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Zweites Buch

 

1

Im Auktionssaal von Duval & Co. in der Potsdamer Straße wurde die berühmte Sammlung des Barons Flottwell versteigert. Diese Versteigerung war ein gesellschaftliches Ereignis für Berlin. Baron Flottwell, früherer Königlicher Zeremonienmeister, einst sagenhaft reich, hatte in den letzten Jahren sein Vermögen bis auf den letzten Pfennig verloren, so daß sein ganzer Besitz schließlich unter den Hammer kam. Zugleich mit den Herrlichkeiten Flottwells wurden Antiquitäten, Möbel, Bronzen, Porzellane, Schmuckgegenstände aus dem Besitz verschiedener Persönlichkeiten, die zumeist der verarmten Aristokratie angehörten, ausgeboten.

Der Saal war überfüllt von Menschen. Die wohlbekannten Profile einiger Museumsdirektoren, die bekannten Gesichter von Kunsthändlern, Maklern, ganz wie vor dem Kriege. Das Publikum aber hatte sich vollkommen verändert. Viele Fettwänste drängten sich in den Reihen, mit mächtigen Glatzen, breiten Rücken und gepolsterten Hüften, völlig neue Gesichter, die niemand kannte. Viele Damen in kostbaren Pelzen, deren Urteil aber nur wenig Verständnis zeigte. Drei fabelhafte Nerzpelze waren anwesend, darunter ein Pelz, der früher einer Prinzessin gehörte.

Die Herrlichkeiten, die den Raum füllten und in den Vitrinen glitzerten, verwirrten die Sinne. Die Summen und Unsummen, die durch den Saal schwirrten, steigerten die Erregung zum Fieber.

In der ersten Seitenreihe saß ein ältlicher vertrockneter Agent, der alle Dinge von Wert und erlesener Schönheit an sich riß. Er trug eine graugrüne schäbige Perücke über den gierigen Raubvogelaugen und kämpfte, das Gesicht bleich und naß vor Erregung, mit knarrender, trockener Stimme gegen alle diese phantastischen Summen. Als ein Manet, ein herrliches kleines Stück des Meisters, ausgeboten wurde, entstand zwischen ihm und einem bekannten Museumsdirektor ein erbittertes Duell. Andere Liebhaber und Sammler waren längst zurückgeblieben, nur die beiden kämpften noch. Der kleine Makler mit der Perücke trug den Sieg davon, und der Museumsdirektor verließ bleich und tödlich gekränkt den Saal. Mit der gleichen Heftigkeit kämpfte der Makler mit der Perücke um das alte Familiensilber des Barons Flottwell. Er schlug sich hier mit einigen Händlern und einer Schar von Specknacken wie ein Rasender – seine Stimme aber blieb gleichmäßig quäkend, trocken und unangenehm. Auch hier blieb er Sieger. Dieser Kampf war viel erregter als der Kampf um das Gemälde, denn das Tafelsilber Flottwells stand wie der Silberschatz eines Domes auf dem Auktionstisch aufgebaut. Die Damen in den Pelzen erhoben sich erregt von den Sitzen, ihre Augen funkelten, nie hatten sie so herrliches Silber gesehen. Der Kampf um das Silber wurde dramatisch. Mit Genugtuung sah man, daß ein Specknacken nach dem andern niedergekämpft wurde. Die Frauen gönnten niemandem diesen herrlichen Schatz. Ein Aristokrat, ein früherer bekannter Herrenreiter, kämpfte noch eine Weile um den Flottwellschen Schatz. Ihm hätte man ihn vielleicht gegönnt, aber auch ihm nicht. Weshalb denn? Schließlich war man sogar befriedigt, als der frühere Herrenreiter sich geschlagen geben mußte.

Der siegreiche Makler rückte sich die Perücke auf dem Kopfe zurecht und wischte sich mit einem nicht ganz sauberen Taschentuch den Schweiß vom Gesicht.

Welche Macht war hier auf dem Kampfplatz, die alles an sich riß? Zuweilen trieb der Makler mit der Perücke ein Objekt bis zu fabelhafter Höhe empor, um plötzlich abzuspringen. Aber das Silber? Welch eine phantastische Summe! Wer soll es haben? Ein Unbekannter?

Ein fetter Rücken flüsterte in das knorplige Ohr seines Nachbarn: »Es ist Schellenberg, was sagte ich Ihnen! Sehen Sie, dort steht er, jener große Herr, der sich Notizen in den Katalog macht.«

»Unmöglich!«

»Weshalb unmöglich? Ich sagte Ihnen ja –«

Wenzel Schellenberg folgte der Auktion mit aufmerksamer, gesammelter Miene und einem leisen gutgelaunten Lächeln. Nur zuweilen weiteten sich seine Augen, wie die eines Spielers, der einen hohen Einsatz wagt.

Einige Reihen vor ihm stand gegen die Wand gelehnt Herr von Stolpe, jener kleine Leutnant mit den rosigen Kinderwangen, der vor etwa drei Jahren den Waldverkauf vermittelt hatte. Er war anscheinend eifrig in den Katalog vertieft, und nur, wenn die Zahlen gespenstisch in die Höhe kletterten, streifte er mit einem unauffälligen Blick Wenzels Gesicht. Rollte Schellenberg den Katalog zusammen, so strich sich Stolpe unauffällig übers Haar, und in dem gleichen Augenblick sprang der Makler mit der grauen Perücke ab und überließ den andern das Schlachtfeld.

Nun ging es um die Louis-XVI.-Garnitur. Wiederum begannen die Zahlen wie Raketen in die Höhe zu schießen. Wiederum schien ein rasender Kampf zwischen dem Agenten mit der Perücke und einer Schar von Händlern bevorzustehen. Die Zahlen schossen derartig in die Höhe, daß der Saal unruhig wurde und die Frauen sich wiederum von den Sitzen erhoben. Stolpe wurde nervös. Er blickte auf Schellenberg. Aber Wenzel schien der Auktion gar nicht zu folgen. Er stand da und blickte zwischen den Köpfen hindurch, auf irgend jemand. Plötzlich wandte er zerstreut den Kopf, blickte in den Katalog, hörte die quäkende, trockene Stimme des Maklers und rollte den Katalog zusammen. Aber es war zu spät.

An den nächsten drei Objekten war Schellenberg nicht interessiert. Er blickte wieder zwischen den Kopfreihen hindurch: Es war hier auf der Auktion der Sammlung Flottwells, wo Schellenberg Jenny Florian wiedersah! Vor etwa drei Wochen hatte sie ihm Stolpe flüchtig vorgestellt. Er erkannte sie sofort wieder, an ihrem aschblonden Haar, das sie weich und schlicht in einem bescheidenen lockeren Knoten im Nacken trug. Ihr Profil, das er nun ruhig prüfen konnte, war klassisch schön. Eine gewölbte ruhige Stirne, darunter ein strahlendes, forschendes, klares Auge, das wie Perlmutter schimmerte. Das Gesicht, fein, träumerisch, in der Tat, Jenny Florian galt nicht umsonst als eine der schönsten Frauen Berlins. Nun fühlte sie den Blick und wurde unruhig.

»Wer war diese blonde Dame?«, hatte Wenzel damals Stolpe gefragt.

»Jenny Florian! Sie ist Schauspielerin, sie ist Tänzerin, man sagt, daß sie sehr gut modelliert und zeichnet. Sie singt auch.«

»Sie hat viele Talente. Alle Wetter!« Wenzel lachte.

 

2

Während einer Pause sah er Jenny Florian mit Stolpe und noch einem jungen Herrn, den er schon irgendwo flüchtig kennengelernt hatte, auf der Treppe plaudern. Er trat näher und machte eine kurze, knappe, etwas trockene Verbeugung. »Darf ich Ihnen guten Tag sagen, Fräulein Florian?«

Jenny errötete. Ihr klarer Blick wurde dunkler, und sie ließ den Kopf, wie sie es stets tat, wenn sie verlegen wurde, etwas auf die linke zarte Schulter sinken. »Herr Schellenberg!« sagte sie. Ihre Stimme war zart, aber sehr hell.

Schellenberg wandte sich an ihren Begleiter mit einer noch kürzeren, noch trockeneren Verbeugung. Diese Verbeugung hatte sich Wenzel in den letzten Jahren angewöhnt, sie war fast geschäftsmäßig und schien auszudrücken, daß er auf Bekanntschaften eigentlich nicht mehr den geringsten Wert lege. »Ich bitte um Entschuldigung,« sagte er. »Ich habe leider Ihren Namen nicht behalten.«

»Es ist der Maler Katschinsky, Herr Schellenberg,« warf Stolpe ein.

Katschinsky verzog etwas den schönen Mund, schob die Schultern in die Höhe und reichte Wenzel mit hochmütiger Lässigkeit die Hand. Er war nicht gekränkt, daß Schellenberg seinen Namen vergessen hatte, das konnte vorkommen. Die geschäftsmäßige Kühle aber, mit der Schellenberg ihn ansprach, verletzte seine Eitelkeit. Die Selbstverständlichkeit, die Sicherheit, wenn man nicht mehr sagen wollte, mit der Wenzel ohne weitere Umstände an Jenny herantrat, fand er im höchsten Grade unpassend. Wenn irgendein Mann von einigen Qualitäten mit Jenny plauderte, so fühlte er sich, so töricht es auch war, augenblicklich im Innersten erregt und bereit zu feindlicher Abwehr. Es war nicht Eifersucht, denn über derartige Gefühle war Katschinsky längst erhaben, es war die fortwährende dauernde Angst, daß Jenny an irgendeinem Manne Eigenschaften bewundern könne, die er nicht besaß. Wenzel war groß und stattlich, und der Glanz eines jungen, rasch und kühn erworbenen Reichtums umstrahlte ihn.

Wenzel beobachtete recht gut das hochmütige Zucken um Katschinskys Lippen, aber er ignorierte es. »Ich bitte um Verzeihung, Herr Katschinsky,« sagte er um vieles freundlicher. »Ich erinnere mich nun genau, wir trafen uns bei der Gräfin Poppow.« Glücklicherweise war ihm dies in der letzten Sekunde eingefallen, und während er sich wieder an Fräulein Florian wandte, erinnerte er sich eines unbehaglichen Gefühls, das er zuletzt im Salon der Gräfin Poppow empfunden hatte. Diese Gräfin Poppow lebte davon, daß sie jeden Sonntag ihren Salon einer Spielergesellschaft öffnete. Stolpe hatte Wenzel bei der Gräfin eingeführt. Er hatte dort einige Male gespielt, ohne jede Leidenschaft, ohne Genuß, und sich vorgenommen, den Salon der Gräfin Poppow zu meiden, ohne daß er einen bestimmten Grund angeben konnte. Die Atmosphäre sagte ihm nicht zu.

Unter den Spielern im Salon der Gräfin befand sich ein Russe, ein sehr eleganter junger Mann mit einem großen Brillanten am Finger. Diesen Brillanten hielt Wenzel für falsch, und es schien ihm gefährlich, mit Leuten zu spielen, die falsche Steine trugen. Er erinnerte sich, daß Katschinsky neben dem Russen saß und einmal ein Lächeln mit ihm austauschte. Dieses Lächeln hatte ihm mißfallen, er wußte nicht warum.

An all das dachte er, während er sich an Jenny Florian wandte: »Haben Sie etwas gesteigert, Fräulein Florian?«

Jenny errötete unter seinem Blick. »Oh, ich habe kein Geld!« rief sie aus, und nachdem sie das gesagt hatte, errötete sie ein zweites Mal.

Katschinsky richtete sich auf. Wie töricht, dachte er, muß sie ihm denn gleich sagen, daß sie kein Geld hat? Sie wird es nie lernen, es ist zum Verzweifeln!

»Lieben Sie diese schönen Dinge?« fragte Wenzel weiter. Die Verwirrung des jungen Mädchens entzückte ihn.

»Ich liebe sie leidenschaftlich!« erwiderte Jenny. »Woher kommt es, daß diese alten Dinge schöner sind als die unserer Zeit?«

Wenzel zuckte die Achseln. »Wer sollte heute soviel Geld haben, diese kostbaren Dinge herstellen zu lassen? Hat aber jemand die Mittel, so hat er sicherlich nicht den Geschmack.«

Es schien Katschinsky an der Zeit, ebenfalls etwas zu äußern, und nur um etwas zu sagen, warf er lässig hin: »In früheren Zeiten hatte der Mensch von Kultur die Möglichkeit, sich in den herrschenden Kunststil einzufühlen, heutzutage aber veraltet ein Kunststil innerhalb von drei Jahren.« Schellenberg hörte nur mit halbem Ohr zu, und Katschinsky schämte sich, etwas so Banales gesagt zu haben.

»Ich vermag die einzelnen Stile nicht zu unterscheiden,« sagte Jenny. »Ich fühle nur, das ist schön, oder das gefällt mir nicht. Haben Sie viel gekauft, Herr Schellenberg?«

Diese Frage fand Katschinsky wiederum taktlos. Seine Augen blendeten vorwurfsvoll. Was ging es sie an, ob Schellenberg kaufte oder nicht? Er ahnte nicht, daß Jenny nur aus Verlegenheit diese Frage stellte.

»Einiges, einige Möbel und einige Porzellane,« erwiderte Wenzel. »Ich kaufe weniger, weil ich mir ein besonderes Verständnis für Antiquitäten zuspreche, weniger aus ästhetischen Gesichtspunkten, ich kaufe vielmehr, weil ich in guten Antiquitäten eine bessere Kapitalsanlage sehe als in zweifelhaften Effekten.«

Jenny starrte ihn verständnislos an, so sehr hatte sie seine Offenheit verblüfft.

»In welchem Theater spielen Sie zur Zeit?« fragte Wenzel.

Sie errötete einige Male nacheinander und legte den Kopf ganz schief. »Ich spiele zur Zeit gar nicht,« sagte sie hastig. »Die hiesigen Direktoren wollen mich nicht haben.«

»Fräulein Florian beendet ihre Studien,« kam ihr Katschinsky zu Hilfe.

»Meine Frage war nicht Neugierde, Fräulein Florian,« fuhr Wenzel fort, »sie war höchst eigennützig. Würden Sie sich für den Film interessieren?«

Sofort war Jenny Feuer und Flamme. »Aber natürlich!« rief sie.

»Nun,« erwiderte Wenzel, indem er sich verabschiedete, »vielleicht darf ich mir erlauben, einmal auf unser Gespräch zurückzukommen. Ich unterhandle zur Zeit mit einigen großen Gesellschaften, aber die Dinge sind noch völlig in der Schwebe.«

Die Auktion ging weiter.

»Sehen Sie zu, daß uns die Meißner Uhr nicht entgeht,« raunte Wenzel Stolpe ins Ohr.

»Ich werde nicht verfehlen,« antwortete Stolpe mit einer knappen, unterwürfigen Verbeugung.

Um die Meißner Uhr entbrannte wiederum ein äußerst heftiger Kampf. Wiederum war es der frühere Herrenreiter, der ein Duell auf Leben und Tod mit dem Agenten Wenzels ausfocht.

Die Uhr war ein herrliches Stück von großer Kostbarkeit, im Empirestil. Das Besondere an ihr war ein wundervolles Schlagwerk, und während das Duell zwischen den beiden am heftigsten tobte, begann dieses Schlagwerk plötzlich zu spielen. Es war ein Glockenspiel. Schon bei den ersten Tönen setzte das Duell zwischen den beiden aus, und es wurde vollkommen still im Saal. Hell, rein, in unirdischen Tönen erklang aus der Uhr der Choral: »Ein’ feste Burg ist unser Gott –«

Als die letzten Töne verklangen, hörte man eine Frauenstimme schluchzen. Alle Blicke wandten sich einer weißhaarigen Dame zu, die mitten im Saal saß und das Taschentuch vors Gesicht preßte.

Schon aber setzte der Auktionator die Versteigerung fort. Man hörte wiederum die beiden Stimmen der Kämpfer, und die quäkende, trockene Stimme des Maklers siegte abermals.

Gleich nachdem der Agent den Sieg davongetragen hatte, erhob sich die alte Dame und verließ, den Schleier über das Gesicht gezogen, in verschämter Haltung den Saal.

Wenzel winkte Stolpe zu sich heran. »Sehen Sie zu,« sagte er zu seinem Adjutanten, »finden Sie heraus, wer diese alte Dame ist! Es interessiert mich zu wissen, ob sie in irgendeiner Beziehung zu dieser Meißner Uhr steht.«

»Sehr wohl,« erwiderte Stolpe und klappte mit den Hacken. Für derartige Aufträge war er glänzend zu gebrauchen. Wenzel war kaum in sein Bureau zurückgekehrt, als Stolpe ihm Bericht erstattete.

»Diese alte Dame«, sagte er, »ist eine Freifrau von Griesbach, Witwe eines Landrats. Die Uhr stammt aus ihrem Besitz. Sie lebt im alten Westen am Matthäikirchplatz. Ihre Verhältnisse sind noch leidlich geordnet, aber sie scheint Geld zu brauchen.«

»Nun, dann will ich Ihnen was sagen, Stolpe. Sie werden Frau von Griesbach persönlich die Uhr überbringen. Sie werden ihr sagen, daß wir uns erlauben, ihr die Uhr zurückzugeben. Frau von Griesbach könne uns das Vorkaufsrecht einräumen für den Fall, daß sie sich später doch noch von der Uhr trennen will. Ganz unter uns gesagt,« fügte Schellenberg hinzu, »so schön die Uhr ist, dieser sentimentale Choral würde mich krank machen. Ich würde das Spielwerk doch abstellen. Das aber brauchen Sie Frau von Griesbach nicht zu sagen.«

Stolpe entledigte sich seines Auftrages noch am gleichen Tage. Bei Schellenberg mußte alles rasch gehen, und Stolpe war schon einige Male, da er zur Nachlässigkeit neigte, Gefahr gelaufen, von Wenzel hinausgeworfen zu werden. Obwohl er nur eine Art Kammerdiener war, so fand er doch, daß er die angenehmste Beschäftigung habe, die man in diesem Berlin finden konnte. Keine Bureauarbeit, keine anstrengende Tätigkeit, keine besondere Verantwortung, fast den ganzen Tag im Auto unterwegs, in den Straßen voller Menschen. Und Schellenberg gab ihm ein hohes Gehalt. Wenzel war überhaupt ein Mann nach Stolpes Geschmack.

Dieses ganze Glück verdankte er dem Waldverkauf, den er vor etwa drei Jahren vermittelt hatte. Allerdings – Stolpe war nicht so einfältig, dies zu übersehen – hatte Wenzel Schellenberg mit diesem Wald ein Vermögen verdient! Wegen irgendeiner Klausel des Vertrags hatte er mit der Forstverwaltung prozessiert. Der Prozeß dauerte zwei Jahre, und als Wenzel schließlich bezahlen mußte – die Mark war damals noch nicht stabil –, zeigte es sich, daß er den ungeheuren Komplex für ein Butterbrot erhalten hatte.

Stolpe gab seine Karte bei Frau von Griesbach ab. Ein ältliches Mädchen, schüchtern, verblüht, empfing ihn. Sonderbar, so unsicher sich Stolpe Wenzel und seinen Geschäftsfreunden gegenüber benahm, so sicher wurde er, sobald er sich in seinen eigenen Kreisen bewegte. Er klappte mit den Hacken, dienerte, schnarrte, zog die Hose an den Fingerspitzen übers Knie, sprach ohne jede Stockung. Ein sonderbarer Auftrag! Das ältliche Mädchen errötete, stand auf und verließ das Zimmer.

Die großen Zimmer waren kalt und hell. Schon zeigte sich eine auffallende Kahlheit. An einigen dunklen Vierecken an der verblaßten Tapete erkannte man, daß Bilder von der Wand entfernt worden waren. Offenbar hatte man die Teppiche fortgenommen. Dort hatte eine Vitrine gestanden. Die Tapete zeigte ganz deutlich das Gespenst des Schrankes.

Frau von Griesbach erschien selbst, schwarzgekleidet, in ein Schultertuch eingehüllt, fröstelnd, mit spitzer Nase und kalkigem Gesicht. Sie war außerordentlich erregt. Wenzels Anerbieten schien sie tief verletzt zu haben.

»Wir sind allerdings verarmt,« rief sie mit einer dünnen, unangenehmen Stimme aus. »Wir sind gezwungen, ein Stück um das andere zu verkaufen, um das Leben zu fristen. Aber das ist doch kein Grund, daß uns jeder reichgewordene Börsenspekulant, jeder Jude –«

»Mamachen!« unterbrach sie das ältliche Mädchen mit zärtlicher Stimme.

Wer war dieser Herr Schellenberg, der da glaubte –? Nein, sie wolle um keinen Preis eine Gefälligkeit von einem völlig Unbekannten annehmen.

Hier aber erhob sich Stolpe, beteuerte, erklärte. Sein Chef, Herr Wenzel Schellenberg, bekleide den Rang eines Hauptmanns, sie verkenne ihn völlig. Es sei ihm einfach unmöglich, jemand eine geliebte Sache zu rauben. Frau von Griesbach war plötzlich völlig umgestimmt, gerührt über so viel Großherzigkeit. Sie willigte ein, die Uhr wenigstens noch einige Zeit bei sich zu haben. Ihr Herz hänge an der Uhr, besonders an dem Glockenspiel, das sie durch glücklichere Jahrzehnte begleitet habe. Die Uhr sei ein Erbstück ihrer Familie. Ihr Vater habe sie persönlich vom König von Sachsen bekommen. Sie vergoß sogar Tränen über Schellenbergs Großmut.

»Nur leihweise, Sie verstehen mich, Herr von Stolpe. Herr Schellenberg kann die Uhr jederzeit wieder abholen lassen.«

Sie ließ Wenzel eine silberne Tabakdose übersenden, um ihren Dank auszudrücken. Anders tat sie es nicht.

Als Stolpe Schellenberg die Tabakdose aushändigte, brach er in lautes Gelächter aus.

Am andern Tage überbrachte Stolpe die Uhr. Dazu ein großes Blumenarrangement, das Wenzel zum Dank für die Dose sandte.

 

3

Wenzel Schellenberg hatte sich in dem Bureauhaus in der Wilhelmstraße im Laufe der Jahre über alle Etagen ausgebreitet. Er hatte das Haus gekauft und die Mieter langsam, einen um den andern, hinausgedrängt. Nun war er dabei, zwei Etagen aufzustocken und der Fassade das rechte Gesicht zu geben.

Wenzel Schellenberg kam wie eine Lawine daher.

Er besaß einen ganzen Park von Automobilen und ein halbes Dutzend der edelsten Reitpferde. Er hatte die Dampfjacht einer Herzogin gekauft. Von dem ersten Architekten Berlins, Kaufherr, hatte er sich eine Villa in Dahlem bauen lassen. Die Villa war indessen noch nicht im Rohbau fertig, da zeigte es sich, daß sie viel zu klein für ihn war. Er erwarb einen Bauplatz im Grunewald, wunderbar an einem kleinen See gelegen. Hier baute Kaufherr zur Zeit das Schellenbergsche Palais, ein Schloß sozusagen, wie es seit Jahrzehnten in Berlin nicht mehr errichtet worden war.

Wenzel hatte in den ersten Jahren gekauft und verkauft, alles, was ihm gut schien, wo er einen Gewinn witterte. Es war nicht sein Verdienst, daß er immer gewann. Es war der Sturz der Mark, der ihm die Reichtümer in den Schoß warf. Er hatte Raucheisens Wort nicht vergessen, daß keine Macht der Welt imstande sei, die Mark aufzuhalten, bevor sie nicht in Atome zersplittert sei. Er kaufte Wälder, Schiffe, Terrain, Güter, Bergwerke, Fabriken. Als die Ziegeleien ausgeschlachtet wurden, kaufte er alle Ziegeleien, die er auftreiben konnte. Als die Gärtnereibetriebe in den Glashäusern unrentabel wurden und ganze Städte aus Glas ausgeschlachtet wurden, ließ Wenzel aufkaufen, was nur erreichbar war. Ganze Straßenzüge in den Provinzstädten gehörten ihm. Diese Narren, die verärgert waren durch die Schikanen der Mietgesetze und die geringen Zinserträge, ließen sich von den Zahlen verwirren. Um die Häuser, die Schellenberg gehörten, kümmerte er sich nicht. Es war eine besondere Abteilung, und zwei Anwälte fochten die Legion von Prozessen aus, die die Mieter gegen Wenzel führten.

Wenzel kaufte in Papiermark. Wenn er aber verkaufte, so forderte er wenigstens einen Teil der Kaufsumme in Devisen. Das war gegen das Gesetz, aber das kümmerte ihn nicht. Niemand, der nicht ein völliger Narr war, kümmerte sich um Gesetze, die einen jeden ruinieren mußten, der sie befolgte. Seine Verträge aber waren so entworfen, daß es auch nicht die kleinste Masche gab, durch die man entschlüpfen konnte.

Dann kaufte er Patente und Erfindungen, die ihm aussichtsreich schienen. In irgendeiner zweifelhaften Gesellschaft hatte er einen Patentanwalt kennengelernt, der dem Alkohol völlig verfallen war, aber eine ausgezeichnete Witterung für gewinnversprechende Erfindungen hatte. Er engagierte ihn, und es war ihm völlig gleichgültig, daß der Patentanwalt nur einen Tag in der Woche wirklich brauchbar war. Er opferte für diese Patente viel Geld, aber eine einzige glückliche Erfindung warf ihm die zehnfache Summe in den Schoß. Er gründete eine Fabrik in Holland, die ungeahnte Gewinne abwarf. Von dieser Fabrik wußte überhaupt nur sein erster Direktor, Goldbaum, sonst niemand. Sie erschien nicht in seinen Büchern.

Wenzel schnitt niemandem die Kehle durch, um die Wahrheit zu sagen. Wenn er erfuhr, daß ein Vertrag allzu große Nachteile für den Kontrahenten hatte, so machte er großzügige Konzessionen. Bei Raucheisen hatte es das nicht gegeben. Ein Vertrag war ein Vertrag, und wenn er den Kontrahenten zermalmte.

Allmählich kam in seine Geschäfte System und Gedanke. Eine Zeitlang warf er sich auf die Papierfabrikation. Er brachte eine große Anzahl von Papier- und Zellulosefabriken in seine Hand. Diese Fabriken besaß er noch heute, aber sie waren längst nicht mehr die Hauptobjekte des Konzerns. Mit dem größten Teil seines Vermögens hatte er sich auf die chemische Produktion geworfen, deren Hauptabsatzgebiet im Auslande lag. In dieser Zeit hatte er häufig lange Besprechungen mit Michael, der ihm manchen gewinnbringenden Rat gab. Er hatte die Absicht, Michael für seine Firma zu gewinnen. Aber Michael wies auch die phantastischsten Angebote zurück.

Die Arbeit war keineswegs einfach. Sie erforderte große Energie und eine unverwüstliche Gesundheit. Wenzel gönnte sich keine Ruhe. Er arbeitete sechzehn Stunden und mehr am Tage. Er schlief mit dem Telephonhörer am Ohre ein, und wenn es sein mußte, saß er nach dreistündigem Schlaf, bevor es noch recht Tag war, schon wieder im Auto. In all den drei Jahren hatte er noch nicht drei Wochen Ferien im ganzen gemacht. Je bewegter der Tag war, je fiebernder, desto wohler fühlte sich Wenzel. Es war ganz genau so, als ob er am Spieltisch saß und pointierte, er spielte nun den ganzen Tag. Es war nichts anderes für ihn als ein fortwährendes Hasardieren. Wenzel hatte sogar schon seine Grabschrift in diesem Sinne entworfen. Auf seinem Grabstein sollte einmal stehen: »Hier ruht Wenzel Schellenberg, der Spieler.«

Er liebte diese Tätigkeit mehr als alles. Ja, nun gehörte er zu jenen, die »auf den Knopf drückten«. Die Türen sprangen auf, die Direktoren und Beamten stürzten mit Mappen und Akten über die Korridore …

Unter seinen Mitarbeitern und Agenten befand sich eine größere Anzahl ehemaliger Offiziere, sogar ein General war unter ihnen. Alle drängten sich an ihn heran, der Erfolg war wie ein Magnet, das Geld zog an. In allen Augen entdeckte er die Gier nach dem Besitz und die Begierde, das Geheimnis seiner Erfolge zu ergründen. Alle demütigten sich um dieses elenden Geldes willen.

Wenzel Schellenberg war eine Macht geworden. Er hatte ein ungeheures Vermögen zusammengerafft, eine Masse von Geld, die anschwoll, abebbte und wieder anschwoll. Als man daranging, die Mark zu stabilisieren, traf Wenzel seine Vorbereitungen. Ohne jeden Zweifel mußte eine völlige Änderung der ganzen Wirtschaft eintreten. Um seine Unternehmungen flüssig zu halten, würde er für den Übergang riesige Summen benötigen. Man erinnert sich noch an jene Börsentage, da die Effekten sich von einer Börse zur andern verdoppelten. Es waren schwere Tage für Wenzel. Mit dem starren Gesicht des leidenschaftlichen Spielers, der alles wagt, saß er da und wartete. Zwei, drei Börsentage wartete er ab, dann aber entschloß er sich. Als alle Welt noch glaubte, daß dieses Spiel sich endlos fortsetzen würde, verkaufte er seinen gesamten Aktienbesitz.

Es war eine Donnerstagbörse. Diesen Tag würde er nie vergessen. Er hatte die Order gegeben. Seine Finanzdirektoren, gewiegte und gerissene Burschen, hatten ihn beschworen, zu warten, besonders der dicke Goldbaum, der sein ganzes Leben auf der Börse verbracht hatte. Gegen alle diese Stimmen hatte er den Auftrag zum Verkauf gegeben.

Goldbaum fuhr blaß wie eine Leiche zur Börse. Noch heute mußte Wenzel lachen, wenn er an diese Szene dachte. Und es ist wahr: Er lachte auch damals! Denn es war ihm schließlich gleichgültig, ob er morgen das Doppelte oder nur den zehnten Teil besaß. An diesem Börsentage hatten die Kurse der meisten Papiere sich verdoppelt, an der nächsten Börse aber krachte das ganze Gebäude zusammen. Innerhalb von zwei Tagen hatte Schellenberg sein Vermögen verdoppelt und verdreifacht. Er war flüssig, er hatte Millionen zur Verfügung. Und selbst Raucheisen, dieser riesige Konzern, schwankte in diesen Tagen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn der alte Raucheisen ihn nicht kaltgestellt hätte, weil er zehn Minuten zu spät kam, wie?

Schellenberg trat als Geldgeber auf und diktierte die Zinssätze. Während Tausende von Unternehmungen in dem Höllenstrudel versanken, stand Schellenberg wie ein Leuchtturm in der Brandung.

 

4

Wenzel besaß zwei große Fabriken für Rohfilme. Sie lagen im Rheinland. Schon vor längerer Zeit hatte er ein Patent erworben, das die Herstellung farbiger Filme in großer Vollendung gewährleistete. Es waren nicht jene Filme mit grellen Farben. Die Farben waren weich getont, wie Pastell. Auf dieses neue Verfahren setzte Wenzel große Hoffnungen.

Häufig hatten große Filmkonzerne eine Geschäftsverbindung mit ihm gesucht. Aber Wenzel war bis heute nicht dazu zu bewegen gewesen, sich an der Filmproduktion auch nur mit einem Pfennig zu beteiligen. Die Rentabilität war nicht sicher und die Filmleute so gerissene Geschäftsleute, daß er ihnen nur mit der größten Vorsicht begegnet war. Die Filmindustrie war in den letzten Monaten völlig niedergebrochen. Man wandte sich immer dringender um Kredite an Wenzel, und in den letzten Monaten hatte ihm ein bekannter Filmkonzern verlockende Angebote gemacht. Sein Finanzberater, der dicke Goldbaum, hatte stundenlang auf ihn eingeredet. Aber Wenzel zögerte. Vielleicht bekam Goldbaum Prozente, wenn er das Geschäft vermittelte? Vielleicht? Sicher bekam er sie. Goldbaum hatte sich Reichtümer erworben, deren Quellen nicht bekannt waren. Nun gut, weshalb nicht? Er machte Geschäfte wie jeder andere, wie alle seine Mitarbeiter.

Als Wenzel Jenny Florian im Auktionssaal von Duval & Co. erblickte, forschte er augenblicklich nach einer Möglichkeit, mit der schönen Schauspielerin in Verbindung treten zu können. Während er mit ihr auf der Treppe sprach und ihre helle Stimme und der Reiz ihres scheuen Benehmens ihn entzückten, hatte sich dieser Wunsch in ihm verstärkt. Mit welcher Inbrunst hatte sie, als er sie fragte, ob sie diese schönen Dinge liebe, geantwortet: »Ich liebe sie leidenschaftlich!« Kindliche Begierde und Sehnsucht strahlten aus ihren Augen, während sie diese Worte sprach. In diesem Augenblicke empfand Wenzel das Verlangen, daß diese Frau ihm näherkommen möchte, und da fielen ihm plötzlich die Verhandlungen mit dem Filmkonzern ein. Nur aus diesem Grunde hatte er sie gefragt, bei welchem Theater sie zur Zeit spiele. Es traf sich günstig, daß sie ohne Engagement war.

Schon am Tage nach der Versteigerung rief er Mackentin und Goldbaum zu sich, um mit ihnen die Frage des Kredits an den Filmkonzern erneut zu beraten. Goldbaum war hocherfreut, daß er auf diesen Gegenstand zurückkam. Sein fettes, mit hellroten Bartstoppeln bedecktes Gesicht strahlte, seine kleinen Augen blitzten listig hinter dem schiefen Kneifer. Mackentin aber verzog mißmutig das Gesicht mit der schiefen Nase.

»Versuchen Sie die äußersten Bedingungen zu erzielen und ziehen Sie die Daumenschrauben tüchtig an.« ‚Die Daumenschrauben‘, das war ein stehender Begriff im Schellenbergschen Sprachschatz geworden. »Sehen Sie zu, daß wir im Laufe des morgigen Vormittags eine Besprechung mit den Herren haben können.«

»Sie wollen also wirklich diese hohe Summe daran setzen?« fragte Mackentin düster, zu Wenzel emporschielend.

»Ich habe meine Gründe.«

Mackentin sah Wenzel an und machte eine kleine Verbeugung. »Schön, schön,« erwiderte er. »Die Konferenz wird im Laufe des morgigen Vormittags stattfinden.«

Einige Tage später erhielt Jenny Florian von der Odysseus-Film-Gesellschaft einen äußerst höflichen Brief mit der Aufforderung, sich sobald wie möglich im Bureau der Gesellschaft vorzustellen. »Herr Wenzel Schellenberg hatte die große Liebenswürdigkeit, uns auf Ihre Begabung aufmerksam zu machen.«

»Herr Wenzel Schellenberg!«

Jenny errötete. Sie las den Brief einigemal und fühlte, wie ihre Hand eine leichte Lähmung überkam. Dann aber geriet sie in einen wahren Freudentaumel. Sie kleidete sich hastig an und stürzte augenblicklich zu Katschinsky.

»Sieh diesen Brief!« rief sie aus. »Es ist die Odysseus-Gesellschaft!«

Aber Katschinsky schien über diese frohe Botschaft gar nicht so sehr erfreut zu sein. Er nahm den Brief mit zwei Fingerspitzen auf und kniff die Lippen zusammen. »Ah, Schellenberg,« sagte er, leise und spöttisch lachend, und kräuselte die Stirne bedeutungsvoll.

»Vielleicht ist es möglich, daß du ebenfalls bei der Gesellschaft ankommst?« Jennys Stimme schmeichelte, sie sah, daß er blaß geworden war.

Katschinsky setzte ein verletztes Lächeln auf. »Ich brauche keine Protektion,« sagte er gekränkt.

»Aber nun höre zu!« rief Jenny und warf sich aufgeregt in einen Sessel. »Sie schreiben, ich möchte ihnen eine kleine Szene vorspielen, damit sie wissen, wie sie mich am günstigsten herausstellen können. Was für eine Szene soll ich spielen? Rate mir!«

Katschinsky ging nachdenklich auf und ab. »Was für eine Szene? Nun, wir wollen darüber nachdenken. Strindberg? Willst du eine Szene aus Strindbergs ‚Christine‘ spielen?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, nicht Strindberg.« Sie berieten hin und her. Endlich sprang Jenny ungeduldig auf. »Wir wollen zu Stobwasser gehen, vielleicht fällt ihm etwas ein.«

Stobwasser saß still, das Antlitz voller Sammlung, in seinem Atelier, umgeben von seinen Papageien, Kakadus, Staren und seiner Katze, und modellierte an einer kleinen Tierplastik. Er begriff nicht sofort, was die beiden wollten, die ihn überfallen hatten. Dann aber glühte in seinen dunklen Augen die Wärme auf. »Das ist ja eine herrliche Sache, Jenny!« rief er aus. »Ich beglückwünsche Sie herzlich!«

»Das Auge eines Finanzgewaltigen ist auf Jennys blonden Scheitel gefallen,« sagte Katschinsky sarkastisch.

Jennys Gesicht wurde hellrot, wie im Fieber. »Es wird dir nicht gelingen, mir die Freude zu verderben!« rief sie aus. Sie lachte dabei, aber sie schämte sich für Katschinsky, der selbst vor Stobwasser seine Eifersucht nicht verbergen konnte.

Stobwasser aber schob die Arbeit zur Seite und begann nachzudenken. Ja, was sollte Jenny spielen? Es war natürlich von der größten Wichtigkeit, daß das Debüt erfolgreich verlief. Schließlich hob er die Hände zur Decke empor. »Himmel, eine Inspiration!« rief er aus. »Laß uns nachdenken, Katschinsky. Von diesen zehn Minuten kann Jennys ganze Zukunft abhängen. Wir wollen ins Café gehen und beraten.«

Im Kaffeehaus wurde beschlossen, daß Jenny weder Strindberg noch sonst einen Dichter spielen sollte. Sie sollte eine kleine Szene vorspielen, die ihr schauspielerisches Talent und alle die Vorzüge ihrer Erscheinung ins rechte Licht setzen sollte. Ja, aber was für eine Szene?

Plötzlich hatte Jenny eine Inspiration. »Ich werde folgende Szene spielen!« rief sie aus. »Seid still! Ich spiele einen Mannequin in einem Modesalon. Das heißt, nicht einen Mannequin, sondern eine Wachspuppe. Ein schöner Herr geht vorüber, die Wachspuppe erwacht langsam zum Leben. Der Herr fühlt es, dreht sich um, nun wird sie ganz lebendig. Sie plaudert mit dem Herrn. Da aber kommt der Abteilungschef, sie erstarrt wieder zu einer Wachspuppe. Aber sie ist nicht an der richtigen Stelle erstarrt. Nun muß sie sich ganz langsam zu ihrem Postament zurückbegeben. Endlich steht sie wieder auf dem alten Platz. Wie gefällt euch dies?«

Katschinsky schüttelte den Kopf. Er war nicht zufrieden.

Stobwasser aber sprang begeistert auf. »Was für eine wunderbare Szene!« rief er aus. »Sie werden Augen machen. Wenn sie Sie dann nicht engagieren, ist ihnen nicht zu helfen!«

»Sie werden sie engagieren,« sagte Katschinsky mit großer Bestimmtheit.

»Wieso weißt du das?« fragte Jenny, verletzt durch seinen Ton.

Katschinsky lenkte ein. »Ich wollte sagen, wenn du die Szene gut durcharbeitest, so bin ich überzeugt, daß du Erfolg haben wirst.«

Jenny aber hatte seine Gedanken wohl erraten. Sie erhob sich. »Ich werde nun gehen, um gleich mit der Arbeit zu beginnen,« sagte sie.

Katschinsky hob seinen Blick flehend zu ihr. Sie schien ihn nicht zu bemerken.

 

5

Jenny hatte ihre kleine Szene »Die verliebte Wachspuppe« bis in die letzten Einzelheiten ausgearbeitet und hundertmal vor dem Spiegel eingeübt.

Man empfing sie bei der Odysseus-Gesellschaft mit äußerster Zuvorkommenheit. Sie brauchte nicht eine Sekunde zu warten. Die Türen öffneten sich von selbst, und über lange Korridore wurde sie direkt in das Heiligtum des Direktoriums geleitet.

Eine Sekretärin nahm sie zur Seite und übergab ihr mit geheimnisvoller Miene einen Brief. Es war ein kurzes Schreiben Schellenbergs, der sie ermahnte, keinerlei Vertrag zu unterschreiben, bevor er ihn nicht gesehen habe. Er wünsche die Angelegenheit mit ihr gründlich zu besprechen und würde sich freuen, wenn sie übermorgen die Oper mit ihm besuchen könne, da er am Tage keine freie Minute habe.

Jenny las. Oh, sie verstand, sofort war ihr Gesicht fieberrot.

Im Direktionszimmer erhoben sich einige elegant gekleidete, beleibte Herren, höflich, ja fast unterwürfig.

»Haben Sie sich irgend etwas ausgedacht, womit Sie uns überraschen werden, Fräulein Florian?« fragte einer der Direktoren.

Jenny erzählte kurz ihre Szene. Ihre Augen waren vor Angst doppelt so groß geworden.

Man war sehr zufrieden mit dem Einfall. Dann begann sie, aber sie spielte verwirrt und schlecht.

»Ich muß noch einmal anfangen,« sagte sie.

»Bitte, seien Sie ganz ruhig. Es besteht kein Grund zur Erregung.« Die Herren verschwanden tief in ihren Sesseln, um sie ja nicht zu stören.

Als sie die kleine Szene schlecht und verwirrt gespielt hatte, drückten ihr die Direktoren anerkennend die Hand. »Wir werden sehen, Fräulein Florian. Es wird nötig sein, Sie in einer ganz besonderen Sache herauszubringen. Sie sollen der Star unserer Gesellschaft werden. Der Vertrag, den wir Ihnen anbieten, läuft über drei Jahre. Sie können ihn morgen unterzeichnen.« Unter vielen Bücklingen komplimentierten die Direktoren Jenny hinaus. Als sich aber die Polstertür hinter Jenny geschlossen hatte, sahen sie einander bedeutungsvoll an.

»Es ist eine Katastrophe,« schrie der eine der wohlbeleibten Direktoren. »Sie ist ja eine völlige Dilettantin!«

»Sie ist begabt,« warf der Regisseur ein. »Und sie ist hübsch, ja schön. Ihr Körper ist ohne Tadel, ihre Bewegungen sind ungekünstelt, reizvoll, bezaubernd, rührend, voller Musik. Sie war heute verwirrt und unsicher. Überlassen Sie sie mir. In zwei Monaten ist sie nicht wiederzuerkennen.«

»Zwei Monate! Oh! du gerechter Himmel!«

Katschinsky wurde kreidebleich, als Jenny ihm Schellenbergs Brief zeigte. »Wirst du gehen, Jenny?« fragte er, indem er die grauen Augen streng auf sie heftete.

»Natürlich werde ich gehen! Ich gefährde doch nicht meinen Ruf, wenn ich mit einem Herrn eine Opernvorstellung besuche, der guten Kreisen angehört?«

»Aber weißt du denn, wer Wenzel Schellenberg ist? Gute Kreise? Zugegeben, er war früher Offizier – sein Ruf ist jetzt nicht der beste. Du weißt, daß er einer der rücksichtslosesten Ausbeuter ist, die heute in Deutschland leben. Dazu ist er einer der bekanntesten Frauenjäger Berlins. Er hat die Frauen zu Dutzenden. Er kauft sie, wie man Ware kauft!« Katschinskys Stimme bebte.

Nun war es an Jenny, blaß zu werden. »Beruhige dich,« versuchte sie ihn zu besänftigen, bebend unter seinen versteckten Beschimpfungen. »Ich habe dir nie Anlaß gegeben, mich für leichtsinnig zu halten. Wie töricht ist deine Erregung! Ich werde die Oper mit ihm besuchen, um nicht ungefällig zu erscheinen, und das ist alles.«

»Also du gehst?«

»Ja, ich gehe.«

Krachend flog die Türe ins Schloß.

Jenny weinte. Sie warf sich auf die schmale Ottomane ihres bescheidenen Zimmers. Dann aber erhob sie sich, wusch sich die Augen, kühlte die Wangen mit Kölnischem Wasser.

»Soll er gehen,« sagte sie, während sie sich eine Zigarette anzündete. »Ja, soll er gehen! Schluß, Schluß, Schluß! Oh, wie gut es ist, daß es zu Ende ist!« Jetzt erst wurde sie zornig. Sie stieß mit dem Fuß auf den Boden. »Er ist anmaßend, er ist lächerlich. Und was ist er schließlich? Sobald ein Mann Erfolg hat, beschimpfen ihn die andern Männer! Es ist Zeit, es ist hohe Zeit, daß ich diese Verbindung löse! Ich aber habe gefallen,« fuhr sie in anderem Tone fort, triumphierend, und wiegte sich tänzelnd in den Hüften, während sie auf dem abgetretenen Teppich hin- und herging. »Mein Engagement ist perfekt. Ich werde meinen Weg machen. Und Schellenberg –« Freude durchströmte sie. »Sofort werde ich an Papa schreiben.«

Jenny Florian stammte aus Lübeck. Hier kannte sie jedermann. Sie hatte als kleines Mädchen Gedichte vorgetragen und Blumensträuße überreicht, wenn eine hohe Persönlichkeit ihre Vaterstadt besuchte. Mit zwölf Jahren hatte sie bei einem Festzug in bedeutender Rolle mitgewirkt. Mit vierzehn Jahren bekam sie einen Preis bei einem Schwimmfest. Wer sollte Jenny Florian nicht kennen? Täglich ging sie durch die Breite Straße, zwischen fünf und sechs Uhr, wie alle Welt. Mit sechzehn Jahren malte und modellierte Jenny Florian. Eine Buchhandlung arrangierte eine kleine Ausstellung ihrer Arbeiten, und die Kritiker der Zeitungen schrieben anerkennende Aufsätze darüber. Mit siebzehn Jahren trat Jenny Florian beim Stadttheater als Volontärin ein und feierte in einigen kleinen Rollen Triumphe. Wer sollte also Jenny Florian nicht kennen? Man prophezeite ihr eine große Zukunft. Sie galt als das größte Talent ihrer Vaterstadt, und es war nicht zweifelhaft, daß sie eines Tages eine berühmte Künstlerin werden würde. Vielleicht Malerin, vielleicht Schauspielerin, vielleicht auch eine berühmte Sängerin? Denn es war bekannt, daß Jenny eine wunderbare Stimme habe. Erschien sie nur auf der Straße, so wandten sich alle Leute nach ihr um.

Es war klar, daß die kleine Stadt Lübeck nicht der Ort war, wo Jennys große Begabung sich entwickeln konnte. Ihr Vater, ein Beamter, stolz auf seine begabte Tochter, sandte sie zuerst auf die Kunstschule in Hamburg. Dann aber ging sie nach Berlin, um sich ernsthaft der Bühne zu widmen.

In Hamburg, auf der Kunstschule, hatte sie Katschinsky kennengelernt, und in Berlin hatten sie sich natürlich wieder getroffen. Katschinsky hatte in dieser Zeit einige kleine Erfolge erzielt. Ein paar Witzblätter brachten einige seiner Karikaturen. Bei einer Ausstellung wurde er anerkennend von der Kritik erwähnt. Sie sah zu ihm auf. Katschinsky begleitete sie in die Museen, er führte sie in die Theater, erzählte ihr Interessantes über diesen und jenen Bühnenkünstler, Anekdoten, Klatsch. Er führte sie in das Künstlercafé und zeigte ihr diese und jene Berühmtheit. Er stellte sie jungen Malern, Architekten, Schriftstellern vor, führte sie in verschiedenen Ateliers ein. Er war ein unschätzbarer Mentor. Mehr als das: er liebte sie.

Nun aber war Jenny in einen großen Konflikt geraten. Schon seit einigen Monaten hatte sie es sich vorgenommen und immer gezögert. Von Woche zu Woche. Sie wollte sich von Katschinsky trennen! Sie entfernte sich von ihm täglich mehr, aber er schien es nicht zu bemerken. Ihr Urteil war rasch reifer geworden. Sie erkannte, daß sie die Persönlichkeit des Freundes überschätzt hatte. Sie sah plötzlich seine Fehler und Schwächen. In den Zeiten, da sie ihn zu lieben glaubte – denn in Wahrheit hatte sie ihn nie geliebt, das wußte sie jetzt –, in diesen Zeiten hatte sie zu ihm gesagt: »Du bist so schön wie Apollo.« Nunmehr aber sagte sie zu ihm: »Dein Mund ist zu weich, du hast den Mund eines Mädchens.« Sie hatte sein seidenes, blondes Haar geliebt, nun aber fand sie, daß dieses Haar zu zart, zu seidig, viel zu mädchenhaft war. Noch vor Monaten hatte sie aller Welt die Tugenden Katschinskys gepriesen. Es gab keinen uneigennützigeren Menschen. Nunmehr aber wußte sie, daß Katschinsky nichts war als ein Egoist, der nur an sich dachte und an nichts anderes. Mehr als einmal mußte sie sich überzeugen, daß er sie belog. Und nichts haßte sie mehr als die Lüge. Sie war in Verlegenheit, er versicherte, kein Geld zu haben, aber doch ging er da und dort hin, in dieses Café, in jene Diele. Ihr Vater sandte ihr jeden Pfennig, den er entbehren konnte. Es war nur wenig, aber dieses Wenige teilte sie mit Katschinsky, wenn es ihm schlecht ging. Sie vergaß es ihm nicht, daß er einmal Geld von ihr borgte, um, wie er sagte, einem kranken Freunde beizuspringen. Sie gab ihm das Geld und lebte eine Woche von Tee und Weißbrot. Dann aber erfuhr sie, daß Katschinsky das Geld von ihr geborgt hatte, um auf einen Maskenball zu gehen. Sie erfuhr es ganz durch Zufall. Sie erfuhr aber auch durch Zufall, daß Katschinsky eine Liebelei mit einer Verkäuferin angefangen hatte und von dem Mädchen Geld nahm. Mehr und mehr wurde es ihr klar, daß man seinen Worten nicht vollen Glauben schenken konnte. Oh, mehr als das, es wurde ihr klar, daß er fast immer log. In letzter Zeit hatte er sie auch bei seinen neuen Freunden eingeführt, wo man spielte, aber sie hatte sich vorgenommen, in Zukunft diese Kreise zu meiden.

»Bedenklich,« sagte sie sich, »scheinen mir seine neuen Bekanntschaften und Ambitionen.«

Ganz allmählich war der Glanz verblaßt, in dem sie den einst Vergötterten gesehen hatte.

An all das dachte sie, während sie an ihren geliebten alten Vater schrieb, um ihn durch die Nachricht zu erfreuen, daß sie einen dreijährigen Kontrakt mit einer der ersten Filmgesellschaften abgeschlossen habe. Der Vertrag sei so gut wie perfekt. Über die Bedingungen würde sie morgen berichten. Aber während sie schrieb – ausführlich schilderte sie den heutigen Empfang bei der Gesellschaft, nur den Namen Schellenberg erwähnte sie nicht –, während sie schrieb, quälte sie dieser Konflikt, in dem sie sich befand. Ich werde mit Katschinsky brechen, sagte sie sich. Oh, ich hätte es schon längst tun sollen. Was wird er nun glauben? Er wird allen Leuten erzählen, daß –

Das aber war nicht alles, nein. Das allein hätte sie nicht so gepeinigt, es kam noch etwas dazu, und das war weit fürchterlicher: Sie fühlte, daß ihr dieser Wenzel Schellenberg nicht gleichgültig war. Ja, es war unzweifelhaft, sie fühlte es zu deutlich. Oft schien es, als stocke ihr der Atem, ihr schwindelte. Und dann schien es wieder, als habe man mit einem haarscharfen Messer ihre Brust geritzt und ein Tropfen Blut fließe über ihre Brust herunter. Es war keine Selbsttäuschung möglich: sie sehnte sich nach diesem großen, breitschulterigen Mann mit dem etwas derben Gesicht und dem – wie war es doch, sein Lächeln? Verächtlich, überheblich? Sie sehnte sich nach ihm, mehr noch, sie liebte ihn, sie wußte es, und daß sie ihn liebte, das war entsetzlich! Nicht sein Geld liebte sie, seinen Reichtum, seine Schätze, Pferde und Automobile. Sie wollte nicht sein Geld. Nicht einen Pfennig würde sie von ihm annehmen. Sie wollte nicht seine Pferde und Automobile, was gingen sie die an? Er protegierte sie. Sollte er nicht das Recht haben, sie zu protegieren? Zugegeben, daß der Vertrag mit der Odysseus-Gesellschaft ohne seine Vermittlung niemals zustande gekommen wäre. Er wollte ihr gefällig sein. Konnte sie es ihm verbieten? Katschinsky aber hatte stets nur an sich gedacht, und selbst jetzt empfand er nichts als Eifersucht, weil sie Erfolg hatte.

Aber am entsetzlichsten war es, daß nicht ihr Herz allein erregt war, auch ihre Sinne. Was würde werden? Was würde geschehen? Er würde es ihr sofort ansehen, auf den ersten Blick. »Ratet mir, was soll ich tun?«

»Mein lieber, geliebter alter Seehund,« schloß Jenny den Brief. Seehund war ihr Kosename für den Vater, der, mit seiner Glatze, seinen runden Augen und seinem hängenden Schnauzbart tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Seehund hatte. »Mein geliebter alter Seehund, morgen schreibe ich mehr. Es gehen hier große Dinge vor. Ich fühle es, daß ich glücklich sein werde!«

Dies schrieb sie, es floß von selbst aus der Feder, während die Qual sie zerriß. Mochte es stehen bleiben.

Sie verschloß den Brief und trug ihn zum Kasten. Dann ging sie langsam durch die Straßen, um nachzudenken, um sich zu sammeln, um das heiße Gesicht zu kühlen. Sie legte die Fingerspitzen an die Schläfen und wiederholte immer die gleichen Worte: »Was soll geschehen? Er wird es mir sofort ansehen! Ich werde nicht in die Oper mit ihm gehen. Ich werde abschreiben.« Sie blieb stehen und fragte sich: Wann? Ist es übermorgen? Das sind noch achtundvierzig Stunden weniger zwei, also sechsundvierzig Stunden. Sie ging nach Hause und zeichnete auf einen Briefbogen sechsundvierzig Quadrate, und wenn eine Stunde vergangen war, strich sie ein Quadrat aus.

Sie las, aber die Zeit stand still, die Uhr stockte, sobald sie sich über das Buch beugte. Sie ging auf und ab.

Gut? Nein, sein Gesicht ist nicht gut, aber es ist etwas Gutes darin. Und dann ist etwas Furchtbares darin. Seine Stimme ist oft so laut. Immer verschwendet er Kraft, auch wenn er spricht. Wenn man in den Sternen lesen könnte –! Sie trat ans Fenster und blickte über die dunkeln Giebel. Keine Sterne, nichts. Aber was war das? Was kam da zwischen den Schornsteinen hervor? Sie erschrak. Was war das? Licht, gleißendes Licht stieg in die Höhe, verzehrte die finstern Schornsteine, breitete sich aus zu einem gleißenden Tor. Es war der Mond.

»Darf man dieses Anzeichen günstig nennen, ohne die Götter zu erzürnen?« fragte sich Jenny und legte sich nieder, den Glanz des Mondes in der Brust. Als sie am Morgen erwachte, konnte sie acht weitere Quadrate ausstreichen.

An diesem Vormittag kam Katschinsky zu ihr, verstört, bleich, die Augen gerötet, mit zuckendem Mund, schweigsam. »Was ist geschehen, um Gottes willen?« fragte sie bestürzt.

Er stand und blickte starr auf den Briefbogen mit den unverständlichen Quadraten. »Meine Mutter ist gestorben,« sagte er. »Ich muß heute nach Hamburg fahren.«

Sie umschlang ihn und preßte ihren Kopf gegen seine Brust. »Armer, armer Freund,« sagte sie. »Tröste dich.«

Er sah sie an. »Wirst du auch jetzt noch in die Oper gehen?« fragte er.

»Nein,« erwiderte sie rasch, »ich werde abschreiben.« Aber sie wußte, daß sie log. Schwache Menschen, Eifersüchtige muß man belügen, um Ruhe vor ihnen zu bekommen. Sie freute sich, daß er wegfahren mußte. Oh, wie weit weg war sie schon von ihm.

 

6

Langsam wurde die Überzahl der dunklen Quadrate erkennbar. Nun waren es nur noch vierundzwanzig Stunden. Nur um einige Stunden totzuschlagen, ging sie in ein Caféhaus, obwohl sie diesen Abend am liebsten allein verbracht hätte. Am nächsten Morgen stand sie frühzeitig auf und begann mit den Vorbereitungen ihrer Toilette für den Abend. Ihre Garderobe war armselig, fast wäre sie verzweifelt. Dann aber begann sie mit ihren geschickten Händen zu arbeiten. Sie stürzte aus dem Hause, kaufte Kleinigkeiten, Handschuhe, und am Abend fand sie, daß sie ganz annehmbar gekleidet war. Schellenberg brauchte sich ihrer ganz gewiß nicht zu schämen. Am Nachmittag kam ein Bote mit der Nachricht, daß der Wagen um ein Viertel nach sieben vor dem Hause warten würde. Genau ein Viertel nach sieben Uhr verließ sie ihr Zimmer. Der Wagen stand da. Aber zu ihrer Enttäuschung fand sie nicht Schellenberg, sondern den kleinen Stolpe vor dem Wagen stehen. Sie verlor fast die Besinnung.

Mein Gott, wie entsetzlich! sagte sie sich. Wie kann man sich nach einem Menschen so wahnsinnig sehnen!

Stolpe überbrachte Wenzels Entschuldigung. Herr Schellenberg sei noch in einer sehr wichtigen, gänzlich unerwarteten Konferenz und könne zu seinem Bedauern erst später in die Oper kommen. Stolpe sei beauftragt, ihr vorläufig Gesellschaft zu leisten.

Nun, das ging an. Jenny atmete wieder, während sie den Schmerz einer leichten Kränkung zu verwinden suchte. Auch nicht die dringendste Konferenz hätte ihn abhalten dürfen. Schon aber urteilte sie milder. Augenblicklich, sie hatte kaum Platz genommen, überschüttete sie Stolpe mit einem Schwall von Worten. »So geht es bei uns Tag für Tag, Fräulein Florian,« seufzte er, indem er sich in die Ecke des Autos fallen ließ und nach Luft rang. »Von sieben bis acht ritten wir schon unsere Stunde im Tiergarten ab, Galopp, Springen, anders geht es bei Schellenberg nicht. Dann Konferenzen bis elf Uhr. Um elf Uhr im Flugzeug nach Leipzig. Mittagessen: zwei Eier im Glas, einen Mokka, einen Kognak. Um fünf Uhr zurück, geschlafen im Flugzeug, wieder Besprechungen und Konferenzen. Ich habe gewiß nichts zu lachen. Sechzehn bis siebzehn Stunden bin ich täglich im Dienst, und so geht es Tag für Tag, auch am Sonntag. Es ist mir unbegreiflich, wie Schellenberg das aushält. Was gibt man eigentlich in der Oper?«

Jenny hatte aufmerksam auf sein Geschwätz gehört. Alles interessierte sie, was Schellenberg betraf, alles. »Man gibt ‚Figaros Hochzeit‘,« antwortete sie lächelnd. »Sie wissen es nicht?«

»Nein, ich bitte um Verzeihung, Fräulein Florian, woher sollte ich es wissen? Ich wurde ja erst vor einer Viertelstunde zu diesem allerdings sehr, sehr angenehmen und ehrenvollen Auftrage kommandiert. Haben Sie übrigens den Vertrag der Gesellschaft mitgebracht? Nun, dann ist es gut. Ich atme auf. Schellenberg befahl mir, Sie daran zu erinnern. Und hier – ich bitte um Verzeihung – sind die Blumen, Kamelien. Schellenberg hat sie in Leipzig gekauft, und ich hätte sie beinahe vergessen. Er hat sie mir ans Herz gelegt, Fräulein Florian. Loben Sie mich, wenn er fragen sollte, ob Sie mit mir zufrieden waren. Er war heute schon sehr ungnädig! Nein, ich habe ein schweres Brot, glauben Sie mir.«

Jenny richtete die Augen hell auf Stolpe. »Weshalb arbeitet Herr Schellenberg so angestrengt?« fragte sie. »Kann er sich nicht irgendwie entlasten?«

»Es ist mir gewiß unverständlich,« erwiderte der kleine Herr von Stolpe. »Ich weiß es nicht. Entlasten, sagen Sie? Entlasten? Gänzlich unmöglich. Er macht alles selbst. Der Drang zur Tätigkeit ist bei ihm wie eine Krankheit. Eine ganze Bibel von Depeschen schleudert er am Tage hinaus. Am Abend aber, sollte man annehmen, sinke er tot um. Aber nein, weit gefehlt, am Abend wirft er sich in Gala, und dann geht es los: Theater, Gesellschaften, Spiel. Es ist mir rätselhaft, wann er schläft. So geht es nun schon drei volle Jahre. Unverständlich. Dabei ist er immer in prächtiger Laune. Sie werden ja sehen, Fräulein Florian. Ein sonderbarer Mensch ist Schellenberg, ein ganz sonderbarer Mensch! In meinem ganzen Leben habe ich einen solchen Menschen noch nicht kennengelernt. Wenn ich ihn auch zuweilen verfluche – ich würde umsonst für ihn arbeiten. Er hat Format, sehen Sie, das ist es. Format! Alles an ihm ist groß, schrankenlos, ohne Grenzen.« Während der ganzen Fahrt schwärmte Stolpe von Wenzel Schellenberg. Er bewunderte ihn.

Und Jenny lauschte! Sonderbar genug, dieser unbedeutende Stolpe, dieses rotbäckige, mit den Absätzen knallende Nichts, bei dessen Anblick sie früher die Brauen hochzog, war ihr plötzlich fast sympathisch geworden.

In der Oper verwandelte sich Stolpe in einen schweigsamen Lakai, der steif hinter ihr saß. Nur in den Pausen wagte er leise und devot nach ihren Wünschen zu fragen. »Eine Erfrischung, Fräulein Florian? Ein Glas Sekt?«

Kurz vor Beginn des Schlußaktes wurde die Tür geöffnet, und Wenzel trat in die Loge. Stolpe verschwand ohne Abschied, wie ein Schatten. Wenzel begrüßte Jenny, bat um Entschuldigung, und kaum hatte er neben ihr Platz genommen, als das Orchester schon wieder einsetzte.

Jenny geriet in große Erregung. Ihre Brust flog. Sie suchte sich zu beherrschen, vergebens. Sie fühlte Wenzels Blick, der prüfend, ohne jede Hast über sie glitt. Diesen Blick, der sie bei jedem andern Mann empört hätte, sie empfand ihn als Lust. Der Blick tastete über ihr Profil, über ihr Haar, über ihren Nacken, über ihre Arme, und sie begann unter diesem Blick zu zittern. Welche Macht hat er über mich, wer wird mir beistehen? Dann aber spürte sie diesen Blick plötzlich nicht mehr. Wenzels Atem ging ganz leise und auffallend regelmäßig. Sie blickte zur Seite und sah, daß er die Hand vor die Augen gelegt hatte, als ob er schlafe. Und in der Tat, während Mozarts Musik dahinrauschte und das ganze Haus mit Zauber, Wundern und Wohlgerüchen erfüllte, schlief Wenzel Schellenberg still in seinem Sessel.

Jenny versuchte ihm böse zu sein. Ihre Wangen wurden noch schmaler, ihr Blick unglücklich und verletzt. War es, auch wenn man die größte Nachsicht übte, nicht der Gipfel der Taktlosigkeit: erst kam er nicht, und dann schlief er ein? Nie hätte ein anderer Mann das gewagt! Sie versuchte bitterböse zu werden – aber sie vermochte es nicht! Er schläft, er ist müde, dachte sie, sonst nichts, und lächelte.

Der Beifall weckte Wenzel. Er rieb sich die Augen und starrte auf die im Applaussturm sich verneigenden Sänger wie auf eine Schar von Narren. »Ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung, Fräulein Florian, daß ich schlief,« rief er aus und lachte. »Anfangs hörte ich noch die Musik, und dann schlief ich plötzlich ein. Ich war furchtbar müde. Ist es zu Ende?«

Seine Aufrichtigkeit söhnte sie wieder vollends mit ihm aus. Ihre schönen Augen lächelten Verzeihung.

Schellenberg hatte ein erlesenes Souper in einem stillen, feierlichen Restaurant bestellen lassen – in dem gleichen Restaurant, wo er vor Jahren mit Michael soupierte.

Es gibt Menschen – so dachte Jenny Florian –, die man nie kennenlernt, die sich verhüllen, verschleiern, mit ihrem Willen oder gegen ihre Absicht. Dumme, eingebildete, überhebliche unglückliche Wesen. Wiederum gibt es Menschen, die sich erst nach Jahren langsam erschließen, und es gibt Menschen, sie sind selten, mit denen man in der ersten Minute vertraut ist. Das sind die Ehrlichen, Einfachen, Reichen, die sich nicht scheuen, die Türe weit aufzumachen. Zu diesen Menschen, so schien es Jenny, gehörte Wenzel Schellenberg. Er machte keine Redensarten, versuchte nicht zu fesseln, geistreich zu erscheinen, vorzutäuschen, er posierte nicht, er war schlicht und einfach und gerade. Nach einer kurzen Befangenheit hatte Jenny das Gefühl, als ob sie Wenzel schon jahrelang kenne.

Zum erstenmal wagte sie ihm voll ins Gesicht zu sehen, zum erstenmal sah sie ihn wirklich. Dieses Gesicht war breit, derb, fast etwas bäurisch, aber fest und groß. Die Haut war rissig, braun, wie Leder. Die Augen hingen wie unregelmäßige Scherben darin. Und es war sonderbar, es schien Jenny, als sähe sie in diesem Augenblick zum erstenmal wirklich ein menschliches Gesicht. Alles, was sie sich früher über das menschliche Antlitz gedacht hatte, schien Vorurteil und Nachempfindung. Nun also begann es, nun trat sie ins Leben ein, nun sah sie das Gesicht des Menschen, wie es wirklich ist – ohne Beschönigung.

»Haben Sie Mut, Fräulein Florian?« fragte Wenzel, die grauen Augen, deren Blick etwas kalt schien, fest auf sie gerichtet.

Diese undurchsichtige Frage erschreckte Jenny. »Mut? Wozu Mut, Herr Schellenberg?« fragte sie, den schmalen Kopf verlegen zur Seite geneigt.

»Mut, dem Leben in die Augen zu sehen?«

»Oh, ich weiß nicht, ob ich diesen Mut habe. Vielleicht –?«

»Ich hoffe es, obschon dieser Mut in unserer Zeit selten geworden ist. Die kleinlichen gesellschaftlichen Maßstäbe haben die Menschen im allgemeinen zu einem erbärmlichen Gesindel gemacht. Ich kenne Leute, die Angst davor haben, ihre Miete nicht bezahlen zu können, die das Urteil ihres Portiers fürchten, die bei dem Gedanken zittern, gelegentlich, wegen irgendeiner Sache, ein paar Wochen eingesperrt zu werden. Ja, so lächerlich sind diese Menschen in diesem Zeitalter geworden. Klein und ekelhaft – ich verabscheue sie! Wissen Sie, was es bedeutet: Mut zu haben, dem Leben in die Augen zu sehen? Es bedeutet den Mut zu haben, unter Umständen auch zugrunde zu gehen. Diesen Mut müssen Sie haben, Fräulein Florian. Sie wissen, daß auch der wilde Tiger sich wie eine Katze zu Füßen des Bändigers legt, wenn er nur Mut hat.«

»Ich habe entsetzliche Angst vor Tigern!«

»Um so größer muß Ihr Mut sein, Fräulein Florian. Denn Sie haben es ja im Leben nicht mit Tigern zu tun, sondern mit Menschen. Der Tiger ist gewiß eine achtunggebietende Erfindung des Schöpfers. Aber er könnte noch schrecklicher sein. Zum Beispiel, wenn er imstande wäre, sein Gebiß mit der Tatze herauszunehmen und meilenweit nach seinem Opfer zu schleudern. Das alles aber kann der Mensch, der weitaus schrecklicher ist als der Tiger. Er opfert für seine Eitelkeit, seinen Ehrgeiz, seine Genußsucht, ohne mit der Wimper zu zucken, Tausende von Mitmenschen, für seinen Wahnsinn Millionen, was auch dem wildesten Tiger nicht in den Sinn käme.«

»Wie schrecklich Sie den Menschen sehen!«

»Aber, Fräulein Florian, auch dieser furchtbare Mensch wird sich demütig zu Ihren Füßen niederlegen, wenn Sie nur Mut haben. Und Sie werden diesen Mut haben. Auf Ihre Gesundheit!«

Jenny hob das Glas. Die Erregung färbte langsam ihre Wangen mit einem zarten Orangehauch, der Wenzel entzückte. Es ist ein Rot, wie es Ziegelsteine abfärben, dachte er.

»Die meisten Menschen scheitern im Leben,« fuhr er fort, »weil sie feige sind! Es wird sich also darum handeln, Fräulein Florian, daß Sie alle Ihre Fähigkeiten steigern und meistern. Sie haben viele Talente, erwidern Sie nichts, ich sehe es an jeder Ihrer Bewegungen. Ich gestehe es Ihnen ganz offen, daß ich mich lebhaft für Ihre Talente interessiere. Ich selbst bin ohne jede Begabung, wenn man es nicht eine Begabung nennen will, daß jemand mit Kanonen schießen kann. Die Beherrschung von Maschinen aber – heute maßlos überschätzt – ist eine Kunst für Kinder und Schwachsinnige, nicht mehr. Um so mehr ziehen mich Menschen mit Talenten an. Endlich also komme ich zu meinem Ziel. Ich bitte um die eine Gunst, Ihnen ein Berater sein zu dürfen, anfangs wenigstens. Später brauchen Sie weder mich noch den Teufel! Ihr ganzes Dasein muß auf die Pflege und Schulung Ihrer Talente eingestellt sein, ohne daß es ausartet, mißverstehen Sie mich nicht. Sie werden vorerst ein bißchen filmen, und vom Film werden Sie zur Bühne kommen. Ein paar Jahre zähester Arbeit – hören Sie! –, und die Welt liegt zu Ihren Füßen, ich weiß es.«

Jenny lächelte verwirrt, beglückt. Glaubte er so bedingungslos an sie?

Ohne jede Pause aber fuhr Wenzel fort: »Und morgen beginnen wir, Fräulein Florian! Sagten Sie nicht, daß Sie auch tanzen? Schön, damit werden wir anfangen. Ich werde sehen, daß ich einen hervorragenden Lehrer für Sie finde, der Sie ausbildet. Ich werde mich ebenso nach einem Schauspieler umsehen, der Ihnen etwas geben kann. Sie werden täglich reiten, wenn es Ihnen Freude macht. Meine Pferde stehen sich die Beine lahm im Stall. Sie werden Ihre jetzige Wohnung mit einem guten Hotel oder einer vorzüglichen Pension vertauschen. All diese Dinge sind nicht unwesentlich und spielen eine größere Rolle, als Sie vielleicht ahnen. Ihr Tag wird eingeteilt sein, Sie werden sich disziplinieren. Ohne Disziplin ist nichts! Glauben Sie nicht an die Legende des Genies, dem es der Herr im Schlafe gibt. Wollen Sie sich meiner Leitung anvertrauen?«

Oh, ob sie wollte! Sie fühlte hier eine ungeahnte, ungewöhnliche Kraft des Willens, und sie begann plötzlich Wenzel Schellenbergs Erfolge zu begreifen.

»Seien Sie selbstbewußt, stolz, ohne töricht eitel zu sein –« Plötzlich änderte Wenzel den Ton. »Da fällt mir ein,« sagte er, »wo ist der Vertrag der Filmgesellschaft? Darf ich ihn sehen? Man kann nie vorsichtig genug sein.« Aufmerksam studierte er den Vertrag. »Es ist gut so,« sagte er dann. »Sie werden für jeden Film, den Sie spielen, ein besonderes Honorar erhalten und dazu ein Fixum. Werden Sie mit zweitausend Mark im Monat reichen?«

»Aber gewiß.«

»Nun, dann unterzeichnen Sie den Vertrag. Ich werde als Ihr Wächter hinter Ihnen stehen wie der Erzengel mit dem Schwert. Ich glaube nicht an die Liebe, Fräulein Florian, aber ich glaube an die Kameradschaft und schätze sie höher ein als die Liebe. Ich hoffe, wir werden gute Kameraden werden.«

 

7

Lise war den ganzen Tag sehr erregt. Am Abend um sechs Uhr sollte Frau von dem Busch in Berlin eintreffen. Trotzdem Lise sich schon am frühen Nachmittag fertig gemacht hatte, sich förmlich »abhetzte« – trotzdem kam sie zehn Minuten zu spät auf den Bahnhof. Zu ihrem großen Glück mußte der Zug einige Minuten Verspätung gehabt haben. Die Reisenden strömten gerade über den Bahnsteig.

Lise sah die Mutter neben dem Waggon stehen, eingehüllt in Mantel und Pelzkragen. Ihr Hut hatte einen zu breiten Rand. Dazu trug sie einen Schleier. Frau von dem Busch liebte es, sich für die Reise extravagant zu kleiden: etwa wie eine etwas schrullenhafte englische Millionärin. Einige Jahre zurück, aber kostbar im Material.

Frau von dem Busch winkte mit dem Schirm. Diese Bewegung erschien Lise ungnädig und ungeduldig.

»Da bist du ja, Mamachen!« rief Lise aus und stürzte in die Arme der Mutter. »Verzeihe, daß ich mich verspätet habe, aber das Auto hatte eine Panne.« Sie log zu ihrer Entschuldigung, obwohl es gänzlich unnötig war.

»Oh, dieses Berlin!« seufzte Frau von dem Busch, die mit großer Aufmerksamkeit ihr Handgepäck im Auge behielt. »Hier, Träger Numero zweiundvierzig, nehmen Sie das Handgepäck. Vergiß die Nummer nicht, Lise.«

»Welch häßliches Wetter du mitgebracht hast, Mamachen.« Es schneite in dicken Flocken. Aber die Flocken zerrannen sofort wieder auf dem Pflaster.

Endlich war das Gepäck verstaut und sorgfältig nachgezählt.

»Gott sei Dank, das wäre überstanden,« sagte Frau von dem Busch, und ihre Stimme wurde klar und sicher. »Die Ankunft ist immer das Schlimmste. Wie geht es zu Hause, Lise? Ja, mein Kind, ich bin gekommen, um deine Angelegenheiten etwas in die Hand zu nehmen.«

»Ich freue mich, daß deine Erkältung vollkommen verschwunden ist, Mamachen,« lenkte Lise ab. Sie wollte nicht, daß ihre Mutter schon im Wagen von diesen unerquicklichen Dingen spreche.

»Es war nicht eine Erkältung, Lise. Es waren zwei und dazu das Rheuma. Der Winter war sehr schlecht.«

Wieviel Gepäck sie mitgebracht hat, dachte Lise. Wie lange wird sie bleiben wollen?

Die beiden Kinder, Gerhard und Marion, empfingen die Großmutter im Treppenhause. Sie hatten länger als eine halbe Stunde vor der Tür gewartet. Als sie die Großmama erkannten, stießen sie ein lautes, freudiges Geheul aus.

»Aber so tobt nicht so, ihr Wildfänge,« besänftigte sie Frau von dem Busch. »Was sollen die Leute sagen? Kommt erst herein!« Sie herzte und küßte die Kinder, und ihr sonst etwas frostiges Gesicht strahlte glücklich. Sie errötete vor Freude. »Da sieht man euch endlich wieder, und wie reizend sie euch herausgeputzt haben.«

Das Mädchen gab sich den Liebkosungen der Großmutter vollkommen hin. Sie schmiegte sich mit ihrem ganzen Gewicht in ihre Arme und wäre herabgestürzt, hatte man sie nicht festgehalten.

Gerhard dagegen war zurückhaltend und scheu. Er wand sich abwehrend, so gut es ging, ohne daß es allzusehr auffiel, in den Armen der Großmutter. Er liebte es nicht, von ihr abgeküßt zu werden. Wo sie ihn küßte, entstand ein nasser Fleck, und das haßte er. Sie hat ja einen Schnurrbart, dachte Gerhard. In der Tat, Frau von dem Busch hatte einige dünne Härchen auf der Oberlippe, die für gewöhnlich aber niemand beachtete.

»Lege doch erst ordentlich ab, Mamachen.«

Frau von dem Busch trug noch den Mantel. Nur den Pelzkragen hatte sie abgeworfen. Ihr Hut saß etwas schief von den Liebkosungen der Kinder.

»Ich kann mich nicht satt an ihnen sehen!« rief sie aus. »Marion hat genau solche hübsche rote Backen, wie du sie hattest, Lise. Jede ein Apfel. Gerhard sieht nicht so wohl aus. Das ist ein ganz anderes Gesicht,« sagte sie zögernd, und Gerhard, der sie nicht verstand, aber ahnte, daß diese Worte nichts Angenehmes bedeuteten, sah sie mit einem argwöhnischen Blick an.

Frau von dem Busch stopfte den Kindern Schokolade in den Mund. »Und du, wie heißt du?« wandte sie sich plötzlich an das Zimmermädchen.

»Ich heiße Marie,« antwortete das Mädchen und lachte. Das Mädchen lachte nur, weil Frau von dem Busch sie duzte.

»Weshalb lachst du? Bei mir sollte ein Mädchen es sich einfallen lassen, so zu lachen. Bringe eine Nadel und einen Faden, siehst du nicht, daß eine Masche von Marions Strumpf rinnt. Oh, diese Mädchen von heute haben keine Augen im Kopf.«

Gerhard mußte der Großmutter die französische Grammatik bringen und ihr zeigen, wie weit er bereits in den Lektionen gekommen war. »Und, wie sagt man: Hier bin ich, Gerhard?« fragte sie. Gerhard wußte wohl, wie man sagte, aber er empfand es beleidigend, daß man ihm alberne Fragen in dieser herrischen Form vortrug, und so antwortete er nicht. Seine grauen Augen glänzten abweisend, es waren Wenzels Augen. Zudem entdeckte die Großmutter Eselsohren in der Grammatik, und sie versprach Gerhard, ihm morgen zu zeigen, wie man ein Buch einbindet.

»Ein stolzes, eigenwilliges Kind, Lise,« sagte die Großmutter. »Aber schon ist die große Begabung des Vaters unverkennbar.«

Lise staunte.

Endlich war die Begrüßung zu Ende. Frau von dem Busch hatte die Reisekleidung abgelegt. Sie küßte Lise, sah ihr lange und zärtlich in die Augen, und dann begaben sich die beiden Frauen in das Speisezimmer.

»Ich habe gleich decken lassen, Mamachen.«

»Oh, wie gut, ich bin ordentlich hungrig. Ja, es war höchste Zeit, daß ich wieder einmal nach Berlin kam, um mit dir über all die Dinge zu sprechen.«

»Wollen wir zuerst essen, Mamachen?« fragte Lise und zerknitterte die Stirne.

Nach Tisch aber – nachdem die Kinder zu Bett gebracht worden waren – gab es für Frau von dem Busch kein Halten mehr. »So,« sagte sie und lehnte sich in den Sessel zurück, und Lise wußte, daß die Mutter nunmehr von dem wichtigen Thema nicht mehr abzubringen war. »Also,« begann Frau von dem Busch, »ihr zankt euch noch immer?«

»Zankt?« Lise sah die Mutter verständnislos an.

»Zankt, ja. Ihr seid beide Kinder. Auch Wenzel, Gott, was für ein Kind er ist, ein wilder Junge, der dumme Streiche macht. Aber man muß zugeben – und ich habe es ja auch nie geleugnet –, daß er viele gute Eigenschaften hat. Zum Beispiel, er ist kühn, mutig, entschlossen, das ist eine Eigenschaft, die nicht alle Männer, ja, die wenigsten, haben. Dabei ist er ja eigentlich gutmütig –«

Lises Gesicht flammte. »Mama,« unterbrach sie die Mutter, sofort erregt. »Du scheinst die Situation, die du ja zur Genüge kennst, absichtlich verkennen zu wollen.«

»Absichtlich? Ich bitte recht herzlich, mein Kind.«

»Ja, absichtlich. Du weißt sehr gut, daß es zwischen mir und Schellenberg aus ist, ein für allemal zu Ende.«

Frau von dem Busch lächelte nachsichtig. »Das sind nur Worte, Lise,« entgegnete sie. »Ich habe Eheleute gekannt, die dreimal geschieden wurden und sich immer wieder heirateten. Wenzel ist eine schrankenlose Natur, er mußte sich austoben. Ich bin überzeugt, daß er jetzt schon anderer Meinung geworden ist. Jedenfalls werde ich den Versuch machen –«

Lise machte Miene aufzustehen. »Ich habe es dir hundertmal wiederholt, Mama,« sagte sie mit eigensinnig zerknitterter Stirn. »An eine Aussöhnung ist nicht zu denken. Wenigstens was meine Person betrifft, nie, niemals. Und auch Schellenberg –«

Zärtlich griff Frau von dem Busch nach Lises Hand. »Ich meine es ja nur gut mit dir,« fuhr sie fort, »wir können doch über all diese Dinge ruhig und offen sprechen. Deshalb bin ich ja nach Berlin gekommen. Man hört so viel. Neulich war Oberst von Carlowitz aus Berlin bei mir. Was er alles erzählte! Dieser Wenzel, wer hätte es gedacht, soll ja eine ganz fabelhafte Karriere gemacht haben! Wer hätte ihm das zugetraut? Oberst von Carlowitz sagte, Wenzel sei einer der fabelhaftesten Köpfe von Berlin. Das heißt, ich will offen sagen, an Wenzels großen Fähigkeiten habe ich ja nie gezweifelt.«

Lise verzog die Lippen. »Es quält mich, Mama,« sagte sie.

»Aber ich verstehe nicht, wieso soll es dich denn quälen? Man muß über all diese Dinge ruhig sprechen können. Der Zeitpunkt einer Aussöhnung scheint dir also noch nicht gekommen zu sein? Das ist schade, sehr schade. Ich hätte es begrüßt. Oberst Carlowitz erzählte, daß Wenzel sich in geradezu blendenden Verhältnissen befindet. Er sprach von ungeheuren Reichtümern.«

Gequält preßte Lise die Hände an die Schläfen. »Oh, Mama, ich will nichts von diesen Reichtümern. Ich will nichts von diesem zusammengescharrten Geld!«

Frau von dem Busch öffnete erstaunt den Mund. »Wie töricht du bist!« rief sie aus. »Du bist ja immer noch seine gesetzmäßige Frau! Wie gut ist es, daß ich wieder einmal gekommen bin. Du bist eine Künstlerin, eine Idealistin, du verstehst es natürlich nicht, deine Interessen wahrzunehmen.«

»Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe,« erwiderte Lise gelangweilt.

»Du bist zufrieden? Und Oberst von Carlowitz erzählte, vielleicht übertreibt er, daß Wenzel vor kurzem die Jacht einer Großherzogin gekauft habe!« Frau von dem Busch wollte alles, jede Einzelheit wissen, sie war ja nur zu diesem Zwecke nach Berlin gekommen.

Lise wiederholte, daß sie nichts Neues zu erzählen habe. Sie hatte ja über alles bereits hundertfach schriftlich und mündlich berichtet. Das war die Wahrheit. Bis auf jene Dinge, die Lise absichtlich verschwieg, war Frau von dem Busch in alles eingeweiht.

Als Lise eingesehen hatte, daß Wenzel auf keinen Fall mehr zu ihr zurückkehren würde, hatte sie sich, wenn auch unter Qualen, damit abgefunden. Sie spielte zuerst die Rolle der verkannten, verlassenen Frau. Sie war auch in der Tat viele Monate wirklich unglücklich. Sie sah plötzlich alle guten Eigenschaften Wenzels im hellsten Lichte erstrahlen. Aber die Zeit ging, die guten Eigenschaften verblaßten, und die schlechten Eigenschaften traten hervor. Nunmehr sah sie nur noch die schlechten Eigenschaften Wenzels, und sie sah ein, daß ein Mensch wie er »nicht zu ihr paßte«. Das anfängliche Unglück aber hielt sie nicht ab, ihr Leben wenigstens äußerlich in den gewohnten Formen fortzuführen. In ihrem Salon gingen Damen und Herren aus und ein. Man kam zum Essen, wann man wollte, zum Tee. Man konnte zu Lise Schellenberg immer kommen, immer gab es Umarmungen und Küsse. Es verging fast kaum ein Tag, an dem nicht drei, vier Besuche dagewesen wären. Zweimal in der Woche spielte ein Quartett, jeden Tag war Gesangsstunde, dazu Konzerte, Theater, Einladungen aller Art. Als es mehr und mehr bekannt wurde, daß Wenzel Reichtümer erwarb, beobachtete Lise, daß das Interesse an ihrer Person sich wesentlich erhöhte. Man betrachtete sie aufmerksam, und ihre Freundinnen begannen auf diese Veränderung hinzuweisen. »Lise, man hört Dinge –« Aber Lise richtete sich sofort überempfindlich auf und machte weiteren Ausführungen mit einem Blick ein Ende. »Sprechen wir nicht davon, kein Wort mehr.«

Es lag nicht in Wenzels Natur, geizig zu sein. Er hatte kein Arg gegen Lise im Herzen. Im Gegenteil, er wußte, daß er sie tief verletzt hatte. Da waren ja auch seine beiden Kinder, und es lag ihm daran, daß sie eine vorzügliche Erziehung genossen. Lises Ansprüche aber wuchsen von Monat zu Monat.

Michael fungierte in diesen Jahren als Vermittler zwischen dem Bruder und Lise. Wenzel, der klare Verhältnisse liebte, hatte ihr durch Michael und den Anwalt mehr als einmal die Scheidung vorgeschlagen und ihr glänzende Vorschläge in materieller Hinsicht gemacht. Oft war Lise nahe daran gewesen, anzunehmen. Aber seit sein Reichtum notorisch geworden war, setzte sie allen Vorschlägen ein eigensinniges Nein entgegen.

Sie kaufte Wäsche, sie kaufte Kleider und Schuhe, sie kaufte Hüte und Pelze, aber die Rechnungen ließ sie alle Wenzel zustellen. Er befahl, daß sie bezahlt werden sollten, daß man aber den Firmen mitteilte, daß er nicht mehr für die Schulden seiner Frau aufkäme. Er fing an mit einzelnen Firmen zu prozessieren. Lise ging zu anderen Firmen, und wieder kamen Stöße von Rechnungen.

»Es tut mir leid, daß sie mich zu anderen Schritten zwingt,« sagte Wenzel mit einem bösen Lächeln. Er übergab die Angelegenheit einem seiner Anwälte. Und die Richter, die beim Anblick dieser Rechnungen kaum die Sprache zurückfanden, entmündigten Lise.

Als der Anwalt Lise diese Nachricht mitteilte, wurde Lise zum erstenmal in ihrem Leben wirklich ohnmächtig. Drei Tage lang schwankte sie kreidebleich durch die Wohnung. »Ich hätte nicht gedacht, daß er ein Schuft ist,« sagte sie. »Das ist die furchtbarste Enttäuschung, ich hielt ihn nur für leichtfertig.«

Natürlich hatte Lise der Mutter diese beschämende Sache mit der Entmündigung nie mitgeteilt. Sie hatte ihr nur angedeutet, daß sie mit Wenzel prozessiere, da er die Rechnungen – Schuhe, Kleider, Wäsche für die Kinder – beanstande.

Und über diesen Prozeß, der nach Lises Darstellung noch immer nicht beendet war, geriet Frau von dem Busch an diesem Abend abermals in helle Erregung.

»Wie gut ist es, daß ich wieder einmal gekommen bin, um nach dem Rechten zu sehen, Lise!« rief sie aus. »Die Anwälte machen mit dir natürlich, was sie wollen. Morgen werde ich zu Justizrat Davidsohn gehen. Er ist ein alter Freund von Papa. Und dann noch etwas. Weißt du, Lise, wozu ich mich entschlossen habe, jetzt in dieser Minute?« Frau von dem Busch hatte sich vor Erregung erhoben und blickte Lise mit einem kühnen Blick an.

»Wozu, Mama?« fragte Lise.

»Ich werde morgen zu Wenzel gehen! Ja, ich werde es tun!«

»Er wird dich nicht einmal empfangen, Mama,« entgegnete Lise mit einem spöttischen Lächeln.

Schon funkelten die Augen der alten Dame zornig. »Oh, er wird es nicht wagen, mich abzuweisen,« sagte sie und ballte die kleine, bleiche Faust.

 

8

Lise gab sich alle Mühe, der Mutter den Aufenthalt in Berlin so angenehm wie möglich zu machen. Frau von dem Busch wollte nur eine Woche in Berlin zubringen, um sich hierauf in ein Sanatorium zu begeben. Wahrscheinlich in den Weißen Hirsch bei Dresden. Ihre Nerven waren angegriffen und ihr Darm geschwächt. Überhaupt fühlte sie sich noch nicht ganz erholt.

Die Damen besuchten Theater, Konzerte. Lise gab Einladungen. Die Wohnung wimmelte von Menschen. Das berühmte Quartett spielte, Lise sang. Ein Lohndiener mit weißen Handschuhen reichte den Tee. Frau von dem Busch saß mit ihrer weißen Haarkrone, umringt von Damen und Herren, und strahlte vor Entzücken. Man sagte ihr Schmeicheleien über ihr Aussehen, über Lise und Lises Stimme. »Hören Sie doch, dieser Ton!« Sie war eine noch schöne Frau, mit roten Wangen. Besonders schön waren ihre gepflegten, mit Ringen geschmückten Hände. Ihr linkes Augenlid war etwas gelähmt und bedeckte das Auge um eine Kleinigkeit mehr als das rechte. Das gab ihrem Gesicht den Ausdruck großer Nachdenklichkeit und geheimnisvoller Verschwiegenheit.

Die Woche war längst vorüber, aber Frau von dem Busch traf noch nicht die geringsten Anstalten abzureisen. Wie lange bleibt sie noch? fragte sich Lise. Sie liebte die Mutter aufrichtig, aber sie ertrug ihre Gegenwart nach einer Reihe von Tagen nur schwer.

»Herrlich ist es bei dir in Berlin, Liebling,« sagte Frau von dem Busch und tätschelte Lises volle, weiche Wangen. An den Vormittagen »arbeitete« sie im Haushalt. Das heißt, sie beschäftigte die Mädchen. Die Gardinen wurden gewaschen, die Türen und Fenster abgeseift. Die Garderobe wurde nachgesehen, die Wäsche. Dann wurden die Fußböden gewichst. Frau von dem Busch selbst rührte keinen Finger. Sie erledigte am Schreibtisch ihre umfangreiche Korrespondenz und erschien nur alle fünfzehn Minuten. Ihre Dispositionen waren indessen so klar, daß niemand zu widersprechen wagte.

An einem Vormittag aber verschwand sie geheimnisvoll. Lise wußte sofort, was dies zu bedeuten hatte. Sie war zu Wenzel gegangen! Sie kannte den Eigensinn der Mutter und war der Ansicht, daß ihr eine kleine Demütigung nicht schaden würde.

Es muß gesagt werden, daß Frau von dem Busch nicht nur die Interessen ihres Kindes verteidigen wollte; auch ihre Neugierde trieb sie zu Wenzel. Da hatte sie nun unaufhörlich die verschiedensten Gerüchte und Legenden vernommen – sie war ja vor zwei Jahren schon einmal in Berlin gewesen –, aber gerade im letzten Jahre hatten diese Legenden eine phantastische Färbung angenommen.

Das Haus in der Wilhelmstraße wimmelte von Menschen. Ein Paternoster-Werk stieg auf und ab. Menschen sprangen heraus, schlüpften hinein. Der Lift stieg lautlos in die Höhe. Ein Diener nahm ihre Karte höflich und wohlerzogen entgegen und öffnete ihr die Tür eines kleinen, luxuriös eingerichteten Wartesalons. Nicht ein Stäubchen! Hier konnte Lise lernen.

Und das gehörte alles ihm, den sie – in ihrem Zorn, als er Lise entführte – einen »gemeinen Verbrecher« genannt hatte, einen »dummen Jungen, der noch nicht trocken sei hinter den Ohren« – das war nun allerdings viele Jahre her und durch ihre Erregung erklärlich. Sie bereute.

Zuerst kam ein junger Mann mit roten Bäckchen ins Zimmer, dem man sofort die gute Erziehung anmerkte. Er klappte mit den Absätzen, verbeugte sich, bat um eine Sekunde Geduld. Dann kam ein sehr distinguiert aussehender Herr mit einer schiefen Nase, ein Hauptmann mit einem unverständlichen Namen, der höflich ersuchte, sich noch eine Minute gedulden zu wollen. Frau von dem Busch war nahe daran, Wenzel alle seine Sünden zu vergeben.

Dann aber kam etwas zur Tür herein, etwas Massiges, Schwammiges, das über den Kneifer schielte, rot wie eine Rübe, einen kleinen roten Scheitel auf der Glatze, rote Bartstoppeln auf den feisten Backen. Goldbaum. Er verdarb den ganzen guten Eindruck.

»Mein Name ist Goldbaum, gnädige Frau,« sagte die rote Rübe und nahm in einem Sessel Platz. »Ich bearbeite die privaten Angelegenheiten des Herrn Schellenberg. Ich bitte, gnädige Frau, Ihre Wünsche zu äußern –«

Frau von dem Busch aber verlangte Herrn Schellenberg persönlich zu sprechen. Die Masse schwankte, erhob sich, beteuerte, daß es schwer sei, außerhalb der Reihenfolge – und der Rothaarige verschwand.

Man sagte mir ja, sonderbare Elemente, dachte Frau von dem Busch. Es ist natürlich manches wahr daran.

Da kam der kleine rotbäckige Leutnant mit den guten Manieren wieder und führte sie direkt in Wenzels Arbeitszimmer.

Frau von dem Busch hatte sich vorgenommen, um der »Sache ihres Kindes zu dienen«, auf Wenzel einfach zuzugehen, als sei nichts geschehen, und ihm zu sagen, daß zwischen den Menschen – aber der Blick Wenzels, der sich hinter einem großen Schreibtisch höflich erhob, belehrte sie sofort, daß bei diesem Burschen ein solcher Ton ganz und gar nicht am Platze sei.

Sie breitete nicht die Arme aus, wie sie es beabsichtigt hatte, von ihrer ganzen einstudierten Rolle blieb nur ein harmloser Ton der Anrede, dessen Unverfrorenheit Wenzel verblüffte.

»Ich bin in Berlin, Wenzel,« sprudelte sie hervor, »und ich mußte dich sehen, um dir guten Tag zu sagen und dich zu beglückwünschen. Wie du aussiehst, prächtig. Etwas voller bist du geworden. Nicht dieses Gesicht, Wenzel – wir haben uns zuweilen gestritten, ich weiß es. Aber wir sind ja nur Menschen, und du bist klug genug, um zu vergessen.«

»Ich vergesse nichts! Ich vergesse niemals!« fiel ihr Wenzel brüsk ins Wort. Sein Gesicht verfinsterte sich für einen Augenblick. Dann bat er sie mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen. Seine Augen waren kalt, hart und ohne jede Gnade.

»Ich bin erstaunt, Sie hier zu sehen, Frau von dem Busch,« sagte er hierauf, indem er die Augen ruhig und leidenschaftslos auf das Gesicht seiner Schwiegermutter heftete. »Was wollen Sie?«

Wenzel war der alten Dame vom ersten Augenblick an überlegen. Er war, nachdem er sich von der ersten Verblüffung erholt hatte, völlig ruhig, sachlich, geschäftsmäßig, während sie vor Erregung bebte.

»Ich bin gekommen, Wenzel,« sagte Frau von dem Busch, die plötzlich ihre Sicherheit verloren hatte, »um mit dir die geschäftlichen Angelegenheiten Lises zu ordnen.«

»Sie sind geordnet,« erwiderte Wenzel kühl und höflich. Er schob Frau von dem Busch eine Mappe mit Rechnungen und einen Kontoauszug hin. »Hier sind die Abrechnungen, und hier sind die Rechnungen, die ich für Ihre Tochter bezahlt habe.«

Frau von dem Busch setzte ihm mit vielen Worten auseinander, daß es seine Pflicht sei, Lise und seine Kinder seinem Vermögen gemäß zu unterhalten.

»Ich tue es,« erwiderte Wenzel erstaunt. »Aber Sie werden zugeben, daß es natürlich Grenzen gibt. Ich habe keine Lust, sechzehn Stunden zu arbeiten, um die Launen Ihrer Tochter zu befriedigen. Ich habe auch keine Lust, alle die Folgen der schlechten Erziehung zu tragen, die Sie Ihrer Tochter angedeihen ließen.«

Frau von dem Busch sah ihn mit einem beleidigten Blick an. »Sie sind herzlos und grausam!« schrie sie außer sich. Ihr Gesicht war vor Erregung so weiß geworden wie ihr Haar.

»Nun, so will ich lieber herzlos als schwachsinnig erscheinen,« erwiderte Wenzel. »Aber ich bitte Sie, mich jetzt zu entschuldigen.« Er erhob sich und wies auf einen älteren, weißhaarigen Herrn, sehr schlank, der soeben eintrat. »Darf ich Ihnen Herrn General von Simmern vorstellen, der Ihnen zur Verfügung stehen wird?«

Es zeigte sich indessen, daß auch dieser würdige alte Militär die Interessen Wenzels vertrat.

»Ich muß offen bekennen,« sagte der weißhaarige General, »daß sechzig Paar Schuhe in einem Jahr und zweihundert Paar Seidenstrümpfe doch immerhin –«

Frau von dem Busch unterbrach ihn. »Darf ich bitten, ich möchte mit meinem Schwiegersohn persönlich verhandeln.«

»Herr Schellenberg ist nicht mehr im Hause.«

Bleich, mit hektischen Flecken im Gesicht, verließ Frau von dem Busch das Haus. Sie nahm ein Auto und fuhr sofort zu Justizrat Davidsohn, einem Anwalt, den sie von früher her kannte und zu dem sie das größte Vertrauen hatte.

»Er ist taktlos und brutal!« schrie sie im Auto, rasend, außer sich.

Davidsohn bat sie, sich zu beruhigen und ihm in aller Ruhe den Fall auseinanderzusetzen.

»Ich bitte Sie, ohne jegliche Schonung vorzugehen,« ermahnte sie den Anwalt.

»Schellenberg?« fragte der Justizrat. »Welcher Schellenberg? Es gibt zwei Schellenberg.«

»Wenzel Schellenberg.«

»Oh, Wenzel Schellenberg! Berichten Sie weiter, gnädige Frau. Es gibt noch Michael Schellenberg, von dem die Zeitungen so häufig sprechen.«

Frau von dem Busch trug ihre Angelegenheit mit allen Einzelheiten vor. Der Anwalt betrachtete sie mit aufmerksamen Augen, aber er hörte nur mit halbem Ohre hin. Er dachte an den Schriftsatz, den er in dem Prozeß Bergenthal & Co. noch in dieser Stunde diktieren mußte. Nur dann und wann warf er eine zerstreute Frage dazwischen.

»Hat Ihre Tochter eine Mitgift in die Ehe eingebracht?«

»Mitgift? O nein. Mein Mann war ein hoher Verwaltungsbeamter, er liebte es, ein Haus zu führen und legte großen Wert auf Kleidung. Es war seine Pflicht. Er diente nur dem Staat. Es war ihm unmöglich, Reichtümer zu sammeln. Damals waren die Beamten ganz anderer Art, Sie wissen es.«

»Ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau. Ich wollte nur Klarheit. Hätte Ihre Tochter eine Mitgift bekommen, so wäre es vielleicht möglich gewesen, zu beweisen, daß Herr Schellenberg sein Vermögen auf Grund dieser Mitgift erworben hat. Gewiß, es wird alles geschehen, was in meiner Macht steht. Es ist selbstverständlich, daß Ihre Tochter Ansprüche und Rechte hat. Und wir werden diese Ansprüche und Rechte zu wahren wissen. Schellenbergs Vermögen wird heute schon auf viele Millionen geschätzt. Wir werden ihn zwingen, einige seiner Millionen herauszugeben.« Das Gesicht des Anwalts rötete sich flüchtig vor Erregung. Er sprach, stand auf, ging hin und her, versprach, erweckte große Hoffnungen, er redete sich in Eifer. Und doch dachte er, während er sprach, ausschließlich an den Schriftsatz von Bergenthal & Co. Vor zehn Minuten hatte er genau so erregt vor Bergenthal gesprochen.

Ganz begeistert verließ Frau von dem Busch das Bureau des Anwalts.

Es ist gut, daß ich gekommen bin und die Angelegenheit in die Hand genommen habe, sagte sich Frau von dem Busch, als sie in das Auto stieg. Lise allein wäre nie zurechtgekommen. Millionen, hatte er gesagt. Es wäre wirklich ein Glück, wenn diese kleinliche Rücksichtnahme auf jeden Pfennig endlich aufhören würde. Lise würde sie noch segnen.

Frau von dem Busch gab sich Träumereien hin, während sie durch die von Menschen überfluteten Straßen rollte. Sie war zum Beispiel noch nie in Ägypten gewesen. Und bei ihrer Neigung zur Bronchitis wäre für sie das ägyptische Klima im Winter gewiß eine Wohltat.

 

9

Jenny speiste mit Wenzel im Hotel Eden.

»Haben Sie schon an die neue Wohnung gedacht, Fräulein Florian?« fragte Wenzel.

»Nein,« erwiderte Jenny, und sie errötete. Es schien ihr, als klänge Wenzels Stimme streng und rügend. Du mein Gott, sie konnte solch rasche Entschlüsse nicht fassen. »Ich habe zur Zeit noch mit meiner Garderobe zu tun. Das läßt sich in meiner alten Wohnung besser bewerkstelligen.«

»Dann trifft es sich sehr gut,« fuhr Wenzel erfreut fort. »Ich war vorgestern hier im Hotel mit einem schwedischen Geschäftsfreund. Er hatte hier zwei Zimmer und ein Schlafkabinett und ein Bad, eine wirklich reizende Wohnung, die auf den Tiergarten hinausgeht. Der Schwede ist abgereist, und ich habe diese kleine Wohnung für Sie gemietet.«

Jenny betrachtete ihn mit großen Augen, dann schüttelte sie den Kopf. »Hier im Eden? Aber, du lieber Himmel, das ist mir viel zu teuer.«

»Sie bekommen die Wohnung sehr billig, Fräulein Florian,« entgegnete Wenzel. »Ich bin mit dem Direktorium gut bekannt. Aber nun kommen Sie gleich mit, ich werde Ihnen die Wohnung zeigen. Ich bin gewiß, daß Sie davon entzückt sein werden.«

In der Tat, die Räume waren herrlich. Besonders das Bad entzückte Jenny. In alle Räume hatte Wenzel große Blütensträuße stellen lassen. Jenny sagte kein Wort, sie errötete tief. Das war ihr Dank.

Als Katschinsky aus Hamburg zurückkam und erfuhr, daß Jenny ins Eden gezogen war, wurde er blaß wie ein Toter. Das luxuriöse Logis schien ihm mehr zu verraten als alles andere. Augenblicklich machte er sich auf, Jenny zu besuchen. Oh, sie war sehr vornehm geworden. Man mußte sich bei ihr anmelden lassen, bevor man empfangen wurde.

Als Katschinsky die Tür des kleinen Salons öffnete und Jenny erblickte, erschrak er, so schön war sie. Nie hatte er sie so schön gesehen. Sie trug ein Kleid, das er nicht kannte. Ihre Haltung war sicher und ruhig, voll natürlichen Stolzes. Sie ging wie ein Reh.

Sie stand am Fenster und wandte ihm ganz langsam den sanft schimmernden Blick zu, mit einem leichten, etwas verlegenen Lächeln in den Mundwinkeln, als ob sie sagen wollte: Ah, da bist du ja wieder, du hättest noch länger wegbleiben sollen. Nein, nie war sie so schön gewesen. Er hatte alle Linien ihres Gesichtes und ihres Körpers in diesen beiden Wochen in Hamburg mit sich herumgetragen, den Glanz ihrer Augen und den unbegreiflichen Reiz ihres sanften Gesichtes. Und doch war sie viel, viel schöner, als er sie in seinen Gedanken gesehen hatte.

Aber als Jenny Katschinsky durch die Tür kommen sah, war ihr erster Gedanke der gewesen, daß sein Gesicht zu zart, zu unmännlich, zu weichlich, ja weibisch war.

Katschinsky nahm Platz, schlug die Beine übereinander und stützte das Kinn in die Hand.

Er kann keine Bewegung machen, ohne zu posieren, dachte Jenny. Früher hatte sie häufig gesagt: sein wunderbar gebauter und trainierter Körper zeigt immer schöne Linien, er kann gar keine häßliche Bewegung machen.

»Wie war es in Hamburg?« fragte Jenny.

Welche Gleichgültigkeit lag in ihrer Stimme. Er kam von der Beerdigung seiner Mutter, und sie fragte: Wie war es in Hamburg? Offenbar hatte sie vollkommen vergessen, daß seine Mutter gestorben war.

Jenny errötete nun. Die Taktlosigkeit ihrer albernen Frage kam ihr zum Bewußtsein.

Katschinsky erzählte von seiner Reise. Er spielte den Gleichgültigen und Unbeteiligten, den Freund, der tief gekränkt, aber zu stolz und großmütig ist, um sich diese Kränkung merken zu lassen.

Jenny bemerkte, daß er sich vollkommen neu eingekleidet hatte. Strümpfe, Schuhe, alles war völlig neu und modern. Es fiel ihr ein, daß seine Mutter ein kleines Vermögen besessen hatte.

»Und wie steht es mit der Odysseus-Gesellschaft?« fragte Katschinsky. »Hast du abgeschlossen?«

»Ja, ich habe abgeschlossen.«

»Die Bedingungen gut?« fuhr Katschinsky mit großer Gleichgültigkeit fort.

»Ja.«

Dann verließ Katschinsky das Thema, obwohl er doch ein Recht gehabt hätte, Näheres über die Bedingungen zu erfahren. Er ging.

Am nächsten Nachmittag aber kam er wieder. Jenny sah es sofort seinen Augen an, daß er heute nicht die Rolle des Gleichgültigen spielen werde.

»Ich bin gekommen, dich zu einem Spaziergang abzuholen,« sagte er in munterem Tone, als habe es nie eine Verstimmung zwischen ihnen gegeben. »Wir wollen etwas gehen, und dann möchte ich mit dir Stobwasser besuchen.«

Jenny schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht,« antwortete sie. »Willst du Tee haben? Um sechs Uhr kommt der Regisseur zu mir. Ich habe zu arbeiten.«

»Nun, wenigstens eine halbe Stunde, er kann ja ruhig etwas warten. Mache mir die Freude, Jenny.« Er haschte nach ihrer Hand und versuchte sie zu berühren. Er wußte wohl, welche Macht er früher über sie besessen hatte. Sobald er sie nur berührte, verlor sie alle Kraft und war ohne jeden Widerstand. Aber Jenny wich ihm aus und wiederholte nur, daß sie zu arbeiten habe, daß sie aber gern mit ihm ein halbes Stündchen beim Tee plaudern wolle.

Sie klingelte, und sofort erschien der Kellner. »Wenn Herr Doktor Brinkmann kommt, so sagen Sie ihm, daß ich ihn erwarte.«

Sie will mir beweisen, daß ich ihr gleichgültig geworden bin, dachte Katschinsky.

Als Jenny den Tee eingoß, wobei sie ihren schlanken Körper leicht zurückneigte, während sie mit einem Finger den Deckel der Teekanne festhielt, wurde Katschinsky von einer Art Raserei ergriffen. Seine Vorsätze, sich zu beherrschen, waren wie weggeblasen. Er erhob sich bleich. Sein Atem ging hörbar vor Erregung.

Jenny, die Teekanne in der Hand, schlug das Auge groß und abwehrend zu ihm auf. Aber dieser Blick, der ihn zurückdrängte, verstärkte nur noch seine Erregung. Er nahm eine Zigarette vom Tisch, preßte sie zwischen den zuckenden Fingern und fragte, während er versuchte, die Zigarette anzuzünden: »Wie weit bist du mit ihm, Jenny? Ich wäre dir dankbar, wenn du aufrichtiger wärest. Bist du schon die Seine geworden?« Seine Brauen flogen auf und ab.

Jenny wich zurück. »Was für ein Ton ist das?« fragte sie leise und erbleichte. Nie war sie schöner, als wenn sie bleich wurde.

Katschinsky geriet noch mehr in Erregung. »Ich habe nie gedacht, daß du so feige bist, Jenny!« rief er.

»Ich gebe keine Antwort auf eine solche Frage,« erwiderte Jenny, und ihr Auge glühte auf.

»Du weißt so gut wie ich, daß er ein Halsabschneider ist!« schrie Katschinsky rasend.

Jenny streckte zur Abwehr die Hände aus. »Pfui, pfui! Ich will es nicht!« rief sie und stampfte zornig mit dem Fuße auf.

»Jedermann weiß es, also weißt du es auch.« Katschinsky brachte erregt einige Fälle vor, die man sich von Wenzel Schellenberg erzählte.

Sie ließ ihn nicht aussprechen. »Gehe, gehe,« sagte sie. »Du bist ungerecht, ich will dich nicht hören, wenn du so sprichst.«

Katschinsky lenkte ein. »Du brauchst mir nur meine Frage zu beantworten, und ich gehe – für immer,« sagte er, und sein Blick grub verzweifelt in ihren Zügen. Seine grauen Augen glänzten böse, sie funkelten vor Haß. Ja, er haßte sie, Jenny, ebensosehr wie er sie liebte. Aber mehr als sie, tödlich haßte er jenen Abenteurer, der diese Frau mit seinem Gelde gekauft hatte, er haßte ihn um so mehr, je weniger er die Möglichkeit hatte, ihm irgendwie beizukommen. Aber er würde sich rächen, eines Tages, oh, keine Angst, die Stunde der Rache würde kommen. Tag und Nacht würde es für ihn, Katschinsky, keinen anderen Gedanken mehr geben.

In diesem Augenblick klopfte es, und Doktor Brinkmann, der Regisseur, trat ein.

Katschinsky stand bleich, mit zitternden Lippen. Eine Sekunde lang hatte er geglaubt, Schellenberg werde kommen.

Jenny aber fand augenblicklich die Sicherheit zurück. Sie begrüßte Dr. Brinkmann und machte die Herren bekannt. Während sie den Tee servierte, plauderte und klingelte ihre Stimme heiter durch den Salon.

»Herr Katschinsky hat es schon beim Film versucht, aber er fand nicht die richtige Anerkennung. Ich glaube aber, daß er sehr große Begabung hat. Sie sollten ihn sich einmal näher ansehen, Herr Doktor Brinkmann.«

Dr. Brinkmann blinzelte mit den Augen und betrachtete Katschinsky aufmerksam, wie ein Händler, der ein Pferd betrachtet. »Oh, vorzüglich,« sagte er, »das Äußere ganz vorzüglich,« und er traf mit Katschinsky eine Verabredung.

Welche Torheit habe ich begangen, dachte Jenny. Aber nur um rasch ein Gesprächsthema zu finden, war sie auf diesen Gedanken verfallen. Katschinsky küßte ihr artig die Hand, lächelte, verbeugte sich und ging.

 

10

Für Wenzel Schellenberg gab es nur zwei Dinge: Arbeit und Vergnügen. Dazwischen eingeschoben ein paar Stunden Schlaf. Er befand sich unausgesetzt in einer Art Rausch. Die Arbeit berauschte ihn. Und an den Abenden und in den Nächten versuchte er sich zu betäuben durch Vergnügungen aller Art. Er besuchte die Theater, aber er zog die leichtere Muse vor, Operetten, Revuen, Dinge, die lachen machten, die ihn sättigten, ein Rausch von Farben und Fleisch. Die ernsteren Dinge verschob er auf später. Es wird wohl eine Zeit kommen, da ich nicht mehr die »hohe Fahrt« habe, sagte er zu sich, da ich im Rennen zurückfalle, wie alle, und dann habe ich immer noch Zeit genug, mich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Dazu rechnete er auch Museen und Konzerte. Oh, er liebte die Musik, aber sie mußte wild sein und ein mörderisches Tempo haben. Er liebte die Zigeunerkapellen, deren Musik dahinfegte. Eine rumänische Zigeunerkapelle, die er in einer Bar entdeckt hatte, mußte bei seinen Einladungen aufspielen. Ihr Spiel entzückte ihn so sehr, daß er große Summen an diese Kapelle verschenkte. »Diese Lieder soll man spielen, wenn ich einmal sterbe! Sterben – sollte! Denn ich sterbe nicht!«

Zu den Pflichten des kleinen Stolpe gehörte es auch, herauszufinden, wo in Berlin »etwas los war«. Irgendeine besondere Varieténummer, irgendeine Tänzerin, die gefiel, eine Kapelle, die berauschte, ein Clown, über den man sich totlachte. Stolpe hatte keine leichte Arbeit.

»Es ist immer das gleiche, Stolpe,« sagte er. »Sie müssen sich mehr umtun.«

Als Stolpe ihn einmal zu Seehunden führte, die mit Bällen balancierten, wurde er fast böse. Stolpe klopfte die Theater in den Vororten und im Osten ab. Da gab es zuweilen irgend etwas Prachtvolles zu entdecken, etwas Starkes, etwas Schamloses, etwas außergewöhnlich Häßliches, etwas außergewöhnlich Komisches, irgendeine kleine Tänzerin oder Sängerin, die Schellenberg interessieren konnte.

Schellenberg selbst gab häufig Einladungen. Da waren die offiziellen, bei denen Direktoren von Banken und Geschäftsfreunde mit ihren Frauen erschienen. Das war notwendig, aber Schellenberg langweilten diese Abende maßlos. Dann gab es die intimen Einladungen für seine Freunde, bei denen gespielt, gesungen und gezecht wurde. Die Gesellschaften währten bis zum frühen Morgen, und es ging hoch her.

Ende Oktober, das Wetter war prachtvoll, kam Wenzel die Lust an, ein Herbstfest auf seinem Gut Hellbronnen zu geben. Der leuchtende Himmel, den er über den Häuserschluchten glühen sah, verlockte ihn. Stolpe schrieb die Einladungen und reiste nach Hellbronnen voraus, um die Vorbereitungen zu treffen.

Mit diesem Landgut Hellbronnen hatte es eine ganz besondere Bewandtnis. Es war ein altes Jagdschlößchen, und Mackentin hatte vor dem Kriege bei einem Manöver einmal, ganz zufällig, in diesem Schlößchen in Quartier gelegen. Durch einen Kameraden erfuhr Mackentin, daß Baron Müncheberg, der Besitzer von Hellbronnen, das Jagdschlößchen verkaufen wolle. Wenzel kaufte es, ohne es gesehen zu haben. Als er ein Vierteljahr später die Zeit fand, es zu besichtigen, war er entzückt.

Das Jagdschlößchen, ein alter Schinkelbau, lag inmitten eines alten Parkes, von einem Gartenfreund vor mehr als hundert Jahren geschaffen. Das aber war nicht alles, es gab in diesem Park Wandelgänge, Taxushecken, romantische Spielereien, einen kleinen Irrgarten und eine kleine Naturbühne. Aber das war noch nicht alles. Das Jagdschlößchen spiegelte sich in einem stillen, kleinen See, der drei kleine Inseln hatte. Auf diesen Inselchen waren Pavillons errichtet, und zwei der Inseln waren durch eine japanisch anmutende hohe Brücke miteinander verbunden.

Wenzel hatte das Jagdschlößchen und die Pavillons von seinem Architekten Kaufherr instandsetzen lassen.

Das Sommerfest, das er zur Einweihung gab, hatte bis heute noch keiner der Gäste vergessen. Wochenlang sprach man davon. Eine Schauspielertruppe hatte auf der kleinen Naturbühne einige Szenen aus dem »Sommernachtstraum« gespielt. Nicht den ganzen »Sommernachtstraum«, das wäre ja langweilig gewesen. Ein Feuerwerk lohte über dem See. Kurzum, es war unvergleichlich. Gegen zweihundert Gäste waren anwesend.

Zu diesem Herbstfest sollte etwa nur ein Dutzend Gäste geladen werden, nur der intimste Freundeskreis. Sie wurden in einigen Automobilen verfrachtet und trafen mit dem sinkenden Abend in Hellbronnen ein. Schon empfing sie die rumänische Kapelle mit ihrer rasenden Zigeunermusik.

Jenny war entzückt von Hellbronnen. »Es ist ja wie ein verwunschenes Schloß,« sagte sie.

»Ich will Ihnen Hellbronnen zeigen,« sagte Wenzel, nahm sie ohne viele Umstände unter dem Arm und führte sie fort.

Das Fest selbst enttäuschte Jenny. Sie fühlte sich nicht wohl bei all diesem Lärm, bei all diesem lauten Gelächter, bei dieser rasenden Musik und bei den Scherzen der Gesellschaft. Es waren die intimen Freunde und Bekannten Schellenbergs, zwei mit ihren Frauen, die einen leichtsinnigen Ton liebten, die andern zumeist mit Freundinnen, eleganten Geschöpfen, eine Kollegin von ihr darunter und eine sehr bekannte und sehr schöne Tänzerin, berüchtigt durch ihre Skandale. Unter den Herren befanden sich einige bekannte Bankiers, die Söhne reicher Eltern, ohne Tadel angezogen, ohne Tadel der Scheitel, die Hände, aber blasiert und langweilig. Sie erzählten Witze, die Jenny schon alle im Kaffeehaus dutzendmal gehört hatte. Welche Leere.

Die Mahlzeit war verschwenderisch. Es gab reichlich zu trinken, und selbst die Damen wurden rasch ausgelassen. Die Tänzerin stieg auf den Tisch und tanzte zwischen den Gläsern und Blumen. Ihr Erfolg war groß. Wenzel hob sie vom Tisch und drückte sie an die Brust. Und als Jenny dies sah, zerriß es ihr das Herz. Sie litt fast unaufhörlich an diesem Abend. Wenzel bevorzugte sie. Wenzel stellte sie in den Mittelpunkt der Gesellschaft, aber doch fuhr ihr jeder seiner freien, offenen Blicke, die er einer anderen Frau zuwarf, wie ein Messer ins Herz, ja wie ein Messer, das auf beiden Seiten geschliffen ist und sehr spitz, so fühlte sie es. Aber sie liebte sein Lachen. Nie hatte sie ihn so lachen gehört. Er lachte ausgelassen wie ein Knabe.

Nach dem Abendessen wurde es vor den Fenstern plötzlich hell wie bei einem Brande. Wenzel hatte riesige Pechfackeln am Seeufer aufstellen lassen. Sie brannten alle zur gleichen Zeit. Feuerströme wälzten sich in dem stillen Wasser. Es sah herrlich aus, fast erschreckend. Man beglückwünschte Wenzel zu dieser Idee.

»Man muß ja etwas sehen,« sagte er. »Was sollen wir mit dieser Nacht anfangen, und wie schauerlich finster ist es doch auf dem Lande.«

In einem Boot fuhr die rumänische Kapelle mit ihrer rasenden Musik davon. Die Gesellschaft verteilte sich in vier kleine Boote, und man ruderte zu den Inseln. Wenzel half der Tänzerin beim Aussteigen. Er legte seine große knochige Hand um ihren schlanken Körper, und wieder litt Jenny. Großer Gott, sagte sie sich, hoffentlich ist es bald zu Ende.

In den Pavillons gab es Kaffee, Liköre und Schleckereien. Die Damen fröstelten, die jungen Bankiers stülpten den Rockkragen in die Höhe und sagten: »Es ist kalt, Schellenberg!«

»Nun gut, so fahren wir zurück. Fahrt voraus.«

»Wollen Sie hier bleiben, Schellenberg?«

»Ihr werdet schon sehen!«

Die Boote stießen ab, und alle wunderten sich, was Schellenberg unternehmen werde.

In diesem Augenblick aber sprang Wenzel von der japanisch anmutenden Brücke aus im Hechtsprung ins Wasser und schwamm hinter den Booten her. Er lachte und prustete. »Ich will euch nur zeigen, daß es nicht kalt ist!« schrie er. Am Ufer angekommen, schüttelte er sich wie ein Pudel, der aus dem Wasser steigt.

Jenny zitterte am ganzen Körper. Sie trat dicht an Wenzel heran, berührte seinen nassen Ärmel und sagte: »Sie werden sich erkälten, kleiden Sie sich sofort um.«

Schellenberg lachte, aber mitten im Lachen brach er ab und sah Jenny in die Augen. Der Ton, in dem sie ihre Bitte aussprach, hatte ihn betroffen gemacht. Jenny war ganz bleich. »Ich gehorche!« rief er und verschwand schnell im Hause.

Es wurde getanzt, gelacht, getrunken. Oh, Jenny war glücklich, als sie wieder in Berlin war.

 

11

Jenny hatte ihre Arbeit längst voller Eifer aufgenommen. Es war eigentlich das erstemal in ihrem Leben, daß sie voller Fleiß, Hingabe und Ausdauer arbeitete. Die Möglichkeit, die ihr geboten wurde, war ungeheuer selten, ein wahrer Glücksfall, und sie wußte, daß es an ihr lag, sie zu nützen.

Wenzel hatte ihren Tag eingeteilt, ihr Instruktionen gegeben, und sie folgte ihnen. Sie nahm Unterricht bei einem Tanzmeister und begann ganz von vorn mit der alten Ballettschule. Erst ging es sehr schwer, dann machte sie rasch Fortschritte, und ihr Lehrer war zufrieden.

Wenzel hatte ihr seine Reitpferde zur Verfügung gestellt, und sie nahm Reitunterricht. Jeden Morgen ritt sie im Tattersall. Sie fühlte sich leicht und frisch, war entzückt von dem Glanz der Pferde, ihren guten Augen und ihrem Geruch. Und es kam der Tag, da sie mit Genugtuung die völlige Beherrschung ihres Körpers verspürte. Sie fühlte jede Bewegung, jede kleinste Muskel. Sogar das Gehen auf der Straße war ihr ein Genuß, sie empfand es fast als Wollust.

Täglich arbeitete sie mit dem Regisseur. Doktor Brinkmann war eine schlichte, immer begeisterte Seele von einer grenzenlosen Geduld und Güte. Wenn er mit ihr arbeitete, saß er da und blinzelte, korrigierte, ließ wiederholen. Jetzt erst fing sie an zu begreifen, was es hieß, zu gestalten. Nach einigen Wochen ließ Doktor Brinkmann sie vor dem Aufnahmeapparat spielen. Sie sollte sehen lernen, wie sie sich gefilmt ausnahm. Die ersten Aufnahmen hätten Jenny fast entmutigt. Doktor Brinkmann hatte es darauf abgesehen, ihr ihre Fehler vorzuführen. Nun begann eine anstrengende, ja qualvolle Arbeit. Jeder Schritt, jede Bewegung, jede Geste mußte gelernt sein. Doktor Brinkmann selbst malte ihr das Gesicht, wie die Linse es verlangte. Plötzlich ging es. Es war keine Hast mehr da, keine Unsicherheit. Die Bewegungen flossen, das Auge glänzte und flammte leidenschaftlich.

»Sie werden es lernen!« rief Doktor Brinkmann erfreut aus. (Sie ahnte nicht, daß er ein besonders hohes Honorar von Wenzel für seine Arbeit erhielt.)

Schon in kurzer Zeit wollte die Gesellschaft einen kleinen Spielfilm in Italien aufnehmen lassen.

Jenny gab sich ihrer Tätigkeit begeistert hin. Sie arbeitete, sie fieberte Tag und Nacht. Fast jeden Abend besuchte sie irgendein Lichtspieltheater, um zu beobachten, zu lernen. Langsam schien sich ihr auch diese schwierige Kunst zu erschließen.

Oh, und sie arbeitete auch – sie gestand es sich offen –, um die Stunden und Tage zu töten, da sie Wenzel nicht sehen konnte. In den Theatern, Bars und Weinstuben, die er mit ihr besuchte in der Gesellschaft seiner Freunde, quälte sie die Nähe dieser Freunde und eine kleinliche Eifersucht, die ihr jede Minute vergällte. Sie war glücklich, wenn er allein mit ihr speiste. Dann aber verging der Abend so schnell, und wenn sie allein war, überfiel sie die Qual der Trennung von neuem mit schrecklicherer Gewalt. Es war nicht möglich Wenzel zu erreichen. Er bat sie, ihn anzurufen. Aber häufig stand sie zwei Stunden am Apparat, sie stampfte mit den Füßen vor Ungeduld, aber immer wieder meldeten sich Stolpe, Mackentin, Goldbaum oder sonst jemand.

Jenny hatte nie geliebt. Sie wußte es jetzt, ihre Liebschaft mit Katschinsky, was war das gewesen? Nichts. Nun aber fühlte sie zum erstenmal in ihrem Leben, was Liebe ist. Und nun wußte sie, daß Liebe keine Freude ist, sondern eine Qual. Das Herz brannte ihr in der Brust wie Feuer. Sie vermochte nicht mehr an etwas anderes zu denken. Sie schrieb Briefe an Wenzel, aber sie sandte diese Briefe nicht ab. Sie fürchtete sein Lächeln, und auch sie selbst, Jenny, haßte nichts mehr als Sentimentalität.

In manchen Stunden der Unruhe versuchte sie, sich gegen ihre Leidenschaft zu Wenzel aufzulehnen. In der Einsamkeit der schlaflosen Nächte zeichnete sie sich sein Bild, und sie übertrieb alle seine Eigenschaften. Sie machte ihn maßloser, als er war, genußsüchtiger, brutaler, herzloser, sie sah, wie sein Blick schamlos die Frauen traf, aber es nützte alles nichts. Augenblicklich erhob sich ein anderer Wenzel, aus dessen kräftiger Stimme ein Hauch von Wärme auf sie eindrang, ein Freund, der seine Freundschaft eher verbarg als zeigte, der fürsorglich war und es nicht liebte, daß man ihn daran erinnerte. Oft schien er ihr wie ein Dämon, der dahinraste und Menschen verschlang, und in der gleichen Minute erschien er ihr wie ein großer Knabe, der herzlich lachte und dem man nicht böse sein konnte.

Wie war er wirklich? Wer war dieser Wenzel Schellenberg? Sie versuchte ihn zu ergründen, vergebens.

Aber es war geschehen, das Unglück, oder Glück, wie man es nennen wollte, war geschehen. Es gab für sie kein Zurück mehr. Wie zitterte sie, wenn sie seinen Schritt hörte! Wie erbleichte sie, wenn er zur Tür hereinkam! Er hatte ihr versprochen, mit ihr, sobald er Zeit habe, auf zwei, drei Tage irgendwo hinzureisen, wo sie ganz allein wären. Sie sehnte diese Reise herbei, für sie gab es nur noch die eine Frage: Wann? Aber Wenzel hatte nie Zeit.

 

12

Eine Hölle waren diese Tage und Nächte für Katschinsky. Zu spät kam die Reue über sein Benehmen bei seinem letzten Besuch in Jennys Salon. Er selbst war es gewesen, der die Brücken, die zu Jenny führten, abgebrochen hatte. Es gab nichts Törichteres für einen Mann, er wußte es genau, als seinen Rivalen mit Schmähungen anzugreifen. Wie furchtbar, wie ehrlos, wie erbärmlich war all das gewesen. Es war so rasch und unverständlich gekommen, daß er es noch Tage nachher nicht begreifen konnte.

Nun war es zu spät. Reue, Gram und Eifersucht peinigten ihn. Er ertrug das Leben nur, wenn er die Möglichkeit hatte, Jenny wenigstens zuweilen zu sehen. Das beschäftigte seine Gedanken, erfüllte seine Phantasie. Im luftleeren Raum konnte niemand leben. Also lauerte er Jenny auf: um hinter einer Litfaßsäule zu erbleichen, sobald er auch nur einen Ärmel ihres Mantels sah. Wenn dieses dunkelblau lackierte, breit und niedrig gebaute Auto vor dem Hotel vorfuhr, so grub er die Nägel in das Fleisch seiner Hände, und sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. Er war ohnmächtig, aber er würde sich rächen, – wie und wann, das würde sich finden.

War Stolpe im Auto, so empfand er eine freudige Erleichterung. An der Gewalttätigkeit, mit der der Wagenschlag zugeworfen wurde, erkannte er Schellenberg. Das Auto fuhr fort, und er wartete stundenlang, bis es wiederkam. Er kannte seine Scheinwerfer. Oh, wie furchtbar, all diese funkelnden Lampen dieser Schar von Automobilen, die ihn anfunkelten, die in der Nacht aus der Finsternis herankamen und den Kurfürstendamm entlangflogen. Sie blendeten ihn, daß er taumelte, er erschrak wie vor Gespenstern. Und jetzt endlich, dort kamen die beiden bösen Lampen herangeflogen. Nun war sie zu Hause. Ihre Zimmer waren hell. Ihre Zimmer erloschen.

Nun konnte er wieder atmen. Er besuchte einen Tanzklub, eine Diele, eine Spielergesellschaft, bleich, ein blasiertes Lächeln auf seinem schönen Munde, mit einem hochmütigen Gesichte saß er da. Er begann zu trinken. Katschinsky hatte nie getrunken und vertrug nichts. Schnell war er sehr berauscht. Er schritt, wirre Worte hervorstoßend, oft weinend durch die finsteren Straßen und griff nach der ersten Dirne, der er begegnete. So ging es Nacht für Nacht. Schließlich hatte er sich, wenn er berauscht war, eine Lüge ersonnen, die er immer wieder vorbrachte und an die er im trunkenen Zustande nahezu selbst glaubte. Er erzählte diesen Dirnen, daß er eine Geliebte gehabt habe, schön wie eine Göttin, sagenhaft schön, und sie sei an der Grippe gestorben. Das erzählte er jede Nacht mit allen Einzelheiten. Schließlich kam es so weit, daß er bei den Dirnen weinte, wenn er seine Geschichte erzählte.

Tiefste Schmach. Tiefste Erniedrigung.

Er fing an, Jenny glühend zu hassen. Auch an ihr wollte er sich rächen. Er entwarf Pläne. Vielleicht würde er ihr schönes Gesicht mit einer Säure übergießen, aber schon erschrak er und schrie: »Nein! Nein!«

Eine Wendung trat ein. Unscheinbar begann sie. Jener Regisseur, jener Doktor Brinkmann hatte ihm in der Tat eine Unterredung, wie er es versprochen hatte, gewährt. Er hatte ihn in einigen Statistenrollen verwandt, um ihn auszuprobieren; hierauf aber hatte Katschinsky nichts mehr von ihm gehört. »Natürlich,« sagte er bitter, »hinter mir stehen keine Millionen.« Plötzlich aber erhielt er von Doktor Brinkmann einen Brief mit der Bitte, sich so bald wie möglich bei ihm einzufinden.

»Sie können nichts, Herr Katschinsky,« sagte Doktor Brinkmann ganz offen. »Sie haben es auch nie behauptet, daß Sie etwas können. Sie sind ja kein Schauspieler. Aber vielleicht werden Sie es lernen. Eine unserer Tochtergesellschaften dreht einen Film, und Sie sollen darin eine der Hauptrollen spielen. Sie sollen nichts spielen als sich selbst. Unterstehen Sie sich nicht, an etwas anderes zu denken.«

Katschinsky spielte. Die ersten Aufnahmen waren gänzlich unverwendbar. Bald aber ging es. Man brauchte in diesem Film einen gutaussehenden jungen Mann, der sich gut kleidete und sich zu benehmen wußte. Gerade die etwas falsche Eleganz Katschinskys, das falsche Benehmen Katschinskys waren es, was der Regisseur suchte.

Der Film gefiel. Nun, da die Regisseure ihm die Maske gemacht hatten, zeigte es sich, daß Katschinsky mit seinem schmalen Gesicht, seinen etwas schrägstehenden Mandelaugen, seinem blasierten Mund sich außerordentlich gut photographieren ließ. Er war gerade jener Typ schöner junger, amerikanisch aussehender Männer, den man suchte. Die Gesellschaft unterbreitete ihm einen Jahresvertrag. Der Erfolg machte Katschinsky sicherer, seiner Eitelkeit wurde geschmeichelt, und er fand wieder etwas Halt. Er hatte Jenny keineswegs vergessen. Noch häufig versuchte er einen Blick von ihr zu erhaschen. Aber er zitterte nicht mehr, er erbleichte nicht mehr.

Eines Tages, als er am Eden vorbeischlenderte, lief er Jenny in die Arme. Plötzlich stand sie vor ihm, wie aus dem Boden gewachsen. Sie hielt den Schritt an und betrachtete ihn mit erschrockenen, hilflosen Augen.

Ja, nun zitterte sie, und er war ganz ruhig. Er wechselte die Farbe, dann zog er den Hut und begrüßte Jenny, als sei nichts vorgefallen.

»Ich bitte dich um Verzeihung, Jenny,« sagte er mit seinem hübschesten Lächeln. »Der Teufel ist in mich gefahren, wie konnte ich dir eine solche Szene machen, es ist mir heute unbegreiflich. Aber begreife, Jenny, daß ich toll war vor Eifersucht. Nichts aber ist hündischer als Eifersucht, und du weißt, Jenny, daß das immer meine Ansicht war.« Schon lächelte er leichtsinnig und fröhlich. »Es ist viel besser, daß wir gute Kameraden sind, Jenny. Findest du nicht auch?«

»Es ist gewiß viel vernünftiger,« antwortete Jenny und nahm seine Hand. »Du bist ein törichter Junge gewesen.« Sie gingen nebeneinander her und plauderten wie gute Freunde.

Ja, nun waren sie wieder gute Freunde geworden. Katschinsky erwies ihr Aufmerksamkeiten. Er sandte ihr Blumen und Bücher. Sie sah seine Bemühungen, alles wieder gutzumachen, und sie freute sich darüber. Dann und wann besuchte er sie auch zum Tee. Sie trafen sich in den Filmateliers zuweilen zufällig. Katschinsky benahm sich immer gleichmäßig kameradschaftlich.

Eines Abends aber – sie waren zusammen mit Stobwasser im Café gewesen – änderte er plötzlich den Ton. Sie gingen durch eine dunkle, menschenleere Straße. Er berührte plötzlich ihren Arm und drückte ihn zart an sich. »Höre, Jenny,« begann er, bemüht seine Erregung zu verbergen, »ich will dir alles beichten. Ich habe das Bedürfnis, dir alles zu gestehen, was geschehen ist.«

Die Berührung seiner Hand empfand Jenny unangenehm. Dieser leichte Druck seiner Hand verletzte sie – obgleich sie ihn einst geliebt hatte –, nur aus Nachsicht duldete sie seine Berührung. Mit hochgezogenen Brauen und nervösen, gequälten Lippen hörte sie seine Beichte.

Er gestand ihr alles: wie er ihr auflauerte, wie er trank, bis er sinnlos betrunken war, wie er den Straßenmädchen die Geschichte erzählte von seiner schönen Geliebten, die an der Grippe gestorben sei.

Jenny zog die Schultern an. Sie zog sich scheu wie ein Tier, das sich bedroht fühlt, zurück. Sie machte ihren Arm frei und trug Sorge, daß auch ihr Gewand ihn nicht berührte. Und mit jedem Wort, das er sprach, hervorstieß, stammelte, mit jedem Wort entfernte sie sich mehr von ihm. Jedes Wort trieb sie in immer weitere Fernen. Sie hätte Lust gehabt zu laufen, aber sie wußte, daß er ihr dann nachgelaufen wäre, und sie wollte vor den wenigen Menschen, die diese Straße passierten, jegliches Aufsehen vermeiden. Seine Worte waren verletzend, sie schmerzten und beleidigten sie, sie waren schamlos. »Sieh, so liebe ich dich, Jenny, so maßlos liebe ich dich! Ich kann deinen Körper nicht vergessen! Verstehe mich doch, fühle es doch!«

Nein, sie fühlte es nicht. Sie begriff es, ja, aber in ihrem Herzen gab es kein Echo mehr. Im Gegenteil, das kameradschaftliche Gefühl, das sie für ihn noch gehegt hatte, war vernichtet. Sie wurde augenblicklich kalt, feindselig. Sie wußte, daß er nicht schlecht war, nur ein schwacher Mensch. Aber es wäre ihr lieber gewesen, wenn er schlecht gewesen wäre. Sie verachtete ihn. »Du hast unsere Verabredung vergessen,« sagte sie, um ihn zu ermahnen.

»Nicht ich habe vergessen,« rief Katschinsky leidenschaftlich aus, »sondern du hast vergessen, Jenny!« Und er fragte sie bebend, ob sie ihn nicht wenigstens ein bißchen lieben könne, damit sein Leben wieder Sinn erhalte.

Sie wich zurück. Sie schüttelte den Kopf und erwiderte leise, aber mit einer kühlen, unbeirrbaren Stimme: »Du weißt es, ich liebe einen andern.«

»Liebst du ihn wahrhaftig?«

»Dreimal wahrhaftig!«

Katschinsky schüttelte verzweifelt, etwas theatralisch die Fäuste. »Dann ist alles ohne Hoffnung,« sagte er.

Sie gingen still weiter und sprachen kein Wort mehr. In der Nähe des Hotels blieb Jenny stehen und sah Katschinsky mit klaren, forschenden Augen ins Gesicht. »Eines will ich dich noch fragen,« sagte sie. »Es gibt boshafte Menschen. Man hat meinem Vater geschrieben, er möge ein Auge auf mich haben. Ich sei die Geliebte eines berüchtigten Abenteurers geworden.« Jenny heischte Antwort.

Jede Spur von Farbe war aus Katschinskys Gesicht gewichen, selbst seine immer roten Lippen waren fahl geworden wie die eines Toten.

»Ich habe es getan,« stammelte er. »Ich hatte es schon vergessen. Ich habe diesen Brief einmal in der Nacht geschrieben, als ich getrunken hatte. Ich erinnere mich nicht, ihn in den Kasten geworfen zu haben. Oh, wie niedrig!« rief er aus und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich wage nicht, dich zu bitten, mir auch dies zu verzeihen!«

Jenny sah zu Boden. Nach einer Weile erwiderte sie: »Auch dies will ich dir noch verzeihen.«

Sie streckte ihm die Hand hin. »Lebe wohl.«

Katschinsky nahm ihre Hand, ohne sie anzusehen.

»Eine Bitte habe ich noch,« fügte Jenny hinzu. »Du hast an Schellenberg einen anonymen Brief geschrieben, worin du ihn vor einem gewissen Herrn K. warnst. Von wem sollte der Brief sonst sein? Tue es nicht wieder, du machst dich nur lächerlich!«

In ihrem Zimmer saß Jenny lange im Dunkeln. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie wagte es nicht, Licht zu machen. Vielleicht steht er unten, sagte sie sich, und wartet? Er, jener andere, den ich liebe, wartet nicht, bis das Licht erlischt.

 

13

Die großen Holzscheite flammten und krachten im Kamin. Der Schein des Feuers blendete, und gespenstische Schatten zuckten durch den halbdunkeln Raum.

Wenzel sagte: »Sie sind eine seltene Frau, Jenny Florian! Sie wissen, daß ich alle Phrasen und übertriebenen Worte hasse. Ich habe mir eines Tages vorgenommen, immer zu sagen, was ich denke, oder ganz zu schweigen. Also können Sie mir getrost glauben, was ich Ihnen sage. Sie sind schön, und Sie wissen es. Aber Sie tun nicht, wie andere schöne Frauen, als ob es Ihr persönliches Verdienst sei und man Ihnen aus diesem Grunde Bewunderung zollen müsse. Sie nehmen Ihre Schönheit wie etwas, das Ihnen geliehen wurde. Sie sind klug, aber Sie vermeiden es, geistreich erscheinen zu wollen, nach Art der meisten Frauen. Sie halten sich gleich weit entfernt von der Geziertheit des Ausdrucks wie von der Lässigkeit. Sie haben mehr Talente als fünf Frauen zusammen, und doch sprechen Sie nie mit einer Silbe davon. Sie schweigen darüber, wie alle Leute, die sich ihrer Kräfte bewußt sind.«

Jenny hob den seidigglänzenden Scheitel. Ihre Augen blendeten wie die eines Tieres, in die ein Lichtschein fällt. Auf ihren Wangen und Lippen und Zähnen sprühten Funken. Ihr kleines, glühendes Ohr trank berauscht Wenzels Worte. Sie hörte Wenzels wahre Stimme so selten, auch wenn sie allein waren. In Gegenwart seiner Bekannten und Freunde aber verbarg er sich hinter einem burschikosen, derben Jargon, den sie verabscheute.

Jenny saß zu Wenzels Füßen auf einem Teppich, die Knie angezogen. Sie saß dicht am Feuer, das verwegen nach ihr züngelte. Heute mittag waren sie in dem kleinen Jagdschloß Hellbronnen angekommen. Die Herrlichkeit sollte drei Tage dauern.

»Es tut gut, ein bißchen verwöhnt zu werden!« erwiderte Jenny. Wenn sie sprach, funkelten alle Vokale. Ihre Stimme war keusch, als schäme sie sich zu sprechen. Sie errötete, während sie sprach. »Sie sind ein Freund, ein guter Freund, und ich fühle mich wohl und sicher in Ihrer Nähe. Gibt es ein schöneres Gefühl für eine Frau? Sie sind viel zarter, als Sie ahnen lassen. Weshalb geben Sie sich oft so unempfindlich?«

Das Feuer knisterte und lohte. Über die geschwärzten Kaminwände kletterten eilige Funken.

Wenzel dachte lange nach. Dann erwiderte er, langsam den Kopf schüttelnd, die Stirn in Falten: »Fast hätten Sie mich verführt, etwas zu glauben, nur weil es angenehm ist, sich für besser zu halten, als man ist. Nein, Sie kennen mich nicht, Jenny Florian. Meine Gefühle sind verschüttet oder erloschen, wie Gefühle in einem bestimmten Alter und in gewissen Lebensverhältnissen vergehen. In Ihrer Nähe, so scheint es mir allerdings, erwacht manche Empfindung wieder, die ich lange nicht mehr kannte. Lieben Sie Gedichte?«

Jenny sah erstaunt auf.

Wenzel lachte. »Eine sonderbare Frage, nicht wahr? Ich würde es auch nicht wagen, sie in Berlin zu stellen. In meiner Jugend habe ich viele Gedichte gelesen, aber nur ein einziges behalten – mein Gedächtnis ist schlecht. Mein Bruder dagegen, Michael, er kann den halben Faust auswendig, er behält alles spielend. Und Sie, Jenny Florian? Sie müssen doch den ganzen Kopf vollgestopft haben mit solchen Dingen.«

Jenny bejahte. Sie habe ein sehr gutes Gedächtnis.

»Dann haben Sie wohl auch viele Gedichte im Kopf? Könnten Sie ein Gedicht sprechen, irgendeinen Vers? Ich möchte hören, wie Ihre Stimme dabei klingt.«

Ohne Zögern erhob sich Jenny, als habe ein Regisseur sie aufgerufen. Sie dachte kurz nach, dann faltete sie die Hände, indem sie die Spitzen der Finger gegeneinander legte. Und nun sprach sie, mit leiser, ganz monotoner, inniger Stimme ins Feuer hinein, die Augen halb geschlossen:

»O gib, vom weichen Pfühle

Träumend, ein halb Gehör!

Bei meinem Saitenspiele

Schlafe! Was willst du mehr?«

Sie hatte geendet. Eine Weile stand sie still, dann ließ sie die Hände sinken. »Ist es schön?« fragte sie, wie aus tiefem Schlaf aufgewacht.

»Es ist schön, und Sie haben es sehr schön gesprochen. Diesen Vers hatte ich vergessen. Aber, wie kamen wir eigentlich auf dieses merkwürdige und unzeitgemäße Thema, sagen Sie doch? Ja, richtig, nun fällt es mir ein. Ich sprach von einem Gedicht, dem einzigen, das ich behalten habe. Auch das ist nicht ganz richtig. Ich habe nur einen Vers davon behalten, und selbst ihn könnte ich vielleicht nicht fehlerlos zitieren. Dieses Gedicht ist für mich das schönste Gedicht, das es in unserer Sprache gibt. Ja, vielleicht ist es das schönste Gedicht, das je ein Dichter auf dieser Erde schrieb, weil es das schlichteste, zarteste und wahrste ist. Es ist Heines ‚Du bist wie eine Blume‘. Sie staunen, daß ich, gerade ich dies sage? Nun, Sie haben recht, nur ein ganz gläubiger Mensch darf dieses Gedicht aussprechen – also will ich nicht fortfahren. Aber, um zur Hauptsache zu kommen. Ein ähnliches Empfinden wie jenes, das Heine in seinem Gedicht ausdrückt – ein ähnliches natürlich nur! –, habe ich oft, wenn ich Sie ansehe, Jenny Florian. Verzeihen Sie mir, ich schäme mich jetzt schon dieser Trivialität.«

Darauf erwiderte Jenny nichts. Sie senkte den Scheitel tiefer und schwieg.

Und Wenzel fuhr fort: »Mißverstehen Sie mich nicht! Zwei Dinge hasse ich mehr als alles auf der Welt, Hysterie und Sentimentalität. Die hysterischen Menschen – es gibt vielleicht mehr hysterische Männer als Frauen – müßte man totschlagen und die sentimentalen – nun sagen wir, ertränken.«

Jenny lachte auf. »Sie machen ganze Arbeit, Schellenberg!« rief sie aus; aber doch war ein versteckter Schrecken in ihren Augen. Welch ungeheure Verachtung klang aus Wenzels Stimme.

»Unsere Zeit braucht Fäuste – etwas rücksichtslose Fäuste, die zupacken,« fuhr Wenzel fort. »Gefühle sind der Luxus einer reichen Epoche, einer Epoche ohne Schulden. Ich spreche ganz offen. Ich möchte nicht in den Verdacht kommen, mich einer Sentimentalität überlassen zu haben, als ich von Heines Versen sprach und Sie bat, ein Gedicht zu sprechen. Nein – das ist etwas ganz anderes. Ich möchte auch nicht in den Verdacht kommen, Ihnen etwas vorzumachen. Ihnen etwa vorzumachen, daß ich Sie liebe. Oh, nein. Ich gestehe offen – verzeihen Sie diesen banalen Ausdruck –, Sie ‚gefallen‘ mir – aber das ist noch lange nicht Liebe. Vielleicht bin ich auch in Sie verliebt? Aber, wer wäre in seinem Leben nicht öfter verliebt gewesen? Vielleicht ist dies das normale Empfinden? Liebe? Ich weiß nicht, ob ich lieben kann. Ich weiß nicht, ob ich einen anderen Menschen lieben kann als mich selbst. Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt möglich ist, einen andern Menschen zu lieben als sich selbst. Es scheint mir, daß hier viel Geflunker vorliegt – bei den Dichtern. Denn Liebe ist ja keine Wissenschaft und kann nicht chemisch analysiert werden. Es ist aber keine Lüge, wenn ich Ihnen sage, Jenny Florian, daß Sie mir sympathischer sind als alle Frauen, die ich kenne. Aber ich weiß nicht, ob Ihnen das genügt, was man Sympathie nennt?«

Jenny nickte. »Es ist viel,« erwiderte sie leise. »Es wird mehr werden,« fügte sie noch leiser hinzu.

»Nun, dann gut, Jenny Florian, dann wollen wir Freunde werden. Aber da ich es nicht liebe, einen Menschen zu täuschen, so will ich dir meine Bedingungen nicht verschweigen.«

Groß und klar wie eine Quelle, kristallen lagen die Augen Jennys unter ihm. Er mußte an Bäche denken, die er als Knabe gesehen hatte. Auf Klein-Lücke gab es einen solchen klaren Bach. Weshalb sieht man später nie mehr diese Klarheit des Wassers?

Und er fuhr fort: »Ich verlange volle Freiheit für mich, denn ich brauche die Freiheit. Ich kann in einer anderen Luft nicht leben, so bin ich. Aber ich gewähre dir, hörst du, nicht die geringste Freiheit! Ich weiß, daß es Narren gibt, die von einer Gleichstellung der Frau sprechen. Es sind armselige Narren, die die Frauen nicht kannten, die in ihrem Leben vielleicht nur eine oder zwei Frauen besaßen. Es sind Lügner. Ich gehöre nicht zu jener Klasse modern denkender Männer. Ich bin ein ganz altmodischer Mensch, in dieser Beziehung wenigstens, und keineswegs geneigt, mich in meinen Ansichten beirren zu lassen. Dabei bin ich nicht kleinlich. Ein Flirt, ein Kuß – aber nicht mehr, mehr dulde ich nicht. So also lauten meine Bedingungen, Jenny. Nun sollst du mir antworten.«

Jenny lächelte mit glänzenden Augen. »Ich nehme alles an, Wenzel. Ich kapituliere.«

»Um wahr zu sein,« sagte Wenzel weiter, »ich finde, daß es falsch ist, diese Dinge, die Beziehungen zwischen Mann und Frau, so furchtbar ernst zu nehmen. Ich finde, der Sinn des Lebens besteht darin, soviel Genuß aus dem Leben zu holen, als möglich ist. Die Menschen aber scheinen alle bemüht zu sein, sich gegenseitig so wenig Genuß wie möglich zu gönnen.«

Jenny verstand nicht. Irgend etwas beunruhigte sie. Aber schon fuhr Wenzel fort: »Was also würdest du tun, Jenny Florian, wenn du mich liebtest – zuviel gesagt –, wenn ich dir sympathisch wäre?«

Darauf antwortete Jenny, ohne zu zögern: »Frage, was würde ich nicht tun?«

So also wurde Jenny Florian Schellenbergs Geliebte.

Ja, nun hatte das Leben allerdings ein anderes Gesicht bekommen.

Jenny ging auf der Straße mit gespitzten Lippen. Sie pfiff wie ein Vögelchen. Immer schien die Sonne zu scheinen, auch wenn es regnete. Wenn die Sonne aber schien, so schwamm Jenny im Licht. Alle Menschen, sonst so griesgrämig und unhöflich, schienen sich zu bemühen, ihr Artigkeiten, Schmeicheleien zu sagen. Es gab plötzlich nur reizende, liebenswürdige Menschen, die sie mit Freundlichkeiten überhäuften. Jenny selbst war hilfreich, gütig, gefällig. Sie funkelte vor Glück, wie ein Diamant funkelt, in den das Licht fällt.

Eines Tages fuhr Wenzel sie hinaus nach Dahlem. Er zeigte ihr die Villa, die er hatte bauen lassen und die ihm zu klein geworden war, während er baute. Er nannte diese Villa, auf die Form des Hauses anspielend, die »Hutschachtel«. Das Haus, bis auf Kleinigkeiten fertig, war in einem modernen Barock erbaut von Kaufherr, dem begabtesten Architekten Berlins. Maler und Handwerker schabten, bürsteten und strichen, und es roch nach Farbe, Gips und frischgehobeltem Holz. In einigen Zimmern waren schon die Tapeten gespannt. Da und dort standen schon Möbel. In einigen Wochen konnte die Villa bezogen werden. Das Badezimmer aus rosigem Marmor entzückte Jenny.

»Wie gefällt dir die Hutschachtel?« fragte Wenzel.

Jenny war begeistert. Sie hatte so etwas Herrliches nie gesehen.

»Nun, ich will sie dir schenken. Hier soll Jenny Florian wohnen.«

Jenny schrie auf. Aber schon hob sie abwehrend die Hände. »Nicht schenken, Wenzel!« rief sie. »Nein, nicht schenken!« Sie wurde plötzlich nachdenklich.

»Nun, dann wohne hier, solange es dir gefällt. Das Haus wird fertig sein, bis du aus Italien zurückkommst.«

In den nächsten Tagen reiste Jenny mit der Filmgesellschaft nach dem Süden. Der Zug fuhr vorwärts, aber sie fuhr in Gedanken schon wieder zurück. Bei jedem besonderen Gehöft, bei jedem besonders aussehenden Baume sagte sie sich: Wenn ich euch erst wiedersehen werde! Sie war unglücklich. Aber – so sagte sie sich resigniert – es ist dein Beruf.

 

14

Der Wind pfiff über die Heide. Er war noch naß vom Schnee, aber schon war ein lauer Hauch des Frühlings in ihm. Ein heftiger Südweststurm brauste seit einigen Tagen dahin.

Von Glücksbrücke an, dessen Baracken in der Ferne, am Horizont verschwammen, bis zu den mächtigen Werkstätten von Glückshorst erstreckte sich jetzt eine einzige ungeheure Fläche, nur unterbrochen von einem windgeschüttelten Birkenhain, den die Axt plangemäß verschont hatte. Er sollte später ein »Park« werden.

Die Maschinen waren gekommen und hatten den Boden von Glückshorst, wo früher der Wald stand, aufgerissen, zermalmt, umgegraben und gewalzt. Tag für Tag zogen große Traktoren und Motorwalzen auf den neugeschaffenen Straßen langsam hin und her. Auf dem Kanal waren Frachtkähne angekommen, die Schottersteine und Schlacke brachten. Auf diesen Straßen waren Scharen von Arbeitern beschäftigt. Am Kanal unten entluden andere Gruppen die Kähne. Feldbahnengeleise zogen kreuz und quer über das Gelände.

Lehmann kam in diesen Wochen kaum aus den Stiefeln. Ein Glück nur, daß die Tage länger wurden. Er erhielt Schreiben über Schreiben aus Berlin, Ingenieure kamen, das Telephon klingelte von früh bis nachts. Es war zum Verrücktwerden. Natürlich drängten sie. Zuerst hatten sie ihn gelobt, nun stellte es sich heraus, daß er eine ganze Woche zurück war. Lehmann schrie und wetterte, und trotzdem er nur einen Arm hatte, hatte er sich ein Fahrrad zugelegt. Auf diesem Fahrrad fuhr er den ganzen Tag hin und her. Es ging ihm nicht mehr rasch genug.

Von dem großen Arbeitertrupp abgesondert, arbeitete ein kleines Häufchen Männer, das Georg Weidenbach befehligte. Der General mit seinem langen Bart war in dieser Gruppe und der krummbeinige Schlosser, der vorgab, seinerzeit bei Wenzel Schellenbergs großem Neubau gearbeitet zu haben. Sie schleppten Meßstangen und Meßbänder, visierten, maßen und schlugen Pflöcke ein. Georg trug einen zerknitterten, zerweichten und beschmutzten Plan unter dem Arm. Er hatte den Auftrag erhalten, Glückshorst zu vermessen.

»Sie bringen mich zur Verzweiflung!« schrie ihm Lehmann durch den Sturmwind zu. »Diese Burschen in Berlin glauben, wir können hexen! In drei Tagen sollen die Kähne mit dem Baumaterial kommen! Was sagen Sie dazu. Es ist einfach verrückt!«

An diesem Abend blies der Wind so heftig, daß die freiwilligen Postfahrer, diese Kolonne frischer Jungen, kaum auf ihren Rädern vorwärtskamen. Von dieser Gruppe der Radfahrer löste sich einer los und erkämpfte sich durch den Sturm den Weg bis zu Weidenbach. Er überbrachte Georg einen Brief.

Ein Brief! Noch immer zitterte Georg, wenn er einen Brief erhielt.

Er klemmte den Plan unter den Arm und musterte im sinkenden Tageslicht die Aufschrift: es war ein Brief von Stobwasser. Es war schon so düster, daß Georg kaum mehr imstande war, den Brief zu lesen. Aber eines verstand er doch sofort: der Brief enthielt eine Angabe über Christines Aufenthalt! Georg erbleichte. Er war so erregt, daß er gute zehn Schritte zur Seite trat. In dem Briefe war die Rede davon, daß Christine sich an Jenny Florian mit einer Bitte gewandt hatte. Jenny Florian, unterrichtet von Stobwasser, hatte dem Bildhauer augenblicklich Mitteilung gemacht. Berlin, im Norden, irgendwo da draußen, die Spur war also gefunden! Dann folgten lange Betrachtungen über das wirtschaftliche Elend der jungen Künstler in Berlin. Georg las nicht weiter.

Ohne ein Wort zu sagen, verließ er seine Arbeitsgruppe und begab sich raschen Schrittes zu den Baracken, zuletzt lief er. In Lehmanns Bureau war Licht. Außer Atem, bleich und in größter Erregung, trat Georg ein und bat um einen sofortigen Urlaub von zwei Tagen. Noch heute abend wollte er nach Berlin.

»Aber zum Teufel mit Ihnen!« schrie Lehmann. »Sind Sie toll geworden? Gerade jetzt?« Plötzlich aber hielt er inne. Sein Blick war auf Georgs Gesicht gefallen. »Aber was ist mit Ihnen?« fragte er voller Teilnahme. »Wie sehen Sie aus? Setzen Sie sich! Was ist passiert?«

»Es hat sich nichts Unglückliches ereignet,« sagte Weidenbach, und das Blut kehrte langsam in sein Gesicht zurück. »Im Gegenteil, etwas Glückliches oder vielleicht etwas Glückliches, es ist noch nicht ganz sicher.«

»Um so besser,« erwiderte Lehmann. »Natürlich, wenn es sein muß, müssen Sie fahren, das sehe ich ein, so fatal es ist. Sie wollen also zwei Tage Urlaub haben. Vielleicht können Sie es früher schaffen? Ich werde unterdessen Ihre Arbeit mit übernehmen. Kommen Sie in einer Stunde zu mir, zu einer längeren Besprechung. Daß Sie heute abend noch gehen, hat ja keinen Sinn.«

Aus den Fenstern der Tischlerei strömte helles Licht. Unter eines dieser Fenster stellte sich Georg, um Stobwassers Brief nochmals und aufmerksam zu lesen. Ohne Zweifel, er hatte recht gelesen, Christines Spur war gefunden, nicht ihre Adresse, aber doch wenigstens eine Spur! Und endlich fand Georg auch die Sammlung, den Brief Stobwassers zu Ende zu lesen.

»Sei glücklich, Georg,« schrieb Stobwasser, »daß du eine Beschäftigung hast. Vielleicht komme ich auch bald zu dir hinaus. Uns allen hier, die wir die Fahne der Kunst noch hochhalten, geht es miserabel. Ich mache Schnitzereien für eine Möbelfabrik, aber zu welchem Preise! Katschinsky hat sich in den Film gerettet und scheint eine Zukunft vor sich zu haben. Allen andern aber geht es elend.« Und Stobwasser berichtete von bekannten Malern und Bildhauern, die heute einen Gegenstand um den andern verkauften und verpfändeten, um das nackte Leben zu fristen. Eine junge Geigerin, Meisterschülerin eines berühmten Virtuosen, spielte jeden Abend für zwei Mark im Kino. Ein bekannter Maler und Radierer zeichnete für einige Groschen Porträts in den Kaffeehäusern. Die guten Theater brechen zusammen, die Filme und Revuen triumphieren. »Was soll werden?« rief Stobwasser aus. »Die Regierungen kümmern sich nicht um uns, die Städte, kaum noch die Zeitungen. Soll die Kunst in diesem Lande zugrunde gehen –?«

 

15

Im Morgengrauen ging Georg zur Station, und kurz nach Mittag sprang er, in äußerster Erregung, aus dem Zug, um sich augenblicklich nach dem Norden der Stadt zu begeben. Die kleine Kutscherkneipe, die Christine in ihrem Briefe angegeben hatte, war ohne Mühe zu finden. Hier sollte der Bote Jennys sich an ein Fräulein Pauline wenden und sagen, er käme von Fräulein Florian.

Fräulein Pauline war ein üppiges, schlechtgelauntes Mädchen, das, die Haare noch ungeordnet, mit schmutzigen Händen hinter dem Schenktisch Gläser spülte. Sie gähnte und betrachtete Georg voller Argwohn, obschon er sich Mühe gab, eine gleichgültige, uninteressierte Miene zu zeigen.

»Also Sie kommen von Fräulein Florian?« fragte Pauline wiederum gähnend. Und nach einigen argwöhnischen Blicken fügte sie hinzu: »Nun, hoffentlich bringen Sie ihr etwas Gutes, sie kann es brauchen. Die Alte hat ihr schon die Schuhe weggenommen, so verschuldet ist sie. Gehen Sie Nummer dreiundzwanzig, im Seitenflügel drei Treppen, Agent Lederer.«

Das also war Christines Adresse! Georg taumelte die Straße entlang, und bei Nummer dreiundzwanzig blieb er stehen. Wie oft, hundertmal hatte er dieses Haus in seinen Träumen gesehen! Aber es sah noch erschreckender, bedrückender aus, als seine Visionen es ihm zeigten.

Ein schmutziger Torweg, rechts eine übelriechende Roßschlächterei, links ein leerer, verstaubter Laden mit zerbrochenen Scheiben. Der Torweg wimmelte von krank aussehenden Kindern mit greisenhaften Gesichtern. Verwahrloste Weiber, in Fetzen gehüllt, gingen aus und ein. Halb von Sinnen, betäubt von dem Gestank der Roßschlächterei, gemartert von dem Gedanken, daß Christine in einer derartigen Hölle hausen sollte, kletterte Georg die schmale Treppe empor. Auch diese Treppe starrte von Schmutz und war erfüllt von den üblen Gerüchen der Ausgüsse und schmutziger Küchenlöcher. Und wieder Kinder, krank, verkommen, auf dünnen verkrümmten Beinen, Lumpen, hustende Frauen und hier und da das fahle Gesicht eines Mannes mit finsterer Miene. Das ganze Haus bebte von Geschrei, Lärm und zugeschlagenen Türen. Es schien von Hunderten von Familien bewohnt zu sein, die die große Stadt ausgestoßen hatte, damit sie hier verkamen. Ein dickes Frauenzimmer, ein gewaltiger Klumpen Fleisch, in zerrissener Jacke, ging an ihm vorüber und stieß ihn derb an, während sie ihn mit frechen verquollenen Augen musterte und lachte.

Georg war gestärkt durch den langen Aufenthalt im Freien. Die Arbeit hatte ihn gestählt. Er war an manches gewöhnt, und doch begann er in dieser Höhle des Elends zu zittern.

»Mut! Mut! Vorwärts!« rief er sich zu.

Vor einer mit einem Schild »Lederer, Agent« bezeichneten schmutzigen Tür angelangt, nahm er seine ganze Kraft zusammen und klopfte einmal, zweimal. Dann lauschte er angestrengt, ob sich drinnen etwas rege. Und während er lauschte, schien der Lärm des Hauses sich zu verzehnfachen.

Endlich wurde der Riegel zurückgeschoben, und die Tür öffnete sich. Ein junger Mensch, fast noch ein Knabe, mit stechenden, frechen Augen erschien. Sein Gesicht war fahl, glänzend, als sei es mit Schweiß bedeckt. Er trug keinen Kragen, sein Hemd war schmutzig.

»Sie wünschen?« fragte der junge Mann frech und kurz. Neben ihm tauchte argwöhnisch das Gesicht einer aufgedunsenen Frau mit grauen, wirren Haaren auf. Sie war klein, dick, zwischen den Augen hatte sie eine lange Narbe, als habe man ihr einmal mit dem Beil das Gesicht gespalten.

Nun gilt es, dachte Georg, der beinahe die Besinnung verlor. Er verbeugte sich höflich und sagte, daß er von Fräulein Florian käme und Fräulein Christine März einen Brief zu übergeben habe.

»Endlich,« keifte die aufgedunsene Frau. »Wir werden froh sein, wenn wir sie endlich los sind. Bringen Sie Geld?«

»Ja, ich bringe Geld.«

Der junge Mensch wies Georg in einen schmalen, dunklen, übelriechenden Korridor. Georg, fast von Sinnen, konnte sich später niemals mehr an Einzelheiten erinnern. Aber er erinnerte sich, daß folgendes geschah:

Er klopfte an irgendeine Tür, und irgendeine ferne, fremde, unwirkliche Stimme sagte: »Herein!« Es war nicht Christines Stimme. Es war ein fremdes, verwahrlostes Mädchen, das in einer armseligen Kammer auf einem niedrigen, schmalen Eisenbett saß und einen zerrissenen Strumpf stopfte, blaß, schwindsüchtig, mit großen, glühenden Augen. Fast wie eine Wahnsinnige sah sie aus. Sie heftete die großen, glühenden, schwarzen Augen auf ihn, regungslos … auch die Hände, die Strumpf und Nadel hielten, blieben ganz in der gleichen Haltung. So saß sie und staunte ihn an, wie eine Wachsfigur. Wie lange? Georg konnte es niemals sagen.

Aber er erinnerte sich, daß er ganz plötzlich auf dieses fremde, regungslose Mädchen, das ihn anstarrte, zuschritt und vor ihr in die Knie fiel: es war doch Christine.

Er streckte in seiner Verzweiflung die Hände nach ihr aus. »Bist du krank, Christine?« fragte er, aber er hörte nicht einmal selbst seine Stimme.

Christine saß ohne jede Bewegung, blickte ihn mit fiebernden Augen an, ohne Regung. Er flüsterte ihren Namen, aber sie regte sich nicht. Er stammelte verwirrte Fragen in seiner Seelenangst. Sie schwieg. Er griff nach ihrer Hand, sie zog die Hand zurück. Fast wäre er verzweifelt. Nie in seinem Leben erlebte er solch fürchterliche Minuten. Er war dankbar, daß er sich später nicht mehr an die Einzelheiten erinnerte; nur ein Entsetzen blieb in seinem Herzen zurück, unauslöschlich und für immer.

Ein Gesicht an der Türe schreckte ihn auf, ein Gesicht, das ein Axthieb gespalten hatte, mit einem großen und einem kleinen Auge, das große gespenstisch, geisterhaft, das kleine tierisch und frech. Eine grelle Stimme keifte und zeterte: daß sie zu arm sei, fremde Leute zu unterhalten und daß sie beabsichtigt habe, Christine heute vor die Tür zu setzen. Dies und ähnliches keifte die Stimme, noch heute hatte Georg ihren entsetzlichen Klang im Ohr.

Nun aber, nun ereignete sich das Überraschendste, etwas gänzlich Unerwartetes – und gerade diese Überraschung, es gibt kein Wort dafür, gab Georg augenblicklich, auch das ist merkwürdig, die Klarheit der Sinne zurück. Von diesem Augenblick erinnerte er sich wieder an jede Einzelheit.

Christine lächelte plötzlich – oder besser gesagt – sie machte den Versuch, zu lächeln. Ein krankes Lächeln breitete sich langsam über ihr Gesicht aus. Dann wandte sie sich mit einer ganz langsamen, unsagbar zärtlichen Bewegung zu dem Kopfkissen des armseligen Bettes, schlug die Decke zurück: und Georg erblickte plötzlich den Kopf eines kleinen Kindes. Mit einer zärtlichen Bewegung nahm Christine mit beiden Händen das in einen Lappen gewickelte Kind und streckte es ihm entgegen.

»Hier ist es,« flüsterte sie.

»Was ist das?« stammelte Georg.

»Es ist dein Kind,« flüsterte Christine, und wieder versuchte sie zu lächeln.

»Mein Kind?« schrie Georg. »Wie ist das möglich? Wie soll ich das alles verstehen?« Und er stürzte sich auf das Kind, nahm es aus Christines Händen und drückte es gegen die Brust.

Das Gesicht an der Türe lachte schallend.

Von diesem Augenblick an war Georg wieder völlig Herr seiner Sinne. Er beschwor Christine, mit ihm zu kommen. Sie begann zu zittern. Ihr Blick irrte voller Angst zur Türe.

»Nimm mich fort von hier!« flüsterte sie, leise, voller Furcht, die Alte könne es hören. Da wandte sich Georg gegen die Türe und trat auf die Alte mit dem gespaltenen Gesicht zu.

»Ich verlange eine Erklärung!« rief er. »Was geht hier vor? Was bedeutet das alles?«

Die Alte keifte. Sie überschüttete Georg mit Schmähungen, sie beschimpfte Christine mit den unflätigsten Worten. Sie hätte nichts dagegen, daß er die »Dame« mit sich nähme – oh, ganz im Gegenteil –, aber erst hieße es bezahlen. Schulden, Geld – zweihundert Mark, eine Unsumme! Zweihundertfünfzig Mark! Unmöglich!

Christines Blick, das in Lumpen gehüllte Kind – Georg stürzte aus dem Hause wie von Peitschenhieben vorwärts getrieben.

 

16

In Schweiß gebadet traf er vor Stobwassers Werkstatt ein.

Er war so von Sinnen, daß er die Tür aufklinkte, bevor Stobwasser noch auf sein Pochen antworten konnte. Er stürzte in die Werkstatt und prallte zurück: Ein junges, nacktes Mädchen lag auf einem kleinen Sofa. Stobwasser stand und modellierte eifrig.

»Du mußt helfen, Stobwasser!« schrie Georg, dessen Hände flogen. »Helfen mußt du!« Er zerrte den Bildhauer in den Hof hinaus und erzählte wirr, atemlos, unzusammenhängend.

Aber das Herz eines Freundes ist wie das einer liebenden Frau, und Stobwasser verstand sofort alles.

Er blieb mit gespreizten Beinen stehen, den Kopf gesenkt, und dachte nach. »Wir werden Rat schaffen,« sagte er. »Die Hauptsache ist nur, daß du dich beruhigst, Weidenbach.«

»Oh, ich bin sehr ruhig,« erwiderte Georg mit einem abwesenden Lächeln. Er zitterte am ganzen Körper. Er strich sich über das Gesicht, und seine Hand war so naß, als habe er sie in Wasser getaucht.

Stobwasser nahm Hut und Mantel. »Sie können sich anziehen,« sagte er zu dem Modell, und sie gingen.

»Nicht so schnell!« rief er Georg zu, der schon wieder zu laufen begann. »Wir wollen es bei Katschinsky versuchen. Oh, wie ich meine Armut verfluche!« schrie er laut. »Für sich allein arm zu sein, was bedeutet es? Aber – oh, wie ich meine Armut verfluche!«

Katschinsky hatte die Wohnung gewechselt. Seit seinen Erfolgen beim Film wohnte er in einer großen Pension im Westen. Unglückseligerweise hatte er Besuch. Er kam in die Diele, runzelte die Stirn, als er die beiden keuchenden Freunde sah, denen der Schweiß auf der Stirn stand. Er trug einen Hausanzug aus dunkelblauer Seide und schwarze Hausschuhe aus Lackleder.

»Was gibt es?« fragte er und ließ sich in einem Korbsessel der Diele nieder. Aber augenblicklich stand er wieder auf. »Zweihundertfünfzig Mark!« rief er aus. »Ich habe keinen Pfennig, nur Schulden!«

»Du mußt das Geld schaffen!« schrie Stobwasser.

Katschinsky runzelte wieder die Stirn und verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. »Wie soll ich eine so große Summe herbeischaffen?« fragte er. »Sagt doch selbst.«

»So gib alles, was du hast!« rief Stobwasser. »Wir werden es verpfänden!«

Katschinsky zuckte die Achseln und wandte sich der Tür zu. »Ich habe leider keine Zeit mehr,« sagte er hochmütig. »Ich habe Damenbesuch.«

»Du bist ein Schuft!« schrie Stobwasser, als Katschinsky die Tür schon geschlossen hatte.

Sie wischten sich beide den Schweiß von der Stirn.

»Dann wollen wir es bei Jenny selbst versuchen,« riet Stobwasser und stürzte die Treppe hinab.

Im feierlichen Foyer des Hotels, wo sorgfältig gekleidete Damen und Herren still in Klubsesseln saßen, mißbilligte der Portier ihre Eile und Hast. »Es ist dringend,« sagte Georg und eilte die Treppe empor.

Jenny war zu Hause, welch ein Glück! Aber der Page machte sie darauf aufmerksam, daß Fräulein Florian Besuch habe. »Herr Schellenberg ist soeben gekommen,« verkündete er voller Ehrfurcht.

»Wir lassen bitten, es ist in dringender Angelegenheit,« sagte Stobwasser, und der Page klopfte zögernd und scheu an Jennys Tür. Nach geraumer Weile verschwand er.

Es vergingen nur wenige Minuten, da kam Jenny heraus auf den Flur. Sie hatte eine Zigarette zwischen den Lippen und ging mit leichten, tänzelnden Schritten, aber ganz langsam, auf die beiden zu.

»Was gibt es?« fragte sie mit einem schönen Lächeln. »Und wer ist das? Sind Sie es, Weidenbach?«

»Was es gibt?« fragte Stobwasser und erzählte hastig.

Jenny dachte nach. Sie zog an der Zigarette, schüttelte den Kopf, blickte zu Boden. »Wie peinlich,« sagte sie. »Ich habe kein Geld. Es ist fast Monatsende. Aber wartet, es wird sich Rat finden. Ich hoffe es.«

Mit denselben langsamen tänzelnden Schritten ging sie in ihr Zimmer zurück. Nach wenigen Minuten erschien sie wieder und hob triumphierend drei Geldscheine in die Höhe. »Nun, seht ihr!« rief sie freudig aus. »Oh, Weidenbach, wie freue ich mich, Ihnen gefällig sein zu können! Grüßen Sie Christine.«

Schon stürzten die beiden die Treppe hinab.

»Wir werden ein Auto nehmen!« entschied Georg.

Drei Stunden, nachdem Georg Christine verlassen hatte, war er schon wieder zurück. »Ich bringe das Geld!« rief er dem grauhaarigen Weib mit der gespaltenen Stirn zu, indem er sich den Schweiß von der Stirn wischte.

Aber die Alte hatte es sich anders überlegt. »Es sind nur zweihundertundfünfzig Mark! Es sind aber mehr als dreihundert Mark!« keifte sie. »Wir haben uns barmherzig erwiesen, und das ist nun der Dank!«

Da aber verwandelte sich Georg plötzlich. Er schwang die Faust und machte Miene, sich auf die Alte zu stürzen. Stobwasser hatte ihn nie so gesehen. »Wir geben nicht mehr! Wir können nicht mehr geben! Das ist alles, was wir aufbringen konnten!« schrie Georg mit drohender Gebärde. Und nun willigte die Alte ein, daß Christine die Wohnung verlassen könne.

Aber Christine war so schwach, daß sie nicht imstande war, die Treppe hinabzugehen. Georg nahm sie auf den Arm und trug sie hinunter. Stobwasser kam hinterher mit dem Kinde, das in einen alten Lappen gewickelt war. Der junge Mensch und das alte Weib mit der gespaltenen Stirn schrien freche Scherze in das Stiegenhaus hinab.

Sie fuhren nach Stobwassers Werkstatt.

»Es ist ein Glück, daß ich heute geheizt habe!« rief Stobwasser vergnügt aus und rieb sich die Hände. »Ich heize nur, wenn ich Modell habe.«

Der Bildhauer schürte den Ofen, daß das rostige Rohr, das durch die Werkstatt führte, zu krachen begann. Er kochte Tee. Dann stürzte er aus dem Hause, um das Abendbrot einzukaufen. Brot, Butter, Eier und sogar ein Viertel Schinken besorgte Stobwasser.

»Nun wird es gemütlich bei uns!« rief er vergnügt aus, und auf seinen Wangen erschienen rote Flecke vor Eifer. »Es ist selbstverständlich, daß ihr bei mir übernachtet, wo solltet ihr hin? Wir werden uns schon zurechtfinden. Und Sie, Christine, Sie sollen sich ausruhen,« sagte er, während er den Tisch abräumte, einige Zeitungen über die schmutzige Tischplatte breitete und das Abendbrot servierte.

Christine schwieg noch immer. Georg und Stobwasser hatten sie genötigt, sich auf Stobwassers Bett auszustrecken. Da also lag sie nun, bleich und still, die fiebernden Augen zur Decke gerichtet, das Kind an ihrer Seite. Sie wiegte nur unmerklich den Kopf hin und her, wenn Georg eine Frage an sie richtete. Ihre Lippen zuckten verquält, und wenn er sie berühren wollte, so ging ein Zittern über ihren ganzen Körper.

Stobwassers Tiere hatte der große Besuch unruhig gemacht. Die Vögel sprangen neugierig in ihren Käfigen hin und her. Der Kakadu knarrte und streckte den Kopf durch das Gitter. Der grüne Papagei turnte an seinen Ringen und schlug mit den Flügeln. Die pechschwarze Katze aber saß auf dem Bettpfosten und starrte mit ihren großen grünen Augen unaufhörlich auf das kleine Kind. Das Kind begann zu schreien, und Christine reichte ihm die Brust. Sie neigte dabei leicht den Kopf, und ein unmerkliches Lächeln lag auf ihrem bleichen Gesicht. In dieses Gesicht hatte das Schicksal Furchen und Linien geschrieben, so daß Christine um zehn Jahre gealtert schien. Sie trank eine Tasse Tee, dann lag sie wieder still und sah zur Decke empor. Bald schlief sie erschöpft ein.

Stobwasser und Georg saßen still. Der Bildhauer rauchte seine Pfeife, und nur zuweilen flüsterten sie einige Worte.

»Was ist mit ihr?« fragte Stobwasser leise.

»Ich weiß es nicht, sie ist krank.«

»Nun, es wird alles gut werden.«

»Und das Kind, Stobwasser? Was sagst du zu meinem Kinde?« Georgs Augen glänzten. »Mein Kind!«

»Es ist in der Tat ein sehr schönes Kind,« antwortete Stobwasser voller Überzeugung. »Ein außerordentlich schönes und genial aussehendes Kind!«

Und wieder schwiegen sie lange, und jeder dachte seine eigenen Gedanken.

 

17

Früh am nächsten Morgen begab sich Georg in das Bürohaus »Neu-Deutschland«, um dem Referenten seine Bitte vorzutragen, Christine und das Kind nach Glückshorst mitnehmen zu dürfen.

Der Umbau des Bürohauses der Gesellschaft schien nahezu beendet zu sein. Es wimmelte von Menschen. Boten und Beamte eilten hin und her. In den Vorhallen standen Scharen von Männern, abgerissen und bleich, die Arbeit suchten.

Der Referent schüttelte den Kopf, als er Georg angehört hatte. »Es ist unmöglich,« sagte er. »Die Siedlung ist ja erst im Bau. Ich würde es ja gerne tun, mißverstehen Sie mich nicht. Welch ein Jammer und welch ein Elend!« rief er aus. »Können Sie begreifen, daß ich oft verzweifle? Solche Fälle wie den Ihrigen höre ich täglich hundertmal. Das Elend strömt zu diesem Hause herein wie eine Flut, und diese Flut steigt mir bis an die Lippen! Ich werde versuchen, Herrn Schellenberg oder einen seiner Sekretäre zu erreichen.« Der Referent telephonierte.

Michael Schellenberg aber hatte soeben sein Büro verlassen und wollte wegfahren. Welch ein Verhängnis! »Folgen Sie mir,« sagte der Referent eilig. »Vielleicht treffen wir ihn noch.«

Als sie auf den Flur traten, kam Michael soeben die Treppe herab. Er schien es sehr eilig zu haben. Der Referent trat auf ihn zu und trug ihm in aller Kürze Georgs Bitte vor. Michael schüttelte den Kopf und ging rasch weiter. Als er an Georg vorüberkam, sah er ihm in die Augen und blieb eine Sekunde stehen.

»Handelt es sich um Sie?« fragte er.

»Ja,« erwiderte Georg, »um mich. Ich würde herzlichst bitten –«

Michael zog die Uhr. »Ich habe mich schon verspätet,« sagte er und runzelte die Stirn. »Ich muß ins Ministerium. Kommen Sie mit mir. Sie können mir ja unterwegs den Fall vortragen.« Hastig und ungeduldig schob er den zögernden Georg ins Auto, und der Wagen fuhr ab.

Georg erzählte rasch seine Geschichte, während Michael ihn mit klaren prüfenden Augen anblickte.

»Es ist gut,« sagte Michael, als Georg geendet hatte. »Nehmen Sie Fräulein März und das Kind getrost mit nach Glückshorst. Und werden Sie recht glücklich,« fügte er hinzu, indem er Georgs Hand schüttelte. Er klopfte ans Fenster. Der Wagen hielt, und Georg stieg aus.

Rasch machte Georg für Christine und das Kind die allernötigsten Einkäufe, und dann fuhren sie ab.

Christine fügte sich willig. Sie hatte nur eine Bedingung gestellt, daß er, Georg, nie eine Frage an sie richte. Sie selbst werde ihm einst alles erzählen.

Als es dämmerte, kamen sie in Glückshorst an. Eine Weile standen sie verlegen auf der Straße. Der Wind blies. Christine hielt das in eine Decke gehüllte Kind auf den Armen, dann erstattete Georg Lehmann Bericht und übergab Christine und das Kind der Fürsorge der Mutter Karsten. »Was für ein schönes Kind!« rief die Alte aus und hob das Kind in die Höhe, um das Geschlecht festzustellen. »Ein Knabe! Wie heißt er?«

»Er heißt Georg,« sagte Christine.

»Etwas bleich sieht Ihre kleine Frau aus,« sagte Mutter Karsten dann zu Georg. »Aber wir werden sie schon herausfuttern.«

Der Schlächter-Moritz streckte den dicken Kopf in die Tür, dann überbrachte er der Baracke die Neuigkeit. Aber die Männer regten sich nicht im geringsten darüber auf. Eine Frau, ein Kind, was war weiter dabei?

»Sie kommen gerade noch zur rechten Zeit, Weidenbach,« sagte Lehmann. »Morgen früh fangen wir mit den Häusern an.«

 

18

Es war kaum richtig Tag, da rief Lehmann schon zur Arbeit. Fünfhundert Häuser sollten vorläufig in Glückshorst errichtet werden, und die Gesellschaft hatte Lehmann wissen lassen, daß sie keinen Spaß verstehe. Kein Wunder, daß der Einarmige etwas erregt war und zur Eile antrieb.

Bauplätze, Straßen, alles war genau vermessen und durch Pflöcke gekennzeichnet. Als die Sonne über dem Walde heraufkam, wimmelte es schon von Arbeitergruppen im Gelände. Georg führte jene Gruppen, die den Grund der Häuser aushuben. Siebzig Zentimeter tief und siebzig Zentimeter breit mußte der Boden für die Grundmauern ausgehoben werden. Bis auf wenige Gebäude waren die Häuser alle gleich groß. Sie waren zehn Meter lang und viereinhalb Meter breit. Georgs erste Arbeitsgruppe trug besondere Meßlatten mit sich; ihre Aufgabe bestand darin, den Grundriß des Aushubs mit dem Spaten genau vorzuzeichnen. Die zweite Gruppe hob die Erde bis zur vorgeschriebenen Tiefe aus, und der dritten Arbeitsgruppe lag die Aufgabe ob, die Arbeit der früheren Gruppen sorgfältig nachzuprüfen und auszugleichen. Vom Kanal aus hatte Georg die Arbeit aufgenommen, und schon am Nachmittag wurden Geleise für die Karren gelegt, die das Baumaterial von den Kähnen herauf befördern sollten, und schon am nächsten Morgen wurde mit dem eigentlichen Bau begonnen. Die Arbeit war ganz ähnlich eingeteilt, wie die des Aushubs der Erde. Jede Kleinigkeit war vorgesehen und vorbereitet. Die Betonmischmaschine des Schleppkahns begann zu arbeiten, und schon rollten die Karren über das Gelände, die die Betonmassen zu den Baustellen beförderten. Aus Brettern gefügte Gehäuse wurden in die Ausschachtungen gesetzt und mit Beton vollgeschüttet. So ging es von Haus zu Haus. Und während oben die Arbeitsgruppen noch beschäftigt waren, die Erde auszuheben, wurden unten am Kanal bereits die Grundmauern gestampft.

Lehmann hatte gegen zweihundert Arbeiter zur Verfügung, dazu war noch eine Gruppe gelernter Bauarbeiter gestoßen, die diese Arbeit in anderen Siedlungen schon hundertfach ausgeführt hatte. Mit der Gleichmäßigkeit und Präzision einer Maschine bewegten sich Lehmanns Arbeitsgruppen über das Baufeld. Nicht die geringste Störung entging ihm, nicht der geringste Aufenthalt. Der Schweiß lief den Männern übers Gesicht.

Unnötig zu sagen, daß der Schlächter-Moritz, dieser Berg von Muskeln, in diesen Tagen wahre Wunder verrichtete. Es war in der Tat unbegreiflich, mit welcher Schnelligkeit er sich in die Erde einwühlte. Später übergab ihm Lehmann die Kolonnen, die die Betonmassen einstampften, und nun hörte man Moritz vom frühen Morgen bis zum späten Abend brüllen. Nichts ging ihm schnell genug.

Schon aber schob sich auf dem stillen Kanal ein neuer eiserner Kahn heran, der weiteres Material brachte. Es waren Zementrahmen, aus denen die Hauswände zusammengestellt wurden, ganz ähnlich den Abmessungen des früheren Holzfachwerks. Diese Rahmen waren etwas über zwei Meter hoch und einen Meter breit. Eine Type von Rahmen enthielt eine Öffnung für die Türe, eine andere Type Ausschnitte für die Fenster.

Alles war Typ, alles war Norm, jede noch so unscheinbare Einzelheit. Die Gesellschaft baute Häuser, wie man Fahrräder oder Automobile serienweise fabriziert.

Es begann das Aufrichten und Ausloten des Rahmenwerks, das Zusammenfügen. Diese Zementrahmen für die Außenwände und die Querwand, die jedes Haus in zwei Räume teilte, wurden in besonderen über das ganze Land verstreuten Zementfabriken der Gesellschaft hergestellt. Das Ausmauern des Rahmenwerkes aber war eine Arbeit, die selbst jeder Laie leicht unter der Anleitung eines geschulten Vorarbeiters ausführen konnte. Die Maschine preßte die Mauersteine aus dem Material, das sie an Ort und Stelle vorfand.

Ein neuer Kahn kam den Kanal herauf. Er brachte Holz, Balken, Bretter. Schon sah man reihenweise die Skelette von neuen Gebäuden stehen. Während die Häuser aus der Erde wuchsen, erkannte man deutlich Straßen, Nebenstraßen und die Abmessung der Gärten.

Die Zimmerleute kletterten in den Dachgestühlen. Die Äxte blitzten, und es dröhnte von allen Seiten. Es kamen Ingenieure aus Berlin zur Inspektion und gingen wieder. Lehmanns Gesicht strahlte vor Freude. Die Stadt wuchs empor. Täglich sah man, wie sie sich ruckweise aus dem Boden hob.

Immer noch kämpfte der Schlächter-Moritz seinen heroischen Kampf mit den Betonmassen vom frühen Morgen bis in die späte Nacht.

»Wollen Sie hier eine Schlächterei errichten?« fragte ihn Lehmann eines Tages.

Der Schlächter warf sich in die Brust: »Ich?« erwiderte er, während er sich mit dem bloßen Arm den Schweiß vom Gesicht strich. »Ich habe kein Geld, ich habe kein Kapital.«

»Das wird sich alles finden. Wenn Sie wollen, Moritz, ist die Sache abgemacht.«

Das Wetter war in den letzten Wochen herrlich gewesen. Es wehte ein würziger, lauer Wind, und die Sonne wärmte schon gehörig.

Wenn man nun gegen Glücksbrücke blickte, wo es ebenfalls von Arbeiterhaufen wimmelte und ganze Häuserreihen aus dem Boden wuchsen, wenn man etwas schräg gegen das Licht blinzelte, so sah man, daß die riesige weite Heide von einem grünen Hauch übersponnen war: die Saat kam heraus.

Eines Abends ließ Lehmann Georg in dringender Angelegenheit zu sich rufen. Georg fand ihn in angeregter Laune, mit roten Backen. Seine Pfeife paffte doppelt so heftig wie gewöhnlich.

»Nun ist also dieser Brief gekommen!« rief er Georg entgegen und lachte fröhlich.

»Welcher Brief?«

»Setzen Sie sich, Weidenbach. Die Stunde des Abschieds hat geschlagen. Meine Arbeit hier ist zu Ende. Ich bin auf einen schönen und interessanten Posten aufgerückt, und nun richte ich die Frage an Sie: Weidenbach, wollen Sie der Chef dieser Station werden?«

Georg saß mit offenem Munde da und errötete. »Sie meinen, ich?«

Lehmann nickte: »Sie meine ich, jawohl, Weidenbach. Es ist meine Pflicht, meinen Nachfolger zu bestimmen. Sie müssen sich auf fünf Jahre verpflichten bei der Gesellschaft, das ist alles. Das Gehalt ist gering, aber die Gesellschaft bietet Ihnen für später große Vorteile.«

»Es ist mir nicht um Geld zu tun,« warf Georg ein.

»Ich weiß es. Sie sind der Verständigste hier. Sie haben auch die größte Begeisterung für die Sache, und das ist es, was die Gesellschaft braucht: Männer, die sich für ihre Ziele begeistern! Wir können keine ängstlichen, verzagten und mürrischen Burschen brauchen!« schrie Lehmann und schlug auf den Tisch, daß die Papiere sprangen. »So ist es, also schlagen Sie ein?«

»Ich schlage ein!«

»Nun, dann wollen wir ein Gläschen zum Abschied trinken, Weidenbach, mein lieber Kamerad,« sagte Lehmann. Er nahm eine Flasche aus dem Schrank und goß die Gläser voll. »Sie waren von Anfang an dabei, und Sie haben beobachtet, wie es sich abspielt. Es gehört viel Takt dazu, Menschenkenntnis, hier Nachsicht und dort Strenge. Sie wissen, es kommen Menschen, verbrauchte Menschen, zu uns, die sich auf dem Pflaster krank gelaufen haben, und ein wesentlicher Teil unserer Aufgabe besteht darin, ihnen wieder Lebensmut einzuflößen. Deshalb müssen Sie da und dort nachsichtig sein. Ein gutes Wort tut einem verprügelten Hund wohl, und da und dort Strenge, und da und dort unerbittlich: hinaus mit dir. Beobachten Sie, und wenn es nicht geht: hinaus.

Tausende, Weidenbach, Tausende von jungen Leuten wie Sie und ich arbeiten in der Gesellschaft Neu-Deutschland, arm wie die Kirchenmäuse, aber freudig am Werk. Die Ärzte, die Zahnärzte, die Ingenieure, die Baumeister, Chemiker, Landwirte, Architekten, wir alle arbeiten für einen Hundelohn, aber wir arbeiten für eine Sache. Sie kennen ja die Parole der Gesellschaft: ‚Tod dem Hunger!‘ Sie wissen ja, diese Parole hat Michael Schellenberg erfunden. Was er will, ist Ihnen klar, aber der Hauptzweck, den er verfolgt, ist der, eine neue Volksgemeinschaft zu schaffen. Warten Sie ein Jahr, warten Sie zwei Jahre, die Gesellschaft rollt wie eine Lawine über ganz Deutschland. Bald wird dieses arme und mutlose Land wieder zu brausen beginnen.

Und hören Sie, Weidenbach, Sie werden die Siedlung ausbauen, und Sie werden sich aus den Leuten, die Sie haben, die besten auswählen, sie sollen den Kern der Siedlung bilden. Menschen wie Moritz und die Mutter Karsten und der Schlosser eignen sich prachtvoll dazu. Sie werden mit großer Umsicht vorgehen müssen, um den Stamm zu schaffen. Man wird Ihnen ja dann von der Zentrale erprobte Kräfte zuweisen. Und nun, gute Nacht, Weidenbach. Morgen ist wieder ein heißer Tag. Morgen mittag werde ich euch allen Lebewohl sagen.«

In der Mittagspause des folgenden Tages stellte Lehmann Georg als den neuen Chef der Station vor. Dann hielt er eine kurze Ansprache, brachte ein Hurra aus auf das Gedeihen der Gesellschaft und schwang den Hut.

Die Männer brüllten und schüttelten ihm die Hand, und nun ging er.

»Da also geht er, er war ein netter Bursche!«

 

19

»Was sagst du dazu, Christine?« sagte Georg. »Ich bin Chef der Station geworden.«

Christine hob den fieberischen Blick und lächelte leise. »Ich freue mich für dich,« sagte sie. Sie saß vor der Küche in der Sonne und schnitt Kartoffeln in Scheiben, die sie in einen Topf voll Wasser fallen ließ. Ihr zu Füßen saß der kleine Georg, in eine alte Decke eingehüllt. Frisch und reizend blickte sein kleiner zarter Kopf aus der derben Decke.

In der Mittagspause oder am Abend nahm Georg häufig das Kind auf den Arm und trug es durch das Lager, oder auch Moritz nahm das Kind oder irgendein andrer.

»Ah, da ist ja der kleine Georg!« riefen die Männer und nahmen mit zartem Griff der rauhen Arbeitshände das kleine Händchen des Kindes. »Da bist du ja, und wie er wächst und gedeiht.«

Das Kind gehörte dem ganzen Lager. Es war ihr gemeinschaftliches Kind.

Christine schwieg noch immer. Sie war noch so blaß wie an dem Tage, da Georg sie ins Lager gebracht hatte. Aber dieser bläuliche Glanz in den eingesunkenen Wangen und an den Schläfen war verschwunden. Und das kalkige Weiß der Ohren, das Georg so sehr erschreckt hatte, denn er befürchtete, daß Christine schwindsüchtig geworden sei, war einem zarten Elfenbeingelb gewichen. Oder sollte er sich täuschen? Aber auch Mutter Karsten war seiner Meinung.

»Sie sieht besser aus,« sagte die Alte. »Und sie hustet nicht mehr so fürchterlich in der Nacht.«

Am Tage hustete Christine selten. Auch die hektischen Flecken, die er dann und wann in ihrem Gesicht beobachtet hatte, zeigten sich immer seltener.

»Hast du Fieber?« fragte er sie und nahm ihre Hand in seine Hände. »Frierst du? Soll ich dir eine Decke umlegen?«

Christine schüttelte den Kopf und sah ihn mit einem dankbaren Blick an.

Wie glücklich war er, daß dieser starre und abwesende Glanz ihrer Augen verschwunden war. Immer hatte sie ihn angesehen, als wäre sie nicht bei ihm, als sei sie in einer fernen unbekannten und fürchterlichen Welt. Nun schien es, als ob ihr alter Blick langsam in die Augen zurückkehre.

Täglich machte Christines Genesung Fortschritte. Sie fing an, sich für die Arbeit ringsum, die sie sonst kaum beachtet hatte, zu interessieren.

»Was macht ihr hier?« fragte sie eines Tages ganz unvermittelt.

»Wir bauen eine Stadt mit großen Werkstätten und Fabriken,« erwiderte Georg, froh erregt über ihr Interesse. »Ganz allmählich wird die Stadt entstehen. Sie soll später fünftausend Menschen beherbergen. Und auch dort hinten, siehst du, wo die kleinen Pünktchen hin- und hereilen, auch dort wird eine Stadt für fünftausend Menschen errichtet.«

Christine begann zuweilen hin- und herzugehen, zerstreut und geistesabwesend; dann stand sie still und blickte in die Sonne empor. An den Sonntagen machten sie häufig mit Georg einen kleinen Spaziergang in den Wald hinein, der stehen geblieben war. Aber Christine wagte sich nicht weit von der Straße.

»Nein,« sagte sie, »kehren wir zurück.«

Eines Tages beobachtete sie Georg, ohne daß sie ihn bemerkte, wie sie mit dem Kinde spielte. Sie kniete auf der Erde und ließ das Kind, dessen kleinen Körper sie mit den Händen zärtlich hielt, auf der Erde tanzen und flüsterte ihm leise und zärtliche Worte zu. Sie lächelte dazu, und plötzlich erkannte Georg in ihrem Gesicht Christines frühere Züge wieder. Nun wußte er, daß sie gerettet war.

Weshalb schwieg sie? Weshalb sprach sie nicht?

Er deutete über die weite Fläche, die sich bis zu dem Gewimmel von Glücksbrücke dehnte. Sie war nun smaragdgrün geworden, und weich und zärtlich lag die Sonne darauf.

»Sieh, wie herrlich grün es ist!« rief Georg aus. »Vor einem halben Jahre war hier nichts als Sand und Gebüsch.«

Weshalb aber sprach sie nicht, weshalb schwieg sie? Sie fühlte Georgs Blick auf sich gerichtet. Sie fühlte immer die gleiche Frage in seinem Blick.

Eines Tages sagte sie mit einem leisen Aufseufzen zu ihm: »Bald werde ich dir alles sagen,« und leiser fügte sie hinzu: »und dann werde ich wohl gehen müssen.«

»Weshalb gehen?« fragte Georg erschrocken.

»Frage nicht, ich werde sprechen, wenn die Zeit gekommen ist.« –

Auf der Landstraße kamen zwei Lastautos angerollt. Sie waren hoch beladen, und es sah aus, als brächten sie einen ganzen Wald. Das waren Bäume, Obstbäume, Sträucher, Stauden für die Gärtnereien von Glückshorst.

Die Gärtnereien und Baumschulen bildeten das Herz aller Siedlungen.

 

20

Das Verwaltungsgebäude der »Gesellschaft Neu-Deutschland« in der Lindenstraße summte wie ein Bienenstock im Hochsommer. Tausende von Menschen strömten täglich ein und aus. In all den hundert Abteilungen schwirrte die Arbeit, und überall sah man fröhliche, hoffnungsfrohe Gesichter.

Schon am frühen Morgen standen die Scharen der Arbeitsuchenden vor dem Gebäude und warteten auf das Öffnen der Tore. Die Aufnahmesäle vermochten kaum die Massen zu fassen. Nun da der Umbau fertig war, konnten alle Einrichtungen mustergültig genannt werden. Die Angeworbenen passierten die Zimmer der Ärzte, die sie sorgfältig untersuchten. Ihr Urteil bestimmte die Tätigkeit, leichtere oder schwerere Arbeit. An die Zimmer der Ärzte stießen Badesäle mit Duschen und Desinfektionsräume, in denen die Kleidungsstücke der Angeworbenen gereinigt wurden. Michael Schellenberg ging gegen Schmutz und Krankheitskeime mit allen erdenklichen Mitteln vor.

In der Nacht aber blendete von der Fassade des Gebäudes in riesigen gleißenden Lettern der Wahlspruch der Gesellschaft:

Tod dem Hunger!

Tod der Krankheit!

Es lebe die Kameradschaft!

Jede Nacht leuchtete diese Parole in die dunkeln Straßen hinaus, wie ein Leuchtfeuer in die Finsternis des Meeres. Tausenden und Abertausenden von erschöpften, ermatteten, kranken und verzweifelten Menschen hatte dieses flammende Licht den Weg zur Rettung gewiesen.

Michael Schellenberg war es ernst mit dieser Parole: in Wahrheit, es sollte keinen Hunger mehr geben auf Erden! Es war ja unsinnig, daß auch nur ein Mensch hungerte, setzte man alle Kräfte richtig ein. In Wahrheit, die Krankheiten sollten bis auf den letzten Rest bekämpft werden, wie man Pocken und Pest niederkämpfte, sie sollten, soweit es möglich war, völlig von der Erde verschwinden! In Wahrheit, über allen Religionen und Bekenntnissen, über allen Rassen und Nationen sollte versöhnend und verbindend das Weltbekenntnis der Kameradschaft thronen.

In kaum drei Jahren hatte Michael diese ungeheure Organisation geschaffen, die heute bereits ganz Deutschland umspannte und die Aufmerksamkeit des Auslandes und der Welt erregte. Unermüdlich und ohne Pause war er an der Arbeit gewesen, Begeisterte um sich zu scharen, Zögernde mitzureißen, die Zersplitterten zu sammeln, die Widerstände der Bureaukratie zu brechen, den Argwohn und die Eifersucht politischer Parteien, steril und ohne schöpferische Kraft, zu überwinden.

Worum aber ging es?

Es war sehr einfach. Es ging darum, dem Boden soviel an Nahrung zu entreißen, als es möglich war. Mit allen Mitteln, die Wissenschaft und Technik boten. Es ging um die Industrialisierung der Landwirtschaft und des Gartenbaus. Es ging darum, alle freien und alle vorübergehend freien Arbeitsenergien des Volkes in den Boden zu werfen. Es ging darum, alle in Zeiten industrieller Krisen brachliegenden Arbeitskräfte nach einem großen, einheitlichen Plan produktiv zu verwenden.

Das war – in großen Umrissen – Michaels ganzer Plan, und er hatte besonders zu Beginn seine ganze Kraft jenem Teil des Planes zugewandt, der sich mit der produktiven Verwendung brachliegender Arbeitsenergien beschäftigte. Es schien unsinnig, in Perioden einer industriellen Stagnation Abertausende von Arbeitern auf die Straße zu werfen und ihnen eine geringe Unterstützung zu bezahlen, die sie gerade vor dem Verhungern schützte. Es schien sinnvoll und naheliegend, mit dem Aufwand der gleichen finanziellen Mittel die brachliegenden Arbeitskräfte schöpferisch zu verwerten. Ein Betätigungsfeld aber gab es, das ohne Grenzen war und nicht von der Weltkonjunktur abhing: das war der Boden! Er gab allen Arbeit – selbst jenen, die nicht mehr ihre volle Kraft besaßen, selbst den Alternden, und selbst jenen, die noch nicht ihre ganze Arbeitskraft erreicht hatten, der Jugend.

Jene Unsummen heute verschleuderter Arbeitsenergien zusammengefaßt und zur inneren Kolonisation nach einem großen Plane verwandt, mußten Wohlstand und Glück erzeugen. Es gab in Deutschland heute noch fünf Millionen Hektar Ödland. Fruchtbar gemacht, konnte es Millionen ernähren. Fünftausend Arbeitsstunden, richtig und systematisch angewandt, so hatte Michael berechnet, sicherten jedem Menschen Behausung und Garten. Es schien ihm an der Zeit, daß die Menschheit den Kampf gegen den Hunger und gegen das Elend mit derselben Sorgfalt und demselben Aufwand an Mitteln organisiere, wie sie den Krieg organisierte. Ein amerikanischer Automobilfabrikant hatte das Wort geprägt: Wenn wir arbeiten müssen, so laßt uns vernünftig arbeiten! Gut, gut. Michael Schellenberg hatte es dahin ergänzt: Wenn wir arbeiten müssen, so laßt uns Vernünftiges vernünftig arbeiten. Das allein erschien ihm die Wahrheit.

Es war nicht leicht, keineswegs, es war schwer, unendlich schwer, die Probleme waren ohne Zahl. Je näher man ihnen kam, desto ungeheuerlicher wuchsen sie in die Höhe. Aber Michael hatte nicht eine Stunde den Mut verloren. Ein Kreis ernster und verantwortungsbewußter Köpfe hatte sich um ihn gesammelt. Er hatte Männer gefunden, die seine Pläne förderten. Ein Deutschamerikaner, der Bankier Augsburger, ein alter Mann, hatte sich so sehr für seine Gedanken begeistert, daß er ihm sein ganzes Vermögen zur Verfügung stellte. Als erst der Anfang gemacht war, strömten ihm begeisterte Mitarbeiter von allen Seiten zu. Hunderte von jungen Architekten, Chemikern, Technikern, Ingenieuren, Städtebauern, Landwirten, Gärtnern, Ärzten boten ihm ihre Mitarbeit an. Er griff freudig zu. Er benutzte alle Organisationen, die helfen konnten. Das Rote Kreuz, die Jugendorganisationen, alles. Er sammelte die mannigfachen Siedlungsgesellschaften und Vereinigungen, die, zersplittert, systemlos und ohne einen großen Gesamtplan ähnliche Ziele verfolgten. In allen Provinzen Deutschlands hatte die Gesellschaft ihre Niederlassungen. Und die Gesellschaft wuchs täglich!

Das deutsche Volk, ermattet durch Krieg und Revolution, brauchte ein großes Ziel, und Michael gab ihm dieses Ziel! Er blickte nicht zurück, er wies in die Zukunft – und schon strömten ihm die Verantwortungsvollen, die Begeisterungsfähigen, die vom Kameradschaftsgedanken Ergriffenen zu. Die Jugend kam mit ihren Organisationen. Die Frauen stellten sich in seinen Dienst. Die ungeheuere Aufgabe erforderte alle Kräfte des Volkes. Selbst die Gefängnisse zog Michael heran. Die Häftlinge strichen Ziegel, an der Nordsee transportierten sie Schlick, vorzüglichen Dung, auf die sandigen Ödländereien. Michael kämpfte zur Zeit dafür – die Zeitungen hallten wider von dem Streit –, alle Freiheitsstrafen in Arbeitsleistungen umzuwandeln.

Die Gesellschaft Neu-Deutschland erwarb Ödländereien und verbesserte sie. Sie bezahlte mit diesem verbesserten Land ihre Arbeitskräfte und deckte damit ihre Verpflichtungen. Aus sich selbst heraus, aus dem Boden heraus schuf sie neue ungeheuere Werte.

Die Gesellschaft besaß heute endlose Ländereien, Wälder, Sägewerke, Steinbrüche, Ziegeleien, Zementwerke, Fabriken, Bagger, Frachtkähne. Sie besaß ein Arsenal von Maschinen, die sie beliebig hin und her werfen konnte. Plan, Methode, Ersparnis war ihr Grundprinzip.

Fiebernd vor Erregung arbeitete Michael die halben Nächte hindurch. Sein Gesicht war hager und straff geworden. Er war glühend von seinem Werke.

Unendlich und gigantisch erschien es – und doch einfach und leicht verständlich in seinen Elementen.

Das Problem der Großstädte, ihr Ausbau, ihre Korrektur. Die Trabantenstädte, die sie umlagerten, ähnlich in der Struktur, die Grüngürtel, die sich um diese Stadtschaften zogen, die Gärtnereigürtel, die sich an ihre Peripherien drängten, die Verwertung der Abfälle dieser Städte, heute zum großen Teil sinnlos verschwendet.

Neue Städte mußten geschaffen werden, Industriesiedlungen, Handwerkerdörfer, Gärtnereisiedlungen. Die Dampfmaschine hatte zentralisiert, der elektrische Strom erlaubte Auflösung. Kraftwerke, Kanäle, Schnellbahnen, Schnellautostraßen – Arbeit für Jahrzehnte, für ein Jahrhundert, wenn man wollte, bis das ganze Land in einen blühenden Garten verwandelt war. Die Probleme des dünnbesiedelten Ostens, des Rheins, des Ruhrgebietes – ja, in Wahrheit unendlich …

Gegen dreihunderttausend Heimstätten hatte die Gesellschaft bereits geschaffen, etwa zweihundert größere und kleinere Siedlungen aller Art und für alle Zwecke waren im Bau. Das war nur der Anfang. Michael aber sah dieses neue Deutschland schon vor sich, wie es in das alte Deutschland hineinwuchs, allmählich, mit jedem Tag mehr und mehr. Zweihundert Millionen glücklicher und gesunder Menschen würde es einst beherbergen, würde es einst Arbeit und Nahrung und Heiterkeit des Herzens geben.

 

21

Die Sonne schickte sich schon an unterzugehen, da sagte Christine, nach langem Stillschweigen, ganz plötzlich: »Und nun will ich sprechen! Nun will ich dir alles beichten! Aber versprich mir, mich nicht zu unterbrechen. Und versprich mir, nichts zu erwidern, wenn du alles gehört haben wirst. Später, später – –. Beichten will ich – Gott sei meiner Seele gnädig …«

Christine vergrub das Gesicht in die Hände und begann:

»Damals – als das Schreckliche geschah, als ich die Waffe gegen dich erhob, in meiner sinnlosen Eifersucht, damals war ich gewiß nicht Herr meiner Sinne. Ich hatte dir ja nur drohen wollen. Ich wollte dir nur Schrecken einjagen, du solltest Furcht vor mir haben. Ich wollte die Waffe nicht abdrücken, Gott weiß es, es ist die Wahrheit. Vielleicht wollte ich, um dich zu ängstigen, einen Schuß in die Wand feuern. Nun, es war geschehen. Plötzlich floß Blut aus deiner Brust – und ich verstand nichts mehr. Du beschworst mich, zu schweigen, und nahmst die Sache auf dich. Von diesem Augenblick an war ich nicht mehr ein Mensch wie andere Menschen, ich hatte keine Freiheit mehr, ich gehörte ganz dir. Ich war eine Leibeigene geworden, so empfand ich es.

Ich weiß heute nicht mehr, wie ich die ersten Wochen verbrachte. Ich weiß nur, daß ich alles ohne Bewußtsein, ganz automatisch tat. Ich stand hinter dem Verkaufstisch, legte die Wäsche vor, sprach, ich hörte einen fremden Menschen sprechen. Alle diese Wochen hindurch betete ich unaufhörlich – es ist wahr, Gott weiß es –, ob ich auf der Straße ging oder im Geschäft war oder auf meinem Zimmer, unaufhörlich betete ich, daß Gott dich dem Leben erhalten möge. Ich schloß mich in mein Zimmer ein, ich ging nicht aus, sah keinen Menschen, ich weiß nicht, wann ich schlief, wann ich aß, ich lebte in einer Art von Ohnmacht.

Erst als sie mir im Krankenhaus sagten, daß nun keinerlei Gefahr mehr bestände für dein Leben, erst dann konnte ich wieder atmen. Denn bis dahin war mir die Brust zugeschnürt gewesen, und ich konnte nur ganz kurze Atemzüge tun, wie jemand, den schreckliche Angst verzehrt. Nun atmete ich wieder.

Ich hatte in den ersten Wochen nicht geweint, jetzt aber weinte ich sehr viel. Ich weinte aus Freude, daß du gerettet warst. Und jeden Tag am Morgen und am Abend dankte ich Gott auf den Knien, daß er mein Gebet erhört hatte. Es ist wahr, Gott weiß es.

So war es also in den ersten Wochen und Monaten. Es war Sommer, und ich ging viel spazieren. Ich hatte mich von allen Bekannten losgesagt, und so kam es, daß ich immer allein war. Die Menschen plauderten und lachten und waren fröhlich. Nach diesen langen Wochen überkam mich plötzlich das Verlangen, unter heiteren Menschen zu sein. Dieses Verlangen war gewiß harmlos, aber so begann es.

Im Warenhaus, in der Konfektionsabteilung, arbeitete ein junges Mädchen, ein lebenslustiges Geschöpf, voller Übermut. Sie hieß Susanna. An Susanna schloß ich mich an, und wir gingen zusammen in die Tanzhallen, um zu tanzen. Ich empfand es wie Sünde, daß ich tanzte und heiter war, während du, durch meine Schuld, im Krankenhaus lagst. Aber ich konnte nicht widerstehen. Hier nun traf ich einen Russen. Er sagte, er sei früher russischer Offizier gewesen und lebe heute von dem Schmuck seiner Mutter, den er über die Grenze gebracht habe. Er erzählte interessante Dinge, war düster und immer etwas melancholisch. Das zog mich an. Er warb um mich, aber ich widerstand. Immer aber hörte ich seine Stimme, wenn ich allein war. Ich sah ihn dann ganz nahe vor mir. So kämpfte ich wochenlang. Aber mein Blut konnte nicht widerstehen. Es war oft wie eine Raserei in mir, und so geschah es also. Ich habe dich damals noch besucht, aber ich sank vor Scham fast in den Boden, wenn ich dir die Hand reichte. Ich verachtete mich.

Eines Tages hatte ich mich mit dem Russen wie häufig vor dem Potsdamer Bahnhof verabredet. Er kam nicht. Ich schrieb ihm. Keine Antwort. Ich fragte in seinem Hause nach, in dem Hause, das er mir genannt hatte, er hatte nie dort gewohnt. Es geschah mir recht, natürlich. Ich freute mich über diese Züchtigung.

Aber wiederum kam sie über mich, diese Raserei des Blutes, mächtiger als alle Vorsätze, als alle Eide, als alle Gebete. Ich zitterte auf der Straße unter den Blicken der Männer, das Blut schoß mir augenblicklich ins Gesicht, berührte mich jemand im Vorübergehen. Wieder ging ich häufig mit Susanna aus. Ich machte die Bekanntschaft eines jungen Mannes, eines Schriftstellers. Er sagte, er käme nur in dieses Tanzlokal, um Studien zu machen. Er tanzte wenig, und er tanzte nicht gut. Aber er war so witzig und verstand es, gut zu plaudern. Er lud mich zu sich zum Tee ein, aber was soll ich weiter erzählen – ich wurde seine Geliebte, und ich verachtete mich nun noch mehr. Nun bist du auf dem besten Wege, sagte ich mir, von einem gehst du zum andern.

Von dieser Zeit an habe ich dich nicht mehr besucht. Den ersten Brief, den du in dieser Zeit schriebst, habe ich noch gelesen. Die andern habe ich ungelesen verbrannt. Ein Geschöpf wie ich durfte nicht mehr existieren für dich. Ich hatte mich selbst aus deinem Leben gestrichen. Und doch liebte ich dich noch, vergiß das nicht. Ich habe mich selbst dazu verurteilt, aus deinem Leben zu verschwinden.

Eines Tages traf ich meinen neuen Freund, den Schriftsteller, vor seinem Hause, er kam mit einem Mädchen die Treppe herab. Er blickte mich an, ging an mir vorüber über die Straße, er kannte mich nicht mehr! Ich schämte mich für ihn. Aber auch diese Züchtigung tat mir wohl. Ich verdiente es nicht anders. Sie behandeln dich so, wie du es verdienst, sagte ich mir, und trotzdem ich litt, empfand ich es als eine große Genugtuung.

Weiter, weiter, laß mich zu Ende kommen. Was war in mich gefahren? War mein Blut vergiftet? Ich weiß es nicht. Die Raserei des Blutes überfiel mich, und plötzlich kam mir der Gedanke, daß es das beste wäre, wenn ich mich, elend und verworfen wie ich war, in den Taumel stürzen würde, um darin umzukommen.

In diesen Tagen verlor ich meine Stellung. Ich wurde entlassen. Das kümmerte mich wenig. Ich suchte mir einen neuen Freund. Ich fand ihn. Es war ein Gutsbesitzer aus der Provinz. Aber er langweilte mich, ich nahm einen andern. Es war ein schüchterner Mensch, der an mir hing und seinen letzten Pfennig für mich opferte. Ihn betrog ich. So also lebte ich nun. Soweit war es also mit mir gekommen. Nur im Rausche der Ausschweifungen lebte ich noch auf, sonst war ich stumpf und verzweifelt. Nie in meinem Leben, noch wenige Wochen vorher, hätte ich es mir auch nur in einem bösen Traum einfallen lassen, daß ich so tief sinken könnte. Ich verstand mich nicht mehr. Wie waren die andern Frauen? Wie sind sie? Was beschäftigt sie? Lügen sie, heucheln sie? So wie ich log und heuchelte? Die guten Geister, die mich bisher begleitet hatten, sie hatten mich verlassen, und ich war verloren. Ich fühlte es damals schon, nicht mehr lange konnte es dauern, und ich mußte umkommen.

Ich habe nicht mehr gekämpft, ich hatte dazu keine Kraft mehr. Nur den Genuß wollte ich, die Betäubung. Einmal stieß ich plötzlich auf Jenny Florian. Es war auf einer Untergrundbahnstation. Gott war gnädig, es war düster hier. Sie konnte nicht sehen, wie ich aussah, sie konnte nicht sehen, daß ich blaß wurde wie der Tod. Sie fragte nach dir, und ich erzählte ihr, du seiest gestorben. Diese Lüge fiel mir in dieser Sekunde ein, und ich zögerte nicht, sie auszusprechen. Es war ja jetzt schließlich alles einerlei, und auf eine Lüge mehr oder weniger kam es nicht an.

In dieser Zeit aber geschah das Furchtbarste. Plötzlich hatte ich untrügliche Beweise, daß ich Mutter werden sollte. Ich nahm auch dies als Züchtigung des Himmels hin, und ich sagte mir, daß ich nun das Ende noch rascher herbeiführen müsse. Ich wollte das Kind nicht zur Welt bringen, auch das gestehe ich. Dieses süße Kind, das ich nun liebe wie nichts auf der Welt, es würde heute, wäre es nach meinem Willen gegangen, nicht leben. Hier muß ich dir sagen, daß ich nicht annahm, daß es dein Kind sei. Ich ging zu einem Arzte, um ihn zu bitten, mir zu helfen. Aber er wies mich ab, er versicherte mir, daß ich schon im vierten Monat schwanger sei. Unfaßbar, unbegreiflich! Und plötzlich erhellte mich ein Gedanke: dann war es ja dein Kind!

Aber dieser kurzen Helligkeit folgte im nächsten Augenblick die tiefste Finsternis. Nun war ja alles nur um so fürchterlicher, um so schrecklicher geworden. Es gab nun keinen Ausweg mehr, es blieb mir nur das eine übrig, mich selbst zu vernichten.

Schließlich aber kam das Kind doch zur Welt. Ich wollte es zuerst ermorden, denn was sollte das Kind mit einer solch verworfenen Mutter? Dann aber weinte ich über das Kind. Sollte es gehen, wie es ging. Ich war halb von Sinnen, völlig ratlos. In dieser Zeit wandte ich mich an Jenny Florian. Ich widerrief meine Lüge, daß du gestorben seiest. Ich sagte ihr, daß ich mich unwürdig fühle, noch deine Freundin zu heißen. Ich bat sie um Geld, da ich in großer Not war. Ich beschwor sie, niemandem etwas zu sagen. Sie hielt Wort.

Kurz nach der Geburt des Kindes wurde ich krank. Ich fieberte stark. Der Arzt sagte, meine Lunge sei angegriffen und ich müßte sofort in ein Sanatorium. Ich lachte ihm ins Gesicht. Nun also war es soweit, nun würde es rasch gehen. Ich hatte mir aber vorgenommen, wenn ich merkte, daß es mit mir zu Ende ging, Jenny Florian dein Kind zu schicken.

Aber es ging nicht so rasch, wie ich dachte. Ich wurde nur schwächer und immer schwächer. Meine Freunde wandten sich von mir ab und überließen mich der Not. So wie ich es verdiente. Rasch sank ich in das tiefste Elend. Schließlich konnte ich nicht mehr aufstehen. Ich hatte auch nicht einen Pfennig mehr. Die Wirtin verkaufte meine Kleider, das bißchen Schmuck, das ich besaß. Nun war ich in die Hölle gekommen, wo ich hingehörte. Der Vater stellte mir nach, der Sohn stellte mir nach. In der Nacht lag ich schlaflos, in Schweiß gebadet. Schließlich schrieb ich wieder an Jenny Florian, da ich völlig verzweifelt und ganz von Sinnen war – und da kamst du!«

Nun war die Sonne vollkommen untergegangen, und es war dunkel geworden. Furchtbar und erschreckend standen schwarze Wolkenhaufen über der Heide. »Das also bin ich,« schloß Christine. »Nun weißt du, wer ich bin. Sprich nicht!« schrie sie und hielt sich die Ohren zu. »Sprich nicht! Erwidre nichts! Nach Worten sollst du mir antworten!«

»Wir wollen vergessen,« sagte Georg trotz ihres Verbotes. »Wir wollen alles vergessen, was gewesen ist. Wir wollen vorwärtsblicken und nicht zurück.« Er wies auf das Kind, das in Christines Schoß schlief, und zog sie leise an sich.

Da begann Christine zu schluchzen, sie weinte und schrie laut wie ein Tier.

 

22

In diesem Frühjahr kursierte an der Börse und in Finanzkreisen das Gerücht, daß sich der Schellenberg-Konzern in Schwierigkeiten befände. Niemand wußte, wo und wann dieses Gerücht aufgekommen war, es war da. Und in der Tat, es war nicht zu leugnen, daß Goldbaum, der Generaldirektor des Konzerns, mit verschiedenen Banken wegen größerer Kredite verhandelte. Es war auch eine Tatsache, daß plötzlich große Aktienpakete des Konzerns angeboten wurden. Die Papiere aller Unternehmungen des Schellenberg-Konzerns fielen rapide und verloren innerhalb von vier Wochen den vierten Teil ihres Kurswertes.

Goldbaum wurde beurlaubt und fuhr an die Riviera.

Es hieß, daß Wenzel Schellenberg beabsichtige, sein Palais im Grunewald, das noch nicht einmal ganz fertig war, zum Verkauf anzubieten – ein Objekt von so enormem Wert, daß sich ein Käufer wohl kaum finden werde. Man munkelte auch, daß die Schellenbergsche Jacht, jene Jacht einer früheren Großherzogin, nach England verkauft sei. Die Papiere des Konzerns gaben noch weiter nach.

Wenzel blieb gleichmütig. Im Gegenteil, man hatte ihn noch nie in so heiterer Laune gesehen.

Es gab kein gesellschaftliches Ereignis in Berlin, wo Wenzel nicht zugegen gewesen wäre. Keine Premiere, kein Rennen, wo man ihn nicht gesehen hätte. Fast immer erschien er in der Gesellschaft Jenny Florians. Ihr zarter Körper war in die kostbarsten Gewänder gehüllt, Geschmeide funkelte an Händen und Nacken.

Die Kenner lächelten. »Er spielt Maskerade,« sagten sie mit einem Blinzeln. »Uns täuscht er nicht. Wenn es bei ihm zu krachen beginnt, so stürzt alles in einer Nacht zusammen.«

Aber seht an, die Kenner blickten einander enttäuscht in die Augen. Was war das? Ein unbekannter Käufer trat plötzlich an der Börse auf und kaufte riesige Pakete der gesunkenen Schellenberg-Aktien. Bei der nächsten Börse geschah das gleiche. Die Papiere zogen an. Sie stiegen in einer Woche ohne jede Stockung und kletterten schließlich über ihren alten Kurs.

Wenzel hatte eine ungeheure Summe gewonnen und schob sie mit einem breiten Lachen in die Tasche. Plötzlich, war es zu glauben, tauchte auch Goldbaum, der lange Zeit in der Versenkung verschwunden war, wieder im Konzern auf. Da war er wieder, rund und glänzend, als sei nichts geschehen. Vergnügt rieb er sich die Hände.

Vielleicht war alles nur ein Manöver gewesen, das Wenzel selbst eingeleitet hatte?

In diesen Tagen kaufte Wenzel den Rennstall des Herrn von Kühne. Zweiunddreißig Pferde, darunter ganz hervorragendes Material. Einen früheren bekannten Herrenreiter hohen Adels engagierte er als Trainer.

Nun sah man die Schellenbergschen Farben auf jedem Rennen. Jenny hatte sie auf Wenzels Wunsch vorgeschlagen. Die Jacke war gelb, die Ärmel rotweiß gestreift. Auch in der Ferne konnte man die Schellenbergschen Farben mitten im jagenden Rudel gut erkennen.

Es zeigte sich nun auch, daß Schellenberg nicht im Traum daran dachte, sein im Grunewald neuerbautes Palais zu verkaufen. Weshalb er aber plötzlich alle Arbeiten eingestellt hatte, weshalb er seinen Anwälten den Auftrag gab, mit den Lieferanten, Baumeistern und Baufirmen zu verhandeln und die Rechnungen abzuschließen – das wußte nur Schellenberg allein.

Auch die Nachricht über den Verkauf seiner Jacht erwies sich als Legende. Allerdings war die Jacht, dies entsprach der Wahrheit, plötzlich nach England gefahren. Der Kapitän hatte den Auftrag, die Jacht nach Hull zu bringen, um dort weitere Befehle abzuwarten. In verschiedenen Zeitungen erschien damals die Notiz, daß Lord Beaverbrook als Käufer der Jacht genannt werde. Nach einigen Wochen aber erhielt der Kapitän in Hull die Order, das Schiff wieder nach Warnemünde zu steuern. Wenzel dachte nicht im Schlafe daran, die Jacht zu verkaufen. Weshalb aber hatte er sie nach Hull geschickt? Und in seinem neuen Palais im Grunewald wimmelte es wieder von Handwerkern.

Jede Woche fuhr Wenzel zwei-, dreimal mit Jenny hinaus in den Grunewald, um den Fortgang der Arbeiten zu kontrollieren. War er verhindert, so fuhr Jenny allein, denn Wenzel hatte Jenny zum »obersten Bauleiter« ernannt. Sie tänzelte, in ihren Mantel gewickelt, lächelnd durch die Säle, und die Architekten küßten ihr die Hand. Die Maler und Handwerker grüßten freundlich von den Gerüsten herab. Jenny gehörte zu jenen Menschen, die gute Laune erzeugen, wo immer sie erscheinen. Und doch, sie sprach nur wenig, sie grüßte freundlich, lächelte.

Alles in dem Gebäude war von großer Pracht und letzter Gediegenheit. Das kostbarste Material, die teuersten Edelhölzer waren verwendet worden zu Türen, Wandbekleidung und Parkettböden. Im großen Speisesaal waren die Wände bespannt mit kostbaren Seidenstickereien. Zwanzig Arbeiterinnen hatten zwei Jahre an diesen Bespannungen gestickt. Marmor, Bronze, Brokat, die Decken Wunderwerke, Saal an Saal. Die Bibliothek, in Ausmaß und Pracht wie die eines Schlosses. In halbfertigen Gemächern standen Möbel, Berge von Kisten. Wenzel hatte seine besonderen Einkäufer für Antiquitäten, Bilder, Bücher. Das Palais enthielt zwanzig Gastzimmer, jedes mit einem Bad, und alle verschieden und originell. Was Jenny am meisten interessierte, waren die Küchen- und Kellerräume. Hier lagen die Zimmer für die Dienerschaft. Hier lagen zwei Badeanlagen für die männliche und weibliche Bedienung. Hier war der Weinkeller, mit dem letzten Raffinement ausgestattet. Und hier lag, erst halb fertig, das Schwimmbassin des Hausherrn, fünfzehn Meter lang und fünf Meter breit. Es war von Wenzels Gemächern aus über eine Treppe aus weißem Marmor zu erreichen.

Für dieses Schwimmbassin hatte Jenny eine blendende Idee! »Es ist mir etwas eingefallen, Wenzel,« sagte sie. »Darf ich Vorschläge machen?«

»Aber gewiß, du hast doch die Bauleitung.«

Jenny also ging zu Stobwasser. »Hören Sie, Stobwasser,« sagte sie, »sehen Sie zu, daß Sie einige Ihrer Keramiken zusammenbringen, und räumen Sie ein bißchen auf. Morgen oder übermorgen, ich kann es noch nicht genau sagen, bringe ich Ihnen einen Kunden. Aber sehen Sie zu, daß es nicht so unordentlich aussieht.«

»Schön, schön,« erwiderte Stobwasser und warf die spitze Nase in die Luft. »Sie sollen bedient werden, Jenny.«

»Daß Sie zur Stelle sind. Ich komme zwischen elf und ein Uhr.«

Stobwasser hatte wundervolle Keramiken geschaffen, Kakadus, Papageien, Fasanen, Reiher, Flamingos. Die Tiere waren seine Spezialität. Er brannte und glasierte seine Arbeiten selbst in einem alten verstaubten Ofen, der in der Ecke stand.

Stobwasser lief den ganzen Tag umher, um seine Arbeiten, die zum größten Teil verkauft waren, zum größten Teil aber bei den Händlern standen, zusammenzuholen.

Und richtig, da kam auch schon Jenny mit Wenzel an.

Fast hätte Jenny laut herausgelacht. Stobwasser verbeugte sich linkisch und ungeschickt und viel zu tief. Er hatte sich irgendwo einen langen Gehrock ausgeliehen, der ihm etwas zu weit war. Er bat, Platz zu nehmen, und wischte die Stühle mit dem Taschentuch ab. Er war dunkelrot vor Verlegenheit und wurde noch verlegener, als er beim Rückwärtstreten über seine Katze stolperte. Unruhig rückten die Tiere in ihren Bauern hin und her, und der Papagei begann laut zu schreien und zu singen: »Wer will unter die Soldaten, der muß haben ein Gewehr …«

»Sei ruhig!« herrschte ihn Stobwasser an.

»Leider sind diese Arbeiten nicht so gut, wie ich es gern wünschte,« sagte er. »Ich bitte Sie zum Beispiel diesen Kakadu nicht anzusehen, er ist direkt schlecht.«

Jenny lachte laut auf. »Sie haben eine drollige Art, Ihre Werke zu empfehlen!« rief sie aus. »Stobwasser brennt die Arbeiten selbst,« erklärte sie.

Mit einer steifen Geste des Armes deutete Stobwasser, wie ein Führer in einem Museum, auf den verstaubten und verräucherten Brennofen in der Ecke. »Ja, ich brenne sie selbst, hier in diesem Ofen!«

Wenzel zeigte aufrichtiges Interesse. Er betrachtete alle Werke des Bildhauers aufmerksam, die Keramiken, die Schnitzereien. Am meisten schienen ihn aber die lebenden Tiere, Stobwassers Modelle, zu interessieren.

»Ich habe leider heute keine Zeit mehr,« sagte er plötzlich. »Wir sehen uns bald wieder, Herr Stobwasser.«

Stobwasser verbeugte sich tief und erbleichte.

»Oh, wie oft habe ich das gehört: ich komme wieder,« sagte er, als die beiden gegangen waren. Und er drohte dem Papagei mit der Faust. »Und du, wie kannst du dein dummes Lied singen, wenn gerade Besuch da ist. Und noch dazu ein früherer Hauptmann.«

Er war völlig verzweifelt.

Jenny aber trug Wenzel, während sie im Auto saßen, ihren Einfall vor: Sie dachte es sich hübsch, wenn das Schwimmbassin mit Keramiken Stobwassers geschmückt würde. Es würde lustig und reizend aussehen, vielleicht kleine Nischen, man sollte Stobwasser auffordern, eine Skizze zu machen.

»Gut,« erwiderte Wenzel, »ich werde ihn auffordern. Sehr gut aber gefiel mir sein Wandleuchter. Erinnerst du dich, der weiße Kakadu? Ich habe dem Architekten gestern gesagt, daß ich die Wandleuchter für den oberen Korridor nicht abnehmen werde, sie gefallen mir nicht. Wenn Stobwasser diese Wandleuchter machen könnte? Varianten seines Entwurfes?«

Stobwasser hatte nicht mehr auf Wenzels Rückkehr gehofft. Als Wenzel am nächsten Vormittag mit Jenny eintrat, stand Stobwasser da, die Fäuste voller Ton, mitten in der Arbeit, in einem mit Ton beschmierten Kittel, krebsrot das Gesicht vor Verlegenheit. Seine Miene war fast feindselig. Wenzel bat ihn also, gelegentlich mit Jenny nach dem Grunewald zu fahren und sich das Schwimmbassin anzusehen. Es war Gott sei Dank noch nicht gekachelt. Dann fragte er ihn, ob er die Wandleuchter für den oberen Korridor übernehmen könne, in der Art dieses Leuchters dort in der Ecke.

Natürlich konnte das Stobwasser. Er hatte auch nicht für einen Pfennig Aufträge.

»Wieviel Leuchter sollen es sein?« fragte er.

»Es sind dreißig Stück,« antwortete Wenzel. »Ich bestelle sie hiermit und bitte Sie, sich möglichst zu beeilen.«

Als die beiden die Tür hinter sich geschlossen hatten, stand Stobwasser immer noch mit offenem Munde da, die spitze Nase gegen die Tür gestreckt.

»Dreißig Stück, du lieber Himmel,« sagte er, und die Beine begannen ihm zu zittern. Er mußte sich in den Stuhl setzen. Er konnte sein Glück gar nicht fassen.

»Dein Freund Stobwasser ist ein ganz reizender Mensch,« sagte Wenzel zu Jenny. »Ich liebe diese einfachen Menschen, die etwas können. Sie sind so selten bei uns.«

 

23

Es war natürlich, daß Wenzel fortan auf allen Rennbahnen zu sehen war, wo seine Pferde liefen. Herr von Kühne hatte im vorigen Jahre und in diesem Frühjahr mit seinem Stall keine besonderen Erfolge erzielt. Aber es schien, als hätten die Pferde nur darauf gewartet, in Wenzels Besitz zu kommen. Sie liefen, daß es eine Freude war. Sie waren nicht mehr krank. Sie husteten nicht mehr. Sie lahmten nicht mehr. Ein Hengst, der Hengst ‚Kardinal‘, ein völlig unbekanntes Pferd, das Herr von Kühne schon hatte verkaufen wollen, gewann ein bedeutendes Rennen gegen hohe Klasse.

»Sieh doch, wie er läuft!« schrie Wenzel vor Entzücken und lachte laut auf.

In der Tat, ‚Kardinal‘ lief vier Pferdelängen vor dem Rudel und zog in einer rasenden Fahrt dahin. Die gelbe Jacke blitzte in der Sonne. Die Tribünen waren stumm vor Verblüffung. Kardinal gewann im Kanter. Jenny klatschte, daß ihre Handschuhe platzten. Sie hatte auf Wenzels Rat hundert Mark auf ‚Kardinal‘ gesetzt.

Mackentin beglückwünschte Wenzel zu diesem überraschenden Siege. »Wird Ihnen bei all diesem Glück nicht zuweilen etwas unbehaglich, Schellenberg?« fragte er.

»O nein, nicht im geringsten. Ich bin schwindelfrei,« erwiderte Wenzel.

Oft litt Jenny Florian bittere Qualen. Es gab Wochen, da Wenzel sie vernachlässigte. Kaum daß er einmal anklingelte oder die Zeit fand, ihr ein Wort oder eine Blume zu schicken. Als sie in Italien filmte, fast sechs Wochen lang, hatte er ihr nur einen einzigen Brief geschickt, in die Maschine diktiert. Und in diesem Brief war nur die Rede von einem Kampf, den er mit einem Pferde ausfocht, das ihn beim Reiten im Tiergarten gegen die Bäume rennen wollte.

In jenen Wochen, da sie für Wenzel nicht zu existieren schien, wäre sie am liebsten geflohen. Fliehen! Aber wohin? Sie wußte, daß sie nie fliehen konnte, es war unmöglich, es war viel zu spät. Natürlich wußte sie, daß Frauen dabei im Spiel waren. Die Frauen drängten sich an Wenzel heran, wohin er auch kam. Viele blendete sein Erfolg, sein Reichtum. Andere bestach sein Aussehen, seine weißen Zähne, seine Kraft und seine unverwüstliche Laune.

Jenny aber litt Qualen, wenn sie allein in ihrem Hause in Dahlem saß. Sie wußte – man hatte es ihr hinterbracht –, daß Wenzel zwei oder drei Wohnungen in verschiedenen Hotels in der Stadt ständig gemietet hatte. Sie hörte von allen möglichen Abenteuern und Liaisons. Obwohl sie sich die Ohren mit beiden Händen zuhielt, unterließ man es nicht, ihr alles mögliche zuzuflüstern. Ihre Kolleginnen machten sich ein Vergnügen daraus, ihr derartige Neuigkeiten mitzuteilen. Wenzel sollte in einem kleinen Vorstadtvarieté eine kleine Sängerin entdeckt haben, die täglich ein Revolutionslied und einige Dirnenlieder mit frecher Geste vortrug. Die Musik war von einem verwahrlosten Kapellmeister geschrieben, der das kleine Orchester des Varietés dirigierte und der der Geliebte dieses Mädchens war. Man sagte, Wenzel halte die Sängerin nunmehr aus, und er habe dem eifersüchtigen Kapellmeister fünftausend Mark Abstand für die Frau gezahlt. Er habe sich eine Quittung geben lassen und sie dann der Sängerin unter die Nase gehalten. Der Kapellmeister, völlig rasend, habe auf Wenzel geschossen, ohne ihn jedoch zu treffen. Wenzel habe ihn mit einer Ohrfeige zu Boden geschlagen.

Woher wußten die Leute all diese Dinge? Wie ekelhaft war dieser Klatsch, wie unverständlich! Jenny hatte den kleinen Stolpe in Verdacht, daß er aus der Schule plaudere. Sie sagte es ihm ins Gesicht. Stolpe kam in große Verlegenheit. Sie warnte ihn, sie war zornig und stampfte sogar mit dem Fuße, was sie sonst nie tat. Stolpe beteuerte, aber sie wußte, woran sie war.

Das war natürlich alles Klatsch, und doch war manches an diesem Klatsch wahr. Ob nun diese Geschichte von der Sängerin und ihrem Freund, dem Kapellmeister, sich tatsächlich so zugetragen hatte, das wußte Jenny nicht. Aber diese Sängerin existierte, und ohne Zweifel hatte Wenzel Interesse für sie! Er selbst zeigte sie ihr. Sie besuchten ein Varieté im Westen, und plötzlich trat eine freche kleine Person auf, anzusehen wie ein Straßenmädchen aus dem Osten. Sie sang im Berliner Dialekt mit einer schrillen Stimme, aber mit so großer Leidenschaft, daß sie das Publikum hinriß. Ihre Augen funkelten und drohten, während sie sang und sich frech in den Hüften wiegte. Sie sang zuerst zwei Dirnenlieder, dann trug sie mit rasenden Blicken und fanatisch schriller Stimme ihr Revolutionslied vor, das mit den Worten begann: »Wartet, wenn der Tag kommt, wartet, wenn mein Tag kommt! Dann wird meine Fahne wehn!« Ihr Haß und ihr Fanatismus schienen so echt, daß das Publikum, das aus reichen Nichtstuern und reichen Damen bestand, stumm und erschrocken dasaß.

»Wie gefällt sie dir?« fragte Wenzel und forschte mit dem Blick in ihren Augen.

Jenny erbleichte und erwiderte nichts. Sie haßte diese Frau. Sie schüttelte die kleine Faust, als sie allein war, und Tränen der Wut stürzten in großen Tropfen aus ihren Augen. Oh, wie sie diese Person haßte! Sie nannte sich geschmackvoll Fritzi Frettchen!

In den letzten Wochen, es war heißer Sommer geworden, gefiel ihr Wenzels Aussehen nicht mehr. Sein braunes Gesicht schien plötzlich etwas fahler geworden zu sein. Seine Augenlider schienen wie mit grauem Puder bedeckt. Er selbst gab zu, daß er sich zurzeit in einer »höllischen Fahrt« befände, bald aber werde er »die Geschwindigkeit vermindern«. Er trank in diesen Wochen Sekt, immer Sekt. Seine Hände zitterten.

»Schenke mir dieses Glas,« bat Jenny zärtlich und legte die Hand um seinen Hals.

»Dein Wille geschehe!« sagte er. »Aber es schadet mir ja nichts, beunruhige dich nicht. Es ist eine Periode, sie wird vergehen. Ich bin überarbeitet und schlafe zu wenig. In der vergangenen Woche habe ich im ganzen – laß sehen –, im ganzen dreißig Stunden geschlafen. Eine Nacht gar nicht. Es gibt Leute, die für Geld wachen. Schade, daß es nicht Leute gibt, die für Geld schlafen. Ich wäre ein guter Kunde. Die Welt ist noch recht unvollkommen. Habe noch etwas Geduld mit mir! Warte nur, bis der erste August kommt, dann gehen wir an das Meer.«

Käme doch dieser erste August bald! Endlich wurden die Vorbereitungen für die Sommerreise getroffen. Man wollte drei Wochen mit der Jacht auf der Ostsee segeln. Wenzel wollte nur Stolpe und Mackentin mitnehmen und Stobwasser einladen.

»Und dann habe ich noch diese Fritzi Frettchen eingeladen, du erinnerst dich, diese kleine freche Person. Sie soll uns vorsingen.«

Jenny blickte zu Boden. Ihre Wimpern zitterten. Sie sagte leise: »Dann bleibe ich zu Hause.«

»Wenn du ein Ultimatum stellst,« sagte Wenzel lachend, »dann werde ich diese Fritzi Frettchen wieder ausladen. Sie wird es verwinden.«

Mackentin wollte seine Frau mitbringen, eine geborene Baronin Biberstein, eine stille, etwas korpulente Dame, die Jenny bemutterte. Dagegen hatte Jenny nichts einzuwenden. Sie lachte in sich hinein. Diese Frau Mackentin war ganz ungefährlich.

Aber die Abreise wurde von Tag zu Tag verschoben. Goldbaum erkrankte, und Wenzel konnte nicht reisen, bevor Goldbaum die Geschäfte übernahm. Dieser fürchterliche fette Goldbaum, der von früh bis nachts Speisen in sich hineinschlang. Gewiß hatte er sich den Magen verdorben. Mitte August endlich fuhren sie ab. Stolpe war am Tage vorher mit dem Gepäck vorausgefahren. Am nächsten Morgen rasten sie mit dem hundertpferdigen Wagen nach Warnemünde, wo die Jacht lag.

Stobwasser, der neben dem Chauffeur saß, liefen die Tränen aus den Augen bei der scharfen Fahrt, und wenn er das Gesicht zur Seite drehte, so bog der Wind seine lange Nase um. Die Luft heulte und schrie.

Wenzel machte es ein knabenhaftes Vergnügen, in diesem Höllentempo dahinzujagen. Jenny aber war froh, als sie wohlbehalten in Warnemünde eintrafen.

 

24

Da lag die Jacht »Kleopatra«, dunkelblau gestrichen, glatt wie Seide. Zehn Matrosen standen in Reih und Glied an Bord, und der Kapitän begrüßte sie. Jenny klopfte das Herz, als sie das Schiff betrat. Sie hatte es sich nicht so groß vorgestellt. Alles war blitzblank und wunderbar, und der Mast, welch eine Höhe! Ein kleiner Dampfer schleppte sie an der Mole und am Leuchtturm vorbei hinaus ins Meer. Es wehte nur eine leichte Brise, der Tag war herrlich. Die Segel stiegen in die Höhe, der kleine Schlepper warf los, und es ging dahin. Schon aber ertönte das Gong, und der Steward bat zu Tisch. Die Tafel war herrlich geschmückt, Blumen, kostbares altes Silber.

»Ein wahres Glück, daß diese Großherzogin ihr Silber nicht im Krieg abgeliefert hat, wie es der Patriotismus vorschrieb!« rief Wenzel lachend auf. »Sonst würden wir heute nicht dieses schöne Silber hier haben!«

Zauberhaft schön erschienen Jenny diese Tage. Sie glitten dahin, wie das Schiff durch die See glitt. Tag ging in Nacht über und Nacht in Tag. Unwirklich und unirdisch erschienen sie wie der Dunst auf dem Meere und die hellen Nächte unter dem Sternenhimmel.

Sie fuhren, und die Leuchtfeuer blitzten am Horizont.

»Was ist das für ein Feuer, Wenzel?«

»Das ist das Feuerschiff Gjedser, Jenny. Das ist Langeland, Kiels Nor.«

Einmal lagen sie am späten Abend in einer völligen Windstille in der Nähe einer dänischen Insel. Das Meer floß wie geschmolzenes Blei dahin. Am Horizont stand violetter Dunst, fast wie fernes Land sah es aus. Kein Lüftchen regte sich. Die Nacht kam, sie gingen vor Anker. Deutlich hörte man die Stimmen von der Insel herüber zur Jacht klingen, den Laut einer Glocke.

»Was ist das, Wenzel?«

»Das ist Vieh, das auf der Weide ist.«

»Aber horch, nun kommen sie gerudert.«

In der Tat schien es, als höre man Ruder knarren. Sie spähten hinaus in die Dunkelheit, allein nichts war zu sehen. Die ohne jede Bewegung ruhende See verstärkte zehnfach jeden Laut, wie eine empfindliche Membrane. Nun schien ein blendender Berggipfel, unheimlich gezackt, am Horizont aufzutauchen. Ein Eisberg, der im Lichte glänzte. Aber es war der Mond, der groß und feierlich emporstieg. Wenn Jenny zum Firmament emporblickte, so erschauerte sie, es schien ihr, als seien Tausende lichter Augen überirdischer Wesen auf sie gerichtet.

»Ich bin glücklich,« sagte sie und schmiegte sich an Wenzel.

»Es ist schön,« entgegnete Wenzel. In ihrer Nähe, in der Stille des Meeres fand er wieder jene Schlichtheit des großen Knaben, die sie an ihm so sehr liebte – wie damals in Hellbronnen. »Die reichen Leute sind alle Heuchler!« fuhr Wenzel fort. »Sie sagen nicht: Geld gibt Freude, Gesundheit, Genuß. O nein, sie sagen: Das Schönste auf der Erde ist Arbeit, Pflichterfüllung. Nun, ich lüge nicht! Ich liebe dieses Leben! Und all das ist gekommen, weil ein alter Mann glaubte, mich als Automat behandeln zu dürfen, weil er mich bezahlte. Weil ein alter Mann mich rügte, als ich zehn Minuten zu spät kam. Das ist meine Rache!«

Gegen Morgen hörte Jenny das Schiff knarren und das Wasser gegen die Schiffswände klatschen. Die »Kleopatra« war wieder unterwegs.

Das Wetter war fast immer schön. Nur einmal kamen sie in ein furchtbares Gewitter, das Jenny ihr ganzes Leben lang nicht vergessen würde. Eine mächtige, schiefergraue Wetterwand stand senkrecht über dem Meer, zerrissen von einem rasend zuckenden Netz von Feuer. Der Donner dröhnte wie eine ferne Schlacht. In diese graue, von Blitzen zerfetzte Wetterwand glitt die »Kleopatra« langsam hinein, einem kleinen Fischereihafen entgegen. Auf dem Lande brannte ein Gehöft, das der Blitz entzündet hatte.

Wenzel saß auf der Reling und starrte aufmerksam und gespannt in das Netz der Blitze. Sein Kopf war vorgebeugt, seine Augen glänzten, und sein Mund war halb geöffnet, alles an ihm war Spannung und geballte Kraft. Es sah aus, als bereite er sich stumm auf den Kampf mit dem Gegner vor.

Jenny war in Schweiß gebadet. Sie zitterte vor Hitze, Erregung und Angst.

»Weshalb fahren wir in das Gewitter hinein?« fragte sie. »Ich ängstige mich.«

Wenzel lachte. »Es hat noch nie ein Blitz in ein Schiff eingeschlagen oder nur selten. Sonst würde auch ich Angst haben und umkehren.«

»Weshalb schlägt der Blitz nicht in ein Schiff ein?«

»Frage die Gelehrten. Sie werden dir ein Märchen erzählen.«

Jenny sagte etwas, aber der Donner nahm ihre Stimme fort.

Wieder starrte Wenzel in das Netz von Blitzen, die Stirn gerunzelt, zum Angriff bereit.

»Was denkst du, Wenzel?« fragte Jenny. Es regnete vereinzelt große Tropfen, die wie harte Taler auf das Deck prasselten.

»Es ist schade,« erwiderte Wenzel und ballte die Fäuste »Es ist schade, daß man nicht ewig leben kann! Alles besitzen – und ewig leben! Kraft, Gesundheit! Und dich!«

Er hob Jenny auf den Arm und trug sie über das Deck hinunter in die Kajüte. Sie zitterte.

»Wir wollen die Götter versuchen! Wir wollen sehen, ob sie Kavaliere sind!«

 

25

So kreuzten sie Tag für Tag. Zuweilen blieben sie einige Tage bei einem Seebad liegen. Farbig der Strand, ein Gewimmel von Flaggen. Gäste kamen an Bord, und es ging laut her bis spät in die Nacht. Jenny war froh, wenn sie die Küste mieden.

Jeden Morgen und Abend badeten sie im Meer, wenn die See es erlaubte. Das Schiff lag bei. Eine der Jollen wurde herabgelassen, und sie schwammen um die Jacht herum.

Besonders Stobwasser entpuppte sich als ein großer Schwimmer. Sonst sah man ihn, von den Mahlzeiten abgesehen, nur selten. Immer schlief er, irgendwo zusammengerollt wie ein Igel. Seit er, zusammen mit Weidenbach, in der kleinen thüringischen Stadt die Kegel aufgesetzt hatte, genoß er auf dieser Reise die ersten Tage des Ausruhens, der Erholung und Sorglosigkeit.

»Kleopatra« ging nach Kopenhagen, nach Schweden. Sie lief bestimmte Häfen an, um die Post abzuholen. Dann kehrte sie wieder nach Warnemünde zurück. Goldbaum wurde erwartet und Michael Schellenberg mit seiner Freundin Eva Dux. Sie sollten drei Tage an Bord bleiben.

Jenny freute sich. Sie hatte eine aufrichtige Zuneigung zu Michael gefaßt. Eva Dux kannte sie noch nicht.

Als die Jacht anlegte, standen die drei bereits am Kai. Der dicke Goldbaum kletterte mühsam die Treppe empor und betrachtete argwöhnisch das Schiff. Er mißtraute dem Meer. »Man ist zu sehr in Gottes Hand,« pflegte er zu sagen.

Eva Dux war eine schmale, zierliche junge Dame, knabenhaft, mit einem sehr schlichten, offenen Gesicht und großen dunkelblauen Augen. Sie war sehr scheu und bekannt für ihre Schweigsamkeit. Sie war Michaels erste Sekretärin und genoß den Ruf, ebenso unermüdlich arbeiten zu können wie Michael selbst.

»Wie gefällt Ihnen das Meer?« fragte Jenny, als die Jacht wieder die offene See gewonnen hatte und das Land versank.

Eva blickte über das Meer und antwortete leise: »Es ist schön.«

In der Tat, sie sprach wenig, und es war ganz unmöglich, mit ihr in ein Gespräch zu kommen, was man auch versuchen mochte. Jenny legte ihr, als es kühler wurde, zärtlich ein Tuch um die Schultern.

Eva wich leicht mit der Schulter zurück und sah sie mit einem langen und erstaunten, dankbaren Blick an. Sie bewegte die Lippen, aber sie sagte nichts.

Von diesem Moment an aber fühlte Jenny, daß sie Freundinnen geworden waren.

Am Abend ging es an Bord lauter zu als gewöhnlich. Die Herren besprachen Geschäfte. Michael war nach Warnemünde gekommen, um seinen Bruder in Ruhe sprechen zu können, denn er wußte, daß es in Berlin ganz unmöglich war. Er wollte ihn für ein großes Projekt interessieren, für eine Industriesiedlung größten Ausmaßes, die zurzeit am Mittelland-Kanal vermessen wurde. Wenzel wich aus, aber er versprach, sich die Sache zu überlegen.

Nach Tisch lag man in den Stühlen auf Deck. Der Abend war gekommen, und die erlöschende Lohe des Sonnenunterganges brannte braun und gewaltig wie der Rauch eines Vulkans. Die Jacht arbeitete mit leisem Knarren. Das Bugwasser zischte gleichmäßig. Dieses leise Knarren und gleichmäßige Zischen schläferte fast alle ein. Man sprach leise, oder man schwieg. Stobwasser war schon tief eingeschlafen.

Nur Mackentin konnte sich noch nicht beruhigen. Er war mit Michael in ein Gespräch geraten, das gedämpft, aber mit großer Leidenschaftlichkeit geführt wurde. Jenny hörte nur dann und wann Bruchstücke des Disputs.

»Gestatten Sie mir,« sagte Mackentin sehr höflich, mit leicht näselnder Stimme, »Sie werden doch zugeben, daß wir Getreide billiger importieren können, als wir es selbst zu produzieren vermögen?«

»Zurzeit gewiß,« entgegnete Michael. »Wir werden unsere Methoden verbessern, um konkurrenzfähig zu werden. Ich leugne nicht, daß es heute wirtschaftlicher ist, Nähmaschinen zu exportieren und für den Erlös Getreide einzuführen. Vorausgesetzt natürlich, daß Sie Ihre Nähmaschinen verkaufen können.«

»Aber das kann ich doch jederzeit?«

»Nein, das können Sie nicht. Sonst ständen diese Probleme gar nicht zur Diskussion.«

Pause.

Mackentin überlegte offenbar. Dann fuhr er fort: »Nehmen wir an, daß es Ihnen tatsächlich möglich sein wird, mit Hilfe einer ungeahnten Bodenverbesserung und völlig neuer Methoden die Produktion so zu steigern, daß Sie mehr Getreide produzieren, als Deutschland benötigt, was dann?«

»Dann würde ich das überschüssige Getreide Futterzwecken zuführen und zum Beispiel die Geflügelzucht um ein bedeutendes heben, sodaß Deutschland keine Eier mehr einzuführen braucht.«

»Gut, gut,« fuhr Mackentin mit etwas erregter Stimme fort. »Gestatten Sie weiter. Nehmen wir an, Sie produzieren noch mehr Getreide und Nahrungsmittel, mehr als Sie verwenden können.« Mackentin gab sich noch immer nicht geschlagen.

»Das wird kaum eintreten, aber nehmen wir es an. Dann würde ich einen Teil des Bodens zur Anpflanzung von Hanf, Flachs und Ölfrüchten verwenden.«

»Gut, gut, gestatten Sie weiter. Sie wollen, wenn ich Sie recht verstand, gegen drei Millionen Pferde in Deutschland durch Motorkraft ersetzen. Ist das Ihr Programm? Und wenn das Ihre Absicht ist, werden Sie das Geld haben, um die großen Mengen von Benzin zu importieren, die für den Betrieb der Maschinen notwendig sind?«

»Gewiß ist dies mein Programm. Diese drei Millionen Pferde, die nur einige Monate im Jahr arbeiten, fressen Deutschland arm. Sie sind der unerhörteste Luxus, die unerhörteste Verschwendung, die vorstellbar ist. Anstatt des Hafers werde ich Kartoffeln pflanzen und den Betriebsstoff für die Motore in meinen Brennereien herstellen, wenn es sein muß. Im übrigen werde ich ja ganz andere Kraftquellen verwenden. Der Wind und das Wasser werden billige Kraft liefern!«

»Dann gestatten Sie eine weitere Frage,« fuhr Mackentin fort. »Sie beliebten zu sagen –«

Aber Wenzel unterbrach ihn. Er lachte laut heraus und sagte, während er aufstand: »Strecken Sie die Waffen, Mackentin, Sie werden mit ihm nie in Ihrem Leben fertig.«

Michael ging mit Jenny auf dem Verdeck auf und ab. Er schob seine Hand unter ihren Arm und sagte: »Ich freue mich, Fräulein Florian, daß Sie Wenzel betreuen. Sie üben einen günstigen Einfluß auf ihn aus. Er braucht jemanden, der sein unstetes Wesen ausgleicht. Seien Sie nachsichtig zu ihm! In Wahrheit ist er ja nichts als ein großer Knabe.«

Und Wenzel sagte zu Jenny: »Wie gefällt dir Michael? Er ist einer der reizendsten und sympathischsten Menschen, die es gibt. Wäre ich eine Frau, so würde ich mich tödlich in ihn verlieben! Seine Güte ist ohne alle Grenzen, aber er ist ein Kind. Unter uns gesagt, ich halte ihn für einen Narren. Ich befürchte, er wird schlechte Erfahrungen machen. Schon jetzt greift ihn die Presse heftig an.«

Rätselhaft war Eva, die Schweigsame. Sie schien ganz in sich zu ruhen, ganz Harmonie, sie schien, in sich gesammelt, sich selbst zu genügen. Fast wie ein edles, scheues Tier stand sie, atmete, lauschte, den klaren Blick in die Weite gerichtet. Jenny verliebte sich in sie und küßte sie zum Abschied auf den Mund. Schön, voller Dankbarkeit und Freude war Evas glänzendes Auge auf sie gerichtet.

Jenny vergaß diesen schimmernden Blick nie mehr. »Zum ersten Male habe ich mich in eine Frau verliebt,« sagte sie lächelnd zu Wenzel.

Oh, wie herrlich waren diese Tage auf der See! Jenny war glücklich und ohne Wunsch. Schon aber bemerkte sie Unruhe in Wenzels Gesicht.


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