Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Buch

 

1

Ali Baba und die vierzig Räuber!

Endlich war Doras berühmter Abend gekommen. Dumpf lockte die Trommel –

Mit einem kleinen Aufschrei wich Hedi zurück. Ein fetter Neger, mit dem Gesichtsausdruck eines Orang-Utans, schlug den Vorhang auseinander und fletschte ihr die Zähne entgegen: »Ali Baba heißt dich willkommen!«

»Er tut dir doch nichts«, lachte Klara und schob Hedi vorwärts.

Die mächtigen, nackten Arme und Beine des Negers funkelten. Hellrot waren seine wulstigen Lippen gemalt. Dora selbst hatte ihn hergerichtet. Ein zweiter Neger half aus den Mänteln. Er war jung und schlank, heller von Farbe, sein Gesicht drollig und hübsch. Auch er ging barfuß und trug nur ein kurzes, rot und gelb gestreiftes Röckchen.

Hinter Vorhängen, irgendwo, schrillten Pfeifen.

Wieder ertönte der Schrei einer Dame im Entree. Ein zottiger Bär schob sich an Hedi vorüber, und daraus schälte sich eine zierliche, halbnackte, nilgrüne Türkin. Gräfin Heller. Abendmäntel aus kostbaren alten Brokaten, antiken Samten, japanischen Stickereien, ehemaligen Kirchengewändern – und Fabelwesen entstiegen ihnen: Prinzessinnen, Haremsdamen, Odalisken in Seide, Tüll, Schleiern, mit goldenen, roten, grünen Schuhen, Schuhen mit langen Silberschnäbeln und blitzenden Steinen. Wohlgerüche und der Duft gepflegter Frauenkörper gingen von ihnen aus.

Hedi zitterte vor Erregung. In fieberhafter Hast verhüllte sie das Gesicht mit dem Schleier, wie Doras Vorschrift es verlangte. Doppelt begierig blitzten nun ihre Augen.

Hedi war ganz in durchsichtige Silberschleier gehüllt. Ihre jungen Brüste lagen nahezu völlig frei. Zwischen dem silbernen Jäckchen und den faltigen Pluderhosen aber war sozusagen gar nichts. Ein Hauch von Tüll. Das war Hedis höchsteigene Erfindung.

Wegen dieses etwas kühnen Kostüms war es heute nachmittag – schon am Nachmittag begannen die Damen mit der Toilette – zwischen den beiden Schwestern nahezu zu Tätlichkeiten gekommen.

Plötzlich erklärte Klara rund heraus, daß sie so nicht mit Hedi gehe! Wie?

»Ja, so! Du bist ja völlig nackt! Es ist skandalös einfach!«

Wie? Ein Kostüm, das das Taschengeld eines halben Jahres verschlang! Hedi war tödlich verletzt.

»Das ist ja gerade das Orientalische«, schrie sie aufgebracht. »Was versteht ein Kind von solchen Dingen? Und du – was soll das werden, du meine Güte?«

Ein sehr einfaches Kostüm aus hellgrauer Seide hatte Klara sich zurechtgemacht. Dazu sollte noch ein schwarzes Spitzentuch kommen, das ihr Gesicht bis zu den Augen verbarg.

»Ich bin eine türkische Witwe!«

»Eine Witwe?«

»Ja!«

»Du bist lächerlich, Klara, und wirst auch mich noch lächerlich machen! Zum ersten Male höre ich, daß man als Witwe auf einen Ball geht.«

»Aber ich gehe so!«

»Blamiere dich ruhig!« Empörend war Hedis Lachen.

»Dann gehe ich überhaupt nicht, ich habe sowieso nicht die geringste Lust!« schrie Klara und begann sich wieder auszukleiden. Sie warf die Schuhe wütend unter das Bett.

Hedi erbleichte. »Nun gut, mein Liebling. Papa wird außer sich sein, wenn er dich nicht dort findet. Ich werde ihm aber dann die Geschichte erzählen, die du mit dem kleinen Fliegerleutnant hast, warte nur!«

Sie hatte Klara ins Herz getroffen. »Und du?« schrie Klara und funkelte die Schwester mit drohenden Augen an.

»Und ich? Was soll mit mir sein?«

»Sage nur ein Wort, und ich werde es Papa erzählen. Ich weiß mehr, als du glaubst.«

»Was weißt du, nichts weißt du.«

»Nun, ich werde Papa erzählen, daß du einen Brillantring bekommen hast. Woher hast du diesen Brillantring? Und weshalb gehst du immer in den Kaiserhof?«

Jetzt war die Reihe an Hedi, außer sich zu sein.

»Das ist doch unerhört!« schrie sie rasend. »Du weißt so gut wie ich, daß man mir den Ring anonym mit der Post geschickt hat. Ich schwöre –«

Hier also wäre es nahezu zwischen den Schwestern zu Tätlichkeiten gekommen.

Nun aber waren sie doch hier. Dumpf lockte die Trommel, und Hedis Herz pochte.

Unaufhörlich stürzte Petersen mit dem Schirm die Treppe hinab. Es regnete etwas.

Droschke um Droschke klapperte die stockfinstere Lessingallee herauf zur roten Backsteinvilla. Dazwischen kam auch ein Gespenst von einem Auto, das auf eisernen Rädern wie ein Tank rasselte und die ganze Straße mit Qualm und Gestank erfüllte.

Schließlich, etwas spät am Abend, rauschte auch eine elegante feldgraue Limousine heran, mit wunderbaren Lampen, die alle Villen der Lessingallee magisch beleuchteten. Und – viel später noch – fuhr eine zweite Limousine vor, ein schwarzlackiertes Auto mit einem Chauffeur in Livree, das gänzlich lautlos dahinglitt und selbst die Limousine des Generals weit in den Schatten stellte.

»Ali Baba heißt dich willkommen!«

Der General prallte zurück. Seit seiner Kindheit hatte ihn niemand mehr geduzt. Und nie in seinem Leben hatte ein Schwarzer es gewagt, ihn anzusprechen.

Drollige Einfälle hatte diese Dora!

 

2

Hedis Herz pochte vor wilder Erregung.

»Die Liebe, meine süßeste Prinzessin –.«

Dumpfe Trommeln und schrille Pfeifen. Rote, grüne, gelbe Riesenlampen, Zelte, Diwane. Die Musiker trugen scharlachrote Turbane und grünspanfarbene Gesichtslarven mit langen Fransen. Sie hockten auf einem Diwan in der Ecke.

Schon jetzt herrschte in Ali Babas Räuberhöhle Gedränge.

Ein sonderbares Holzinstrument dudelte, und aus einem bronzenen Dreifuß stieg eine betäubende Wolke von Wohlgerüchen empor. Die beiden halbnackten Schwarzen kredenzten Erfrischungen.

»Die Liebe, meine Prinzessin – so banal es klingt, ist eine Bauernfängerei der Natur, eine Illusion zweier Narren –«

»Ah!«

»Genau wie die Ehe eine Bauernfängerei der Gesellschaft ist, eine Illusion einer Masse von Narren.«

»Also du glaubst nicht an die Liebe?«

»Nein, nein, ich glaube nur …«

»Nun?«

»Darf ich es dir ins Ohr sagen?«

Diese geistvolle Unterhaltung führten Hedi, die Prinzessin in Silber, und ein wild aussehender Räuber mit vermummtem Gesicht, in billardgrünem, durchlöchertem Burnus. Sie kauerten dicht nebeneinander mit angezogenen Beinen auf einem Diwan. Die Prinzessin näherte nun dem Räuber ihr Ohr, sprang aber sofort auf, als der Räuber ihr sein Glaubensbekenntnis ins Ohr flüsterte.

»Pfui, wie häßlich!«

»Auch du nicht stark genug für die Wahrheit?« Enttäuscht schüttelte sich das vermummte Gesicht.

Da verbeugte sich ein zerlumpter Bettelmönch vor Hedi und hielt ihr eine Schale hin, eine ausgehöhlte Kokosnußschale, die er an einer dünnen Kette am Handgelenk trug. Der Bettelmönch war völlig in Tuchlappen von einem eigentümlichen, unangenehmen, schmutzigen Gelb eingehüllt, wie eine Mumie. Sogar die Arme. Er trug einen orangeroten Turban, mit dicken grünen Schnüren umwickelt. Seine Augen blendeten.

»Wer bist du?« fragte Hedi und warf eine Zigarette in die Schale. Ihr Herz stockte.

Der Bettelmönch hob die Schale zur Stirn und verneigte sich. Wieder blendeten seine Augen.

»Wer ist es?«

»Ich kenne ihn nicht. Gottlob sind alle Gesichter vermummt. Welch eine herrliche Idee! Um wieviel gewänne dadurch das Leben!«

Hedi blickte in die kleinen, raschen Augen des Räubers, blitzende Pechtropfen. Wer war es, der sich an ihre Fersen heftete und sie nicht mehr losließ? Seine Keckheit gefiel ihr, auch der Unsinn, den er sagte. Ein großer Diamant gelblichen Feuers sprühte an seiner kurzfingrigen, gepflegten Hand.

Schon jetzt glühte Hedi am ganzen Körper. Ja, heute, heute, in dieser Nacht, mußte es geschehen, in dieser Nacht mußte es sein! Was mußte geschehen, was mußte sein? Das wußte sie selbst nicht.

Betörend dudelte das sonderbare Holzinstrument in Hedis kleines Ohr.


»Halt, einen Augenblick, Verehrtester!«

Professor Salomon zwängte sich blitzschnell zwischen zwei nackten Rücken hindurch, einem heißen, rosafarbenen, mit großen Poren, und einem kühlen, glatten, kantiggeschnittenen, elfenbeingelben, mit verwirrenden, rabenschwarzen Kräuselhärchen im Nacken, blitzschnell und vorsichtig, um seinen Frack nicht mit Puder einzufetten. Der Professor war trotz Doras Verbot im Frack. Er fand es entwürdigend, sich mit bunten Lappen zu behängen. Aber er trug die Rosette des Eisernen Kreuzes im Knopfloch.

Soeben hatte er einen Bekannten erspäht, der sich gerade das Auge mit dem Taschentuchzipfel auswischte. Die Feder eines Kopfputzes war ihm ins Auge gefahren. Es war ein ganz besonderer Glücksfall, denn der Bekannte war ein gewaltiger Schürzenjäger, so aber war er gezwungen stillzuhalten.

Das fette Kürbisgesicht des Professors strahlte. Es muß leider gesagt werden, daß der Schädel des Professors einem halbausgewachsenen, etwas gelblichen Kürbis mit großen, abstehenden Ohren glich. Professor Salomon, Gründungsmitglied des Vereins zur raschen Zerschmetterung der englischen Welttyrannei, Vorstand des Bundes Barbarossa, vorher fast unbekannt, hatte es während des Krieges zu einer Art von Berühmtheit gebracht. In diesem Kürbisschädel waren die wirtschaftlichen Gutachten entstanden, die die Marine als Unterlage für den unbeschränkten U-Boot-Krieg benötigte. Professor Salomon hatte seine Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit der Admiralität gelöst. Nunmehr bekleidete er einen einflußreichen Posten im Auswärtigen Amt.

»Wichtige Neuigkeiten«, rief der glänzende Kürbis. »Die Wissenschaft triumphiert – trotz aller Zweifel unserer Anglomanen.«

Der mit Diamanten übersäte Perser, in Ali Babas Gefangenschaft geraten, schielte ihn hilflos mit seinem tränenden Auge an. Er war ihm vollkommen ausgeliefert.

»Wir haben Meldungen, daß in ganz Schottland schon kein Pfund Mehl mehr aufzutreiben ist, und in Südwales gab es eine Hungerrevolte«, zischelte der Kürbis.

»So?« Der impertinente Ton wandelte den gelblichen Teint des Kürbis augenblicklich in tiefes Scharlachrot.

»Und Sie haben immer gezweifelt, gerade Sie waren immer derjenige! Auf Grund genauester wissenschaftlicher Unterlagen, völlig einwandfreier Statistiken –«

Der Perser wischte sich die Tränen von den Wangen. »Ich pfeife auf Statistiken, mein Lieber. Das Konversationslexikon genügt mir. Völlig abgesehen davon –«

»Völlig abgesehen?«

Der Professor verfolgte den fliehenden Perser.

»Völlig abgesehen davon –«

»Hören Sie –« Der Professor versuchte den fliehenden Bekannten festzuhalten. »Die Engländer haben kein Grubenholz mehr. Die englischen Bergwerke versacken – Sie entfliehen –?«

Der Perser stürzte sich verzweifelt mitten in den Malstrom der Tänzer.

»Ah, ah, so sind sie, so sind sie alle«, murmelte verzweifelt der Kürbis.

Schon hatte er einen neuen Bekannten erspäht. Aber gerade, als er sich ihm nähern wollte, geriet er in einen Wirbel von Foxtrottänzern.

In demütiger Haltung, sich ohne Aufhören verbeugend, ging der zerlumpte Bettelmönch von Raum zu Raum und rasselte mit der Schale. Seine Brust keuchte erregt, und seine Augen blinkten in jedes Frauengesicht.

Wer bist du?

Er ging weiter. Seine Augen drangen hinter die Schleier, glitten über Hände, Ohren, Hüften, Füße.

Wer bist du?

Plötzlich zuckte er zusammen. Eine Hüfte – nichts als das Wiegen einer Hüfte beim Tanze … Ohne jede Rücksicht stürzte er sich zwischen die Tänzer. Laut rasselte er mit der Schale vor einer etwas üppigen Haremsdame, die wie ein Kolibri in allen Farben schillerte.

Die Haremsdame blieb – unwillkürlich – stehen und sah ihm in die Augen.

»Wer bist du?«

Aber stumm verbeugte sich der Bettelmönch. Bis zur Erde. Seine breite Brust wogte unter den Lumpen.

Die Haremsdame lachte – nur Dora konnte eine derartige Fontäne von Gelächter hervorsprudeln.

»Du bist wohl stumm?«

Der Bettelmönch nickte. Aber so oft Dora vorüberkam, verbeugte er sich und rasselte mit der Schale, seine blinkenden Augen folgten ihr überall hin.

Schon war es ihm gelungen, Doras Neugierde zu wecken.

 

3

Über dem Dunst des Räucherwerks, den wirbelnden Turbanen, Federn und Schleiern, auf der kleinen Empore, gerade über den Musikanten mit ihren grünspanfarbenen Gesichtsmasken, bewegte sich plötzlich ein massiger, breiter Schatten, der sich düster über die Decke reckte. Dann schrumpfte der Schatten zusammen, und über der Brüstung erschien ein breites, erdfarbenes, glanzloses Gesicht und blickte herab. Alle Blicke wandten sich nach oben. Der General war gekommen.

Der Räuber im durchlöcherten, billardgrünen Burnus deutete mit dem vermummten Gesicht zur Empore und raunte Hedi eine Bemerkung ins Ohr, die bei seiner Dame unbändige Heiterkeit auslöste. Sie fand ihren Kavalier schnurrig über alle Maßen. Und so etwas Keckes und Unverschämtes hatte sie überhaupt noch nicht erlebt!

»Fort, fort, er sieht her! Wie herrlich du doch lachen kannst!«

In der Tat, das erdfarbene Gesicht auf der Empore hatte die Brauen hochgezogen.

Der Räuber hielt die linke Hand mit dem gelblichen Brillanten wie zum Schwure in die Höhe, seine Rechte berührte Hedis Schulterblatt, schon tanzten sie. Obschon er sie kaum berührte, hielt er sie fest wie ein Schraubstock, unentrinnbar. Und bei gewissen Figuren zog er sie unvermittelt dicht an sich – wie nur Räuber es vermögen.

Unterdessen irrte Klara mutterseelenallein und tief unglücklich in der labyrinthischen, farbenlohenden Höhle Ali Babas umher. Jeder Schlag der dumpfen Trommel traf ihr Herz, die Pfeifen schrillten Verzweiflung. Sobald aber das sonderbare Holzinstrument zu dudeln anfing, hielt sie sich die Ohren zu und entfloh in die fernsten Winkel. Aber überall waren diese verrückten Vermummten, in den entlegensten Winkeln. Aus allen Ecken und Dunkelheiten winkten weiße Arme und Hände, blendeten heiße Augen. In einem rotglühenden niedern Raum – Ali Babas Opiumhöhle – kauerten sie in Scharen auf dem Teppich. Das Herz der kleinen türkischen Witwe pochte gegen den Brief, den sie im Mieder trug – heute morgen war er gekommen.

Plötzlich sah sie aus einer Nische ein Paar Augen auf sich gerichtet, unendlich sanfte Augen voller Trauer, und sie versank angezogen in ihre Betrachtung. Sie hob die Hände, auch die Erscheinung in der Nische hob die Hände. Sie berührte Glas.

»Du bist es – Klara?« fragte sie, und die Erscheinung stellte die gleiche Frage.

Da aber griff plötzlich eine gespenstische, grüne Hand nach dem Spiegelbild, und sie schrak zusammen. Doch niemand war da. Eine Heiligenfigur, die ein Buch schwang, stand dem Spiegel gegenüber, und durch den wehenden Vorhang war ein Lichtstrahl auf die grüne Hand des Heiligen gefallen.

Wunderbar … Heinz hatte oben in der Luft ihr Gesicht im Äther dahinfliegen sehen. Es flog neben ihm her, genau so schnell wie die »Schwalbe«. So hieß seine Maschine.

Der Brief brannte auf ihrem Herzen.

»Wir sind ja jung! Vor uns liegt das Leben, vor uns liegt die Zukunft. Ich liebe dich, du Teuerster!«

Und der Brief glühte.

Schon taumelte sie wieder erschrocken zurück. Durch die Luft kam kopfüber ein Mensch geflogen, ein Mensch, merkwürdigerweise in Uniform, mit staubgrauem Gesicht und fiebrisch glänzenden Augen. »Feuerwalze, Feuerwalze!« schrie erschrocken ein Chor von Stimmen. »Er hat sich das Genick gebrochen!«

Die fiebrischen Augen wandten sich der kleinen, grauen Witwe zu. »Du weinst ja –« sagte der Uniformierte verwundert, und schon zuckte eine Hand nach ihr.

Aber schon floh Klara. Zwischen Vermummten hindurch, eine kleine Treppe hinauf. Plötzlich hielt sie inne: in einem Sessel saß der General. Auch für ihn gab es weder Tanz noch Musik. Zusammengesunken saß er, den Blick in sich zurückgezogen.

Düster brannten seine Augen.

Er hatte sich früher auf Festen gelangweilt, heute bedrückten sie ihn. Musik weckte Melancholien, fröhliches Gelächter Trauer. Er war ja nur hierhergekommen, um Dora nicht zu kränken – und um womöglich einige Worte mit einer hochstehenden Persönlichkeit zu wechseln, die ihr Erscheinen zugesagt hatte. Voller Verachtung blickte er auf diese Narren herab, die sich in bunte Lappen hüllten. Die Frauen begriff er noch zur Not – es war ihre Natur – aber die Männer –? Während das Brüllen der Kanonen eine neue Epoche der Geschichte verkündete?

Durch eine schmale Tapetentür schlüpfte Klara ins Treppenhaus. Hier, zwischen alten Truhen und Schränken, atmete sie auf. Fern klangen Trommeln und Pfeifen. Plötzlich lächelte sie wieder.

Glücklicher war sie ja, als alle! Als alle!

Und plötzlich tanzte die kleine graue Witwe mit stillen, kleinen Schritten, für sich allein, zwischen den alten Truhen und Schränken. Sie hatte noch nicht das Meer gesehen und noch nicht das Hochgebirge. Zierlich hob sie die Füßchen: all das würde sie sehen – mit ihm! Venedig und Paris, London und eine Stadt in Indien – zierlich wiegte sie die Hüfte – alles mit dir, mein Geliebter …


»Weißbach? Sind Sie es, Weißbach? Retten Sie mich!« rief Hauptmann Falk und wischte sich den Schweiß vom grauen Gesicht. »Helfen Sie mir – Sie sehen mich in einem schrecklichen Zustand!«

Weißbach lachte.

»Ich bin behext, ein Weib hat mich total behext. Da – da – da – das ist sie! Sehen Sie diese Schwefelgelbe. Diese Hüfte – grundgütiger Himmel!«

»Aber, das ist ja Dora!« rief Weißbach aus.

»Dora? Wer ist Dora?«

»Das wissen Sie nicht? Die Baronin Dönhoff selbst!«

»Ah, ah – gut, einerlei, wer es ist. Jedenfalls, sie sehen mich in der fürchterlichsten Aufregung. Dieses –Weib hat mich vollkommen verrückt gemacht. Sie kam zu mir und blinzelte mich an und berührte nur ein wenig meinen Arm, aber ich sage Ihnen – ein Strom! Jedenfalls – es muß etwas geschehen, und es wird etwas geschehen.«

»Halt, halt – Feuerwalze! Einen Augenblick! Nehmen Sie sich etwas in acht.«

»In acht, vor wem, vor ihr?«

»Nein, vor ihm.«

»Vor ihm? Er ist doch im Felde? In der Champagne!«

»Nein, er ist keineswegs im Felde. Er ist hier.«

»Hier? Hier –?«

Weißbach flüsterte Falk etwas ins Ohr – und Falk taumelte vor Verblüffung zurück.

»Wie sagen Sie –?«

»Pst!«

»Unmöglich!«

»Nun, Sie werden schweigen!«

»Ah, ah – aber hören Sie?«

»Sie sprechen nicht darüber? Ihr Wort!«

»Ich spreche nicht darüber. Nein, was Sie sagen? – Ich dachte, ich hörte – eine Königliche Hoheit?«

»Das war ja früher. Vor der Heirat.«

»Ah, ah! Ich verstehe! – Aber hier kommt sie wieder! Sehen Sie doch, diese Hüfte, diese Bewegung! Leben Sie wohl, Weißbach –«

»Vorsicht!«

Schon tauchte Falk zwischen den Vermummten unter. –

Der junge, schlanke Neger, der nur ein kurzes, rotgelbes Röckchen anhatte, glitt mit Erfrischungen in das Zelt. Wohlgefällig folgten die Augen der Prinzessinnen, Haremsdamen und Odalisken dem hübschen Sklaven.

Hedi kühlte das fiebernde Gesicht, der süßliche Duft des Räucherwerks betäubte sie. Ihre Wangen glühten durch den Schleier, ihre Augen blinkten wie geschmolzenes Blei. Sie fühlte, wie eine Schweißperle über ihre Hüfte rann, gerade wo der dünne Schleier sie bedeckte. Dieser rinnende Schweißtropfen war wie eine wollüstige Berührung.

Da hörte sie zu ihrem Erstaunen Klaras Stimme.

Ihr Kavalier, ein steifer Beduine, in einer Kadettenschule erzogen, sagte mit gelangweilter, selbstgefälliger Stimme: »In sechs, acht Reihen griffen die Russen an, und wir warteten, bis sie ganz nahe heran waren, dann erst eröffneten wir das Feuer.«

»Wie schrecklich!« rief Klara aus.

»Fünfmal griffen die Russen auf diese Weise an, immer in dichten Haufen, und wir schossen sie zusammen. Sie schrien und stöhnten vor unseren Verhauen. In der Nacht aber sank die Temperatur plötzlich auf minus 10 Grad, da wurden sie still.«

»Oh, wie entsetzlich!« Und Klaras Stimme verklang.

»Also kein Freund von Generalen?« fragte Hedi. Hier in dem kleinen, leeren Zeltzimmer war es Gott sei Dank etwas kühler.

»Nein.« Der billardgrüne Räuber lachte, ein freches Räuberlachen. »Das kann ich wirklich nicht sagen! Mit ihren Federbüschen, Ordenssternen und Ritterschwertern wirken sie lächerlich auf mich, wie Gespenster aus dem Mittelalter. Leider aber sind sie alles andere denn komisch. Ich behaupte sogar, solange es Generale gibt, wird es Kriege geben.«

»Solange es Kriege gibt, meinst du –?«

»Keineswegs. Ich meine, was ich sagte. Solange man Leute zu dem einzigen Berufe anstellt, Kriege vorzubereiten und zu führen, solange werden Kriege unausbleiblich sein.« Der Räuber ringelte sich behaglich auf dem Diwan zusammen und sog mit einem Strohhalm Eiswasser aus dem Glase. Er schwatzte gern, tat gerne geistreich, Hedi hatte das längst herausgefunden. Aber er gefiel ihr, und selbst sein Geschwätz über alle möglichen Dinge hörte sie nicht ungern. Es wäre gänzlich falsch, anzunehmen, daß Hedi nur für Flirt, Tanz und fünfzigpferdige, dahinrasende Automobile Sinn hatte. Sie hatte auch Sinn für Gespräche – nur für Langeweile hatte sie nicht die geringste Verwendung.

»Ja, unbedingt!« fuhr der Räuber eifrig fort. »Während die Welt nichts Arges denkt, sitzen überall diese Generale und denken darüber nach, wie sie ihre Kanonen verbessern könnten. Oh nein, sie verbessern sie nicht selbst! Man kann in der ganzen Geschichte nachforschen, nie haben diese Generale etwas erfunden, dafür haben sie ihre Spezialisten. Aber sobald sie nun glauben, die besseren Geschütze zu haben, wird ihre Sprache schon etwas kühner. Sie sammeln die große internationale Gemeinde der Kanonenanbeter um sich, bestechen die Presse, stürzen Minister, die nicht an ihre Kanonen glauben – und schon ist das Unglück fertig. Nun aber treten die Generale, die sich bisher im Hintergrund hielten, zum großen Erstaunen der Mitwelt plötzlich in den Vordergrund. Keine Macht der Welt ist von diesem Augenblick an mehr imstande –«

»Ich höre, du bist nicht Soldat?«

Wieder strich die kleine graue Witwe mit ihrem Kavalier an dem Diwan vorüber. Der steife Beduine sagte: »– stehe also auf der Sturmleiter, die Uhr in der Hand. Mit der Sekunde springe ich aus dem Graben.«

»Was für ein entsetzlicher Augenblick muß das sein«, sagte Klara.

»Alles ist Gewohnheit. Der Mensch gewöhnt sich an alles, mein gnädiges Fräulein.«

Die glänzenden Pechaugen des Räubers lachten aus dem vermummten Gesicht. »Soldat? Auch ich war Soldat«, erwiderte er.

»War?«

»Ja. Jetzt bin ich es nicht mehr. Ich bin tot.«

Hedi brach in lautes Gelächter aus.

»Ja, ich bin tot, meine schöne Maske,« fuhr der Räuber fort, »ich bin gestorben im Lazarett zu Warschau. Meine Bestattung kostete mich tausend Mark. Der Feldwebel hat mich aus der Stammrolle des Regiments gestrichen, ich existiere nicht mehr. Neben meinem Namen steht: Gestorben am Typhus –«

Nein, wie Hedi doch lachen konnte!

»Wie herrlich – wie wunderbar!« Sie konnte sich gar nicht beruhigen.

»Welch wunderbarer Einfall. Er ist tot! Wer bist du eigentlich? Kenne ich dich?«

»Wir sahen uns zuweilen im Kaiserhof.«

Ah! Daß er sie solange täuschen konnte? Es war Ströbel.

 

4

Plötzlich erhob sich der General. Seine Hände griffen nach dem Geländer der niedrigen Balustrade. Hatte nicht eben die Empore geschwankt wie bei einem Erdbeben? Die Musik versank, der Ballsaal war leer, brodelndes Nichts. –

Ein unerklärliches Gefühl der Verlassenheit schnürte ihm die Brust zusammen. Eine fremde Welt, unverständlich! Aber plötzlich trieb ihn ein Verlangen, sich unter diese fremden, unverständlichen Menschen zu mischen, die sich in bunte Lappen hüllten und lachten. Ein paar Worte, Dora, ein paar Worte mit ihr sprechen!

Vorsichtig und tastend stieg er die wurmstichige Rokokotreppe hinab, die unter dem Gewicht seines schweren Körpers krachte. Nunmehr war es ja auch sehr unwahrscheinlich geworden, daß jene hochgestellte Persönlichkeit, mit der er gerne ein paar Worte gewechselt hätte, das Fest noch mit ihrem Besuche beehren würde. Der General bedauerte es aufrichtig. Jene hochgestellte Persönlichkeit war niemand anderes, als der Bruder der Gräfin Heller, dessen Name man nur ehrfürchtig zu flüstern wagte. Der General hatte die Gelegenheit begrüßt, in den Gesichtskreis einer Persönlichkeit treten zu können, die das Ohr des Allerhöchsten Herrn hatte und über Schicksale entschied. Denn, nunmehr war es offenbar: man hatte ihn vergessen, vollkommen vergessen.

Am Fuße der Treppe stand der General still. Der Blick seiner hellen, grauen Augen glitt über den Saal. Das breite, erdfarbene Gesicht zuckte bei der Bemühung, die Starrheit der Miene zu lösen. Es mißlang. Diese sorglosen, heiteren Menschen vermochten keine Teilnahme in seiner Brust zu wecken, kaum daß Doras Lächeln, das ihn traf, so oft sie vorbeitanzte, eine flüchtige Wärme in seinem Herzen anfachte.

Nein, fremd, unverständlich!

Er begab sich in das Speisezimmer, trank ein Glas Sekt und zerkaute gelangweilt ein belegtes Brötchen.

Der Erfrischungsraum war fast völlig leer. Ein Vermummter lehrte mit feierlichem Ernst einer Verschleierten einige schwierige Tangoschritte. Andächtig schob sich am Büfett ein befrackter Rücken entlang, von Schüssel zu Schüssel.

Dieser andächtige, befrackte Rücken war der Geheime Rat Westphal, den der Anblick der aufgestapelten Herrlichkeiten völlig hypnotisiert hatte. All die Kriegsjahre hindurch hatte er sämtliche Vorschriften und Gesetze, die die Ernährung betrafen, peinlich genau befolgt. Schon wurde es ihm beschwerlich, eine Treppe zu steigen, sein Gedächtnis schwand, er schlief vor Schwäche die Hälfte der Zeit in seinem Bureau im Auswärtigen Amt, schlief, schlief, aber befolgte die Vorschriften, denn schließlich gehörte er ja zur Regierung, die sie erließ. Und hier, war es möglich, hier gab es ganze Schinken, man denke sich! Es gab hier ganze Puten, ganze Gänse, man denke! Es gab hier ellenlange Braten, man denke! Das Fett troff von den Schüsseln, es gab hier Sardinen, woher denn, beim allmächtigen Gott, sogar Früchte, obgleich sie beschlagnahmt waren. Es gab hier Torten und Kuchen wie in einer Konditorei vor dem Kriege. Es gab hier Butter, und es gab sechs verschiedene Sorten von Käse. Der Geheime Rat hatte sich der Wollust des Kauens hingegeben. Er kaute, er nahm hier ein Stückchen Lachs, dort einen Putenschenkel, dann ein Stückchen gesülztes Fleisch, dann wiederum ein Schnittchen rohen Schinken. Auch ein Scheibchen Gänsebraten, von der Brust, eine Pfaffenschnitte dazu, so! Seit zwei Jahren hatte er nicht mehr ordentlich gegessen. Er knabberte ein Radieschen, und, wie gesagt, die ganze Reihe der Käse und der Kuchen lag noch vor ihm. Andächtig schob er sich an den langen Tischen entlang, den Blick durch die Brille gleichzeitig auf alle Herrlichkeiten gerichtet.

Plötzlich aber blitzten in seinen Gläsern Ordensauszeichnungen, Stickereien, das Rot des Generalstabes funkelte. Er prallte zurück.

»Herr General«, sagte er, sich verbeugend, und balancierte den Teller geschickt auf der Hand.

Der General machte eine kühle Bewegung mit dem Kopfe und knarrte irgend etwas in der Kehle. Nichts haßte er mehr als Aufdringlichkeit.

»Geheimer Rat Westphal. Ich hatte bereits die Ehre, Herr General.«

Eine kleine Pause der Verlegenheit entstand, die immer eintrat, wenn Vertreter der hohen Generalität und Angehörige des Auswärtigen Amtes sich begegneten.

Der General hatte einen unüberwindlichen Argwohn allen Beamten des Auswärtigen Amts gegenüber, und der Geheime Rat seinerseits gebrauchte allen Militärs gegenüber – äußerste Vorsicht! Er hatte Angst vor ihnen, er fürchtete sie, offengestanden.

»Ich bin allerdings etwas mager geworden«, sagte der Geheime Rat mit nachsichtigem Lächeln und schob den Finger zwischen Kragen und Hals. »Ich trug vor dem Kriege Kragen 42, aber nun könnte ich 38 tragen.«

»Es geht uns allen nicht besser«, antwortete der General. »Wie beurteilen Sie diese Sache?« Und der General langte nach einem Lachsbrötchen.

Der Geheime Rat griff nervös nach dem dünnen Chinesenbart.

»Ich bin,« begann er, »ich bin hoffnungsvoll. Es ist natürlich schwer zu sagen, aber ich halte die Lage, jetzt in Anbetracht der militärischen Situation für, ich möchte sagen, ganz vorzüglich, obgleich zu bedenken ist – England –«

»Wie, bitte?« Der General beugte sein knorpeliges, rotes Ohr mit den kleinen Haarpinseln zu dem Chinesenbart herab.

Der Geheime Rat knackte verwirrt mit den Fingern und wich etwas zurück. »Ich spreche natürlich nur meine Private Ansicht aus. Ich kenne keineswegs – ich weiß keineswegs, wie der Minister die Situation beurteilt. Ich habe den Minister seit einem Jahre nicht gesprochen.«

»Sie sprechen von der politischen Lage?«

»Ich meinte, Herrn General so verstanden zu haben.«

»Ich meinte nur, wie Sie diese Sache heute abend finden.«

»Oh – Verzeihung! Ich finde, es ist wie ein Delikatessenladen vor dem Kriege, genau so, eine Art, möchte man sagen, Schlaraffenland, hahaha!«

» Après nous le déluge!« sagte in diesem Augenblick ein heftig schwitzender Beduine zu einer zierlichen Schleierfee.

Rügend wandte sich das Auge des Generals auf den Beduinen. Gerade dieser Geist war es, der am Mark des Volkes zehrte. Mit einer Art von Bewunderung mußte er in diesem Moment an den französischen Ministerpräsidenten denken, der all diese Schwätzer und Kleinmütigen ohne viel Umstände – an die Wand stellte!

Wo aber war hier, hier in Deutschland das hypnotische Auge, das diese Hypnose des Schreckens, die unter allen Umständen nötig war, auf das Volk ausübte? Wo hier –?

In diesem Moment verbeugte sich ein Befrackter vor dem General, als wolle er ihn zum Tanz engagieren. Es war indessen nur Petersen, der meldete, daß Seine Exzellenz gekommen waren.

Eine flüchtige Röte huschte über das erdfarbene Gesicht.

Schon hatte der hohe Würdenträger den Saal betreten. Am Arme Doras trippelte er dahin, ein greisenhaftes, zerstreutes Gewohnheitslächeln auf dem langgezogenen, völlig glatten Wachsgesicht, das wächserne schmale Ohr aufmerksam gegen Doras gemalte Lippen geneigt. Ein Ordensstern blitzte auf seinem Frackhemd.

Augenblicklich dämpfte sich der Lärm des Festes.

»Wer ist es?«

Leises Wispern.

»Ah –?«

Ganz deutlich war plötzlich für alle der Abglanz der Allerhöchsten Gnadensonne, in deren Schein der hohe Würdenträger nach Fügung des Himmels seine Tage verlebte, auf dem wächsernen, glatten Gesicht zu sehen.

»Und was für einen Orden trägt er?«

»Wie alt er geworden ist! Nur seine Augen sind noch die gleichen!« dachte Dora, während sie sich an ihn schmiegte, als sei sie seine Tochter. Sie durfte diese Vertrautheit wagen, denn er hatte in ihrem Hause verkehrt – damals! Er wußte alles. Aber damals war er noch nicht Exzellenz, damals wurde er von seinen Freunden noch Franz der Erste genannt, und die intim befreundeten Damen nannten ihn einfach Franzl. Auch sie nannte ihn so. »Was ist nun aus ihm geworden? Eine Ruine!«

Aber Dora strahlte.

Der hohe Besuch rief Erinnerungen wach in ihr an jene Zeit – an damals – da sie bewundert und auf den Händen getragen wurde, von aller Welt, da alle Welt wetteiferte, ihr gefällig zu sein, da täglich Geisterhände sämtliche Vasen und Schalen ihres Hauses mit den wunderbarsten Blumen füllten. Und das heutige Fest erschien ihr plötzlich als eine Fortsetzung jener blendenden Feste dieser Zeit. Wieder trug sie in einer Nacht ein Dutzend verschiedener Kostüme, wieder wurde sie stets neu entdeckt und stets neu bewundert. Wieder war sie von einem Schwarm von Anbetern umgeben. Da war dieser Hauptmann, mit dem drolligen Namen Feuerwalze – hoffnungslos verliebt in sie! Da war dieser Sonderbare, Unbekannte mit der rasselnden Schale, der sie auf Schritt und Tritt verfolgte – und da waren noch andere, die ihr Worte ins Ohr flüsterten, die beim Tanzen plötzlich – und ein eifersüchtiges Auge wachte über ihr – ganz wie damals.

»Hier ist er!« rief Dora mit heller Stimme und übergab den hohen Würdenträger auf der Empore dem General.

 

5

Mit allen Anzeichen mühsam zurückgehaltener, freudigster Überraschung erhob sich der General.

Wie alt er geworden ist, dachte auch er. Und die eine Augbraue ist schon ganz verzerrt. Eine Wachsfigur! Er verbeugte sich. Der Orden, der auf dem Frackhemd der Exzellenz funkelte, wog allein mehrfach alle Auszeichnungen auf, die der General auf der Brust trug.

»Ich bitte«, flüsterte der Träger des hohen Ordens und streckte dem General beide Hände entgegen, »aber ich bitte Sie herzlich, mein lieber, alter Freund, freue mich, Sie wiederzusehen, freue mich ganz außerordentlich, wieder einmal Gelegenheit zu haben.«

Schon stand ein Sessel bereit, und der General beachtete genau, bis der hohe Würdenträger sich gesetzt hatte, bis er richtig saß. Erst dann wagte er, neben ihm Platz zu nehmen.

»Erfreut, außerordentlich erfreut. Ich bin etwas verspätet, ein Diner.«

Petersen trat hinter den Sessel der Exzellenz.

»Ich danke – doch, einen Augenblick, mein Freund. Ein Glas Wasser, wenn ich bitten darf.«

»Ich sehe mit aufrichtiger Freude, daß Euer Exzellenz sich sehr wohlbefinden«, rief der General.

»Bis auf mein altes Darmleiden, mein Freund –«

Die Unterhaltung wurde in lautem Tone geführt, denn der hohe Würdenträger war schwerhörig, und es war bekannt, daß er es niemals zugestand und niemals fragte. Man behauptete sogar, daß er die wichtigsten Verhandlungen führe, ohne ein einziges Wort zu verstehen, und völlig freie Erfindungen weitergäbe. Die Stimme des Generals klang kräftig, er wünschte, daß der hohe Würdenträger kein Wort verliere. Wie geschickt Dora diese Begegnung arrangiert hatte! Vielleicht würde diese Gelegenheit, sich in Erinnerung zu bringen, nie wiederkehren.

»Zwischen den Schlachten«, sagte die Exzellenz lächelnd, und deutete auf Turbane, Federbüsche und die Woge von nacktem Fleisch da unten.

»Exzellenz bemerken sehr treffend. Es sind zumeist Offiziere, die auf Urlaub hier sind, Atem schöpfen, um morgen zur Front zurückzukehren.«

»Ja, ja, ja.«

»Exzellenz –.«

Der Einflußreiche legte seine weichen, kleinen Hände auf den Schenkel des Generals. »Lieber Freund,« sagte er, »ich darf wohl bitten, alles Zeremoniell zu lassen. Wir sind doch alte Freunde. Ja, wie lange kennen wir uns schon?«

»Es sind,« der General dachte nach, »es dürften wohl dreißig Jahre sein.«

»Dreißig Jahre!« Der hohe Herr rückte auf dem Sessel hin und her, wiegte den wächsernen Kopf und lachte beunruhigt. »Ein Menschenalter! Ich erinnere mich noch sehr deutlich, daß wir ebenfalls in Berlin einmal auf einem Ball waren. Es war, wo war es denn nur gleich?«

Der General errötete. Nun wird er sich gewiß an diese Affäre erinnern, an diese Entführung, und alles wird vergeblich sein.

»Ich erinnere mich nicht«, sagte er.

Aber mit dem Eigensinn eines Greises forschte der hohe Würdenträger in seinem Gedächtnis nach.

»Es war bei Baron Kreß«, rief er aus. »Ja, nun habe ich es, und es war eine entzückende Dame da, eine reizende kleine Person! Ah, ah, ah, wie hieß sie doch?«

Der General schwieg beharrlich, außerordentlich peinlich war die Situation. Scham erfüllte ihn, daß er nicht den Mut hatte, zu bekennen, daß diese reizende kleine Person, wie Exzellenz sie zu nennen geruhten, später –

»War es nicht eine kleine Baronesse Bassewitz? Nein, nein, es war – nun, es ist lange her. Ich bin nicht für die Ehe geboren gewesen, mein lieber Freund. Und wie fühlen Sie sich in Berlin?«

Der General rückte auf seinem Sessel. »Wo mich mein König hinstellt,« heulte er in das Ohr Seiner Exzellenz, »da –«, er stockte.

Aber der Greis verstand vollkommen.

»Ja, ja, ja,« nickte er. Ach, er hatte diese Phrase tausendmal in seinem Leben gehört. Er klopfte sich auf den Mund, um ein Gähnen zu verbergen.

»Ich höre aber, daß Sie sich bei der Truppe wohler fühlten, lieber Freund? Meine Schwester –«

»Ich erfülle meine Pflicht und beklage mich nicht!« beteuerte der General. »Indessen ist es ja selbstverständlich für einen Frontsoldaten –«

»Ja, ja, ja – natürlich, selbstverständlich.«

Der Würdenträger versank in Nachdenken, schloß die großen Greisenaugen zur Hälfte, und es sah eine Weile aus, als ob er einschlafen wolle. Er erinnerte sich plötzlich, daß man, vor gar nicht langer Zeit, bei der Frühstückstafel von diesem Hecht-Babenberg gesprochen hatte. Irgend etwas war ihm mißlungen oder besser gesagt, nicht gelungen – irgend etwas an der Front, und man sprach von einer Untersuchung, die schwebte. Natürlich nur schwebte, alle diese Untersuchungen schwebten, und das war ganz in Ordnung. Das Ansehen der Armee würde anders leiden. Daran dachte er, und er quälte seinen alten, spitzen Kopf, um sich zu erinnern, welches Mißgeschick dem General eigentlich passiert war. Es hatte sich um eine Höhe gehandelt – um irgendeine von diesen vielen Höhen, von denen immer die Rede war. Er war kein Militär, und er kannte die Front nur als eine ungefähre blaue Linie, die er überall in den Beratungssälen auf den Karten sah.

Er las die Heeresberichte nicht mehr, seit langem, seit einigen Jahren – es waren ja immer die gleichen Orte. Ganz offen gestanden, interessierte ihn die Front auch nicht, in militärischen Fragen war er Laie, sie gehörten nicht in sein Ressort. Aber es hatte sich damals um eine Höhe gehandelt, eine Höhe, na, es war ja schließlich vollkommen einerlei. Hm, es würde wohl – im Hinblick auf dieses Mißgeschick – nicht ganz leicht sein …

Plötzlich verklärte ein Lächeln sein Gesicht. Da unten – wie scharmant – hatte sich soeben ein Pärchen ganz sans géne während des Tanzens geküßt! Diese Jugend – wieder rückte er unruhig auf dem Sessel.

Der General aber erlaubte sich zu erwähnen, daß auch hier in Berlin wichtige Arbeit zu leisten wäre. Es waren gewisse Einflüsse am Werk, pazifistische, jüdisch-liberale, radikalsozialistische Einflüsse, die zu bekämpfen waren. Der Wille des gesamten Volkes mußte zusammengeballt und in eine Richtung gelenkt werden, zu einer letzten gewaltigen Anstrengung. »Gewaltigen, gewaltigen!« schrie er in das wächserne Ohr der mit schrägem Kopf lauschenden Exzellenz.

»Ja, ja – sehr richtig – sehr schön –«

Der General aber benutzte die Gelegenheit, dieser hohen Stelle seine militärisch-politischen Ansichten im allgemeinen darzulegen. Der Peipussee, der Weg nach Indien über den Kaukasus, die Zerschmetterung Englands vom Orient aus, der Korridor über die Türkei und Ägypten nach einem mächtigen deutschen Zentralafrika, Rohstoffreservoire, Siedlungsgebiete, maritime Stützpunkte …

»Sehr interessant – sehr wohl –«

Fließend trug der General seine Gedanken vor, sie bildeten das Thema eines fertig ausgearbeiteten Vortrags, den er in den nächsten Tagen im Bund Barbarossa halten wollte.

Der hohe Würdenträger nickte und blinzelte durch das geschnitzte Geländer der Empore hinunter in den kleinen Saal. Viel angenehmer wäre es ihm gewesen, wenn der General über diese Beinchen, Hüften und Gesichtchen gesprochen hätte – diese modernen Tänze waren sehr reizvoll, wenn auch etwas gewagt. All das, was der General sagte, hörte er täglich von Militärs. Nur diese Sache mit dem Korridor über Ägypten war eine neue Variante.

»Sehr wohl – sehr richtig –«, sagte er und nickte.

Und dieser Hauptmann, der eben mit Dora tanzte, sah es nicht ganz so aus, als sei er – etwas bekneipt? Bewundernswürdig diese überschäumende Lebenskraft …

Dora gab es auf, mit Hauptmann Falk zu tanzen.

»Ich bin durstig, Feuerwalze!«

Gab es eine Bitte in der weiten Welt, die der Hauptmann mit größerem Entzücken erfüllt hätte? Nein, keine. Er wollte Dora die gesamte Weinernte von drei Jahrgängen zu Füßen legen, er schwor, die Weinkeller der Millionäre in der Nachbarschaft zu plündern, wenn es sein müsse.

»Gib Wein, schwarzer Halunke!« schrie er dem fetten Neger zu.

Er leerte sein Glas auf das Wohl seiner Dame und warf es – nun höchst einfach – mitten in das Orchester. Das gehörte zu seinem Stil.

»Spielt, ihr Schweine!« schrie er, und als die Musiker sich entsetzt umblickten, fügte er mit einer tiefen Verbeugung, auf Dora weisend, hinzu: »Für meine Dame!«

Dann nahm er einen blauen Lappen aus der Tasche, rollte ihn zu einer Kugel zusammen, spuckte darauf und warf ihn den Musikern zu. Auch das gehörte zu seinem Stil. Nun verbeugten sich die Musiker.

Vor knapp fünf Stunden war der Hauptmann in Berlin angekommen und bei Ströbel, wie gewöhnlich, abgestiegen. Gestern früh, um sieben Uhr, hatte er noch an der flandrischen Küste einen Graben gestürmt, mit dem Messer hatte er gearbeitet, heute tanzte er hier – es war ein Krieg mit Komfort, wie er sagte – morgen abend, um zehn Uhr, ging sein Zug – vielleicht mußte er übermorgen wieder mit dem Messer arbeiten – einerlei.

»Und noch ein Glas auf das Gedeihen dieser kleinen Härchen im Nacken da –!« Ja, durch ein Sektglas gesehen hat die Welt ein ganz anderes Gesicht.

Dora fand ihn ungeheuer drollig. »Weshalb aber trinken Sie so schrecklich, Feuerwalze?«

Der Hauptmann versicherte, daß er ein Vulkan sei, sozusagen, ein Vulkan, der sich bemühe, seine Temperatur zu halten. Dazu hätten ihn heute diese kleinen Nackenhärchen rasend gemacht – und dieses Ohrläppchen und noch andere Sachen. Und er sei nichts als ein armes Frontschwein, bedauernswert, kaum vierundzwanzig Stunden Zeit –

Plötzlich umschlang er Dora. Sie entfloh.

Schon aber rasselte die Schale, und ein bleicher Arm streckte sich dem Hauptmann entgegen.

»Huh, hier ist er wieder. Ein unheimlicher Geselle.«

»Befehlen Sie, Gnädigste, und wir werden ihn töten. Hinweg mit dir, Sklave!« schrie der Hauptmann mit gutmütigem Lachen.

Aber da begann der Bettelmönch plötzlich zu wachsen – er wuchs, und seine Augen blitzten …

»Bist du es?«

Hedi zupfte den Bettelmönch am Arm. Ihr Herz schlug.

Die blinkenden Augen zwischen den Tuchlappen zogen sich zusammen zu Schlitzen, wie bei einer Eule. Der Bettelmönch wich zurück und verbeugte sich, während er mit der Schale rasselte.

»Bist du es, sprich?«

Schweigen.

»Kennst du meine Stimme?«

Der Bettelmönch schüttelte stumm den Kopf.

»Zeige deine linke Hand!«

Der Bettelmönch zog beide Hände unter die Vermummung zurück und verneigte sich noch demütiger, bis zur Erde. Es war ihm nicht beizukommen.

Eine Dame flüsterte Hedi ins Ohr: »Es ist eine Königliche Hoheit.«

»Wer???«

»Man sagt es.« Scheu wich Hedi zurück.


»Ich bin der Ansicht,« schrie der General in das schmale wächserne Ohr, »nur noch eine einzige, gewaltige Kraftentfaltung des deutschen Volkes, und wir werden den Frieden diktieren.«

Der hohe Würdenträger wiegte den spitzen Kopf.

»Es ist möglich,« unterbrach er den General, »daß diese Anstrengung nicht mehr nötig sein wird. Dies, bitte, ganz unter uns! Ja es ist möglich, daß sie genug haben!« Plötzlich tat der hohe Würdenträger geheimnisvoll. Aber immerhin – er verbrachte seine Tage in allernächster Nähe der allerhöchsten Persönlichkeiten.

»Wie belieben?«

»Möglich, immerhin möglich! Es sind Anzeichen dafür vorhanden. England … Aber bitte, ganz unter uns!« Völlig unvermittelt erhob er sich. »Außerordentlich gefreut, mein lieber Freund – ganz außerordentlich. Sehr interessant – Ihre Ausführungen, sehr interessant. Bitte herzlich, sich ja nicht zu bemühen –.«

Er war ja nur auf einige Minuten hierhergekommen, erstens, um dieser prächtigen Dora die Freude zu machen, zweitens, um seiner Schwester gefällig zu sein, und drittens – nun drittens gab es nicht.

Vorsichtig stieg die steile, kantige Glatze die schmale Treppe hinunter, die noch heute nach Weihrauch roch.

Der hohe Würdenträger kroch in seine schwarzlackierte Limousine und zog eine Pelzmütze über den kahlen Schädel.

»Große Fähigkeiten, ohne Zweifel«, sagte er vor sich hin, indem er sich im Polster zurechtrückte. »Aber weshalb schreien diese Militärs alle so? Er hat mich fast taub geschrien.«

Und er schlief augenblicklich ein, während die Limousine lautlos durch die Finsternis schlich.

 

6

Kaum hatte der hohe Würdenträger die rote Backsteinvilla verlassen, so brauste der Lärm erneut auf. Die hochstehende Persönlichkeit da oben, mit dem General zur Seite, hatte die Ausgelassenheit etwas beeinflußt. Es war peinlich für viele, zu denken, daß ein so hoher Würdenträger sie bei ihren Albernheiten belausche. Schon der General störte, er störte, ohne es zu wissen, und man wünschte, daß er möglichst bald verschwinde.

Es kam auch die neue Kapelle. Zigeuner, die bis dahin in einer Bar gespielt hatten. Es war die beste Kapelle von Berlin, und augenblicklich fühlten es alle Tänzer.

Plötzlich aber ertönte laut und dröhnend ein Gong, und gleich darauf wurde es, bis auf wenige Kerzen, dunkel. Eine kleine, helle Bühne mit einem phosphorgrünen, dunstigen Vorhang im Hintergrund leuchtete. Der Vorhang teilte sich. Eine Hand erschien, ein nackter Arm, eine elfenbeinerne, glänzende Schulter. Eine schlanke Tänzerin trat aus dem Vorhang.

Alle Turbane, Perlenschnüre und Federbüsche sanken plötzlich zur Erde nieder.

Die Tänzerin war ein wunderbares Geschöpf mit einem herrlichen Körper und jungen, kleinen Brüsten. Sie war vollkommen nackt, nur um die Hüften trug sie eine Kette aus blauen Steinen und einen kleinen Schleier, eine Hand breit.

Mit jedem Schritt löste sie sich mehr vom Dunkel los, ganz allmählich tauchte ihr Körper in das Licht. Zuerst nur eine Ahnung von Fleisch und Herrlichkeit, wurde er langsam verwirrende Wirklichkeit.

Wie eine Somnambule schritt die Tänzerin vorwärts, die Augen visionär in die Ferne gerichtet. Sie hatte die Hände, zierliche, transparente Finger, an ihre beiden jungen Brüste gelegt. Nun stand sie still, ohne jede Regung. Dann – bei einer bestimmten musikalischen Phrase – hob sie langsam den linken Fuß und begann sich in der Hüfte zu drehen.

In diesem Augenblick aber hub eine Uhr an zu schlagen. Es war ganz still, so daß das dumpfe, rasselnde Schlagen der Uhr deutlich zu hören war.

»Diese dumme Uhr!« sagte Dora halblaut und ärgerlich.

Die Musik brach ab, die Tänzerin stand, die zierlichen Finger an den Brüsten, regungslos, mit leicht geneigtem Haupte, um das Schlagen der Uhr abzuwarten.


Genau zur gleichen Stunde, an diesem Abend, meldete man Hauptmann v. Dönhoff in dem halbzertrümmerten Keller des Champagne-Dorfes, wo er zurzeit hauste, daß der befohlene Wagen zur Stelle sei. Dieser Wagen sollte den Leichnam seines Adjutanten Kammerer, gefallen auf der Beobachtung, nach rückwärts bringen. Dönhoff hatte den Wagen auf Mitternacht bestellt, weil zu dieser Zeit das feindliche Feuer weniger heftig auf seinem Dorfe lag, das heißt auf dem Schutthaufen, der von dem Dorfe übriggeblieben war. Die Nacht hatte indessen keine Ruhe gebracht. Die Geschütze tobten, und auch die Batterie Dönhoff feuerte, was die Rohre hergaben. Die schweren Schläge der Haubitzen erschütterten unaufhörlich den Keller, in dem die Batterieoffiziere um den Sarg des gefallenen Kameraden versammelt waren. Einschläge knatterten. Eine zusammengestürzte Scheune nebenan hatte einen Treffer bekommen, und der Schutt qualmte, ätzender Rauch drang in das Kellerloch.

Punkt zwölf Uhr wurde der Sarg von einigen Batterieleuten hinausgetragen und auf den Krümperwagen gelegt. Darauf verließen die Offiziere den Keller, um dem gefallenen Kameraden das letzte Geleit zu geben.

Die Luft war lau, erfüllt vom ätzenden Rauch der qualmenden Scheune. Der Himmel wetterleuchtete ohne Pause von dem Gespinst von Blitzen, das von Horizont zu Horizont geisterte. Deutlich waren die umstehenden Kameraden zu erkennen – sogar die Tränen in ihren Augen. Furchtbar tobten die Geschütze, und die Abschüsse der Batterie, die feindliche Zufahrtstraßen unter Sperrfeuer hielt, knallten wie Explosionen. Die Granaten sägten und gurgelten über die Köpfe hinweg in die Nacht hinein.

Gegen Süden zu, hinter der feindlichen Linie, stand ein feuerspeiender Berg. Ein blutroter Glutkegel stieg in den schwarzen Himmel, unheimlich und düster: irgendein Lager war da drüben bei ihnen in Brand geraten. Nur wenn die Haubitzen in der Nähe ihre Feuergarben in die Nacht schleuderten, so glomm der Vulkan für Augenblicke fahler. Ohne Pause zuckten aus der Frontlinie gespenstige Lichtsignale in allen Farben empor. Sie krochen bald niedrig über dem Boden, bald erhoben sie sich wie Raketen und sprühten in der Höhe. Wie die höllischen Leuchtfeuer der Unterwelt sahen sie aus, der die Totenschiffe zusteuern.

Eine Laterne wanderte um den Krümperwagen, die Hinterteile der schweren Batteriepferde glänzten, der Sarg dehnte sich fahl im Wetterleuchten der Abschüsse. Auf dem Bock kauerte ein Schatten, dessem Maul Funken entstoben.

Die wütenden, raschen Schläge seiner Batterie erfüllten Hauptmann Dönhoff mit Genugtuung. Gebt es ihnen tüchtig! Rache für Kammerer! Auch der rotglühende Vulkan im Süden befriedigte ihn.

Erregt suchte der Gegner die Dönhoffsche Batterie zu packen. Ringsum flammten die Einschläge.

»Sie haben Kammerer eine ordentliche Totenfackel angezündet«, sagte er, und seine Stimme war von einem grausamen Triumph erfüllt.

Die Schatten der Offiziere drehten sich gegen Süden. »Ein Depot brennt«, sagte eine Stimme. Unruhig wieherte ein Pferd.

»Kameraden«, schrie plötzlich Dönhoff mit übermäßig lauter und scharfer Stimme. Er wollte möglichst rasch über die Szene hinwegkommen, er wollte seinen Schmerz über den Verlust Kammerers verbergen, mit dem er drei Jahre zusammengelebt hatte.

»Kameraden, Kammerer verläßt uns. Er war ein tüchtiger und prachtvoller Junge. Fahre los! Lebe wohl, Kammerer!«

Dönhoff legte die Hand an die Mütze, und die Offiziere taten das gleiche. Die kleine Laterne kroch über die Räder empor neben den Kutschersitz und beleuchtete den langen, gelben Sarg.

In dieser Sekunde aber –

In diesem Augenblick begann es in der Luft zu sausen, ein hohles, saugendes Rauschen war plötzlich nahe, und im nächsten Augenblick schlug eine blendende Lohe bis zum schwarzen Himmel empor. Dönhoff stürzte, den Arm vor die Augen geschlagen, rückwärts in den Keller hinab. Er hörte den Knall der Explosion nicht mehr.

Verschwunden war der Wagen, der Kutscher, die Pferde und der Sarg. Verschwunden waren die Offiziere, nichts blieb als der kräuselnde, stinkende Qualm über dem Schutthaufen, den die schwere Granate hinterließ. Aber die Haubitzen feuerten noch.


Die Uhr hatte ausgeschlagen.

Die Tänzerin erwachte aus der hypnotischen Starre, in die das Rasseln der Uhr sie versenkt zu haben schien, die Lider hoben sich, und gelbe Funken fuhren aus den Augen. Sie atmete wieder. Ihre zierlichen Finger lösten sich von den jungen Brüsten, sie drehte sich in der Hüfte, hob das linke Bein, knickte plötzlich zusammen, so daß sie mit dem Kinn das Knie des linken Beines berührte – lächelte verzückt – und ihr Elfenbeinkörper blitzte.

Dichtgedrängt glänzten die Augen der Vermummten im Halbdunkel. Eine Schattenkugel mit zwei großen Ohren hob sich für einen Augenblick auf dem hellen Hintergrund gespenstisch ab. Aber rasch duckte Professor Salomon sich wieder auf den Boden.

Der General auf seiner Empore hatte den goldenen Kneifer aufgesetzt.

»Du bist noch schöner!« flüsterte Ströbel in Hedis Ohr, und seine Lippen berührten ihren Nacken. Sie saßen dicht nebeneinander auf dem Boden. »Es ist nicht Liebe – ich belüge dich nicht, wie die andern Männer, aber es ist – Sympathie.«

 

7

Die kleine türkische Witwe in Grau hatte ihre ganze Kundschaft eingebüßt. Alle fanden, daß sie reizend sei – aber tödlich langweilig. Zuletzt hatte sie das Glück gehabt, einen Offizier zu treffen, der die Kampfstaffel Wunderlich kannte – er lag ganz in der Nähe – und ihr versprochen hatte, Heinz Grüße zu bestellen. Das war der einzige Lichtpunkt des Festes. Sonst fand sie es entsetzlich. Entsetzlich diese Frauen, die halbnackt von Arm zu Arm wanderten, entsetzlich diese Männer. Auch Hedi – nun, du bist durchschaut, Hedi, gib dir keine Mühe mehr.

Nun saß die kleine türkische Witwe mutterseelenallein auf dem Diwan im Zeltzimmer, das Gesicht nachdenklich und gelangweilt in die Hände gestützt. Alles würde sie Heinz schreiben, ja, schon begann sie in Gedanken den Brief.

Sie hatte darauf verzichtet – rundweg verzichtet – diese schamlose Person tanzen zu sehen. Sollte man so etwas für möglich halten? Und man sagte, daß sie dreihundert Mark für den Abend bekäme und überall tanze, wo man sie engagiere. Nicht für eine Million würde die kleine graue Witwe, nicht für eine Million würde sie – pfui.

Verlassen stand im Vorzimmer der Heilige, der mit wilder Gebärde das Buch schwang, allein, wie sie. Sie fühlte Mitleid mit ihm und küßte ihm die kalte, grüne Hand.

Das Haus war völlig leer. Selbst die Dienerschaft drängte sich unter den Türen zusammen. Auch Papa – ja, selbst ihr Papa – seht an! Da stand er, mit einem Sektglas in der Hand.

Klara stieg die Treppe empor – aber sofort kehrte sie wieder um. Da oben, bei den Truhen und Schränken stand der Bettelmönch mit seiner Schale, und sie fürchtete sich, ihm allein zu begegnen. Obwohl man sagte, daß es eine Königliche Hoheit sei. Auch er fand gewiß diese Nackttänzerin schamlos.

Drinnen raste der Beifall. Die Musik setzte von neuem ein.

Dora eilte an ihr vorbei die Treppe hinauf.

Es war Zeit, wieder das Kostüm zu wechseln, nicht wahr? Es war auch die beste Gelegenheit, gerade jetzt, wo der Tanz wieder begann.

Rasch rauschte Dora an den Truhen und Schränken vorüber. Da reckte sich ihr aus einer dunkeln Nische die rasselnde Schale entgegen – wieder stand er da und verneigte sich.

Sie schrak zurück. Aber gewiß wollte der demütige Bettelmönch nichts Böses.

Sie waren ganz allein, unten lärmte das Fest.

»Wer bist du?« fragte Dora.

Der Bettelmönch schüttelte den roten Turban.

Dora trat dicht an ihn heran und blickte in seine Augen, die zwischen Vermummung und Turban blendeten. Einen Augenblick lang hatte sie, erschreckend, gedacht, vorhin, er könnte es sein – er, das Gerücht, das kursierte! War es nicht möglich, daß er hierhergekommen war, auf eine Stunde, unerkannt von allen Gästen, unerkannt selbst von ihr, um wiederum unerkannt zu verschwinden. Es war unmöglich – und doch, wunderbar war dieser Gedanke.

Aber die Farbe der Augen stimmte nicht. Dieser Bettelmönch hatte helle Augen.

Plötzlich sagte der Bettelmönch: »Dora.«

Und augenblicklich erkannte ihn Dora an der Stimme.

»Du –?!«

Der Bettelmönch, der den ganzen Abend stumm geblieben war, brach in lautes, heiteres Lachen aus.

»Ja, ich bin es.«

»Und ich habe dich nicht erkannt! Du hast geschrieben – noch heute –«

»Ich wollte dich überraschen!«

Dora zog ihn einige Schritte mit sich, bis zur Türe. »Geliebter –« flüsterte sie.

Die Lappen fielen vom Gesicht des Bettelmönchs, und seine Zähne blitzten.

Plötzlich umschlang er sie mit ungestümer Gewalt.

»Nein, nein –« sagte sie, bat sie. »Sei vorsichtig – der General – er blickt heraus –!«

In der Tat war plötzlich für eine Sekunde das Gesicht des Generals an der kleinen Tapetentür aufgetaucht, die auf die Diele führte. Allerdings nur für eine Sekunde. Er hatte sie wahrscheinlich gar nicht gesehen.

»Laß ihn ruhig!«

Eine Perlenkette zerriß, und die Perlen prasselten auf den Boden. Mit dünnem Knallen sprangen sie die Treppe hinab, eine hinter der anderen.


»Beunruhigung?« Der General zog die Brauen in die Höhe.

»Ja, ich meine, das Volk –«

»Das Volk?« Der General wiegte geringschätzig den Kopf.

»Verzeihung,« antwortete der kleine, elegante Rittmeister mit dem schweißüberströmten Gesicht, »ich meine die Öffentlichkeit. – Ist es gestattet, Euer Exzellenz?«

Der kleine Rittmeister öffnete etwas die Tapetentür, die von der Empore auf die Diele hinausführte. Es war heiß hier oben auf der Empore. Unbegreiflich, daß der General es auszuhalten vermochte. Er mußte Gletscherwasser in den Adern haben. Der kleine Rittmeister – ja, wie hieß er doch gleich? – er gehörte einer der ersten Adelsfamilien des Landes an, hatte die ganze Erde bereist, zurzeit in hervorragender Stellung, mit den höchsten Auszeichnungen und einer blendenden Karriere vor sich – an all das erinnerte sich der General ganz genau, aber der Name, dieser bekannte Name fiel ihm nicht ein – der kleine Rittmeister wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. Er war als Beduine gekleidet, hatte jedoch die Kopfbedeckung in den Nacken zurückgeschlagen. Schon wieder brach ihm der Schweiß aus allen Poren.

»Ich wollte mir nur die Bemerkung erlauben« – fuhr er fort – »es ist nicht zu leugnen, daß in der breiten Öffentlichkeit eine gewisse Beunruhigung Platz gegriffen hat. In der feierlichen Osterbotschaft wurde von Allerhöchster Stelle –«

»Bitte mich nicht mißverstehen zu wollen. Ich wage selbstverständlich nicht, diesen hochherzigen Gnadenakt Seiner Majestät – Sie belieben?«

»Ich bin ganz Ohr, Euer Exzellenz!«

»Ich selbst trete ja für eine Reform des Wahlrechts ein. Und zwar schlage ich ein gestaffeltes Wahlrecht vor. Bis zu dreißig Stimmen –«

»Dreißig Stimmen?« fragte der schweißglänzende Beduine, bemüht, sein Erstaunen zu verbergen.

»Je nach Besitz, Fähigkeit, Verdienst, Rang, Titel, Bildung.«

»Jawohl.«

»Kinderzahl, Alter, Stand, Religion.«

»Jawohl, ich verstehe vollkommen. Zu begrüßen wäre es nur, wenn bald etwas geschähe. In unserer Zentrale laufen ja alle Berichte zusammen. Es bilden sich Gruppen von Unzufriedenen.«

»Unzufriedenen?«

»Mehr als das, es bilden sich Gruppen, die umstürzlerische Tendenzen verfolgen. Erst vor kurzer Zeit ist unser Augenmerk wiederum auf konspiratorische Elemente gelenkt worden.«

Plötzlich unterbrach der General das Gespräch. Sein Blick glitt unruhig durch die Türspalte. Sein Auge wanderte. Soeben hatte er Dora erblickt. Sie glitt an der Türspalte vorüber – kam aber im Augenblick wieder zurück. Und plötzlich trat in der verlassenen Diele jemand zu ihr. Seht an! Eben er, dieser – nun was stellte er vor? – diese Mumie, dieser Unbekannte, den er schon den ganzen Abend beobachtet hatte.

»Natürlich sind es nur einige wirre Köpfe?«

»Natürlich. Aber immerhin, die Erscheinung ist symptomatisch –«

Ohne jedes Wort der Entschuldigung erhob sich hier der General und streckte den Kopf in die Diele hinaus. Dies war der Moment, da Dora den Bettelmönch warnte.

Der Kopf des Generals zog sich augenblicklich zurück, als Dora ihn bemerkte. Er schloß die Tapetentüre.

»Symptomatisch«, wiederholte der schweißglänzende Beduine. »Auffallend ist, daß selbst Angehörige der besten Gesellschaft –«

Zerstreut hörte der General zu. Sein Blick wanderte unruhig durch den Saal.

»Bei dem neuen Fall, auf den ich anspielte,« fuhr der kleine Rittmeister fort, »ist sogar die Tochter eines hohen Offiziers beteiligt. Ihr Vater bekleidet Generalsrang. Es ist mir natürlich nicht möglich, mehr …«

Aber der General schien jegliches Interesse an dem Gespräch mit dem Rittmeister verloren zu haben. Er tupfte sich mit dem Taschentuch Schweißperlen von der Stirn. Dann stand er rasch auf.

»In der Tat,« sagte er stockend, »es ist unerträglich heiß geworden hier oben. Vielleicht belieben Sie mitzukommen?«

Und beide verließen die Empore.

Auf der Treppe aber blieben sie plötzlich erschrocken stehen. Der General taumelte sogar etwas zurück. Feuerschein blendete sie! Der ganze Tanzsaal schien plötzlich in hellen Flammen zu stehen.

Ein dünner Vorhang war in Brand geraten und brannte lichterloh. Auch einige Schleier fingen Feuer, und die Funken flogen. Die Damen schrien auf und stoben auseinander. Der Feuerschein währte indessen nur einige Sekunden. Inmitten der Flammen erschienen plötzlich ein Hauptmann in Uniform und ein dicker, pechschwarzer Neger, die die flammenden Fetzen auf den Boden rissen und zertraten.

Kaum daß die Musik eine Minute gestockt hatte. Das Fest ging weiter. Nur ein dünner Brandgeruch blieb zurück.

Der schweißtriefende Beduine hatte diesen Vorfall benutzt, sich unsichtbar zu machen. Als der General sich suchend nach ihm umblickte, war er verschwunden. Es war dem General nur angenehm.

Mit schlechtverhehlter Unruhe schritt er durch die Räume. Seine Augen forschten. Man nahm in dieser späten Stunde des Festes keinerlei Rücksicht mehr auf ihn. Die Tänzer drängten ihn gegen die Wand. Einmal wurde er dicht neben der Negertrommel festgehalten, die Hauptmann Falk mit aller Kraft bearbeitete.

Professor Salomon stürzte ihm entgegen und berichtete wichtigtuerisch von den Hungerkrawallen in England und dem katastrophalen Mangel an Grubenholz über dem Kanal. Schon weigern sich die Bergleute einzufahren! Nur mit Mühe und Not vermochte er den Kürbis abzuschütteln. Im Erfrischungsraum traf er die Gräfin Heller, und es war nicht zu umgehen, daß er sich mit ihr in ein längeres Gespräch einließ. Wieder und wieder äußerte er seine Freude über das prächtige Aussehen Seiner Exzellenz! Auch im Erfrischungsraume war von Dora nichts zu sehen.

Auch im Zelt nicht. Hier traf er nur eine Anzahl still kosender Paare, die, dicht aneinander geschmiegt, den großen Diwan belagerten, und sich durch ihn nicht im geringsten stören ließen. Angewidert und halb betäubt von der schwülen Luft, die im Zelt herrschte, zog er sich sofort wieder zurück.

Endlich betrat er das bengalisch rotglühende Musikzimmer, Ali Babas Opiumhöhle.

Hier saßen die Vermummten im Kreise auf dem Teppich und klatschten im Takt in die Hände, während sie geheimnisvoll summten und die Köpfe wiegten. In der Mitte des roten Nebels tanzte ein weizenblondes, schlankes Geschöpf, in flimmernde Silberschleier gehüllt, die Brüste völlig frei und die Hüfte zwischen Jäckchen und Pluderhosen gänzlich nackt. Sie tanzte eine Art Bauchtanz, rasend und hingerissen.

Und ah – da war auch Dora! Wieder trug sie ein anderes Kostüm: schwefelgelbe Seide, über die zinnoberrote, schreckliche chinesische Drachen wie Flammen züngelten.

Wo aber war dieser andere hingekommen – diese Mumie mit dem orangeroten Turban?

Weit und breit war von ihm nichts mehr zu sehen.

Unter tosendem Beifallsklatschen sank die weizenblonde Tänzerin, taumelnd vor Erschöpfung, mit einem wilden Schrei zu Boden.

 

8

Rastlos wanderte Dora durch die verlassenen Räume, rastlos hin und her. Zuweilen warf sie sich in einen Sessel – aber schon wieder wanderte sie. Ihr schwefelgelbes Kostüm mit den grellrotzüngelnden Drachen flatterte. Es war über die linke Schulter herabgeglitten. Die blonde Haarfülle, die schmerzte, hatte sie halb gelöst.

Die Fata Morgana war zerflossen – Sand, Sand, Wüste. Durch die Vorhänge graute trüb der Tag.

Zertretene Blumen, abgerissene Schleier, halbgeleerte Gläser, Scherben. Scherben von Worten, Gelächter, Scherben von Musik. Ein paar vereinzelte Lampen brannten noch. Petersen hatte seinen Frack abgelegt und kletterte in seinem Zebrakittel auf eine Leiter, um ein Fenster zu öffnen. Es zog. Zuletzt erschienen die beiden Neger unter der Türe, in Ulstern, Stehkragen, und verneigten sich.

»Hoffentlich war es nicht zu beschwerlich für Sie«, sagte Dora und begleitete die beiden schwarzen Gentlemen in ihrer Zerstreutheit zur Diele. »Vielen Dank!« Und sie drückte ihnen die Hand.

Sie empfand tiefe Sympathie für die beiden schwarzen Gentlemen, aufrichtige – auch sie waren fremd hier, auch sie gehörten in ein Land mit Papageien, Wärme, blauem Himmel und Orchideen – ganz wie sie. Alle drei waren sie Fremde hier.

Ach, wie unglücklich sie war, Dora!

Sie sank auf einen Stuhl, wanderte wieder – das Kleid glitt immer mehr über die Schulter. Damals – Reisen, Feste, Paris, Nizza, Italien – und immer Fröhlichkeit, jeder Tag ein Paradies für sich. Aber es mußte sein, man riß sie los von ihm. Nein, sie liebte auch ihn nicht, um die Wahrheit zu sagen, sie liebte einen andern, früher noch, der das schönste Lächeln der Welt hatte. So – mit diesem Lächeln stand er in ihrer Erinnerung. Aber es war unmöglich. Er war arm, er hatte gar nichts. Unmöglich. Dann hatte sie diesen Lumpen geheiratet – weshalb eigentlich? Weil die Frauen sich um ihn rissen – er betrog sie am ersten Tage schon. Ja, weshalb? Nur um diese Leere zu vergessen, die zurückgeblieben war, als man sie losgerissen hatte.

Dann, eines Tages – welch entsetzlicher Tag – wo sie vis-à-vis de rien stand – buchstäblich – das heißt noch Schulden. Aber es gab Freunde, Gott sei Dank gab es – einen hochherzigen – ja, in Wahrheit hochherzigen Freund, der nicht zögerte, ein Vermögen hinzugeben.

Und – nun – und nun? Oh – entsetzlich!

Dora wanderte. Sie rauchte eine dicke Zigarette und wanderte. Die Jahre flogen, die Sommer wirbelten rückwärts, Sommer um Sommer, Frühling um Frühling. Und diese Welt, diese entsetzliche Welt, die schrecklicher, oder, düsterer und kälter wurde mit jedem Jahr!

Nicht die Welt hatte sich geändert, Dora vergaß es. Sie war seit jener Zeit, da jeder Tag ein Paradies war, um zehn Jahre älter geworden.

Aber sie begriff es nicht.

Und trüb graute der Tag.


Auch da draußen graute der Tag, und immer noch kläfften rasend die Haubitzen der Batterie Dönhoff. Die Kanoniere schossen Vergeltung und sollten sie dabei alle in Fetzen gehen! Grausam und rachsüchtig wühlten sich die Granaten hinein in den Dunst des Morgens. Schon hatte eine Haubitze eine schwere Granate vor das Rohr bekommen, und die Stücke flogen.

Nun erwachte das Feuer an der ganzen Front und rollte mächtig von Horizont zu Horizont.


 << zurück weiter >>