, es regnete in dünnen Schnüren. Und plötzlich pfiff der Wind, und es begann zu graupeln und zu schneien. Im Augenblick war der Wald weiß.

Der Zimmermann mit den fiebernden Augen, der, die großen Hände auf den Knien, teilnahmlos auf einer Kiste saß, begann vor Kälte zu zittern. Man fluchte und schimpfte. Welche Schweinerei und was für eine verrückte Arbeit! Der Teufel solle diesen Schellenberg und die ganze Bande holen! Georg fühlte, wie sich sein ganzer Körper mit einer Eisschicht überzog. Der Schlächter in seinem Wollkittel aber lachte. »Das bißchen Wasser? Schämt euch, was für Kerle seid ihr!«

»Und wo sollen wir schlafen heute nacht? Auf dem nassen Boden?«

»Schurken sind das! Schleppen uns mitten in den Wald, damit wir hier krepieren!«

»Und wie steht es mit dem Futter?«

Ein junger Mann mit feindseliger Miene warf die Axt hin und spie aus. »Ich bin kein solcher Narr!« rief er aus und ging mit schnellen wütenden Schritten davon. Bald war er außer Sicht.

»Laßt den Langen ruhig nach Berlin zurücklaufen!« lachte Moritz. »Die Bauern werden die Hunde auf ihn hetzen!«

Da tauchte Lehmann im Schneegestöber auf der Landstraße auf. »Der Schuppen kommt!« schrie er laut.

Und in der Tat, auf der Landstraße, inmitten des Schneegestöbers, kamen zwei mächtige Lastautos mit Balken und Brettern angefahren. Auf diesen Balken und Brettern standen zwei verwegene Burschen, halbnackt in der Kälte, herkulisch gebaut, die reinen Athleten. Diese verwegenen Burschen schrien schon, bevor die Autos standen, und begannen augenblicklich Balken und Bretter hinunterzuwerfen.

»Seht ihr, so wird bei uns gearbeitet,« sagte Lehmann mit triumphierendem Lächeln.

Die Balken und Bretter waren mit Nummern und farbigen Zeichen versehen, und die verwegenen Burschen dirigierten das Abladen.

»Die roten Zeichen dorthin und die grünen dorthin!« Es konnte ihnen nicht schnell genug gehen. Trotz des Schneegestöbers lief allen der Schweiß vom Gesicht, und schon setzten sich die Autos wieder in Bewegung.

»Wohin fahrt ihr?«

»Nach Glücksbrücke!«

»Geht es dort vorwärts?«

»Sie wollen die Häuser noch aufstellen, bevor der Frost kommt!«

Die Häuser aufstellen? Was für ein sonderbarer Ausdruck!

»Grüßt den Chef!«

Schon waren sie verschwunden. Augenblicklich wurde der Bau des Schuppens in Angriff genommen.

»Zurücktreten!« brüllte der Schlächter, genau wie die Stationsbeamten schreien, wenn ein Schnellzug heranbraust. Er balancierte auf der Schulter einen schweren Balken, den zwei Mann kaum tragen konnten. Seine Blicke nach links und rechts heischten Bewunderung.

Lehmann hatte sich eine neue Pfeife angezündet und gab klar und ruhig seine Befehle. Der Schuppen war bis ins kleinste vorgearbeitet und brauchte nur aufgestellt zu werden.

Nun ging es plötzlich. Die Teilnahmlosigkeit und Gleichgültigkeit war verschwunden. Alle griffen eifrig zu. Die Arbeit hatte plötzlich Sinn und Ziel. Es galt ein Obdach für die Nacht zu schaffen.

In der Kolonne befand sich ein alter Maurer, dem das Alter die Beine krummgezogen hatte. Er war in großer Erregung. Verzweifelt ging er hin und her und suchte bei den Kameraden Gehör zu finden. Endlich hielt er es nicht mehr aus und trat zu Lehmann, der ihn ruhig anhörte, ohne den Blick von der arbeitenden Kolonne zu wenden.

»Fundamente?« sagte er endlich. »Lieber Freund, wozu sollen wir Fundamente mauern, der Schuppen ist ja nur provisorisch.«

Selbst der Große, Bleiche, der Zimmermann, hielt es auf seiner Kiste nicht mehr aus. Er kroch heran und setzte sich auf einen Baumstamm, um wenigstens zuzusehen. Die Sehnsucht, mitzuarbeiten, brannte in seinen kranken Augen. Schließlich erhob er sich, um mit anzupacken.

»Bleiben Sie weg!« rief Lehmann. »Werden Sie mir erst gesund!« Und den andern schrie er zu: »In einer Stunde ist es Nacht. Schlagt ein Dach zusammen! Ein paar provisorische Wände gegen den Wind. Hier sind Bretter, Äxte, Nägel. Und dann Feierabend, Schluß für heute. Zündet ein Feuer an! Was für Narren seid ihr! Hier ist Holz in Fülle, und ihr friert!«

Ein Feuer! Herrliche Idee! Weshalb war niemand auf diesen Gedanken gekommen? Einer blickte den andern an, zitternd vor Kälte und blau gefroren.

Im Nu flammte das Feuer auf, Späne, Äste. Es lohte mächtig in der Dunkelheit, und eine beizende dicke Rauchwolke stieg bis in die Kronen der Bäume empor.

»He, du da auf deiner Kiste!« rief der krummbeinige Schlosser, »komm hierher und wärme dich!«

Wärme, die die durchnäßten Kleider trocknete. Schon entspannten sich die bleichen, mürrischen Gesichter. Glühende Äste sprangen durch die Luft, und die brennenden Tannenzweige verbreiteten einen erfrischenden, starken Geruch. Dieses Dasein im Walde, das vor ein paar Stunden unmöglich schien und Trostlosigkeit in allen Herzen erweckte, es erschien nun schon erträglicher, fast wie ein Abenteuer.

 

21

Plötzlich war es Nacht geworden. Eine feindselige, kaltblinkende Finsternis, und aus dieser Finsternis, die erschrecken konnte, tauchte plötzlich ein gespenstisch flammendes Pferd, ein scheinbar riesiger, glühender Schimmel, im Feuerschein auf. Der Bauer war zurückgekehrt mit Stroh und Proviant.

»Ist hier jemand, der etwas vom Kochen versteht?« fragte Lehmann.

Ein dünnbeiniger hagerer Mann, mit mächtiger Hakennase, trat vor. Ein Kellner, der früher, wie er behauptete, auf den großen Ostasiendampfern Dienst gemacht habe.

»Nun gut, nehmen Sie die Sache in die Hand.«

Der Kellner zog den Rock aus und fing augenblicklich an mit großer Gewandtheit zu wirtschaften. Kartoffeln, Erbsen, geräucherte Wurst. Schon dampfte der Kessel, und es dauerte nicht lange, so war die Mahlzeit fertig. Die Blechgeschirre in der Hand, hockte die Arbeitskolonne um das Feuer. Wie das schmeckte! Gierig schlangen sie die Mahlzeit hinunter, manche verbrannten sich Lippen und Mund.

Ohne Gnade enthüllte der grelle Schein des Feuers die Abgezehrtheit und Blässe der Gesichter, die fahlen Wangen mit den Hungerfurchen, die Lumpen, die den Körper bedeckten. Fast alle starrten ins Feuer, die Gedanken weit von hier, während sie die Mahlzeit aus den Blechgeschirren löffelten. Fiebernde Augen, andere stumpf verkrochen in die Höhlen, ohne Blick, als scheuten sie sich, noch mehr zu sehen von dieser Welt. Augen, entzündet von Entbehrungen, gerötet von ungeweinten Tränen, Augen, deren Blick unstet irrte, Augen, angefüllt mit Angst und Schrecken. Und alle starrten ins Feuer, und jedes Auge sah in der Flamme ein anderes furchtbares Bild: bettelnde Kinder, hungernde Frauen, frierende alte Leute, Kranke, die auf Lumpen lagen. Gesprochen wurde nicht, kaum daß dann und wann eine Bemerkung fiel. Man war müde, verstimmt, argwöhnisch und ohne Hoffnung.

Georg, vor Erschöpfung fiebernd, sah sich die Gefährten genauer an. Da war zuerst Moritz, der Schlächter, dessen stahlblaue Augen lebenslustig sprühten, breit, mit Muskeln bepackt, ein untersetzter Boxer. Er lächelte vor sich hin und strich zuweilen sein kleines helles Schnurrbärtchen, das zu knistern schien. Er war der einzige, der ohne Sorge war. Da war der dünnbeinige Kellner, dessen große Hakennase einen mächtigen Schatten über das bläulich-weiße hohlwangige Gesicht warf. Unaufhörlich nagte er an der Lippe, als quäle ihn ein und derselbe Gedanke. Seine pechschwarzen Rattenaugen flackerten unruhig. Da war der bleiche große Zimmermann mit den groben Händen und den glühenden Fieberaugen. Er berührte kaum das Essen. Da war der kleine krummbeinige Schlosser mit dem großen Schnauzbart. Er hieß Heinrich. Er konnte nicht eine Minute auf einem Platz stillsitzen. Immer erhob er sich wieder, um Zweige zu brechen und sie ins Feuer zu werfen. Neben ihm kauerte der alte Maurer, ein kleiner Mann, mit fahlem Greisengesicht. Seine Augen tränten. Er hatte über den Schädel einen alten breitkrempigen Hut gestülpt, der offenbar einmal auf einem Maskenball mitgewirkt hatte. Rings um die Krempe waren noch Spuren einer Pleureuse zu sehen, die einstmals herumgenäht war und schlecht abgetrennt wurde.

Da war noch ein älterer Mann, in einen langen geflickten alten Soldatenmantel gewickelt. Der Schlächter titulierte ihn »Herr General«. Er hatte mächtige Brauen, wie Vogelfedern. Sein eckiger Schädel war völlig kahl, aber sein Bart, wenn auch dünn, reichte bis auf die Brust. Irgendein gestrandeter Krämer oder Handwerker. Er war nahezu eingeschlafen und schwankte in seinem grauen Soldatenmantel hin und her. Da war ein junger Mann mit einem Diebsgesicht und abstehenden großen Ohren, die im Feuerschein lackrot glühten. Er trug eine Hose und ein zerfetztes Hemd und sah grüngefroren aus, trotzdem er sich so dicht ans Feuer gesetzt hatte, daß seine zerrissenen Stiefel dampften. Da waren noch ein paar nichtssagende Gesichter, ein Kriegskrüppel mit einem Glotzauge.

Das also waren die Gefährten, die ihm das Geschick zugewiesen hatte. Jeder dieser Männer war vom Schicksal getroffen, sonst säße er nicht hier in der Finsternis des Waldes. Die einen waren verbraucht, und die Wirtschaft hatte keinen Platz mehr für sie, andere waren nicht mitgekommen und gestrandet, andere ein Opfer der wirtschaftlichen Krisis. So saßen sie also und starrten ins Feuer und wälzten ihr Schicksal in ihrem Kopf hin und her, ohne es fassen zu können.

»Wenn man nur wüßte, was hier gebaut werden soll?« fragte der kleine alte Maurer mit dem breitkrempigen Hut.

Niemand antwortete, sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Endlich sagte der Schlosser: »Du siehst doch, daß der Wald umgeschlagen werden soll.«

»Aber wenn er umgeschlagen ist, so muß doch etwas hier gebaut werden.«

»Es wird eine Kirche gebaut werden, damit du es weißt!« warf Moritz dazwischen.

Der Alte kicherte kindisch. »Eine Kirche!« rief er aus. »Wer wird hier mitten im Walde eine Kirche bauen? Du bist ja ein ganz Kluger! Mitten im Walde!«

Damit war das Gespräch zu Ende, und alle schwiegen wieder. Nur der alte Maurer kicherte noch zuweilen: »Eine Kirche! Eine Kirche!« Und er erzählte, daß er vor dreißig Jahren eine Kirche gebaut habe, in Hamburg. Aber niemand hörte zu.

Die Wärme, die sie röstete, die Luft und die Arbeit hatten sie alle müde gemacht. Einer nach dem andern kroch ins Stroh. Auch Georg. Aber er schlief nicht. Er blickte in die Glut des erlöschenden Feuers draußen, in die grenzenlose grimmige Finsternis des Waldes. Ein wunderbares und herrliches Sausen ging in der Ferne durch den Wald. Stark, wie Gewürz, hauchte die Luft aus den nassen Wipfeln. Tannen, frisches Holz und faulende Rinde. Man roch den Schnee, obschon er fast vollständig wieder geschmolzen war. Das gänzlich Unbegreifliche aber, das war diese wunderbare große Stille da draußen.

Plötzlich war es Georg, als sinke er in die Tiefe, und schon war er eingeschlafen. Er erwachte einige Male in der Nacht, um immer sofort wieder in tiefen Schlaf zu versinken. Als er das erstemal erwachte, sah er plötzlich den Einarmigen neben dem niedergebrannten Feuer auf einem Baumstamm sitzen, die Pfeife im Munde. Wieder erwachte er. Es regnete, und durch das provisorische Dach fielen einzelne Tropfen auf sein Gesicht. Das Feuer glimmte noch ein wenig. Lehmann war verschwunden. Die Gefährten lagen mit verzerrten Gesichtern, den Mund offen, schnarchten und röchelten. Nur der große, bleiche Zimmermann saß schlaflos mit offenen Augen, die glänzten, wie die Augen einer Eule.

 

22

Am nächsten Morgen erwachte Georg als letzter von den Gefährten. Die helle Stimme Lehmanns hatte ihn aufgeweckt. Er hörte, daß Lehmann schalt, ohne ihn jedoch zu sehen und ohne zu wissen, wem die heftigen Worte galten. Obwohl er fühlte, daß er fieberte, erhob er sich rasch.

»Wenn es Ihnen nicht behagt bei uns!« rief Lehmann, »so gehen Sie doch wieder zurück nach Berlin und lassen Sie sich von den Läusen auffressen. Sie haben die Bedingungen der Gesellschaft gelesen, wir haben Ihnen also nichts vorgemacht. Wir brauchen hier Leute, die arbeiten wollen und die vor allem Freude an der Arbeit haben. Das ist die Hauptsache für uns.«

Georg eilte an den kleinen Bach, der ganz in der Nähe vorüberfloß, um sich zu waschen. Der Schlächter begrüßte ihn, gut gelaunt wie immer. Er hatte die Hosen hinaufgestülpt und stand bis an die Knie im eisigen Wasser, während er sich, krebsrot am ganzen Körper, Brust und Rücken wusch und dabei lachte. »Lehmann ist heute früh munter geworden,« sagte er lachend. »Plötzlich, siehst du, hört er auf zu schmunzeln.«

Es war noch düster im Wald. Ein frischer Luftzug, der nach Schnee schmeckte, strich durch die Stämme, hoch oben glitten mächtige helle Wolken dahin, ganze Gebirge von Schnee. Zuweilen zuckte etwas wie eine dünne Lichtnadel durch das Geflecht der schwarzen Wipfel. Der fürchterliche Regen schien endlich ein Ende zu haben! Ein würziger Geruch, wie ihn Pilze ausströmen, wenn man sie auseinanderbricht, stieg aus dem feuchten Boden. Raben krächzten über den Bäumen, und ein paar dunkle Fittiche schwankten irgendwo gespenstisch.

Schon aber klangen die Hammerschläge im Walde. Eine helle Stimme schalt.

»Spute dich: er meint uns.«

Lehmann hatte die Leitung der Arbeit übernommen, ohne jeden Zweifel. Er befahl, ordnete an, schrie, sprang selbst zu, half mit. Riesenkräfte schienen in seinem einen Arm zu stecken. Er bestimmte das Arbeitstempo, nichts entging seinem Blick. Aber obwohl er schrie, so sah sein Gesicht niemals böse aus. Seine Pfeife paffte aufgeregt, seine Wangen waren frisch gerötet.

Das Rahmenwerk des Schuppens wuchs in die Höhe.

Der »General«, jener Kahlköpfige mit dem vorspringenden Bart, und der kleine alte Maurer mit dem Schlapphut hatten zusammen eine Arbeitsgemeinschaft gegründet. Sie handhabten zusammen eine Säge und versuchten ein dickes Brett durchzusägen. Sie sägten ein paar Minuten, dann sahen sie beide nach, wie tief die Säge schon in die Bohle eingedrungen war, und hielten eine lange Konferenz ab.

Lehmann trat rasch an sie heran. »So geht es nicht,« sagte er. »Arbeitet langsam, wenn euch der Atem ausgeht, aber arbeitet regelmäßig und schwätzt nicht soviel. Und Sie,« sagte er zu dem »General«, »in diesem langen Mantel können Sie doch nicht arbeiten.«

Der »General« streckte mit gekränkter Miene den langen Bart vor und knöpfte zur Antwort langsam den langen Militärmantel auf. Er trug ein zerrissenes Hemd, das nur noch aus schmutzigen Schnüren bestand, und eine alte an den Knien zerschlissene Hose.

»Das ist etwas anderes,« sagte Lehmann mit einer gewissen Härte in der Stimme, die seine Beschämung verbergen sollte. »Ich werde dafür Sorge tragen, daß Sie Kleider bekommen. Unsere Gesellschaft ist vorzüglich organisiert. Wenn jetzt manches stockt, so kommt es daher, daß man uns in den letzten Tagen Tausende von Arbeitslosen geschickt hat. Es wird alles in Ordnung kommen.«

Mittag! Der Kellner hatte gekocht. Das Feuer wärmte. Alle staunten den halbfertigen Schuppen an, während sie aßen.

»Ob wir es heute noch schaffen?«

Kopfschütteln. Zweifel.

»Am Abend steht der Schuppen,« versicherte Lehmann, der mit ihnen aus demselben Kessel aß.

Und in der Tat, als die Dämmerung kam, stahlblau und kalt, mit einem eisigen Wind, war der Schuppen bis auf Kleinigkeiten aufgestellt. Er hatte zwei Fenster – nicht größer als Stallfenster allerdings, und einige Scheiben waren dazu zerbrochen –, aber doch Fenster, und eine solide Tür mit einem richtigen Schloß. Das Stroh wurde in den Schuppen gebracht, der Kochherd, schon wirbelte der Rauch aus dem Blechrohr. Kisten wurden zurecht gerückt. Der Schlächter kam mit einer völligen Ladung grüner Tannenzweige durch die Türe und nagelte die Zweige an die Wand. Nun sah es in der Tat schon ganz festlich aus. Es war behaglich. Der Wind pfiff nicht mehr. Es war warm, es war sauber. Der kleine Bauernwagen hatte Decken gebracht. Viele waren alt und geflickt, aber es waren immerhin Decken, und sie waren rein. In einer Ecke hatte Lehmann sich sein Lager eingerichtet und daneben sein »Bureau«. Das waren Notizbücher, Rollen, Pläne.

Plötzlich, es war fast schon dunkel, kam ein Radfahrer! Es war ein junger Mann, ein Knabe fast noch, mit einer verblaßten Schülermütze auf dem Kopfe. Forsch und keck trat er in den Schuppen, das Gesicht rot von der frischen Luft. »Ist Post mitzunehmen?« rief er.

»Wie, alle Wetter, Post?« Man sah ihn verblüfft an. »Kannst du Tabak besorgen?«

»Wenn Sie mir Geld geben, dann bringe ich Ihnen morgen auch Tabak mit.«

»Schön, dann bringe Tabak. Alle Wetter, wieviel bekommst du bezahlt, mein Junge, am Tage?«

»Wir arbeiten ohne Bezahlung!«

Wir? Wer waren diese »Wir«?

Es war gewiß eine ganz merkwürdige Sache. Wie hatte sich das alles seit gestern geändert! Es zeigte sich, daß der Radfahrer in seinem Rucksack ein Paket Zeitungen mitgebracht hatte. Es waren allerdings etwas veraltete Zeitungen, aber man erfuhr immerhin, was in der Welt vorging, während man hier im Walde hauste. Eine Azetylenlampe hing von der Decke herab. Das hätte von allen keiner erwartet. Man fand es nun ganz behaglich und angenehm in der Baracke. Eine Gruppe spielte Karten mit einem alten schmutzigen Spiel. Andere lagen müde auf dem Stroh, und einige plauderten halblaut. Die Verdrossenheit war geschwunden, das finstere Grübeln, der gegenseitige Argwohn.

»He!« rief Moritz Georg zu. »Worüber spintisierst du immer? Den ganzen Tag spintisierst du! Nimm es nicht so schwer, es wird noch schlimmer kommen. Der Teufel holt uns ja doch alle am Ende!« Und Moritz lachte.

Um den Kellner mit der Hakennase und den unsteten Rattenaugen, er nannte sich Henry Graf, hatten sich Zuhörer gesammelt. Henry, der, wie er sagte, jahrelang Steward auf den großen Passagierdampfern war, erzählte von seinen Reisen. Er erzählte von Südamerika und China, als sei er erst gestern dagewesen, von Schmetterlingen, so groß wie die Hand, und von einer Hitze, daß die Ölfarbe der Schornsteine schmolz. Er hatte in China Hinrichtungen mitangesehen, in Japan war er in den Teehäusern gewesen – lauter kleine Puppen, lauter kleine braune nackte Puppen. Er erzählte von reichen Leuten, amerikanischen Millionären, sonderbaren Passagieren. Da war zum Beispiel eine reiche Engländerin, die immer betrunken war. Man schickte sie auf Reisen, um sie los zu sein, und sie war der Schrecken aller Schiffe. Diese Engländerin verliebte sich in ihn, Henry. Er könnte heute, weiß Gott, ein Schloß haben. Aber nein, eine betrunkene Frau, etwas Schrecklicheres gibt es nicht.

»Laß dich nicht auslachen, Henry! Sie hätte dich nie geheiratet!« Gelächter.

Heinrich, der kleine krummbeinige Schlosser, entpuppte sich als ein vorzüglicher Tierstimmenimitator. Kanarienvögel, Stare, Hühner, Eichelhäher, Katzen und Hunde aller Größen und Rassen ahmte er nach und erntete großen Beifall.

Es zeigte sich, daß sich unter den Genossen Talente verschiedener Art befanden. Selbst der Verstümmelte – mit dem Glotzauge –, selbst er steuerte etwas zur Unterhaltung bei. Er war in Sibirien in Kriegsgefangenschaft gewesen und ahmte das Heulen des Wolfes nach. Er hielt die Hände vor den Mund und begann schauerlich zu heulen. Und alle, die nie einen Wolf gehört hatten, überlief ein Schauer.

Um neun Uhr mußte das Licht gelöscht werden. Fast augenblicklich sanken alle in tiefen Schlaf.

Nur Lehmann legte sich später zur Ruhe. Jeden Abend ging er, die Pfeife rauchend, eine Stunde lang vor der Baracke auf und ab.

 

23

Die Axt klang im Walde, die Sägen kreischten. Krachend stürzten die Bäume. Lehmann hatte jedem der Gefährten die Arbeit im Walde und in der Baracke nach Befähigung angewiesen. Es herrschte gute Disziplin, und das Leben auf der Arbeitsstätte spielte sich ohne jede Reibung ab. Den hochgeschossenen jungen Menschen mit den abstehenden Ohren und dem Diebsgesicht hatte Lehmann abgelohnt und fortgeschickt, weil er, wie er sagte, Tagediebe und Faulpelze nicht brauchen könne. Sie mögen verrecken. Es waren sechs neue Kameraden dazugekommen.

Vom frühen Morgen bis zur Nacht trieb Lehmann zur Arbeit. »Vorwärts, immer vorwärts!« rief er. »Ohne zäheste Arbeit können wir das große Werk nicht schaffen. Die Gesellschaft muß jede Minute ausnützen, sonst geht sie bankerott. Vorwärts! Schellenberg versteht keinen Spaß! Er setzt mich an die Luft, wenn ich zurückfalle!«

»Und was wollen wir mit Ihnen anfangen?« sagte Lehmann zu dem großen, bleichen Zimmermann. »Ich werde Sie in ein Krankenhaus schicken.«

Die tief eingesunkenen, fieberischen Augen des Zimmermanns flehten. »Nein, nein,« bat er. »Lassen Sie mich hier im Walde. Hier werde ich gesund werden. Haben Sie nur noch einige Tage Geduld. Schicken Sie mich nicht in ein Krankenhaus.«

Der Zimmermann, er hieß Martin, war auf einem Bau verunglückt, die Hüfte verrenkt, gar nichts Besonderes, aber seitdem war es mit ihm bergab gegangen. Es war vorbei mit dem Schleppen schwerer Balken, die Meister sahen an ihm vorüber. Ohne Verdienst hauste er drei Monate lang mit seiner Frau und drei Kindern in einer Dachkammer ohne Fenster, bis er erkrankte. Die Kinder gingen betteln, die Frau verkaufte Schnürsenkel. Nun, Lehmann schickte ihn nicht fort. Martin erhielt Krankenkost – was man hier im Walde Krankenkost nannte! –, und nach einer Woche schon sah man ihn zuweilen langsam unter den Bäumen hin und her gehen, während er früher sich kaum vom Lager erheben konnte. Nach zwei Wochen aber nahm er schon die Axt in die Hand, aber er schwankte noch, wenn er zuschlagen wollte.

»Noch eine Weile Geduld,« sagte Lehmann zu ihm.

Eines Tages fuhr – sollte man es für möglich halten? – ein wirklicher Automobilomnibus auf der Landstraße heran. Alle sahen staunend von der Arbeit auf.

»Was ist das!?« sagte Moritz, der Schlächter. »Haben wir schon Omnibusverbindung bekommen? Es wird gar nicht lange dauern, so werden sie uns eine Untergrundbahn hierher bauen.«

Aus dem Omnibus kletterten zwei junge Herren in grauen Arbeitskutten. Lebhaft schüttelten sie Lehmann die Hand. Es zeigte sich bald, daß einer der Herren Arzt war und der andere Zahnarzt. Der Omnibus aber enthielt eine vollkommene Einrichtung, wie Ärzte und Zahnärzte sie benötigen.

Jeder einzelne mußte zur Untersuchung in den Wagen klettern. Dem einen wurde dieses geraten und verschrieben und dem andern jenes. Die Herren waren außerordentlich freundlich. Unter Scherzen verrichteten sie ihre Arbeit. Der Zahnarzt zog rasch einige Zähne, und dem General setzte er eine Plombe ein. Martin wurde mit besonderer Sorgfalt behandelt.

»Da sind Sie ja!« rief der junge Arzt, als er Georg erblickte. Erstaunt erkannte Georg jenen Arzt wieder, der ihn seinerzeit in dem Haus in der Lindenstraße empfangen hatte. Der junge Arzt schüttelte ihm herzhaft die Hand. »Eine Freude, Sie wiederzusehen, so gut haben Sie sich erholt!« rief er aus. »Sie haben schon etwas Farbe bekommen. Sie sehen, auch wir kommen zuweilen aufs Land. Aber es ist leider selten, und um diesen Außendienst reißen sich alle. Nun kutschieren wir vierzehn Tage in der Umgebung umher, das ist unsere Erholung, sehen Sie!«

Die beiden Ärzte blieben bis zum Anbruch der Dunkelheit. Dann fuhren sie davon, Lehmann mit ihnen.

Der Omnibus mit seiner verwirrenden Einrichtung beschäftigte am Abend alle Gemüter.

»Was für einen Wagen doch die beiden Burschen hatten! Sie haben ja alles! Hast du gesehen, sogar eine kleine Apotheke ist eingebaut. Ihr Leute – und sie waren nicht entfernt so grob wie die Kassenärzte.«

»Und dieser Zahnarzt! Das ist ein feiner Bursche!«

»Die Gesellschaft zahlt schlecht, das ist Tatsache, aber man muß zugeben, daß sie für ihre Leute sorgt. Hemden, Wäsche, Socken haben sie uns gegeben, und der General hat sogar eine gestrickte Wollweste bekommen.«

»Man sagt, die Arbeitslosenfürsorge bezahle alles, und das Rote Kreuz soll auch dahinterstecken.«

»Und diese Jungens, die auf ihren Rädern kommen und Botendienste tun, sie scheinen alles überlegt zu haben und alles heranzuziehen.«

»Und doch verstehe ich es nicht,« hub der alte Maurer wieder an und schüttelte bedächtig den Kopf, »was wollen sie eigentlich hier bauen?«

»Was geht es dich an? Sei froh, daß du etwas zu nagen und zu beißen hast auf deine alten Tage.«

»Man möchte es doch wissen. Sie müssen doch etwas hier wollen? Und ein großer Schuppen soll noch kommen? Und der Plan, den Lehmann bei sich hat?«

Georg hatte bei Gelegenheit einen Blick in den Plan werfen können. »Soviel ich sehen konnte,« sagte er, »soll hier eine Art Stadt gebaut werden.«

»Eine Stadt?«

»Eine Stadt?« Der alte Maurer lachte kindisch.

»Eine Stadt?« Allgemeines Gelächter.

»Laß dich nicht auslachen, Weidenbach!«

Georg kam, bei Gott, in Verlegenheit, weil sie alle derart wieherten. »Und doch – denkt, was ihr wollt. Ich habe doch den Plan gesehen,« sagte er. »Eine Stadt oder eine größere Ansiedelung mit großen Gärtnereien.«

»Gärtnereien!«

»Gärtnereien, sagst du?«

»Jawohl, Gärtnereien!«

Wiederum Gelächter. Was hier wachsen solle? Auf diesem Boden – nichts als Sand!

Aber der alte Maurer mit dem Schlapphut kam Georg zu Hilfe. »Worüber lacht ihr denn, ihr Narren?« rief er. »Man kann auf den ersten Blick sehen, daß ihr nie aus der Stadt herausgekommen seid und vom Boden nichts versteht.« Und er erzählte umständlich, mit allen Einzelheiten, von einem Garten, den er vor zwanzig Jahren aus einem Sandhaufen geschaffen hatte. Schon nach zwei Jahren blieben die Leute stehen, so sah der Garten aus, und schon im dritten Jahre blühten darin die Fliederbüsche. Im vierten Jahre aber, da kam er also eines Abends in den kleinen Garten, und was hörte er? – Der Alte streckte die Hände in die Höhe, rückte den Schlapphut mit den Pleureusenresten aus der Stirn und begann zu pfeifen – tüh – tüh – tüh. »Eine Nachtigall, ihr Leute! Mein Herz hat geschlagen, so schön sang die Nachtigall.«

Der kleine krummbeinige Schlosser machte eine verächtliche Handbewegung. Er wußte es besser als alle.

»Weshalb zerbrecht ihr euch die Köpfe?« fragte er. »Wie? Was sie hier machen wollen? Geld wollen sie machen, aber nicht für uns! Es ist ja alles aufgelegter Schwindel. Unsere Arbeitsstunden sollen gebucht werden, und wenn du fünftausend Arbeitsstunden erreicht hast – im Laufe der Jahre, sooft du stellungslos bist –, so sollst du einen Morgen Land und eine Behausung bekommen. Wer soll das glauben? Es ist ja alles Schwindel und Lüge. Ich habe es euch ja oft gesagt: Es ist Schellenberg und kein anderer als Schellenberg. Wir werden uns schinden, und Schellenberg wird den Profit einstreichen. Ich habe ja bei Schellenberg gearbeitet. Er baut sich einen Palast im Grunewald, das müßt ihr gesehen haben. Ein halbes Jahr lang habe ich dort Erde gekarrt. Schellenberg hat sich ein Schwimmbad im Keller eingerichtet, hat man so etwas schon gesehen? So groß wie eine Reitschule. Da sind fünfzig Zimmer und Säle, und sogar die Diener haben Badezimmer. Da sind Ställe, Garagen, ein Bootshaus und ein Pavillon am See. Eine Küche so groß wie eine Kaserne, und alles aus weißen Kacheln!

Ihn aber selbst solltet ihr sehen, Schellenberg!« fuhr der Schlosser fort und fettete sich den Schnauzbart mit den Fingern ein. »Wenn er in seinem Auto angefahren kommt, in einem Pelz, von oben bis unten, eine Bärenmütze auf dem Kopf. Und immer schöne Weiber hat er bei sich, und manchmal ist er schon am hellen Tag betrunken. Oh, man muß ihn nur gesehen haben, dann weiß man alles. Dieser Schellenberg hat in den letzten Jahren das Geld mit Scheffeln zusammengerafft. Niemand weiß, wie reich er ist! Und womit? Mit Holz und im Holzhandel. Er hat zehn Papierfabriken, ihr Leute. Es ist ja kein Kunststück bei den Hungerlöhnen, die er uns zahlt. Und die Regierung – sie stecken ja alle unter einer Decke – zahlt ihm noch zu, weil er die Arbeitslosen beschäftigt. So ist es. Häuser? Eine Stadt, Gärtnereien? Laßt euch nicht auslachen.«

In diesem Augenblicke öffnete sich die Türe, und herein sah schüchtern und scheu das runzlige Gesicht einer alten Frau. Auf ihrem Kopftuch lagen einige Schneeflocken. »Bin ich hier richtig?« sagte die alte Frau. »Ist das die Station Lehmann?«

»Hier bist du richtig,« antwortete der Kellner.

»Immer herein, Großmutter!« schrie der Schlächter. »Was willst du denn?«

»Ich komme hierher zur Arbeit. Ich soll euch die Küche führen.«

Die Männer blickten einander an. »Was sollst du?« Dann brachen sie in lautes Gelächter aus. Und sie lachten so sehr, und ihre Bemerkungen waren so derb, daß der alten Frau die Tränen in die Augen traten. Sie drehte sich verlegen und verletzt in ihrem abgeschabten Mantel. »Ihr seid ein loses Volk!« schrie sie und bewegte heftig die Arme. Am liebsten wäre sie wieder zur Türe hinaus.

Dann aber begann sie hastig zu plappern, und ihre runzligen Lippen schienen nicht mehr zur Ruhe kommen zu wollen. Sie erzählte ihre Lebensgeschichte und verlor sich in Einzelheiten, die niemand verstand. Sie war Witwe, ihr Mann, ein Schreiner, seit Jahren tot. Sie hatte ein kleines Haus besessen und einen kleinen Garten. Und sechs Kinder hatte sie großgezogen und vier Töchter ausgestattet. Aber durch den Krieg hatte sie alles verloren. Und nun war sie alt und mußte wieder arbeiten.

Die Männer sahen einander an, brummten verlegen und schämten sich ihrer derben Späße.

Der Schlächter Moritz aber hatte genug Lebensart und wußte, was sich gehört. Er sprang auf, ging der Alten entgegen und schüttelte ihr herzhaft die Hand. »Nun schön!« rief er aus. »So bleibe bei uns, Großmutter! Hoffentlich kannst du gut kochen. Wir essen hier fein auf der Station. Wir werden dich neben den Ofen hinpacken, da hast du es warm. Komm, gib den Mantel her. So, und jetzt gib mir einen Kuß!« Und wirklich wollte der Schlächter der alten Frau einen Kuß geben.

»Du bist ein loser Vogel!« rief die Alte und stieß ihn zurück. Sie lachte, während die Tränen auf ihren runzligen Wangen noch nicht trocken waren. »Ei, was für ein loser Vogel ist er doch!« und sie gab dem Schlächter eine kleine gutgemeinte Ohrfeige.

»Ah, da hast du es, Moritz!« schrien die Männer. Die Bekanntschaft war geschlossen.

»Und das hier ist also deine Küche, siehst du!«

»Das ist die Küche?« Die Alte lachte.

Ja, das sei die Küche. Ob sie ihr nicht vornehm genug sei? »Und die Bedienung, die wir haben, wie in einem erstklassigen Hotel. He, Henry, zeige der Großmutter, wie es bei uns hergeht.«

Henry, der Kellner, stand auf, klemmte ein schmutziges Handtuch unter den Arm und tat, als serviere er. Einen Teller auf der Hand balancierend, rannte er mit kurzen, schnellen, komischen Schritten von der Küche in die Mitte des Zimmers, wo er unsichtbaren, an einer Tafel sitzenden Gästen aufwartete. Er beugte sich vor, drehte die Platte auf den Fingern, damit der Gast bequem abheben konnte, richtete sich auf und schob sich neben den nächsten Gast. Sein Gesicht war von tödlichem Ernst. Zuweilen tat er, als mache er einem zweiten Kellner, vielleicht einem Pikkolo, Zeichen mit den Augen. Dann rannte er mit denselben komischen Schritten wieder in die Küche zurück.

Die Männer brüllten vor Lachen, und in der Tat, Henry spielte diese Szene mit unglaublicher Komik. Auch die Alte lachte, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen.

In diesem Augenblick ließ auch schon der Schlosser seine Kunst hören. Er ahmte einen ganzen Käfig voller Hühner nach, und die Alte glaubte wirklich eine Weile, daß in der Ecke Hühner seien.

»So also geht es bei euch zu!« schrie sie.

»Jawohl, Großmutter, so und nicht anders!« rief der Schlosser und gab ihr einen derben Schlag auf die Schulter. »Wir werden dich nicht fressen. Es wird dir gut bei uns gefallen!«

 

24

Den Männern, die Familie hatten, war es freigestellt, jeden Sonnabend zu ihren Angehörigen in die Stadt zu fahren. Am Montag kehrten sie zurück. Einzelne kamen nicht wieder. Der Arbeitsnachweis der Gesellschaft hatte sie in ihrem Beruf irgendwo untergebracht. Den Unverheirateten aber sollte erst nach einigen Wochen ein Urlaub gewährt werden. Es hing ganz davon ab, wie Lehmann mit ihnen zufrieden war. Georg hatte ihn schon am ersten Sonnabend um einen Urlaub gebeten.

»Nicht daran zu denken,« antwortete Lehmann mit einem Lächeln. »In vier Wochen vielleicht.«

Nun, auch vier Wochen würden wohl vergehen.

Georg hatte sich im Walde rasch erholt. Am Anfang, da zitterte sein entkräfteter Körper unter den Anstrengungen der schweren Arbeit, und des Morgens, wenn der Lärm der Kameraden ihn weckte, war es ihm oft kaum möglich, sich vom Lager zu erheben. Er war in Schweiß gebadet, die Füße trugen ihn kaum. In der zweiten Woche aber fühlte er seine Kräfte langsam zurückkehren, und in der dritten Woche war es ihm, als ob er seit Jahren diese schwere Arbeit verrichtete. Er war kein Riese, wie Moritz, daran war nicht zu denken, aber immerhin, er stellte seinen Mann.

Sein Körper war abgehärtet, er erschauerte nicht mehr unter jedem Luftzug. Er fror auch nicht, als die scharfen Ostwinde einsetzten und in den Nächten das Wasser in den Furchen der Landstraße gefror. Reif bedeckte am Morgen den Boden und die Stämme der Bäume.

Nach dem Feierabend pflegte Georg noch eine Stunde zu wandern. Er hatte das Bedürfnis, allein zu sein und sich mit seinen Angelegenheiten in aller Stille zu beschäftigen.

Gewöhnlich ging er bis an den Rand des Waldes, der in einer Viertelstunde zu erreichen war. Hier stieß der Wald an eine sanft geneigte Heidefläche, die nur von dünnem Gestrüpp und einigen Birken bestanden war. Auch auf dieser Heide waren Arbeitskolonnen am Tage tätig. In der Ferne, ganz klein, schimmerte ein Licht, und dort hausten sie. Die Station hieß Glücksbrücke. Er hatte sie an einem Sonntag besucht.

Groß und funkelnd standen die Sterne über der stillen Heide. Wie ein Gespenst, scheu und ängstlich, schob sich der Mond aus dem Rauch des Horizonts, bald aber funkelte er herrisch hoch am Himmel und spiegelte sich ohne Teilnahme an den Geschicken dieser Erde im Wasser des Kanals, der in der Senkung die Heide durchquerte. Frei und ohne jedes Hindernis stürzte der Wind über die kahle riesige Fläche.

Hier war Georg ganz allein, ganz allein mit seinem Gram. Kein Mensch, kein Tier. Das rote glimmende Licht der Arbeiterbaracke am Rande der Heide war das einzige Zeichen der Nähe lebender Wesen. Zuweilen sauste und pfiff es in der Ferne: ein Eisenbahnzug irgendwo.

In der Stille, unter dem funkelnden Firmament, im Angesicht des kalt blendenden Mondes wanderte Georg dahin, seinen Gedanken hingegeben.

Seit er im Walde arbeitete, hatte er auch nicht eine Stunde Christine und ihr Schicksal vergessen. In den ersten Wochen hatte er versucht, die Erinnerung an sie aus seinem Herzen zu verdrängen. Hatte sie ihn nicht verlassen und betrogen? Aber die schwere Arbeit im Walde hatte ihn ruhiger gemacht. Es war ja nichts erwiesen, nichts wußte er, nichts.

Das Geschwätz eines Betrunkenen, das war alles.

Er hatte an Stobwasser geschrieben und ihn gebeten, sich beim Einwohneramt nach Christines Adresse zu erkundigen. (Erst hier im Walde war ihm eingefallen, daß es polizeiliche Meldestellen gibt.) Stobwasser indessen hatte geantwortet, daß er noch immer krank sei. Sobald er aufstehen könne, werde er Nachforschungen anstellen. Seit dieser Zeit hatte er nichts mehr gehört.

Nun, in vier Tagen sollte er einen zweitägigen Urlaub nach Berlin bekommen. Diese Tage wollte er gut verwenden. Dazu hatte er etwas Geld in der Tasche.

»Sonderbar,« sagte er zu sich, während er über die stille verlassene Heide wanderte, »eigentlich liebte ich dieses Mädchen anfangs gar nicht so sehr. Ich hatte mich immer nach einer sanften stillen Frau gesehnt, nicht wahr? Und Christine, sie war leidenschaftlich, immer erregt, Tränen und Raserei. Sie hatte mehr Temperament als zehn Mädchen zusammengenommen. Und es schmeichelte meiner Eitelkeit, daß dieses leidenschaftliche, von vielen begehrte und umworbene Mädchen – wo sie auch ging, wandten sich alle Männer nach ihr – sich in mich verliebte. Wie sie flehte, wie sie bettelte, wie demütig sie war. Wie sie um mich warb! Und ich – ich nahm ihre Liebe als etwas Selbstverständliches hin, ihre Leidenschaft, ihre Briefe, alles, als müsse es so sein.« Er durchlebte in der Erinnerung alle Phasen ihrer Liebelei – denn mehr war es, in den ersten Monaten wenigstens, nicht gewesen. Wie sie ihn mit ihrer sinnlosen Eifersucht, die keine Grenzen kannte, quälte und folterte. Diese ewigen Szenen! Sie lauerte ihm auf, bewachte ihn, wachte über jeden seiner Blicke. Sie war selbst eifersüchtig auf seine Freunde, seine Arbeit, seine Pläne. Katschinskys Freundin, der schönen Jenny Florian, durfte er nicht einmal die Hand geben. Welche Qual! Sie drohte sich ins Wasser zu stürzen, sie drohte ihn zu erschießen. Hundertmal hatte er beabsichtigt, das Verhältnis zu lösen, aus Berlin zu flüchten, wenn es sein mußte …

»Und nun?«

»Aber wie sonderbar ist der Mensch doch!« sagte Georg und blieb inmitten der Einsamkeit der Heide stehen. »Seit Christine in ihrer Raserei auf mich geschossen hat, seit diesem Augenblick liebe ich sie über alle Maßen.«


In den letzten Tagen war Lehmann damit beschäftigt, die Umrisse von Buchstaben mit weißer Ölfarbe auf die Schuppenwand zu zeichnen. Seine Pfeife qualmte, und sein junges Gesicht mit den roten Knabenwangen strahlte vergnügt, während er den Pinsel führte. Eines Mittags, als die Männer von der Arbeit zurückkehrten, war die Aufschrift, die in großen, glänzend weißen Lettern die ganze Schuppenwand bedeckte, fertig. Sie lautete:

Gesellschaft Neu-Deutschland!

Tod dem Hunger!

Tod der Krankheit!

Es lebe die Kameradschaft!

Dies war der Tag, an dem Georg seinen Urlaub antreten sollte.

»Leben Sie wohl, Weidenbach!« rief Lehmann, der seine Malerei wohlgefällig betrachtete. »Und vergessen Sie nicht, wiederzukommen!«

»Ich komme bestimmt zurück!« erwiderte Georg. Rasch ging er dahin. Die Sonne blinkte, obwohl einzelne Schneekristalle in dem kalten Wind durch die Luft trieben.

 

25

Die Axt klang im Walde. Die Sägen kreischten, und die elektrisch angetriebenen ambulanten Kreissägen sangen mit einem schrillen Ton vom Grauen des Tages bis zum Einbruch der Nacht. Achtung! Mit krachendem Gesplitter fielen die Bäume, einer nach dem andern. Schon kletterten Leute mit Axt und Säge in den Kronen der gestürzten Bäume, um die Äste zu entfernen. Über die ganze Waldfläche zerstreut lagen die Leichen der gefällten Föhren und Fichten. Es roch nach feuchten Spänen und Harz.

Lehmann, der Einarmige, hatte seine Schar prachtvoll in der Hand und trieb zur Arbeit. Überall war er. Überall war auch Georg Weidenbach, der zu einer Art Unterführer aufgerückt war. Er dirigierte, schrie, gab Befehle, nahm selbst die Axt zur Hand. Sein Gesicht war rot von der Arbeit und vom Frost.

Schon lichtete sich der Wald, und die Heidefläche, die an ihn grenzte, war bereits von den Baracken aus sichtbar. An klaren Tagen sah man auf der Heide kleinere und größere Arbeitsgruppen, bald hier, bald dort, an der Arbeit. Dann und wann ertönte ein dumpfer Knall: sie sprengten die Stubben der Bäume, die vereinsamt auf der Heide gestanden. Meist aber war die Heide in Dunst und Nebel eingehüllt, und man sah nichts.

Die Zahl der Baracken hatte sich vermehrt. Es waren noch zwei große Schuppen dazugekommen, in denen die Belegschaft, über hundert Köpfe stark, hauste. Ein wenig abseits stand eine mächtige Baracke mit einer Reihe großer Fenster, die, sobald es dunkel wurde, ihr Licht wie große Scheinwerfer in die Finsternis warfen. Auch hier kreischten und sangen die Sägen. Eine Schar von Tischlern und Zimmerleuten war hier an der Arbeit, und Martin, der Zimmermann, der in den ersten Wochen bleich und elend in der Baracke lag, war hier Meister. Zwei große Schuppen waren noch geplant. Glückshorst sollte eine der großen Tischlereien der Gesellschaft werden. Sie machten da drinnen Fenster und Türen, Stühle und Bänke, Tische, primitive Pritschen zum Schlafen, immer die gleichen Maße und Größen.

In dem kleinen alten Schuppen, in dem die Holzfäller anfangs gehaust hatten, befand sich heute nur noch die Küche, wo Mutter Karsten mit den Töpfen rasselte. Bei ihr hauste noch eine stämmige Bäuerin, die aus dem Dorf zu ihr gekommen war. Dazu hatte Mutter Karsten Gehilfen, die sie schalt und anspornte. Man konnte nie flink genug bei ihr sein, ohne jede Pause ging ihr rasches Mundwerk.

Neben der Küche hatte sich Lehmann eingerichtet. Er hatte dort eine Pritsche mit einem Strohsack und einer Pferdedecke, einen Tisch und einen Stuhl, wie sie in der Tischlerei hergestellt wurden. Auf dem Tisch stand das Telephon, das vom Morgen bis zum Abend klingelte. Das Bureau war voller Pläne, Rollen und Bücher. In all der Unordnung saß Lehmann, die Pfeife im Munde, und lächelte und wühlte in den Papieren. Oh, er war zufrieden. Die Station Glückshorst, seine Station, war tüchtig in Schwung gekommen. Die Zentrale hatte ihn beglückwünscht und ihm eine große Karriere prophezeit. Und darüber freute sich Lehmann. Er war früher Offizier gewesen, lange ohne Brot und Stellung und hatte eine Mutter und zwei Schwestern zu erhalten. Für sich selbst brauchte er nichts. Ein Paket billigen Tabaks, das war alles.

An der Türe seines Bureaus schlug Lehmann jeden Morgen die Vakanzen der Berliner Arbeitsnachweise an und musterte dann die Leute aus, die sich für die Vakanzen meldeten. »Du wirst noch vierzehn Tage hierbleiben, du bist erst gekommen. Wir wollen diesen Freund da hinschicken. Er hat Frau und Kind in Berlin sitzen. Und dich, Moritz, kann ich hier nicht entbehren, dich brauche ich hier. Mit dir habe ich ganz besondere Dinge vor, warte nur, bald sollst du es hören.«

Moritz stand mit breiten Schultern und wölbte die Brust und wurde rot über das Lob. Täglich gingen Leute nach Berlin zurück, und andere Arbeitslose kamen. Manchmal waren es zehn, manchmal zwanzig, manchmal mehr.

Die Neuankömmlinge mußte Georg in die einzelnen Kolonnen einreihen. Es gab leichtere und schwerere Arbeiten, Arbeiten, die jeder Dummkopf leisten konnte, und Arbeiten, die etwas Verstand verlangten. Georg hatte es gelernt und wußte mit einem raschen Blick die Fähigkeiten der einzelnen Leute einzuschätzen. Die Musterung dauerte keine fünf Minuten, und schon ging es an die Arbeit.

Georg war – als er den zweitägigen Urlaub erhielt – in Berlin gewesen. Aber seine Reise war völlig ergebnislos verlaufen. Bei den polizeilichen Meldestellen wußte man nichts von Christine. Er war auch nochmals in dem düsteren Hause bei dem Schlosser Rusch gewesen, da er hoffte, der Schlosser könne ihm, im nüchternen Zustande, nähere Auskunft geben. Und wenn nicht er, so vielleicht irgendein Hausbewohner. Alles vergeblich. Die Stunden vergingen schnell. Sein Urlaub war nur kurz, und es reichte kaum noch zu einem kurzen Besuch bei Stobwasser, den er immer noch hustend und frierend in seiner kalten Werkstatt vorfand.

Georg war schon völlig ohne Hoffnung, als er plötzlich einen Brief von Stobwasser erhielt. Seht an, das erste Wort, das Georg in die Augen sprang, war der Name Christines. So also war es: Katschinsky hatte es Stobwasser berichtet. Die schöne Jenny Florian, die Schauspielerin, jetzt bei der Odysseus-Film-Gesellschaft als Diva engagiert, hatte vor mehreren Wochen eine Nachricht von Christine aus Berlin erhalten. Unglücklicherweise aber war die schöne Jenny auf Reisen, sie filmte in Italien. Erst in einigen Wochen wurde sie zurückerwartet.

So hieß es, sich gedulden.

Eine Hoffnung! Ein Strahl von Hoffnung! Georg stürzte sich in die Arbeit, damit die Tage vergingen. Plötzlich schlug sein Herz wieder freier.

 

26

Der Winter war bis jetzt ziemlich mild gewesen. Reif, einige Frostnächte unter dem blitzenden Mond, das war alles. Nun aber war in der Nacht heftiger Schneefall eingetreten. Weiß und weich lag die Landschaft, völlig verändert. Es schneite auch am Tage, nicht besonders heftig, aber gegen Abend fiel der Schnee in ganzen Tonnen vom Himmel herunter. Am Morgen waren die Baracken fast einen Meter tief in den Schnee gesunken. Auf den Bäumen hingen ganze Fahnen von Schnee, und die Sonne glitzerte.

Man mußte Wege ausgraben. Die Tischler und Zimmerleute forderten eine besondere Kolonne an, da sie bis zum Bauch im Schnee zu ihrer Werkstatt waten mußten.

Wie wird es mit der Post und den Zeitungen und den Briefen? Die Radfahrer können unmöglich durchkommen. Aber siehe da, schon kamen die Boten an. Es waren jetzt sechs fröhliche junge Burschen, die den Dienst mit Begeisterung versahen. Sie kamen auf Skiern! Bestaunt und bewundert. Viele der Arbeiter, die diesen eifrigen jungen Leuten, die freiwillig Dienst taten, nicht grün waren – sie hielten sie für Mitglieder reaktionärer Verbände –, sahen sie von diesem Tage an mit anderen Augen an. Man denke: auf Skiern waren sie gekommen. Solche Teufelskerle!

Immer noch schneite es. Man mußte den Schnee von den Dächern fegen, sie bogen sich unter der Last. Aber die Arbeit erfrischte und ermunterte. So sonderbar es war, man sah in diesen Tagen nur heitere Gesichter.

Nun fing der Wind an zu fegen, und das war gut, denn er fegte die Straße frei und wehte den Schnee hinunter in den Kanal.

»Ein wahres Glück, Weidenbach,« sagte Lehmann, »ist dieser Wind, denn die Stubben müssen heraus. Wir müssen die Sprenglöcher bohren.«

Nun knallte es wochenlang im Walde. Die Stubben flogen in die Luft.

Auch dieses Knallen, diese Stimme der Arbeit belebte und ermunterte. Laut und fröhlich ging es bei den Mahlzeiten her. Nur jene, die erst vor wenigen Tagen aus Berlin gekommen waren, ausgehungert, verstört, müde, verhielten sich noch still und stumpf.

An den Abenden aber herrschte in den Baracken starker Tumult. In der Tat, in keiner der Kneipen der Berliner Vorstädte, wo am Abend müde und verbrauchte Menschen verkehrten, herrschte eine solch ausgelassene Fröhlichkeit.

Die Spielkarten klatschten. Neckereien, allerhand Unfug, Gelächter.

Noch immer stand der Schlächter-Moritz im Mittelpunkt der Gesellschaft. Jeden Abend gab es ein lustiges Geplänkel zwischen ihm und Mutter Karsten. Moritz faßte die Alte unterm Kinn, verdrehte verliebt die Augen und sagte: »Nun, Großmutter, wann werden wir endlich Hochzeit feiern?«

»Oh, du loses Maul,« erwiderte die Alte, »eine alte Frau zu verspotten, du Schlingel! Siehst du nicht meine Runzeln und daß ich keine Zähne mehr habe. – Hier hast du etwas!« Und Moritz erhielt eine schallende Ohrfeige.

Aber die Bäuerin, die aus dem Dorfe gekommen war und Mutter Karsten beistand, seht an! Sie war eine Frau von ungefähr vierzig Jahren, derb, aber noch gut aussehend. Mit ihren vorstehenden glänzenden Augen folgte sie jeder Bewegung des Schlächters, und Moritz begann, ihr Augen zu machen. Schon stieß man sich an und machte Scherze.

An den Sonntagen sah man ihn häufig in der Küche sitzen, wo er die Kessel fegte. Die besten Bissen wurden ihm zugesteckt.

Ein kleiner, bleicher Geselle mit wachsgelbem Gesicht war vor kurzem in die Baracke gekommen. Er war von Beruf Schneider und spielte vorzüglich die Mundharmonika. Er spielte, und Henry Graf, der Kellner, begann seinen Niggertanz zu tanzen. Alle Wetter! Bravo! Er rückte einen kleinen steifen Hut aufs Ohr, schwang eine Gerte als Stöckchen, und wie schnell gingen seine Füße, man konnte sie kaum verfolgen. Dann begann er zu stampfen, die Absätze zu schleudern, und nun sang er in einer Sprache, die niemand kannte. Manchmal sah es aus, als falle er seitlich um, aber er tänzelte graziös dahin, das Hütchen kokett schwingend. Diese Nummer war stets ein großer Erfolg. Der größte Erfolg aber in den letzten vierzehn Tagen war der Boxkampf, den Moritz mit einem neuangekommenen hageren, düsteren jungen Mann auskämpfte. Dieser Hagere behauptete ein Boxer zu sein. Er renommierte und prahlte, daß er schon da und dort öffentlich im Ring erschienen sei. Niemand glaubte es, auch Moritz nicht. Ohne jeden Zweifel war Moritz der stärkste Mann im Lager, und er empfand es als einen Angriff auf seine Stellung, wenn der Hagere so unverschämt renommierte.

»Ein Boxer willst du sein? Du siehst nicht aus, als ob du weit kämest.«

»Nun gut, versuche es. Ich boxe auch mit dir.«

»Ah, ein Boxkampf!«

Alle versammelten sich im Kreise. Eine solche Sensation war noch nie dagewesen. Der Hagere zog den Rock aus, und Moritz schlüpfte aus seiner gestrickten Wollweste. Und da alles seine Ordnung haben mußte, wurde Georg zum Schiedsrichter erwählt.

»Über wieviel Runden soll der Kampf gehen?«

Der Hagere wackelte mit dem Knie. »Über zwanzig Runden, je drei Minuten.« Alle Teufel!

Moritz aber übertraf ihn. Er wölbte die Brust und warf nach allen Seiten Blicke. »Wir boxen, bis einer ausgezählt wird,« sagte er.

»Bravo, Moritz!« Das war mehr, als man erwarten konnte. Ungeheure Erregung.

Es muß gesagt werden, daß Moritz nach fünf Runden, elend zusammengeschlagen, aufgeben mußte. Die Bäuerin aus dem Dorfe aber war dunkelrot und warf dem Hageren wütende Blicke zu.

Häufig prallten die Meinungen so heftig aufeinander, daß die Baracke in Wahrheit zu toben begann. Politische Gespräche waren in der Baracke verfemt. Lehmann entließ zwei junge Burschen, die offenbar nur in der Absicht in die Baracke gekommen waren, um Agitation zu treiben.

»Die Gesellschaft Neu-Deutschland kennt keine Parteien und keine Konfessionen, und wer in dieser Beziehung nicht pariert, fliegt augenblicklich hinaus. Ich habe strengsten Befehl und verstehe in dieser Beziehung keinen Spaß!«

An jedem zweiten Sonntag aber kam das Filmauto, immer mit großem Jubel empfangen. Drei Stunden lang wurden Filme vorgeführt, und die Männer, die einsam im Walde hausten, konnten sich nicht sattsehen. Lustspiele, Trauerspiele, alles durcheinander. Die Filme flimmerten schon stark und waren etwas zerschlissen, aber das war den Zuschauern einerlei. Den Schluß bildeten immer Filme, die die Stätten der Arbeit zeigten: Bergwerke mit sausenden Rädern und riesigen Fördermaschinen, Werften, wo die Arbeiter in den Eisengerüsten kletterten, Maschinenhallen, Gießereien, und am Schluß erschienen stets Filme der Gesellschaft Neu-Deutschland. Siedlungen, kaum begonnen, Siedlungen, in denen die Häuser emporwuchsen, Gärten, Siedlungen wimmelnd von Menschen, neue Werkstätten, kleine, völlig neue Städte …

 

27

Es ist nur natürlich, daß sich alle möglichen Personen für das Lager interessierten.

Eines Tages kamen zwei merkwürdig aussehende Männer in einem alten Auto an. Sie gingen zu Lehmann ins Bureau und kamen nach einer Weile wieder heraus, um die ganze Arbeitsstätte eingehend zu besichtigen. Sie gingen in die Tischlerwerkstätte und erschienen wieder. Sie besuchten die Kolonne, die die Bohrlöcher bohrte, und schienen sich für alles zu interessieren, auch für jeden einzelnen Mann, denn sie sahen jedem mit raschem Blick ins Gesicht. Ganz plötzlich standen sie neben Henry Graf, dem Kellner.

Einer der Männer sagte: »Herr Bollmann.«

Sofort drehte sich Henry Graf herum. Ah, seht an, er hieß gar nicht Henry Graf. Und weshalb wurde der Kellner so bleich?

»Da sind Sie ja wieder, Bollmann,« sagte der zweite der Männer. »Kommen Sie mit uns!«

Henry Graf machte eine verzweifelte Gebärde. Er war weiß geworden wie der Schnee im Walde. »Nun wollte ich ja arbeiten!« schrie er. »Seht an!«

Der eine der Herren aber sagte: »Noch zwei Jahre, dann sind Sie frei.«

Es war also alles klar, man wollte den Kellner mitnehmen. Die Kameraden strömten herbei und umringten die Kommissare und den Verhafteten.

Moritz legte die Hand auf die Schulter des einen Kommissars. »Lassen Sie ihn doch hier, Herr Kommissar, er ist doch ein wirklich guter Kamerad.«

Auch die übrigen Männer verlegten sich aufs Betteln. Der Schlosser aber nahm ein paar Zigaretten aus der Tasche und wollte sie einem der Herren zustecken.

»Machen Sie keine Geschichten,« flüsterte er dem Kommissar zu. »Drücken Sie ein Auge zu, Herr Kommissar. Ist denn wirklich nichts zu machen?«

Nein, es war wirklich nichts zu machen. Ein Trupp gab dem Kellner bis zum Auto das Geleit.

»Nun sieh zu, daß du bald wiederkommst! Beiß die Zähne zusammen. Es ist ja nicht so schlimm!«

»Ja, ich komme bestimmt wieder!« Und sie sahen dem Auto nach, bis es verschwand.

Was mochte Henry Graf ausgefressen haben? Und noch zwei Jahre, sagte der Kommissar? War er ausgerückt? Welch ein Pech, daß sie ihn gefunden hatten!

An diesem Abend war es verhältnismäßig ruhig in der Baracke. Immer wieder sprach man von den Kommissaren und dem Auto und Henry Graf, der eigentlich Bollmann hieß.

»Und wie töricht, hast du gesehen, er drehte sich gleich um, als sie Bollmann zu ihm sagten. Er hätte einfach davonlaufen sollen.«

»Konnte er denn ahnen, daß es Polizisten waren? Jeder Mensch hielt sie für Bauleute. Natürlich konnte Henry das nicht ahnen. Nein, solch ein Pech!«

Und alle sprachen davon, wie Henry tanzte, mit dem Stöckchen und dem kleinen steifen Hut, wie man glaubte, daß er umfalle, wie er dicht am Boden kauerte und das Hütchen über dem Kopfe schwang und einmal den linken und einmal den rechten Absatz herausschleuderte und dazu in einer fremden Sprache sang. Nein, nein, war das möglich? Und nun also saß er im Kittchen.

Der Schneider wollte ein Konzert auf seiner Mundharmonika geben. Er kam aber nicht weit. »Hör’ auf, hör’ auf!« klang es von allen Seiten.

So war es also nichts mit dem Konzert. Man spielte verdrießlich Karten, um die paar Abendstunden totzuschlagen, und wickelte sich frühzeitig in die Decken.

Es passierten noch andere Dinge im Lager Glückshorst. Da war zum Beispiel dieser kleine alte Maurer. Man erinnert sich, er trug einen Hut, einen großen Schlapphut mit den Resten einer Pleureuse daran. Er war alt und lief den andern nur in den Weg und störte bei der Arbeit, und wenn er ging, so wackelte sein hängender Hosenboden. Dieser alte Maurer, der eines Abends von seinem Gärtchen erzählt hatte und zum Ergötzen der Kameraden den Versuch machte, die Stimme einer Nachtigall nachzuahmen, er war eines Abends verschwunden. Man bemerkte es nicht. Erst am andern Morgen fiel es seinem Nachbar auf, daß das alte Männchen fehlte. Nun gab es im Lager natürlich dann und wann Durchbrenner, die sich mit der Einsamkeit im Walde und mit den Arbeitsbedingungen der Gesellschaft nicht aussöhnen konnten. Aber er, der Alte, ganz unmöglich! Viele Wochen war er schon da.

Man suchte also, und man sah Fußstapfen, Schritte, die in den Wald hineinführten, immer tiefer. Und dort also, an jenem Baum, da hing er. Der Alte hatte sich erhängt.

Am Baum war ein Zettel befestigt, worauf stand: »Alles, was ich erarbeitet und erspart hatte, habe ich verloren. Ich bin zu alt, um von vorn anzufangen. Betet für meine Seele!«

Es gab eine richtige Beerdigung im Walde. Zuerst wollte man ihn im Friedhof des Dorfes begraben. Aber nach einer längeren Debatte am Abend mehrten sich die Stimmen, die für eine Bestattung im Walde waren.

»Er wird lieber bei uns sein wollen als bei den dummen Bauern im Friedhofe. Hier außen hat er seine Ruhe, und vielleicht kommt eine Nachtigall zu ihm.«

»Wie soll eine Nachtigall hierherkommen?« fragte der Schlosser.

»Du hast noch immer nicht verstanden!« schrie ihn der Schlächter-Moritz an. »Weshalb sollen keine Nachtigallen hierherkommen, wenn es doch sogar in Berlin Nachtigallen gibt.«

»Gewiß hat er recht. Auch hierher werden Nachtigallen kommen,« erklärte Georg.

So kam also die Stunde der Beerdigung heran. Punkt zwölf Uhr kommandierte Lehmann: »Sammeln zum Leichenbegängnis!«

Dann trotteten sie in den Wald hinein. Lehmann hielt sogar eine richtige Rede, wobei er heftig den einen Arm schwang. Alle fanden diese Rede sehr schön. Er sprach davon, daß der tote Kamerad einer der vielen Tausende sei, die ihrem Leben ein Ende gemacht hätten, weil sie es einfach nicht mehr ertrugen. Während die Betrüger und Spekulanten in die Höhe kamen, hatte man ehrwürdige Leute wie unsern toten Kameraden einfach in den Dreck hinabsinken lassen, ohne auch nur eine Hand zu rühren. Erst die Gesellschaft »Neu-Deutschland« schaffe Wandlung. Sie sei spät gekommen, aber doch nicht zu spät. »Unser toter Kamerad«, schloß Lehmann, »ist ebensogut ein Opfer des Krieges und der Revolution wie irgendein General oder Minister. Über seinem Grabe werden glücklichere Menschen wandeln, als er einer war.«

Dann trat er vom Grabe weg, zündete sich die Pfeife an, und die Feierlichkeit war beendet.

Die Rede hatte gut gefallen und wurde am Abend lebhaft diskutiert. Besonders die Stelle mit dem Minister und General fand Anklang, war der Alte doch nur ein armer Maurer gewesen. Sie fanden, daß Lehmann, obwohl er früher Offizier war, ein umgänglicher Mann sei, mit dem sich auskommen ließ.

So schnell, wie der Schnee gekommen war, so schnell verschwand er. Ein warmer Wind kam vom Süden, und es tropfte und rieselte von den Bäumen. In ein paar Tagen war vom Schnee nichts mehr zu sehen. Die Sonne schien, und zum ersten Male zog der Schlächter-Moritz seine braune Strickjacke aus, er schwitzte.

Die Sonne und der warme Wind hatten rasch den Frost aus dem Boden vertrieben, und die Erde trank das Schneewasser gierig in sich.

Kaum war der Boden einigermaßen trocken, so begann es draußen auf der Heide zu knattern und zu prasseln, als ob Flugmaschinen über die Erde surrten. Eine Kolonne von Traktoren hatte die Arbeit aufgenommen. Tag für Tag sah man sie quer über die Heidefläche ziehen. Erst schleppten sie mächtige Pflüge, dann schleppten sie mächtige Bodenfräsen, die die Erde zertrümmerten und zerschnitten, dann schleppten sie Düngerstreumaschinen, dann Eggen und Walzen. Wochenlang dauerte es. Immer sah man diese Kolonnen wie merkwürdige Raupen über die Heide kriechen.

»Immer vorwärts!« schrie Lehmann. »Es wird gar nicht so lange dauern, dann haben wir sie hier!«

Noch ein anderes Ereignis fiel in diese Zeit, das in den Baracken eifrig besprochen wurde.

Eines Tages kam in schneller Fahrt von Glücksbrücke herüber ein Auto, das in einem ganz auffallenden Tempo dahinflog und mit einem Ruck stehenblieb. Bisher hatte man so ein Auto im Lager noch nicht gesehen, denn die Wagen der Gesellschaft, die gelegentlich kamen, waren ausrangierte alte Kasten.

Aus dem Auto stiegen vier Herren, darunter ein hochgewachsener, breitschultriger Mann in einem alten Regenmantel und ein etwas schiefgewachsener blaubleicher Herr in einem langen Pelz.

Kaum hatte Lehmann die Herren erblickt, als er in großer Eile auf sie zuging. Er nahm die Pfeife aus dem Munde und verbeugte sich! Das war bisher noch nicht beobachtet worden, daß Lehmann so große Höflichkeit zeigte. Er verbeugte sich zuerst vor dem hochgewachsenen Herrn, dann vor dem kleinen Schiefgewachsenen mit dem blaubleichen Gesicht. Man drückte sich gegenseitig die Hand, und schon kam die Gruppe über das Arbeitsfeld geschritten. Lehmann erklärte dem hochgewachsenen Herrn mit weitausholenden Armbewegungen dies und jenes – er schien wirklich aufgeregt zu sein. Die Herren besuchten die Baracken, die Küche, die Tischlerei besahen sie, alles. Sie sprachen auch mit dem und jenem, der gerade in der Nähe war, und blieben hierauf noch eine halbe Stunde in Lehmanns Bureau. Dann stiegen sie wieder in den Wagen, und mit einem Ruck fuhr das Auto an und jagte die Landstraße hinunter.

»Ei der Tausend, das waren gewiß ganz besondere Leute! Waren es Direktoren der Gesellschaft? Und dieser verwachsene, bleiche, alte Mann, sah er nicht aus, als sei er eben aus dem Sarge gestiegen? Und dieser Große mit dem braunen Gesicht!«

»Wer sind die Herren gewesen?«

»Das war der Chef,« erwiderte Lehmann, der noch ganz erregt war und eifrig die Pfeife paffte.

»Wer war der große Herr?« fragte Georg, den das ruhige und klare Gesicht interessiert hatte.

»Das war Schellenberg,« antwortete Lehmann. »Und der kleine Alte war der Geheimrat Augsburger, ein früherer Bankier, der der Gesellschaft sein ganzes Vermögen vermacht hat. Er leitet jetzt den finanziellen Teil.«

»Wie stehst du da?« schrie der Schlächter-Moritz den krummbeinigen Schlosser an. »Stundenlang hast du damit geprahlt, daß du bei Schellenberg gearbeitet hast, ein halbes Jahr lang! Und nun war dieser Schellenberg hier, und du hast ihn nicht erkannt.«

Der Schlosser schwankte auf seinen krummen Beinen, schob die Mütze ins Gesicht und kratzte sich hinter dem Ohr. »Es war nicht der Schellenberg, bei dem ich arbeitete,« stotterte er, denn, wie gesagt, er hatte sich aufs tiefste blamiert und stand als ein elender Renommist da. »Er kam mir bekannt vor. Es war Schellenberg, und es war doch nicht Schellenberg.«

»Unterstehe dich nicht, wieder mit deinen Geschichten zu prahlen,« drohte Moritz mit seiner großen Faust. »Hörst du? Es ist eine Schande, und was hat er uns alles vorgeschwindelt!«


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