Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Buch

 

1

Der Tag graute, und noch immer schwang der gleißende Lichtgürtel um Berlin.

Vor wenigen Wochen, im Januar, lagen die blendenden Fabrikpaläste der Vorstädte plötzlich einige Nächte lang dunkel da. Die eisernen Tore blieben geschlossen, die Räder standen still, die Kesselfeuer waren erloschen. Hunderttausende von regsamen Händen, wo waren sie? Was war geschehen?

Streik, mit einem Wort. Streik, jetzt, gerade in diesem Augenblick, wo man die Vorbereitungen traf für die letzte große Anstrengung, die den Sieg bringen sollte. Das englische Gold rollte – der General behauptete es – das englische Gold rollte durch die Straßen Berlins, Millionen und abermals Millionen. Scharen von Agenten waren von Albion ausgesandt worden, um die Front der Heimat zu unterminieren. Es wimmelte von Spitzeln und Spionen. Man klebte Zettel an die Häuser, Laufzettel gingen durch die Fabriken – das englische Gold war allmächtig.

Es kam zu Zusammenrottungen – da draußen. Patrouillen streiften durch die Stadt, Schwärme von Berittenen mit Karabinern, Maschinengewehre waren auf den Dachböden aufgestellt, da und dort – sollten sie nur kommen – von da draußen! Halbwüchsige Burschen zogen über die Linden und pfiffen. Aber die Schutzleute stürzten aus den Häusern und ohrfeigten sie.

Straßenbahnwagen wurden umgestürzt. Durch die Stadt fuhren reihenweise Wagen mit eingeworfenen Fensterscheiben. Das englische Gold hatte es weit gebracht.

Die Streikenden sandten einen Ausschuß, um zu unterhandeln. Aber der Minister – plötzlich machte er sein Rückgrat steif – lehnte ab, weigerte sich – bitte recht sehr. Er forderte gesetzlich zulässige Vertreter. Er witterte eine Ungebührlichkeit, etwas, was überhaupt noch nicht dagewesen war, das sich erkeckte, zu rütteln, an den Grundpfosten zu rütteln …

Die Streikenden forderten Brot, und die Regierung versprach.

Die Streikenden forderten – sie deuteten es nur an, aber es ging aus ihrer ungesetzlichen, hochverräterischen Haltung deutlich hervor … Es schien ihnen an der Zeit, nachzudenken. Herzogshüte und Königskronen sollten vergeben werden, da und dort, an alle möglichen Vettern, nun gut, wenn es Vergnügen machte, aber es schien ihnen doch an der Zeit, mit dem Überlegen zu beginnen. Der letzte Kupferkessel war dahin, beschlagnahmt aus der Küche des armen Weibes, die Lokomotiven brachen auf der Strecke zusammen, in den Kasernen exerzierten Knaben und Krüppel. Schließlich war Amerika immerhin eine Macht, mit der man rechnen mußte, auch wenn es nicht imstande war, Flugzeuge zu bauen und, wie man schwarz auf weiß nachgewiesen hatte, unmöglich ein Heer über den Ozean schaffen konnte. Trotzdem. Die deutschen Truppen standen in Finnland, im Kaukasus, in –

Nein, sie sprachen es nicht in klaren Worten aus, aber sie wollten doch ganz bescheiden darauf hinweisen, daß es eigentlich an der Zeit sei –

Aber gerade das, hm, verletzte den Minister. Er witterte –

Endlich nahmen die Generale die Sache in die Hand, und im Handumdrehen war der Streik zu Ende. Man brauchte nur etwas zuzugreifen und sofort ging es. Die Generale waren für individuelle Behandlung. Wer ein Gewehr tragen konnte, wurde in die Schützengräben verbannt, andere wanderten ins Gefängnis und einige ins Irrenhaus. Die eingeschlagenen Fensterscheiben der Straßenbahnwagen wurden durch neue ersetzt – nichts war geschehen. Nichts blieb zurück als ein leises, unterirdisches Grollen, unhörbar für Ohren, die aus Greisenschädeln wuchsen.

Obwohl der Streik nur wenige Tage gedauert hatte, sprach der General die Möglichkeit aus, daß dadurch der Sieg gefährdet sein konnte – konnte, nur eine Möglichkeit …

Das war also im Januar gewesen. Nun aber regten sich wieder Tag und Nacht die ungezählten Hände, zerfressen von dem schlechten Öl, das von den Drehbänken spritzte und die Ölkrätze hervorrief. Die Feenpaläste schwammen wieder strahlend in den Nächten, der Lichtgürtel flammte wieder um die Riesenstadt. Und im grauen Morgen, zur Zeit des Schichtwechsels, rollten wie früher die Züge überfüllt mit Menschen, als sei nichts geschehen. Hunderte von gelben Gesichtern in jedem Abteil, Hunderte von gelben Gesichtern auf den Trittbrettern, auf den Dächern, überall. Und die bleichen, übernächtigen Mädchen, die die Patronen packten, kreischten und schrien.

Auch an diesem grauen Morgen rollten ganz wie sonst zur Zeit des Schichtwechsels die Züge mit den gelben und todbleichen Gesichtern. Hustend und frierend hasteten Kleiderbündel durch die Straßen der Vorstädte, voller Angst, rechtzeitig die Kontrolle der eisernen Tore zu passieren. Der Westen der Stadt lag noch in tiefem Schlaf, die Wächter, die den Schlummer der Reichen bewachten, gähnten.

Auch an diesem Morgen rollte mit der Minute der bekannte Zug nach der Westfront. Eine Leiche sah auf den Bahnsteig, suchte, pfiff sogar etwas – die Leiche – es war Hauptmann Falk.

Wo bleibt denn dieser Knabe? Aber Otto kam nicht, und Hauptmann Falk zog das Fenster hinauf, hüllte sich in den Mantel und schlief augenblicklich ein, bevor der Zug die Station recht verlassen hatte.

Die Feuerwalze war auf der Heimreise. –

Der Tag dampfte über den Kartoffeläckern und Rübenfeldern im Osten von Berlin, und graue Wolken schleppten sich über die Laubenkolonien zwischen den roten und gelben Backsteinmauern der Vorstädte, über die Halden mit Bauschutt, Papierfetzen und verbeulten Eimern. Hinter den grauen Wolken aber kam ein Funke! Der Funke leckte feurig einen Wolkenrand und ein Blitz blendete hervor. Da begannen die gelben und roten Backsteinmauern der Vorstädte zu blühen, die Fensterscheiben funkelten, das Millionenauge der Riesenstadt blitzte. Die Trompeten in den Kasernenhöfen schmetterten, und Tausende von Männern erhoben sich von den elenden Lagern.

Ein Lichtbüschel züngelte mitten durch das Fenster einer Mietskaserne im Nordosten Berlins – einer grauen, mürrischen Mietskaserne, über deren Fassade sich die Riesenaufschrift »Leihhaus« erstreckte – und blendete in ein aufgeschlagenes Buch. Dieses Buch lag auf einem kleinen Tisch dicht am Fenster des armseligen Zimmers. Das Buch flammte, Feuer schlug heraus: es war die Bibel!

Eine Hand hatte Verse angestrichen, und diese Verse brannten unter dem Lichtstrahl:

»Und die Könige auf Erden, und die Obersten, und die Reichen, und die Hauptleute, und die Gewaltigen, und alle Knechte, und alle Freien verbargen sich in den Klüften und Felsen an den Bergen.«

»Und sprachen zu den Bergen und Felsen: Fallet auf uns, und verberget uns vor dem Angesichte des, der auf dem Stuhl sitzt, und vor dem Zorn des Lammes.«

»Denn es ist kommen der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?«

Da glühte das ganze Buch, flammte auf und brannte.

Neben dem Buch stand eine kleine Schreibmaschine veralteten Systems. An der Türe des kleinen Zimmers hing ein großer, weiter, grauer Soldatenmantel.

Nun trat ein junger Mann ins Zimmer, und während er in den Mantel schlüpfte, fielen seine Blicke auf die aufgeschlagene Bibel, die im Lichtstrahl flammte.

»Auch die Apokalypse gibt keine Deutung!« sagte der junge Mann kopfschüttelnd, mit rasenden Augen, und schloß das Buch. Sofort erlosch es, schwieg es, wurde es stumm.

»Diese apokalyptischen Reiter – sie sind Schemen. Das Blut stieg bis an die Zäume der Pferde – er sollte es mit eigenen Augen sehen – die Pferde versinken im Blut!«

Da aber traf der Lichtstrahl ihn mitten ins Herz. Er fuhr zusammen, seine rasenden, dunkeln Augen richteten sich ins Licht und flammten in seinem bleichen Gesicht.

Er sah nicht die Schutthaufen mit den Papierfetzen und rostigen Eimern, nicht die Lauben mit den schwarzen Lumpen auf den Dächern: er sah das Licht, das sich zwischen düsteren Wolkensäumen durchfraß und die Herrschaft über die Dunkelheit an sich riß.

Seine Finger berührten das heilige Buch, zuckten.

» Ich glaube! Ich glaube!« schrie er dem Licht entgegen.

 

2

Auch der alte Portier, der Veteran von 70, war schon wieder auf seinem Posten. Zuweilen trat er aus der Loge und spuckte aus. Und da – ist es zu glauben? – da war auch schon wieder jener Aufdringliche, jener kleine, ältere Herr. Er zog den steifen Hut.

»Seht an – Sie? Schon wieder?« begrüßte ihn der Portier unfreundlich. Und vorwurfsvoll fuhr er fort: »Sie haben mich in eine hübsche Lage gebracht, das muß ich sagen!«

»Hübsche Lage –? Um Gottes willen –?«

»Ja, eine hübsche Lage, Herr – Herbst, nicht wahr?«

»Jawohl, Herbst.«

»Etwas war offenbar nicht in Ordnung mit Ihrem Brief, Herr Herbst!«

»Nicht in Ordnung –?«

»Nein. Seine Exzellenz – Sie haben doch gutes Papier genommen? Jedenfalls haben Seine Exzellenz –« Der Portier in seinem im Laufe der Kriegsjahre etwas schäbig gewordenen Mantel brach ab, öffnete die Glastüre der Loge und verbeugte sich. »Guten Morgen, Herr Oberst!« Säbel rasselten, ordenglitzernde Brüste schwebten am Glasfenster vorüber, Lackstiefel, rote Streifen, Pelzkragen. Die Soldaten und Schreiber huschten die Granittreppen hinauf. Der Dienst begann wieder, dieselbe Sache, wie seit Jahren.

»Jedenfalls war etwas mit Ihrem Brief nicht in Ordnung. Seine Exzellenz waren – hm – ungehalten.«

»Sie selbst haben mich doch ermutigt.«

»Höflich und richtig abgefaßt. Ich habe gesagt, versuchen Sie es. Reichen Sie ein Gesuch um eine Audienz ein. Haben Sie gehorsamst geschrieben?«

»Ja, gehorsamst habe ich geschrieben.«

»Der Umschlag, ich sagte Ihnen ja gleich, ein weißer wäre besser gewesen. Diese hohen Herren haben ihre Eigenheiten. Sie sehen auf Kleinigkeiten, wenn zum Beispiel auch nur ein ganz kleiner Schmutzfleck da ist – Guten Morgen, Herr Major, Herr Rittmeister! – Es ging ja noch gut ab, aber es hätte leicht ein Donnerwetter setzen können, schon fürchtete ich einen Blick zu bekommen, ja, wissen Sie, einen Blick –! Und nun ist heute nacht diese Sache passiert – wissen Sie – diese Sache –«

»Welche Sache?«

»Nun, der Sohn Seiner Exzellenz – der Herr Oberleutnant,« die Stimme des Portiers sank zu einem Flüstern herab, »er hat Malheur gehabt mit dem Revolver, beim Packen. Der Revolver hat sich geklemmt, und schon ging also der Schuß los – in die Hand.«

»Ist es möglich?«

»Nun können Sie sich vorstellen, was für eine Aufregung das hier im Hause ist! Der Adjutant war schon hier und gab mir einen Wink. Denn sehen Sie, wenn Exzellenz schlecht gelaunt sind, dann ist nicht zu spaßen mit Exzellenz. Für gewöhnlich sind Exzellenz ja ganz umgänglich – freundlich sogar … Aber« – plötzlich musterte der Portier seinen Besuch – »hören Sie – Sie sind ja ganz naß, völlig durchnäßt?«

»Ich bin in den Regen gekommen.«

»In den Regen? Und wie Sie aussehen, Herr! Als ob Sie auch nicht ein Auge zugetan hätten?«

»Wie ich Ihnen schon sagte, ich bin zuweilen vollkommen schlaflos –«

Der alte Portier, mit den weißen Haarsträhnen, den kleinen Medaillen aus Kupfer und Blech auf der Brust des zu weiten Mantels, schüttelte den Kopf – kritisch, mißbilligend. Hier in seiner Loge –

Der Havelock, das heißt der Herr mit dem Havelock, Herr Herbst, machte allerdings einen jämmerlichen Eindruck. Sein rostbrauner Havelock, der viel zu lang war und bis an die schmutzigen Stiefel reichte, war zerknittert und dunkel vor Nässe. Der schwarze steife Hut, der bis an die abstehenden Ohren fiel, war glänzend schwarz vom Regen, das Band, das die Krempe säumte, einfach vollgesogen mit Wasser. Sein Gesicht war keineswegs stahlblau, sondern gelblich bleich, von ungesunder Färbung, mit merkwürdigen gelben Flecken, klein, hohlwangig und von tiefen Furchen zergraben. Öffnete er den kleinen, faltigen Mund mit dem weißgrauen Stoppelbärtchen, so wurden gelbe Zahnstumpen sichtbar – und seine Glatze zog bis ins Genick, nur einige Härchen, grauweiß gekräuselt, deuteten noch den Haarkranz an – und diese großen, abstehenden Ohren! Seine wasserhellen Augen waren entzündet und tränten, sie schwammen fortwährend in Wasser. Es war ein Mensch, der nichts auf sein Äußeres gab – sich vernachlässigte, schlaflos, krank offenbar – sein Sohn – der alte Portier fühlte plötzlich Mitleid, obschon es ihm peinlich war, daß dieses durchnäßte Herrchen sich in seiner Loge befand. Wenn jemand hereinkäme, nicht ein Schreiber, vor ihnen hatte er keine Angst, aber, nehmen wir an, ein Offizier?

»Und, sagen Sie – lieber Herr – was wollen Sie nur wieder, schon so früh –?« fragte er, plötzlich aufs äußerste erstaunt.

»Ich wollte –« hier errötete Herr Herbst und wurde sehr unruhig – »nun, ich wollte doch nachsehen, ob keine Antwort –?«

»Antwort –?«

»Der General sollte Ihnen Bescheid geben, wann die Audienz –?«

Der Portier schlug erschrocken die Hände über dem Kopf zusammen. »Also auch mich ziehen Sie mit hinein – mich?«

»Es schien mir das Einfachste –«

»Das Einfachste – und Exzellenz werden nun denken –!« Und wieder schlug der Portier außer sich die Hände über dem Kopf zusammen.

Herr Herbst fühlte nur zu deutlich, daß seine Position hoffnungslos verloren war. Hastig fuhr er mit der kleinen, schmutzigen Hand in den zerknitterten Havelock und zog ein Zigarrenetui aus der Rocktasche, ein großes Etui aus Aluminium.

»Ich bitte«, stotterte er.

»Nun kommen Sie mir wieder mit Ihren Zigarren.«

»Nehmen Sie ruhig, mein verehrter Herr!«

»Ich will Sie nicht berauben. Heutigentags ist eine Zigarre eine Kostbarkeit. Danke. Also – keine Adresse, Sie Unglückseliger –?«

»Nein. Ich wußte auch nicht recht welche – ja, wie sollte ich es machen – ich habe – zwei Wohnungen.«

»Zwei Wohnungen haben Sie?«

»Ja, zwei. Ich weiß nicht, wo ich eigentlich wohne.«

»Zwei Wohnungen, und er weiß nicht – ja, eigentümlich – ein eigentümlicher Herr sind Sie –«

»Es kommt alles daher – alles daher –« stotterte Herr Herbst zu seiner Entschuldigung.

In diesem Augenblick klappte draußen ein Wagenschlag. Es war fünf Minuten nach neun Uhr. Der Portier schrak zusammen und warf einen raschen Blick durch das Guckfenster.

»Seine Exzellenz! Seine Exzellenz!« rief er in höchster Aufregung aus. »Exzellenz darf Sie hier nicht sehen. Um Gottes willen – daß Sie mir nicht durch die Türe blicken!«

Und schon stürzte der Portier zitternd hinaus, um dem General seinen Bückling zu machen.

Der Mann im Havelock floh erschrocken in die Ecke der Loge. Sein Herz schlug vor unbeschreiblicher Angst. Er preßte das Zigarrenetui aus Aluminium vor die Brust. Er stellte sich mit dem Gesicht gegen die Wand – dann aber zwang ihn eine Macht, gegen die es keinen Widerstand gab, langsam, ganz langsam den Kopf zu drehen und durch die Glastüre zu lugen.

Soeben ging der General an der Loge vorüber. In Gedanken versunken, wie gewöhnlich, stieg er die Granittreppe hinauf.


»Gott sei Dank, Exzellenz hat Sie nicht bemerkt!«

Aufatmend trat der Portier in die Loge zurück. »Und gar nicht schlecht gelaunt, ja, sonderbar. Wer soll sich bei diesen hohen Herren auskennen? Er sagte, sogar: ‚Guten Morgen, Heinecke‘.«

Der Havelock wagte sich wieder aus seiner Ecke hervor. Seine tränenden Augen forschten in dem alten Frauengesicht des Portiers. »Und –?«

»Was meinen Sie – und?«

»Kein Bescheid?«

Der Portier schlug verzweifelt die Hände zusammen.

»Sie glauben also, mein lieber Herr, Exzellenz hat an nichts anderes zu denken als an Ihr Gesuch«, rief er ärgerlich. »Um fünf Uhr haben Sie das Gesuch abgegeben! Um acht Uhr waren Sie schon wieder da! Kaum beginnt der Tag, so kommen Sie – ich bitte Sie, mein verehrter Herr –!«

»Verzeihen Sie –«

»Exzellenz hat natürlich den Kopf vollgestopft mit allen möglichen Dingen. Exzellenz hat dreihundert Leute unter sich, verstehen Sie, was das heißt? Offiziere und Beamte und Mannschaften – dreihundert. Da gibt es Befehle und Schreibereien – täglich kommen über hundert Telegramme – jeden Augenblick ruft die Oberste Heeresleitung an – na und so zu – und da glauben Sie –! Ich muß offen mit Ihnen reden. Sie sind nie Soldat gewesen?«

»Nein.«

»Nun, da haben wir’s. Dann können Sie freilich nicht wissen, wie es zugeht. Keine ruhige Minute. Seit vierzig Jahren mache ich das mit.«

»Sie selbst haben doch –«

»Ja, leider Gottes habe ich – aber bedenken Sie doch, was Sie verlangen! Eine Audienz! Hunderte warten darauf – wochenlang! Ich muß nun offen mit Ihnen reden. Gestern schreiben Sie und heute glauben Sie schon – Ein General! Bedenken Sie – und wer sind Sie? – Ich will Ihnen nicht zu nahe treten – aber wer sind Sie – oder ich –? Vielleicht wird Exzellenz überhaupt nicht antworten.«

»Überhaupt nicht –?!« rief der Mann im Havelock voller Schrecken aus und hob die Hände.

»Möglich, weshalb nicht? Ich spreche nun ganz offen mit Ihnen.«

»Aber mein Sohn – es handelt sich ja –«

»Möglich – alles möglich – Sie sind weltfremd, mein Herr, kennen das Leben nicht. Aus der Provinz –«

Herr Herbst nahm den Hut. Niedergeschlagen wandte er sich zur Türe: »Nun, dann werde ich ein neues Gesuch schreiben!« sagte er entschlossen.

»Um Gottes willen!«

»Wenn er aber auch darauf nicht antwortet – wissen Sie, was ich dann tue –?« Herr Herbst versank in Nachdenken.

»Nun, nun – wer sollte es für möglich halten –?«

Offenbar fand der Havelock aber keine Lösung.

»Nun jedenfalls ein neues Gesuch – ja ja – morgen schon! Ich kann doch wohl verlangen – Als Vater habe ich doch ein Recht – ein Recht –«

Der Portier brach in ein heiseres Altmännerlachen aus und hustete. »Ein Recht! Ein Recht!« schrie er.

»Weshalb nicht, als Vater?« fragte Herr Herbst, schon wieder ganz zaghaft und entmutigt.

»Hahahaha – ehek, ehek!«

Der Mann mit dem Havelock war verschwunden. Als der Portier sich ausgespuckt hatte, war weit und breit von ihm keine Spur mehr zu sehen.

 

3

Langsam wandelte der General den endlosen Korridor entlang. Diesen Korridor liebte er, und so oft er ihn entlang ging, empfand er ein sonderbares Behagen, obschon dieser Korridor genau so häßlich, kahl und übelriechend war wie alle Korridore des riesigen Amtsgebäudes. Aber in etwas unterschied er sich von den andern Korridoren: er vibrierte unaufhörlich von den Maschinen, die im Erdgeschoß arbeiteten. Sie erfüllten den kahlen Gang mit ihrer Energie.

Wie täglich, wie stündlich, blieben die Ordonnanzen und Schreiber gegen die Wand gedrückt stehen, sobald der General in ihre Nähe kam. Sie wandten den Blick nicht von seiner verschlossenen Miene, bis er vorüber war. Und selbst dann blickten sie ihm noch eine geraume Weile nach. Jetzt erst setzten sie sich, den Kopf ruckweise zurechtdrehend, wieder in Bewegung. Die Offiziere, die das Unglück hatten, zufällig über den Korridor zu gehen, blieben stehen und machten ihre respektvolle Verbeugung. Und der General hob den Finger an den Mützenrand, wie täglich, wie stündlich, ohne die Menschen, die vor ihm zurückwichen, anzusehen. Sein Blick war zu Boden gerichtet, auf die Steinfliesen, die abgeschliffen waren von den genagelten Soldatenstiefeln. Es sah aus, als ob die ganze Last der Kriegführung auf seinen Schultern ruhte.

Unter den Steinfliesen arbeiteten die Druckereien. Tag und Nacht schleuderten die Rotationsmaschinen Stöße von Kartenblättern heraus, die, zu großen, nach Leim und frischer Farbe riechenden Stapeln gehäuft, nach und nach sämtliche Korridore des weiten Gebäudes überschwemmten. Es waren Karten von allen denkbaren und undenkbaren Ländern, vom Eismeer bis zum Äquator – soweit die scharfen Augen der Generale blickten.

Aus diesen Kartenstapeln strömten Inspirationen. So sah der General in diesem Augenblick, ohne jede bewußte Ideenverbindung, deutlich den Peipussee vor sich und die strategische Grenzlinie Deutschlands im Osten, die schon sein großer Lehrmeister Moltke gezogen hatte. – Übrigens, kurios, der Portier, dieser alte Veteran, er sah dem alternden Moltke etwas ähnlich, natürlich nur ganz entfernt, soweit ein aus dem Unteroffizierstande hervorgegangener Beamter überhaupt einem Heerführer ähnlich sehen kann. – Diese Linie, ja, und im Norden mußte ein erstarktes Finnland, fest an Deutschland geknüpft, der Verbündete werden: mit der Pistole an der Schläfe mußte Rußland in den Frieden hineingehen.

Ein Glück nur, daß dieses elende Diplomatenmachwerk von Brest-Litowsk nur ein Provisorium war …

Plötzlich wurde die strategische Ostlinie, die scharf wie der Schnitt eines Rasiermessers vom Peipussee südlich führte, durch irgendetwas gestört. Was war es doch? Ein weiter, grauer Soldatenmantel flatterte durch sie hindurch!

Da war er also wieder, seht an …

Seit Wochen schon war ihm dieser Mantel aufgefallen, und zwar nur, weil er so merkwürdig flatterte, wie kein Mantel sonst. Obschon er immer nur – ein sonderbarer Zufall – einen Zipfel dieses Mantels verschwinden sah, konnte er doch feststellen, daß es der Mantel eines gemeinen Soldaten war, der nachlässig, unsoldatisch, mit einem Wort vorschriftswidrig getragen wurde. In besonderen Stimmungen hatte er in dem Flattern dieses Mantels sogar etwas Herausforderndes erblickt – eines jener Symptome des Abbröckelns der Disziplin, gegen das er in ungezählten Tagesbefehlen ankämpfte – schon an der Front, was ihm von gewissen Seiten wieder übel vermerkt wurde.

Diesmal aber lief ihm der Mantel direkt in die Hände, er konnte ihm nicht entgehen.

Der Soldat kam näher, und nun, da er den Schritt verlangsamte, sah der General, daß er das eine Bein etwas nachschleppte. Der weite Mantel stand an der Wand still, wie alles, was sich hier bewegte, wenn der General in Sicht kam.

Der General sah einen einfachen Soldaten von etwa fünfundzwanzig Jahren vor sich stehen, mittelgroß, breitschulterig, mit schlichten, für sein Alter auffallend ernsten Zügen. Was dem General aber besonders an dem Gesicht auffiel, das waren die Augen. Sie waren braun und außerordentlich sanft. Es waren die sanftesten Männeraugen, die der General jemals gesehen hatte. Und der ganze Bursche, bleich und schlecht genährt, wie die meisten Ordonnanzen und Schreiber, die sich im Amtsgebäude herumtrieben, der ganze Bursche machte einen ebenso sanften und versöhnlichen Eindruck. Nur seine schwarzen Haare waren etwas zu lang und standen unter der Mütze vor. Die Haltung dieses Mannes war ohne jeden Tadel. Indessen, es lag etwas in dem Ausdruck seines Gesichts – ja, wie soll man sagen? In den warmen, braunen Augen schimmerte – oder täuschte er sich – ein unmerkliches Lächeln, und dieses unmerkliche Lächeln lag trotz dem Ernst auch auf dem etwas bleichen Gesicht.

Der General betrachtete das Gesicht in aller Ruhe – so wie man eine Schnitzerei betrachtet. Aber dieser Mann kam nicht in Verlegenheit, wurde nicht unsicher, der Ausdruck seiner Augen änderte sich nicht, seine Lider bewegten sich nicht rascher. Er blieb gleichmäßig ruhig und gleichgültig.

Dieser Mann hatte offenbar keine Angst, von einem hohen Vorgesetzten gemustert zu werden, ruhig erwiderte sein Blick den des Generals – keine Angst, nicht die geringste.

Hm!

Übrigens hatte der General dieses Gesicht schon irgendwo und irgendwann gesehen, obgleich er sicher war, ihm nie im Leben begegnet zu sein. Es war ein Gesicht, wie man es auf alten Bildern sah – ein Gesicht aus vergangenen Epochen sozusagen. Auf alten Gemälden und Stichen, von Mönchen, Poeten und sonstigen Schwärmern.

Nun stieg eine leichte Röte unter der blassen Haut des Gesichts empor.

Rasch wie Hammerschläge fielen Fragen und Antworten:

»Wie heißen Sie?« – »Ackermann.«

»Was sind Sie?« – »Hilfsschreiber!«

»Zivilberuf?« – »Student!«

»Wo verwundet?« – »An der Somme!«

Unvermittelt nahm die Stimme des Generals einen strengen Ton an.

»Wenn Sie auch Student sind, so können Sie doch Ihren Mantel vorschriftsmäßig zuknöpfen!«

Die Hände des Soldaten fuhren nach den Mantelknöpfen.

»Nachher, mein Sohn«, sagte der General wieder milder und ging.

Schon verschwand er in der grüngepolsterten Doppeltüre.


Etwas unsicher machte Hauptmann Weißbach, der Adjutant, seine Meldung. Ottos verletzte Hand war soeben geröntgt worden. In wenigen Wochen dürfte Otto wieder völlig hergestellt sein.

»Also, der Arzt befürchtet nicht, daß seine Karriere dadurch beeinflußt werden könnte?«

Weißbach erblickte seinen Gebieter durch eine Art Nebel in Überlebensgröße. Er hatte die Empfindung, Wolken von Alkohol auszuströmen. Wenn man ihm mit einem Streichholz zu nahe kam – um Gottes willen, seien Sie vorsichtig! – so würde er lichterloh in Flammen stehen, augenblicklich – diese etwas peinliche Empfindung hatte der Adjutant. Ganz abgesehen davon konnte jeden Augenblick der Parkettboden unter seinen Füßen einbrechen und er im Keller landen, bei den Rotationsmaschinen, die Tag und Nacht Karten aller Herren Länder ausspien.

Vor knapp einer halben Stunde war er von Ströbel gekommen. Ströbels Herrenabende – die Saharet zählte gar nicht – pflegten sich stets bis zum Morgen auszudehnen. Punkt acht Uhr wurde die letzte Bank abgezogen. Dann badete man, rasierte sich und frühstückte. Herrlichen Mokka gab es bei Ströbel, Brötchen mit Butter – einfach alles. Zuletzt noch einen Kognak – und dann los! Ottos Unfall war telephonisch gemeldet worden. Augenblicklich hatte Weißbach, so wie es sich für einen Adjutanten gehörte, seine »Maßnahmen ergriffen«. Alles telephonisch. Er wollte ins Lazarett fahren, sobald eine Minute Zeit war. Er wußte, was man von ihm forderte –

Der General befahl mit Ottos Regimentskommandeur im Felde verbunden zu werden – und dann: wenn Anmeldungen vorliegen?

»Der Herr von der Presse.«

»Ich bitte!« Die Verblüffung warf Weißbach nahezu zu Boden.

Seit einer Woche bereits antichambrierte dieser Herr von der Presse, und Weißbach wagte kaum noch, ihn zu melden. Der General verachtete alles, was mit diesem Gewerbe zu tun hatte – all diese entgleisten Studenten, Gelehrten und Schriftsteller, die die Anmaßung besaßen, die öffentliche Meinung machen zu wollen.

Die hohen Bogenfenster spiegelten sich im gewichsten Parkett, der breite Goldrahmen des großen Kaiserbildes an der Wand glänzte. Sonst war der Arbeitssaal Leere und Kahlheit, bewohnt einzig und allein von Seiner Majestät, mit dem Marschallstab und der von Orden, Kreuzen, Sternen, Tressen und Schnüren funkelnden Brust.

Von tiefem, feierlichem Blau waren die langen, schmalen Vorhänge an den hohen Bogenfenstern, silbergrau die Wände – zuweilen wichen sie zurück, wenn der General arbeitete – in weite Fernen, und es schien ihm dann, als säße er in einem endlosen Nebel.

Der General heftete den Blick auf das Kaiserbild – täglich tauschte er Blicke mit seinem obersten Herrn. Aber die Augen des Soldaten im weiten Mantel erschienen vor seinen Blicken: sonderbare Augen, in der Tat – genau wie auf den alten Ölgemälden –

Schon trat der Herr von der Presse ein – mit einem feierlichen Bückling, bis zum Parkett. Ein warmer Unterton in der Stimme des Generals ermutigte ihn näher zu treten.

Weißbach unterbrach die Unterhaltung.

»Das Regiment«, meldete er. »Befehlen Herr General das Gespräch hier hereinzulegen?«

»Ich bitte – es wird wohl nicht stören?« Der Herr von der Presse wußte das außergewöhnliche Vertrauen zu schätzen.

Und der General begann in das Telephon zu schreien: »– schon unterrichtet – jawohl – eine Abschiedsfeier, Herr Oberst, die bis morgens um sechs Uhr dauerte –« Und nun lauschte der General und verbeugte sich am Telephon. Der Regimentskommandeur drückte die Hoffnung aus, seinen tapfersten Offizier bald wiederzusehen. Er sagte ausdrücklich: tapfersten – hier verbeugte sich der General – und wieder heulte der General in das Telephon. »Stimmung ausgezeichnet, sagen Sie – prächtige Laune – Zuversicht – es wird ja wohl bald wieder vorwärtsgehen –« und wieder lachte der General in das Telephon.

»Sie verzeihen die Unterbrechung. Meinem Sohn ist ein kleines Malheur zugestoßen. Beim Einpacken, er sollte heute zum Regiment zurück, klemmt sich der Revolver, und plötzlich geht er los –«

Auf den Zügen des Pressevertreters malten sich äußerster Schrecken und tiefste Anteilnahme.

Untadelig glänzte das Wappenschild der Hecht-Babenberg durch die Jahrhunderte. Gerade dieses Wappenschildes wegen deckte der General seinen Sohn mit dem eigenen Leibe. Wenn man auch voraussetzen sollte, daß vor dem Namen Hecht-Babenberg die Zungen unverantwortlicher Schwätzer verstummten, so wimmelte dieses Berlin doch von Neidern und Verleumdern – er selbst konnte ja ein Lied davon singen – denen selbst das fleckenlose Wappenschild der Hecht-Babenberg nicht heilig sein würde …

Der Dienst verschlang die Zeit, und im Augenblick war es Mittag geworden. Punkt ein Uhr raste die graue Limousine davon, um erst vor Stifters Diele, Unter den Linden, anzuhalten.

 

4

Der General frühstückte jeden Tag in Stifters Diele. Ruth war zur Mittagszeit in ihrer Küche beschäftigt, und allein in dem kahlen Speisezimmer zu Hause sitzen –? Nein. Es war am Tage noch ungemütlicher als am Abend – und totenstill.

In Stifters Diele waren wenigstens Menschen und etwas Lärm, gerade so viel, wie Leute mit guter Kinderstube ihn beim Dinieren erzeugen, ein beruhigender, wohltuender Lärm. Silber klirrte.

Hier, in seiner Nische hinter den Stechpalmen, fühlte der General sich geborgen vor den Zudringlichkeiten der Welt. Zuweilen nur drang irgendein neugieriger Blick durch die Stechpalmen, um sich sofort wieder ehrfurchtsvoll zurückzuziehen.

Stifters Diele war nicht ein gewöhnliches Restaurant, sondern eine Speisekapelle: farbige Kirchenfenster, Dämmerung, gedämpfte Lichter und dicke Teppiche. Das Speisen hatte hier die Form eines religiösen Kults angenommen. Die Kellner murmelten feierlich wie Priester, die die Beichte abhören.

Zwischen dem Etablissement und den Gästen bestand eine stillschweigende Verabredung: das Etablissement versprach, seine Gäste gesund und wohlgenährt durch den Krieg zu bringen, wogegen die Gäste sich verpflichteten, zu schweigen und zu zahlen. Es verkehrten fast ausschließlich Stammgäste in Stifters Diele. Zumeist hohe Würdenträger, die neue Energien für den anstrengenden Dienst zu gewinnen suchten, und Junker, die von ihren großen Gütern nach Berlin kamen und die Küche der Diele kannten. Manchmal verirrten sich auch zweifelhafte Elemente hier herein – aber sofort kam der Oberkellner, leider alles bestellt, die Herrschaften –

Wie eine Orgel summte die tiefe Stimme des Oberkellners. Näher als irgendein anderer Sterblicher es hätte wagen dürfen, rückte er dem roten Ohr des Generals.

»Bouillon mit Mark oder Klößchen, Exzellenz? – Mit Klößchen, sehr wohl.«

»Hühnerpastetchen, Exzellenz? Heute ist fleischloser Tag, aber – nur für unsere Stammgäste natürlich – Chateaubriand – Es ist auch etwas Kaviar eingetroffen. Ich darf eine Portion servieren, ohne den Preis zu nennen?«

Der General setzte den goldenen Kneifer auf und blickte den Befrackten an. »Sie sagten –?«

»Ja, über Finnland. Der russische Friede macht sich schon geltend. Haben Exzellenz übrigens die Flagge auf der russischen Botschaft gesehen? Nein? Zum erstenmal heute aufgezogen. Etwas Pudding oder Camembert?«

»Camembert!«

»Sehr wohl, Exzellenz. – Den Wein habe ich schon bereitgestellt. Sehr wohl.«

Jeden Mittag pflegte der General eine halbe Flasche Sekt zum Frühstück zu trinken. Zuweilen aber nippte er nur am Glase, es hing ganz von seinem Befinden ab.

Die Leberklößchen, die auf der Zunge zerschmolzen, die Geflügelpastete mit eingehackten Champignons und würzigen Kräutern, das Chateaubriand auf englische Art, der Kaviar – ein Erlebnis sozusagen nach langen Jahren – neue Kraft erfüllte die Nerven, die Unglücksgeschichte Ottos, die Plackereien des Dienstes versanken. Nichts blieb, gar nichts, es war ein herrlicher Zustand des Schwebens im Nichts. Nur das Gegenüber störte die vollkommene Harmonie. Vielleicht würde er doch noch den Platz wechseln?

Gegenüber saßen zwei Rittmeister. Mit ihren glattgeschorenen, runden Schädeln, voller Höcker und Knollen, ihren gedunsenen Gesichtern, ihren rosigen Fettnacken, waren sie die typischen »Etappenschweine«, die nie eine Kugel pfeifen hörten. Nichts aber haßte der General mehr als alles, was Etappe hieß. Dabei trugen sie ellenlange Ordensschnallen auf der Brust. Sie schämten sich nicht einmal, den Halbmond zu tragen, obwohl sie nie die Türkei gesehen hatten, einen Orden, den selbst der General nicht besaß. Immer tuschelten sie, immer kicherten sie, immer gossen sie die Gläser voll – und goldene Armreife wurden an ihren haarigen Handgelenken sichtbar. Sie pflegten dem General ihre Achtung auszudrücken, ohne irgendwelche Übertriebenheit: es waren Leute der gleichen Gesellschaftsklasse. Der General verachtete sie aus tiefster Seele.

Schon aber stand der Oberkellner mit einer strahlenden Kerze vor ihm: »Eine Zigarre, Exzellenz?«

Gott sei Dank, die beiden Burschen gingen.

Der General legte sich behaglich in den Sessel zurück.

»Aber das Pferdematerial?« fragte eine skeptische Stimme in seinem Ohr. Tag und Nacht war er mit den Problemen des Krieges beschäftigt. »Ob die Pferde noch den Anstrengungen einer Offensive gewachsen sein werden –?«

»Die Pferde sind ausgeruht – gut gefüttert und gepflegt«, antwortete eine zweite, zuversichtliche Stimme.

Wieder war Ruhe, wieder herrliches Schweben im Nichts. Der General verschwand im Rauch der Havanna.

Heute abend würde er bei Dora speisen. Es war Freitag. Dienstags und Freitags pflegte der General, wie schon erwähnt, bei Frau v. Dönhoff zu Abend zu essen.

Plötzlich aber erhellte ein Gedanke die Augen des Generals. Sie erweiterten sich, blinkten hell aus der Dämmerung der Speisekapelle. Kalt, wach, nachdenklich. Der Gedanke hatte sie ganz erfüllt.

» Wo war Ruth?« fragte er, und die Augen wuchsen.

Dann schlossen sie sich zur Hälfte, nur noch ein Spalt war sichtbar, ein Spalt funkelnden Eises.

Und diese unverständliche Bemerkung in dem Brief des kleinen Mannes mit dem blaugefrorenen Gesicht –?

Bekam sie nicht plötzlich eine merkwürdige Bedeutung?


»Wie? Wie? Was!« rief der General aus, als er den Fuß vor Stifters Diele setzte. Er wankte.

»Wie? Wie!«

»Ist es möglich?«

»Sind die Leute denn wirklich verrückt geworden?«

In der Tat, deutlich spürte er das Schwanken des Bodens unter den Füßen.

»War so etwas möglich? In Berlin?«

»Unter den Linden?«

Die Röte flog in sein Gesicht.

Gegenüber, auf dem Dache gegenüber, wehte im frischen Wind, lustig, wie die selbstverständlichste Sache der Welt, hoch oben – eine blutrote, blutrot leuchtende Flagge!

Alle Blicke zog sie auf sich. Man stelle sich vor: eine rote Flagge in einer Stadt, wo selbst eine rote Krawatte eine lebensgefährliche Herausforderung ist, wo die rote Farbe, wenn sie allein auftritt, einfach verpönt ist, wo die Säbel der Polizisten jeden automatisch zerfleischten, der es wagen würde, ein rotes Taschentuch zu schwingen, um sich damit die Nase zu putzen. Und hier – ohne weiteres – wie die natürlichste Sache der Welt – eine rote Flagge, eine rotleuchtende Standarte, gehißt an einem richtigen Flaggenmast, auf einem Dache! Die Spaziergänger bogen die Hälse, versteinerten, trauten ihren Augen nicht, zwinkerten –

Weithin leuchtete die rote Flagge und verkündete den Sieg des russischen Volkes über den Herrn der Galgen, siebenschwänzigen Katzen und Bleibergwerke – über das endlose Häusermeer von Berlin strahlte sie, funkelte sie.

»Sind sie denn da drüben gänzlich verrückt geworden?« Er meinte die Wilhelmstraße.

Und der General versank in düsteres Nachdenken, während der Wagen die Linden hinabschoß.

Diese Flagge – getränkt mit dem Blute gekrönter Häupter und hoher Würdenträger …

Schamlos.

Zuweilen war es ihm, als höre er über sich ein Knistern, ein Splittern –

 

5

»Ich glaube!«

»Ich glaube an den Menschen!«

»Ich glaube an die Güte des Menschen und seine Reinheit! Ich glaube an seine heilige Bestimmung und seine göttliche Seele! Ich glaube an die Brüderlichkeit, die Kameradschaft, an die allerlösende Menschenliebe! Dies ist mein Bekenntnis, großer Gott über der Finsternis!«

Mit der ganzen Inbrunst seiner fünfundzwanzig Jahre schrie Ackermann, der Soldat, dies Bekenntnis vor sich hin. Soeben flog die bekannte graue Limousine an ihm vorüber.

»Ich glaube –!« Die Glocke eines elektrischen Wagens gellte, und er sprang mit einem Satz zur Seite. Um ein Haar wäre er überfahren worden. Sein weiter, grauer Mantel flatterte dem Brandenburger Tor zu. Mit großen, raschen Schritten, wie gewöhnlich, ging er dahin. Er gestikulierte heftig, und seine rasenden, dunkeln Augen glühten in dem fahlen, mageren Gesicht.

»Ich glaube an die Brüderlichkeit zwischen den Völkern, die sich heute zerfleischen! Ich glaube an den Tag, da man die Kanonen und Schlachtschiffe zertrümmern, die Grenzpfähle umstürzen und die Flaggen zerreißen wird! Ich glaube an den Tag, da die Menschen nur eine Sprache sprechen werden, einerlei welche, denn nicht um die Sprache handelt es sich, allein um die Gedanken, die sie damit ausdrücken!«

»Ich glaube an den Tag, da kein Mensch mehr den Menschen ausbeuten wird, an den Tag, da es weder weiße noch schwarze, noch gelbe, weder männliche noch weibliche Sklaven geben wird, an den Tag der gleichen Rechte bei gleichen Pflichten! Ja, ich, Ackermann, glaube daran! Ich glaube an den Sieg des Rechts über das Unrecht, der Wahrheit über die Lüge! Ich glaube, daß göttliche Ideen die Welt bewegen und nicht die Kanonen.«

»Ja, ich, Armseligster unter den Armseligsten, ich glaube an das kommende Menschenreich auf Erden – das Reich der Vernunft, Gerechtigkeit, Würde und Schönheit!«

»Auch an dich glaube ich, mein Volk!« rief Ackermann mit rasenden, glühenden Augen aus, und durchschritt das Brandenburger Tor. Es ist gut, dachte er aufatmend, sich zuweilen sein Bekenntnis zu wiederholen – in dieser entsetzlichen Verfinsterung – so gut tut es.

In diesem Augenblick wurde sein rascher Schritt urplötzlich gehemmt. Etwas Ungewöhnliches, Unerwartetes, ein Wunder! Feuer lohte durch seinen Körper, Glut flog über sein Gesicht, die Hände brannten. Der Himmel blendete, der Himmel jubelte. Rot flammte der Himmel über Berlin.

Schon –? Schon –? Verheißung …

Er blieb stehen, schob die Mütze zurück über die schwarzen Haare, und – so erregt war er – deutete auf die rote Flagge auf dem Dache. Seine Lippen bebten. Ohne jede Regung stand er, gläubiges Feuer die Augen.

Dann nahm er die Mütze ab.

»– Licht aus dem Osten, Morgenröte –«

 

6

Während der General bei Stifter dinierte, löffelte der Havelock, der kleine Herr Herbst, in der Volksküche in der Dorotheenstraße seine Kartoffelsuppe. Er kam häufig hierher, aus bestimmten Gründen.

»Also nicht?« flüsterte er aufgeregt vor sich hin. »Und ich wartete extra vor dem Restaurant und grüßte, aber er sah mich nicht. Er hätte sich gewiß daran erinnert. Nun, vielleicht – wenn auch dieser Portier glaubt – ein alter Mann, was weiß er?«

Herr Herbst saß in seinem feuchten, dampfenden Mantel, den steifen Hut auf dem Kopf, neben einem Fenster, das auf den düsteren Hof hinausging. Auf dem Fensterbrett lag noch dieselbe tote Fliege – wie lange lag sie schon da? Wieder stand im Hof das Auto mit den Papierballen. Dieser Hof gehörte zu jenem bekannten roten Gebäude in der Dorotheenstraße, wo die Verlustlisten auslagen. Jeden Tag kam das Lastauto mit den riesigen Ballen der neugedruckten Listen, täglich, seit dreieinhalb Jahren – sie fielen da draußen wie das Laub der Bäume im Herbst.

Wie das Laub – nicht anders – so dachte Herr Herbst, voller Gram.

Auch er, sein Sohn – Robert – war gefallen – nun – wie ein Blatt – das einfach fällt … ohne daß jemand es sieht …

Er nickte vor sich hin.

»Wie ein Blatt –«

Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse, während er stöhnte.

»Und niemand sah es!«

Ach, ach, ach!

Plötzlich schrie der Alte laut auf, ein kleiner, verzweifelter, quiekender Schrei. Die Gäste an den Nebentischen wandten sich um.

Schon war er wieder still, nur keine Beunruhigung, und schlürfte seine Suppe. Der Schmerz hatte ihn überfallen, wie ein reißendes Tier, urplötzlich.

Die Küche war zur Stunde in Hochbetrieb. Sie dampfte und klapperte.

Sie roch nach Kohl, wie alle diese Küchen. Ohne Kohl und Rüben hätten sie sofort schließen müssen.

Der Havelock aber fand sie elegant im Vergleich zu den Küchen am Halleschen Tor und Alexanderplatz. Hier gab es zum Beispiel Bestecke, wenn auch aus Blech, aber ohne Pfand, während man in jenen Küchen eine Mark als Pfand hinterlegen mußte. Diebe waren die Menschen geworden, nichts als Diebe, sie stahlen einfach alles, was sie mitnehmen konnten. Hier dagegen verkehrte nur gutes Publikum.

Junge Kaufleute und Bureauangestellte, kleine wächserne Stenotypistinnen, düstere, vergrämte Beamte, bleiche, bebrillte Studenten, Mappen und Bücher unter dem Arm, einzelne Uniformen. Sie standen um die kahlen Holztische und warteten geduldig auf Platz. Unaufhörlich ging die Türe, und Nässe und Kälte strömten in das düstere Lokal.

Bleich, gelb, mit wächsernen Ohren, die Schultern nach vorn gebogen, hustend, trüb die Augen, fiebernd – sie alle waren schon gezeichnet. Die Grippe würde sie holen, heute, morgen, in einem Jahr – spielt keine Rolle, sie entgingen ihr nicht mehr. Die Bretter lagen schon geschnitten für sie auf dem Stapel irgendeines Holzplatzes. Aber noch lachten sie, die kleinen wächsernen Stenotypistinnen, kicherten. Sollte man es für möglich halten – während schon die Bretter zusammengenagelt wurden? Sie erregten sich, debattierten, das Blut stieg in die bleichen Gesichter.

»Haben Sie gelesen – haben Sie gehört – nun behaupten sie, daß wir Fett aus Leichen herstellen.«

»Fett aus – wie sagen Sie? Wer –? Fett?«

»Die Entente, natürlich!«

»Diese Schurken, diese –!«

»Ah, ah – aber das ist doch –!«

»Ist es nicht schlimmer als Mord? Sind wir Verbrecher, Auswurf der Erde? Darf man – ich ertrage es nicht mehr, ich zittere an allen Gliedern – die Grippe. – Wie können Menschen so tief sinken? Ah, pfui, pfui –!«

»Auch mich hat die Grippe gepackt. Sie sollten sich nicht so erregen, beim Essen besonders. Und die Regierung –?«

»Die Regierung? Sie schläft. Sie liest keine Zeitungen, weiß es noch gar nicht. Sie läßt das Volk beschmutzen, schläft. Versteht nichts, hat Bedenken, unfähig, über alle Maßen.«

Kohl und Rüben, Rüben und Kohl, jeden Tag. Erfrorene und angefaulte Kartoffeln, vielleicht etwas Erbsen und zuweilen, ganz selten, ein Stückchen Fleisch, sehr wenig, und meistens ein Knochen. Die Knochen wurden ja gesammelt und den Küchen zur Verfügung gestellt. Aber doch war es weitaus besser hier als am Alexanderplatz, dort roch es sauer und unangenehm, zum Erbrechen.

Scheu und vorsichtig drehte der Havelock den Kopf – und dort, dort stand sie – der Liebling!

Selbst zart, selbst blaß, geduldig, immer lächelnd, immer etwas zerstreut, manchmal steckte sie sogar den Finger in den Mund, mitten in diesem Wirbel von Köpfen und den Wolken von Kohldampf stand sie, seine Tochter – die Tochter des Generals. Sie stand am Küchenfenster, aus dem die endlosen Reihen von dampfenden Tellern von roten Händen geschoben wurden, und kontrollierte. Zuweilen trat sie auch an einen Tisch, plauderte, besänftigte.

So zart, so fein, ihre Augen schimmerten – diese Händchen – sollte man es für möglich halten – mitten in diesem dicken Kohlgeruch, diesem Lärm – ein gnädiges Fräulein, die Tochter eines hohen Offiziers? Sie war auch im Felde gewesen – alles wußte der Havelock – dort hatte sie gepflegt. Sie, die Zarte, hatte den furchtbaren Kanonendonner gehört, von dem Robert immer schrieb. Nur in ihrer Haltung, wenn sie rasch den Kopf wandte, hatte sie etwas Ähnlichkeit mit dem General – sonst keine, nicht die geringste.

Verstohlen blinzelte der Havelock zu ihr hin, und plötzlich errötete er wie ein Verliebter.

Sein Herz war verwaist, einsam, er war aus der Provinz zugezogen, kannte niemand in Berlin, er trank auch, der Alkohol – es war die Wahrheit: er liebte die Tochter des Generals! Ganz gegen seinen Willen, denn eigentlich wollte er sie hassen! Er kam nur hierher, um seinen Liebling zu sehen, wie er Ruth nannte. Ihr Anblick erwärmte sein Herz. Sie selbst hatte ihn ja hierher gebracht, in diese Küche. Auf diese Weise hatte er überhaupt erst diese Küche entdeckt.

Nun aber kam Ruth näher, und er wandte rasch den Kopf ab und blickte auf den Hof hinaus, wo Soldaten die Papierballen von dem Lastauto abluden.

Wieder dieser Alte mit der runden Hornbrille, wieder war er unzufrieden! Jeden Tag fast hatte er irgend etwas auszusetzen.

»Wir tun, was in unseren Kräften steht«, suchte Ruth ihn zu beruhigen.

Aber der Alte mit der Hornbrille schrie aufgeregt: »Ich bezahle ja, mein Geld ist so gut wie das Geld der andern. Und wo ist die Einlage, Fräulein –?« Verzweifelt rührte er mit der Gabel zwischen den Kohlblättern. »Ich habe für fünfundzwanzig Gramm Fleischmarke gegeben, Fräulein – und wo ist das Fleisch, ich bitte Sie? Wo? Wo ist mein Fleisch – ich habe Anspruch. – Wo ist mein Fleisch – mein Fleisch – mein Fleisch –!?«

»Ich werde sehen«, erwiderte Ruth und trug den Teller des Alten zur Küche.

Der Havelock atmete auf.

Da aber erschien der weite, graue, offene Soldatenmantel in der Türe – und sofort rückte der Havelock den steifen Hut zurecht und ging.

 

7

Ja, die Tochter des Generals selbst hatte ihn in diese Küche geführt – sehr einfach – obwohl er nie ein Wort mit ihr gesprochen hatte …

Hinab die Friedrichstraße segelte der Havelock mit dem steifen Hut. Es sah aus, als schwimme er, aufrecht stehend, so unmöglich das ist. Er trippelte und schlürfte, die Knie etwas eingebogen, die linke Schulter eine Kleinigkeit geneigt. Seit gestern morgen war er unterwegs, hatte nur auf einer Bank im Tiergarten ein kleines Nickerchen getan, im Regen – nun fühlte er seine Beine und Füße nicht mehr.

Ohne jede Anstrengung glitt er vorwärts, es ging von selbst. Er rollte auf einer kleinen Wolke dahin, nicht größer als ein gefüllter Kartoffelsack. Zuweilen spürte er sie wie Teig unter den Sohlen. Er konnte auf dieser kleinen Wolke auch ausbiegen, nach links, nach rechts, ohne jede Mühe –

Ja, sie selbst – seine Tochter, das gnädige Fräulein.

Er stand da bei einem Zigarrenladen, mitten in dem Zug von gierigen Rauchern, die warten, bis geöffnet wird, und die Zigarren steigen im Preise, während sie warten. Das ist Tatsache! Da stand er also und sprach mit einem Soldaten, Kraftfahrer. Dieser Kraftfahrer kannte nicht die Höhe von Quatre vents, er kannte nicht Roberts Bataillon, das am 5. August stürmte, aber er kannte den Chauffeur des Generals, Schwerdtfeger mit Namen, und der General war seit vier Wochen nach Berlin kommandiert! Wie? Hier? Welch ein Zufall! Wieviel hundert Soldaten hatte er angesprochen, und nun führte ihm Gott diesen Kraftfahrer in den Weg!

Er war hier? Hier! Schlaflos die Nächte, ruhelos die Tage.

Ja! Dieses Gesicht –!

Dieses schweigende Gesicht, das nie sprach, diese Augen, die man nie sah! Dieser Gang – und der tiefe Bückling des Portiers! – ohne jeden Zweifel: er war es! Robert hatte ja ausführlich aus dem Felde geschrieben: Wir marschierten vorüber, und unser General stand auf der Treppe seines Schlosses und grüßte. Er und kein anderer! Wie aus einem Felsen gehauen … schrieb Robert. Das also war er, den die Soldaten – nun, besser, das Wort nicht auszusprechen – nannten! So sahen die aus, die befahlen: Nur über unsere Leichen führt der Weg zur Höhe! – Die Briefe Roberts knisterten in seiner Tasche.

Tagelang verfolgte ihn das Steingesicht durch das Labyrinth der Straßen.

Sonderbares Gesicht aus Stein. Es zog an!

Jeden Mittag schoß das graue Auto in die gleiche Richtung – schon zwei Tage später stand der Havelock vor Stifters Diele. Und plötzlich grüßte er, und der General hob die Hand zur Mütze. Weshalb? Weshalb grüßte er, er hatte eine Sekunde vorher gar nicht daran gedacht, daß er den General grüßen könnte – grüßen durfte. Es war gewiß anmaßend, unhöflich. Nach drei Tagen – er hatte nichts zu tun, gar nichts, Rentier Herbst – nach drei Tagen schon wußte er, wo der General wohnte.

Dieses Haus – Sie erlauben wohl – kannte er ganz genau, jedes Fenster und die kleinsten Risse in der grauen Mauer. Das Haus erschien ihm im Traum – als ein Gesicht aus grauem Stein. Er kannte auch das efeubewachsene Backsteinhaus mit dem Messingschild: Dönhoff. Er kannte den Zebrakittel, Petersen – alles liebe Menschen, gesprächig –


Der Havelock rollte auf seiner kleinen Wolke über den Belle-Alliance-Platz, unter der Hochbahn hindurch, die Blücherstraße hinab.

Hier glitt er an einem schmalen, gelben Hause einigemal hin und her, blickte nach oben zur dritten Etage, wo die Rolläden herabgelassen waren. Dieses Haus, diese Etage schien ihn ungemein zu interessieren – anzuziehen, abzustoßen …

Seine Schultern krümmten sich zusammen, er ächzte, plötzlich fühlte er die Last wieder, die ihn zu Boden drückte, die er ewig mit sich schleppte durch die endlosen steinigen Straßen Berlins.

Dann aber wandte er entschlossen um und rollte wieder die Blücherstraße hinauf.

Da aber blieb die Wolke stehen und war nicht mehr vorwärts zu bewegen. Im nächsten Augenblick – schon war er drinnen. Ein Gläschen, noch eines und ein drittes! Schon war er wieder auf der Straße.

Aus dem grauen Hause des Generals, mit den Messingbeschlägen an der Türe, die unausgesetzt geputzt und poliert wurden von den beiden Burschen, war täglich eine junge Dame gekommen. Heute, morgen, jeden Tag. Seht an!

Eine Zigarre gefällig, Herr Soldat. Ein Zigarrchen – immer fleißig, ein schöner Wintertag …

Nun kannte er Jakob und Wangel. Mit Jakob kam er öfter ins Gespräch. Außer Ruth war auch noch ein Sohn da, Otto, Oberleutnant, im Felde, und die Frau des Herrn Generals – tot, ja, tot, seit Jahren.

Jeden Tag aber ging das gnädige Fräulein in die Dorotheenstraße und verschwand in einem Torbogen. Schließlich wagte er es, ihr zu folgen. Auf diese Weise hatte er die Küche in der Dorotheenstraße entdeckt.

Täglich konnte er nun seine Tochter, die Tochter des Generals, sehen! Da stand sie, dicht neben ihm – Fleisch von seinem Fleisch, Blut von seinem Blute. Der Haß kochte, die Gelüste nach Vergeltung fraßen …

Er beschloß, sie zu beleidigen! Vor allen Gästen! Vielleicht würde er ihr einen Teller vor die Füße werfen, aber so, verstehen Sie, daß er in tausend Stücke zersprang. Weshalb eigentlich? Ja, unerklärlich – hatte sie ihm etwas getan?

Tagelang brütete er, schmiedete er Pläne. Vielleicht würde er einen Teller mit Kohlgemüse über ihre Schürze schütten? Eine herrliche Idee! Aber da ergab sich die Sache ganz von selbst.

Der Havelock blieb stehen und verschnaufte. Ob er in jene Kneipe gegenüber gehen sollte?

Ganz von selbst. Eines Tages, ganz unerwartet, fügte es sich, daß sie dicht neben ihm an einem Tische plauderte. Nun aber kam das Schmachvolle –

Heute noch trat ihm der Schweiß auf die Stirn, wenn er an das Schmachvolle dachte, obgleich schon zwei Monate seitdem vergangen waren.

Nicht einen Teller voll Kohlsuppe, nein, sondern nur einen Löffel voll – er nahm ihn und ließ ihn über die Schürze Ruths fließen. Schon aber, Allmächtiger, packte ihn eine harte Hand am Arm, und eine Stimme schrie durchs ganze Lokal: »Wie können Sie es wagen –?«

»Ich – ich – ich zittere mit der Hand –«

»Nein, deutlich habe ich es gesehen, Sie!«

Der Soldat mit dem weiten Mantel stand neben ihm, voller Zorn. Die Gäste sahen auf, es erregte Aufsehen, ringsum, alle Tische blickten her.

Und der Soldat in dem weiten Mantel schrie ganz laut: »Sie sind mir ein netter Herr. Gießt der Dame einfach einen Löffel mit Suppe über die Schürze –«

»Meine Hand zittert –«

Da aber wandte sich Ruth um. Sie besah die Schürze, nahm ihr Taschentuch, und lachte – lachte ihm freundlich ins Gesicht.

»Vielleicht hat man den Herrn angestoßen. Es ist ja nicht schlimm.«

»Ich zittere, meine Hand zittert –«

»Es ist ja kein Unglück geschehen.«

Schmachvoll, schmachvoll! Er hatte Tränen in den Augen. Wie kam er doch dazu, ganz einfach den Löffel voll Suppe über ihre Schürze zu gießen? An diesem Tage trank er so sehr, daß er schließlich die Treppe hinabstürzte und sich blutig schlug. Aber so geschah ihm gerade recht.

Seit diesem Vorfall blickte er auf die Tochter des Generals mit andern Augen. Sein Herz pochte, sobald er sie erblickte.

Er liebte sie, eigentümlich.

Diese Gedanken erfüllten den kleinen alten Mann, während er durch das Labyrinth der Straßen eilte. Er überquerte wimmelnde Plätze, geriet in Strudel von Menschen, die aus der Erde quollen – und plötzlich machte er Miene umzukehren, den ganzen Weg, den er gekommen war, zurückzugehen. Wie? Sollte er in die Lessingallee gehen, heute abend? Nein, nach Hause, ohne Widerspruch, verstanden?

 

8

»Oberleutnant v. Hecht-Babenberg?«

»Dritte Station, meine Dame, den Gang entlang und dann links. Zimmer 233.«

Man mußte nur höflich fragen, dann bekam man selbst hier in Berlin höfliche Auskunft. Hedi war stolz auf ihre Fähigkeit mit den Menschen umzugehen. Selbst jetzt, wo sie rasend wurden, wenn man sie nur anblickte, kam sie noch vorzüglich mit ihnen aus. Allerdings sah dieser Pförtner wohl auf den ersten Blick, daß er eine Dame vor sich hatte. Sie wollte natürlich einen guten Eindruck machen, wenn sie Otto besuchte, und hatte ihr himbeerfarbenes elegantes Hütchen aufgesetzt. Dazu trug sie den Biberkragen von Mama und helle Seidenstrümpfe.

Aus der Papierhülle lugten drei weiße Rosen.

Es roch nach Karbol, aber Hedi liebte Karbolgeruch. Alles war blitzblank und eigentlich weniger schrecklich, als sie es sich gedacht hatte. Sie liebte es nicht, derartige Orte zu besuchen, Friedhöfe, Krematorien, Krankenhäuser flößten ihr Schauder ein. Sie mied sie. Nur Mamas Grab besuchte sie zuweilen – aber das war ja schon lange her.

Nun aber wurde der breite Korridor belebter, und sie schritt schon etwas zaghafter vorwärts.

Ein Soldat, dem der rechte Fuß abgetrennt war, humpelte an ihr mit bloßem Fußstumpen vorbei. In hellen Krankenkleidern saßen auf einer langen Bank Soldaten mit verbundenen Armen, Beinen und Köpfen. Sie erwarteten sie mit neugierigen Blicken, musterten sie von oben bis unten, und sie fühlte voller Unbehagen all die Blicke der verwundeten Männer auf ihrer Haut. Plötzlich wurde die Türe eines Saales geöffnet, und Hedi war so unvorsichtig, einen Blick in den Saal zu werfen. In diesem Saale wurde auf einem Holztisch gerade ein Soldat verbunden, dem ein Bein bis zum Knie amputiert war. Der nackte Schenkel endete nicht – zu Hedis Entsetzen – mit einem Fuße, sondern mit einer Art Pferdehuf, einem roten Lappen unterhalb des Knies. Ein Arzt betupfte den roten Pferdehuf mit Watte. In diesem Augenblick drehte der Verwundete seine Augen zur Türe, Augen voll größter Qual und äußersten Schmerzes. Schon wurde die Türe wieder geschlossen. Hedi war nahe daran zu taumeln. Hinter der Türe eines Operationssaales stöhnte ein Verwundeter, und die barsche Stimme eines Arztes gebot ihm Ruhe. An einer Kreuzung von Korridoren stieß sie auf eine Tragbahre, die von zwei Soldaten vorübergetragen wurde. Mit einem Laken zugedeckt lag darauf ein Soldat, dessen Gesicht bis zur Nase verhüllt war. Er hatte die glänzenden Augen zur Decke gerichtet und sah sie nicht an.

Hedi war purpurrot geworden. Welcher Irrsinn, hierher mit einem himbeerfarbenen Hut und hellen Seidenstrümpfen zu kommen? Sollte sie umwenden – entfliehen?

Da aber schrak sie zusammen!

Wildes Geschrei, als ob jemand lebendig in Stücke geschnitten würde.

Mein Gott, was müssen diese Menschen Unsägliches erdulden! Wer ahnt es denn? Das Geschrei trieb sie rascher vorwärts. Da aber knallte eine Türe, und das Geschrei erscholl plötzlich in nächster Nähe. Ein schreiender Soldat, der den verbundenen rechten Arm hochhielt, stürzte über den Korridor, gefolgt von einer Schar von Ärzten und Krankenschwestern. Der Schreiende lief wie gehetzt den langen Korridor hinunter. In der weißlackierten Türe erschien das bebrillte, fahle Gesicht eines Arztes im weißen Kittel, der laut auflachte.

Das Geschrei entfernte sich.

Hedis Blick flatterte. Ihre Haut war von Hitze bedeckt wie von heißem Sand. Entsetzen hauchte aus diesen getünchten Mauern. Dieses Krankenhaus war ein endloses Labyrinth, durch graues und blaues Eis gehauen. In der Ferne tauchte die Dämmerung an den kahlen Korridorfenstern, Schatten humpelten, hinkten durch ferne Quergänge. Ein Labyrinth mit Tausenden von Kammern voller Qualen und Grauen. Tag und Nacht schnitten hier die Messer in Menschenfleisch, unaufhörlich füllten sich die Eimer mit Blut und Eiter. Die Wände schwangen von Schmerzen. Das ganze Haus war wie eine Riesenwunde, eine Schlucht von eiterndem Fleisch, in der die Ärzte mit ihren Messern kletterten.

Da kam aus einem Quergang würdevoll ein hoher Offizier geschritten. Langsam trieb seine massige Gestalt mit den steilen Schultern – wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt – durch den Korridor. An den Umrissen schon erkannte Hedi den General. Zwei Krückenmänner stellten sich in Positur, einer mit Socken an den Füßen, dem andern fehlte ein Bein. Sie standen auf den Krücken gegen die Wand gelehnt und warfen das Kinn in die Höhe. Auf einem Stuhl kauerte ein Krüppel mit dickumwickeltem Bein. Er blieb sitzen, den Oberkörper steif aufgerichtet, und stellte die beiden Krücken vor sich hin, als präsentiere er wie mit dem Gewehr.

Der General schritt vorüber, ohne Hedi anzusehen. Sie hatte ihn übrigens nur einmal bei Dora getroffen, er hätte sie schwerlich wiedererkannt.

Eine Pflegerin, eine taktlose Person, gab Hedi mit malitiösem Lächeln den Bescheid, daß Otto heute keine Besuche mehr empfangen könne. Sie hatte ihre Karte ins Zimmer geschickt, er wußte also recht gut, daß sie es war. Deutlich hatte sie seine helle Stimme im Zimmer gehört. Natürlich war sie nur gekommen, um ihm ihre Teilnahme an seinem Unfall zu zeigen – aus keinem andern Grunde. Er sollte sehen, daß sie erhaben war über gewisse Dinge. Diese taktlose Person aber musterte Hedis himbeerfarbenes Hütchen, ja sie erdreistete sich, den Blick an ihr hinab bis zu den hellen Seidenstrümpfen streifen zu lassen. Hedi warf einen kritischen Blick auf die etwas unordentliche Frisur der kleinen rothaarigen Pflegerin. Augenblicklich war zwischen den beiden Damen eine tödliche Feindschaft ausgebrochen.

»Das allgemeine Befinden ist gut?« erkundigte sich Hedi mit liebenswürdigem Lächeln.

»Man kann indessen nie wissen, ob nicht Komplikationen eintreten«, entgegnete die Schwester ausgesucht höflich.

»Wie wahr!« Hedi lächelte spöttisch und grüßte mit vollendeter Liebenswürdigkeit.

Die Rosen aber nahm sie wieder mit.

»Hotel Kaiserhof!« rief sie dem Kutscher zu, als sie wieder in die Droschke stieg. Denn Hedi hatte sich einen Wagen geleistet. Es gab gewisse Stadtviertel Berlins, vor denen sie Furcht hatte.

Plötzlich warf sie die Rosen mit einer zornigen Bewegung durch das Wagenfenster auf die schmutzige Straße. Zwanzig Mark für drei Blumen, welcher Wahnsinn!

Otto hatte ihren Besuch sicher völlig falsch ausgelegt. Gewiß war es ihm unmöglich, an lautere und selbstlose Motive bei seinen Mitmenschen zu glauben. Nun aber lebe wohl, Otto! Sollte er ruhig mit dieser rothaarigen Person – ja, ihretwegen …


Der Geiger schob ein violettes Seidenkissen zwischen Frack und Kinn, grüßte noch mit einem koketten Lächeln ins Publikum, dann schleuderte er den Bogen in die Luft, daß seine blendende Manschette aus dem Ärmel fuhr: Carmen.

»Auch Kuchen?«

»Auch etwas Kuchen, bitte.«

Da saß sie nun wieder, Hedi. Erstens, dachte sie, erstens und zweitens und drittens – man muß nun genau überlegen. Es wird höchste Zeit, so geht es nicht weiter.

Erstens also stand fest, daß sie sich in ewiger Geldkalamität befand. Zweitens langweilte sie sich zu Hause zu Tode, und drittens: es mußte etwas geschehen. Sie hatte keine Lust, ihre ganze Jugend zu vertrauern, nur weil dieser Krieg kein Ende nahm.

Aber nicht so rasch, bleiben wir bei erstens. Dieses bißchen Taschengeld, das ihr Papa an jedem Monatsersten mit strahlender Miene einhändigte – lächerlich. Wie konnte Papa glauben – nun, Papa verstand es eben nicht anders. Es blieb nichts anderes übrig, als Geld zu schaffen! Es lag ja zurzeit auf der Straße, die Leute sagten es wenigstens, die Millionen flogen durch die Luft. Sollte sie filmen? Schnurrige Idee, aber leider unausführbar. Man mußte – wie herrlich war doch diese Musik, voller Mut! – man mußte Verbindungen haben, und die Gesellschaft –? Nein. Übrigens, diese Gesellschaft, darauf gab sie nicht so – viel!

Immerhin – der Kellner brachte den Tee, und Hedi war für eine Weile in Anspruch genommen. Wieder saß die Weizenblonde mit den Brillantohrringen da, und auch jene Dunkele, Tragische, mit den hellgelben Stiefelchen. Und jener alte Herr mit dem Schnauzbart und der Glatze nahm ebenfalls wieder hier seinen Tee. Hedi schloß plötzlich, um sich zu amüsieren, das eine Auge und blinzelte ihn über das Teeglas hinweg unvermutet an. Der Herr mit der Glatze prallte im Sessel zurück – aber schon hatte Hedi ihr Batisttüchelchen aus der Tasche genommen und rieb sich das Auge, als sei etwas hineingeflogen. Nein, wie komisch diese Männer waren!

Ja, Geld mußte jedenfalls geschafft werden. Sie besaß, zum Beispiel, drei Paar Seidenstrümpfe. Schon rannen die Maschen, obgleich die Strümpfe nur bei besonders feierlichen Anlässen getragen wurden. Aber wenn diese Strümpfe nun unbrauchbar wurden? Die Handschuhe, die Stiefel, wenn es sich darum handelte, ein neues Kleid zu beschaffen –? Und schon würde sie aus der Klasse der Tadellosen, der Ladies ausschalten. Schon, es ging rasch, die Gesellschaft duldete keine abgeschabten Knopflöcher, keine geflickten Stiefelchen. Und sie würde second class sein – unerträglich! So unglaublich es klang, ihre Zukunft, ihr ganzes Leben hing an einem Paar Seidenstrümpfen.

Fürchterlich war der Gedanke an den Sturz in die Tiefe. Sie erschrak, Schwindel ergriff sie. Es war aber hohe Zeit, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen.

Bald würde sie sich, zum Beispiel, um nur ein Beispiel zu nennen, wieder ein Stück Seife im Schleichhandel kaufen müssen – so ging es jeden Tag!

Zu Hause war das Leben unerträglich geworden. Papa, lieb und gütig, aber immer müde, überarbeitet, immer beschäftigt. Und dabei wußte er gar nichts, trotzdem er im Auswärtigen Amt arbeitete! Häufig geschah es, daß sie bei Tisch etwas sagte, etwas Politisches, und Papa schüttelte tadelnd den Kopf. Man sagt so etwas nicht, mein Kind. – Aber Papa, es stand ja schon vor drei Tagen in der Zeitung! – Ah, schon vor drei Tagen –? – So war Papa. Klara war ein Kind. In einer Minute tanzte sie wie eine Närrin, in der nächsten weinte sie. Sie kannte das Leben noch nicht. Sie war noch nicht in das Alter gekommen, wo jeder Tag ein Problem ist, ein fürchterlicher Kampf, wo man bei lebendigem Leibe täglich vor Sehnsucht verbrannte – wo man wartete, wartete – wo das Warten das schrecklichste Leiden ist. Oh, schrecklich! Schrecklich!

Grau gingen die Tage. Sie lebten äußerst bescheiden, sie besaßen kein Vermögen. Dazu, hatte Papa ihnen verboten, die Gesetze für die Ernährung im geringsten zu verletzen. Wie lebten sie, was aßen sie – trotzdem sie alles Mögliche auf den Tisch schmuggelten – es war eine Schande und niemand durfte es wissen, wenn sie nicht für immer unmöglich sein sollten. Zum Beispiel Rüben, wie die Kühe sie bekommen, erfrorene Kartoffeln …

Grau, kalt, finster gingen die Tage.

Licht, Glanz, Wärme, Frohsinn, Tanz, Feste, die früher den Eintritt der jungen Mädchen in das Leben begleiteten – wo waren sie? Sie hatte vor dem Kriege nur zwei Bälle mitgemacht, davon träumte sie noch heute.

Was war diese Musik im Vergleich zu jener Musik auf den Bällen? Ein zaghaftes Echo. Diese Beleuchtung – ein Abglanz. Das Lachen der Menschen von heute, ihre Mienen – Schatten in einer Schattenwelt, nicht mehr, nicht mehr …

Plötzlich aber beugte sich Hedi errötend über das Teeglas: dort stand er! Der Spanier war gekommen! Er wußte, daß sie wieder hierherkommen würde, daß er also, wenn er sie zu sehen wünsche – sie hatten sich verstanden.

In seinem gelben Mantel stand er im Mittelgang und polierte das Einglas. Er hatte sie sofort gesehen und überlegte nun. Ob er den Mut haben würde sie anzusprechen? In der Droschke hatte sie schon Träume gesponnen – ein Wiedersehen beim Tee, zum Beispiel im Adlon oder Bristol – vielleicht ein Theaterabend, in einer Loge – ein Diner, wo man plauderte …

Er kam. Hedi hatte ihre Verlegenheit vollständig überwunden und blickte ihm ruhig entgegen. Sie war wieder ganz Lady. Ströbel kam geradeswegs auf sie zu, die Brauen wie vor freudigem Erstaunen hochgezogen. Aber je näher er kam, desto häßlicher wurde er. Sein gelber Mantel war etwas zu weit, zu auffallend. Die ganze Kleidung zeigte eine etwas übertriebene Eleganz. Ah, und nicht die Spur von einem Spanier, er war eine – Bulldogge. Seine blaurasierten Wangen waren etwas faltig, fahl und verlebt, nichts blieb von dem Spanier als das glänzende schwarze Haar, das um eine Kleinigkeit zu eng an den Kopf gebürstet war, das um eine Idee zu stark pomadisiert war – nicht first class mit einem Wort.

Aber er hatte die Nonchalance, die Manieren der großen Welt.

Mit unübertrefflicher Zwanglosigkeit verbeugte er sich. »Unser gemeinsamer Freund hat einen Unfall erlitten –«, begann er, gänzlich unbefangen. Und er verlor seine Unbefangenheit auch nicht, als Hedi ihn anblickte – gänzlich verständnislos. Obschon sie doch mit ihm das Theater besuchen, dinieren, plaudern wollte, bei einem Glas Sekt zum Beispiel – gänzlich verständnislos.

»Sie täuschen sich, mein Herr«, erwiderte Hedi mit einem liebenswürdigen, verstehenden, verzeihenden Lächeln, einem Lächeln, wie nur eine Dame von Welt es auf die Lippen zu zaubern vermag.

War es nicht eine Unverfrorenheit ersten Ranges, sie hier im »Kaiserhof« einfach zu überfallen?

»Sie saßen doch gestern –?«

»Ich erinnere mich nicht.« Hedis Stimme wich in weite Fernen zurück. Fern und unwirklich wurde ihr Lächeln.

»Wir wollen nur hoffen, daß Herr v. Hecht –«

Hedis Augen wurden plötzlich kühl, das Leben erkaltete in ihnen.

Mit einer tadellosen Verbeugung, völlig ungezwungen, völlig Herr der Situation, zog Ströbel sich zurück.

Der Geiger in seinem schwarzen Frack schwang sich in den Hüften und blickte kokett lächelnd zum Tisch der Dunkeln, Tragischen, der das Mißgeschick passiert war, ein Glas Wasser umzustoßen.

Hedi gab ihren Mienen einen träumerischen und harmlosen Ausdruck. Niemand sollte auf den Gedanken kommen können, daß ein Wildfremder es gewagt habe, sie anzusprechen. Die Weizenblonde mit den Brillanten in den Ohren hatte die Szene beobachtet. Hedi streifte sie mit einem Blick, und in dem kaum merklichen Aufatmen ihrer Brauen, mit dem sie über die Weizenblonde hinwegsah, lag ihre ganze Verachtung.

Nein, nein, noch war sie lange nicht so weit! Was bildete er sich doch ein –?

 

9

Zögernd bog der kleine Herr Herbst um die zugige Ecke und lenkte in seine Straße, die Fabriciusstraße, ein – ganz weit da draußen.

Eine plumpe Eisenbrücke spannte sich zwischen den Häusern, und soeben rollte donnernd ein Lastzug darüber. Der Qualm sank auf den Schmutz des Pflasters herab.

Es half alles nichts, er mußte unter der Brücke hindurch, auch wenn sie zusammenbrechen sollte. Die Angst des Trinkers schnürte ihm die Brust zusammen.

Die große Stadt machte hier einen düstern und verwahrlosten Eindruck. Die Straßen waren schnurgerade, überall die gleichen grauen Mietskasernen, die gleichen Aufschriften, die gleichen Scharen von bleichen, zerlumpten Kindern. Die gleichen hohlwangigen Weiber, die, mit einem kleinen Topf oder einer Tasche in der Hand, in Tücher gehüllt, an den Häusern entlangkrochen und husteten. Die gleichen mageren schwarzen Alleebäumchen, die in der sauren Luft erstickten. Der Mörtel fiel von den Hauswänden, schmutzige Papierfetzen trieben in den Rinnsteinen. Vor den Nahrungsmittelgeschäften, die die Wochenration an Fett, zwanzig Gramm, ausgaben, standen lange Reihen von blaugefrorenen Frauen und vertraten sich die kalten Füße, während sie schwätzten und keiften.

Sonst waren Geschäfte und Läden leer, gähnende Särge. Bäckerläden ohne Brot, Fleischerläden ohne Fleisch, Schuhgeschäfte mit Holzschuhen und Blechdosen voller Stiefelwichse. Auch in dieser Gegend gab es jene Läden, in denen altes Metall gesammelt wurde, für die Kriegführung, Lampenfüße, Photographierahmen, Aschbecher, der Schutt aus den Wohnungen der Ärmsten.

Dann gab es hier noch das Delikatessengeschäft von Alfred Schustermann, mit der Aufschrift: Mensch, was für ’ne Ware! Seemuscheln, Pfahlmuscheln, waggonweise eingeführt, zu Gelee, Aspik, Pasteten, Würsten verarbeitet. Die Professoren, die entdeckt hatten, daß Baumrinde nahrhaft war und man Pilzkulturen in den Dachrinnen anlegen konnte, erklärten, daß diese Muscheln selbst Ochsenfleisch an Nährkraft überträfen.

Immer näher aber kam die graue Mietskaserne mit der riesigen Aufschrift: Leihhaus.

Der Schritt des Havelocks verlangsamte sich mehr und mehr, seine tränenden, entzündeten Augen blinzelten unter dem steifen Hut. Er hatte fast jeden Mut verloren.

Eine Weile holte er Atem vor der »Zoologischen Handlung«. Noch lebte er, der kleine muntere Zeisig, sein Freund, der das Problem gelöst hatte, das Körnerfutter bis zu fünfundneunzig Prozent auszumahlen. Die andern, die kleinen grünen Papageien, die beiden Kanarienvögel, die Drossel, sie waren an dem Problem nacheinander gescheitert und gestorben. Ja, gestorben. Auch die kleinen weißen Mäuse, die ewig im Kreise liefen, waren plötzlich bei ihrem spaßigen Rundlauf in Atemnot geraten. Der vierte Kriegswinter hatte auch sie vernichtet. Nur der Zeisig sprang noch munter in seinem kleinen Käfig hin und her.

Zwischen der »Zoologischen Handlung« und dem Leihhaus führten drei ausgetretene Stufen zum »Löwen von Antwerpen« empor, und schon war der Havelock in der Gaststube.

Keine Vorwürfe – er mußte Mut sammeln für die Nacht. Denn die Nacht würde kommen, so gewiß wie etwas! Und mit ihr die furchtbaren Nachtgespenster, seine Peiniger, vor denen nur der tiefe Schlaf Schutz bot. Der Rausch, um offen zu sein, die bewußtlose Trunkenheit.

Ja, hier war er zu Hause, man sah es sofort an der Grimasse, mit der ihn der Wirt, ein Buckliger, empfing. Dieser Wirt wurde von den Soldaten, die in der Kneipe verkehrten, der »Millionär« genannt. Ja, hoho, so ein Buckel hatte seinen Wert heutzutage, ohne Zweifel! An den Sonntagen kamen auch Munitionsarbeiterinnen hierher, und es ging lustig zu. Sie tranken – sollte man es glauben, die Kleinen? – sie tranken Schnaps wie die Männer – ah, und sie trugen seidene Röckchen. Wenn sie ihn auch etwas hänselten, es schadete nichts. Sie lachten und hatten keine Sorgen. Vielleicht flogen sie morgen in die Luft, alles war möglich, deshalb lachten sie auch so ausgelassen.

Endlich – es war schon finster draußen – kroch der Havelock die Treppe des Leihhauses empor. Längst war die kleine Wolke, auf der er stundenlang bequem dahingerollt war, verschwunden. Seine Beine zitterten vor Müdigkeit.

Leise, leise schloß er die Flurtüre auf. Er liebte es nicht, daß man ihn kommen oder gehen hörte. Drei Parteien wohnten hier, jede hatte ein Zimmer, und die Küche gehörte ihnen gemeinsam. Aber er hatte diese Küche nie betreten. Schon war er in seiner kleinen finsteren Stube, schon hatte er die Schuhe abgelegt. Plötzlich zitterte er. Ah, wenn er nur nicht wieder von dieser Schaukel träumte! Alles, nur das nicht! Träumte er doch neulich, er säße auf einer Schaukel, die durch endlose schwarze Nacht dahinschoß. Angeklammert wie ein Affe saß er auf dem schmalen, schlüpfrigen Brett, er schrie vor Angst – aber die Schaukel schoß dahin in endlosen Pendelschwingungen, jede eine Ewigkeit, ohne Gnade pfiff sie in rasender Schnelligkeit dahin.

Rasch, rasch, ehe sie ihn packten …

Schon schlief er. Ein leises Wimmern drang aus seinem kreisrund geöffneten Mund. Den Havelock hatte er anbehalten.


Da! Augenblicklich saß er wieder aufrecht im Bett. Seine dünnen Haare sträubten sich, der Schweiß stand auf seiner Stirn. Er dampfte vor Hitze und Kälte. Immer noch war sein Mantel feucht vom Regen der gestrigen Nacht.

Hatte nicht jemand gerufen, ihm fürchterliche Worte ins Ohr geschleudert, wie Felsen? Und ein Krachen, als berste das ganze Haus in zwei Teile, hatte er es nicht deutlich gehört? Die Balken splitterten. So deutlich!

Noch gellte das furchtbare Krachen in seinen Ohren, und erst nach geraumer Zeit fand er sich in die Wirklichkeit zurück. Zwischen einer unbekannten, ungeahnten Welt und der Wirklichkeit lebte er – seit jenen Ereignissen … Oft hielt ihn das Unbekannte, Unverständliche tagelang in seinem Bann, oft überfiel es ihn urplötzlich am lichten Tage – aber wiederum hatte er auch seine klaren Tage, wie er sie nannte. Da war alles so wie früher, und das andere erschien noch unverständlicher und schrecklicher.

Dunkelheit, und nun erwachten Geräusche, Geräusche dieser Welt, Gott sei Lob und Dank.

Hinter der Türe, dem schmalen Bett gegenüber, klapperte eine Schreibmaschine. Er arbeitete dort, der Student Ackermann, zurzeit Soldat. Er schrieb für Zeitungen, um Geld zu verdienen – er schrieb auch noch ganz andere Dinge – Herr Herbst wußte Bescheid, oh, oh! Er wußte mehr, als jener ahnen konnte.

Hinter der Wand, an der das Bett stand, auf dem er lag, strich ein Schritt vorüber, immer auf und ab, wie ein Tier, das rastlos in seinem Käfig hin und her geht. Das war Hähnlein, der Tapezierer, zurzeit Soldat. Er wohnte in dem Zimmer nebenan mit seiner kranken Frau und seinen beiden Kindern. Vor kurzem hatte sie wieder geboren, aber das Kind war bald nach der Geburt gestorben. Es wog nur viereinhalb Pfund. Und welches Geschrei hatte es gegeben, trotzdem sie nichts zu nagen und zu beißen hatten! Hähnlein und Ackermann waren früher beim gleichen Regiment, und Hähnlein hatte Ackermann hierher in dieses Haus gebracht. Das alles hatte Herr Herbst Gesprächen entnommen.

»Schlafe doch!« zischelte Frau Hähnlein. Die Bettstatt krachte, und sie hüstelte.

»Schlafen? Schlafen? Ich kann nicht schlafen«, entgegnete die heisere Stimme Hähnleins, und wieder schabte sein Schritt hinter der Wand.

Die Wand war dünn wie Papier, nun, eine Mietskaserne, er vernahm jeden Laut.

Die Frau wimmerte.

»Weine nicht, vielleicht kommt es bald, wie Ackermann sagt«, tröstete sie Hähnlein. Und deklamierend fügte er hinzu: »Die Völker der Erde werden sich erheben gegen ihre Peiniger!«

Oft ging Hähnleins Schritt die ganze Nacht hin und her, bis der Tag graute. Herr Herbst hatte sich längst daran gewöhnt. In unruhigen Nächten beruhigte ihn dieser ruhelose Schritt sogar. Ein Mensch, ein Leidender, wie er, dicht nebenan.

Es wurde still hinter der Wand, und nur die Schreibmaschine Ackermanns klapperte eifrig. Es konnte noch nicht spät sein, denn im Haus summten Stimmen. Türen wurden zugeschlagen, und zuweilen krachte die Haustüre ins Schloß, daß das ganze Haus zitterte.

Die lange furchtbare Nacht lag vor ihm.

Seine Beine waren vor Müdigkeit geschwollen. Sie waren Wolken, ins Endlose verströmend. So würde er nun sitzen müssen die ganze Nacht und lauschen auf jedes Geräusch – auch auf jene Geräusche, die aus dem Unbekannten kamen.

Seltsame Fügung, die ihn in dieses Zimmer geführt hatte! Der bucklige Wirt vom »Löwen von Antwerpen« hatte es ihm empfohlen, damals, als er den Entschluß gefaßt hatte, nicht mehr in die Blücherstraße zurückzukehren. Längst hatte er es aufgegeben, nach Erklärungen zu forschen, alles war Fügung. Jeder Schritt im menschlichen Leben wurde gelenkt von unbekannten Gewalten, guten und bösen. Sinnlos, sich dagegen zu sträuben. Nun, er sträubte sich nicht mehr, er forschte auch nicht mehr – er war in der Hand des Allmächtigen, der die Haare auf seinem Haupte gezählt hatte. Sollte es so sein!

Frau Hähnlein hinter der Wand begann zu wimmern, zu klagen, zu beschwören. Nun begann es wieder. Es half ihr nichts. Der Mensch ist ein Tier … obschon seine Frau leidend war – ein Tier war dieser Hähnlein.

Dann wurde es wieder still, die Geräusche im Hause erstarben mehr und mehr, und nur noch die Schreibmaschine hinter der Türe klapperte.

Schreibe du nur! sagte Herr Herbst zu sich – um sich zu beschäftigen, die Nacht war lang – »Deine Zettel, deine Reden, deine …« Lange Wochen war ihm dieser Soldat im weiten Mantel ein Rätsel gewesen. Was trieb er, was tat er in den Nächten? Oft hielt er Reden, förmliche Reden. Erst vor kurzer Zeit, beim Januarstreik, hatte er ihn plötzlich erkannt! Mit eigenen Augen und Ohren sah und hörte er, wie er zu einem Haufen streikender Arbeiter sprach, nebenan, bei den Laubengärten – und was er sagte, Grundgütiger! Es gab keinen Zweifel mehr, er war – ein Spion, ein Agent … gehörte zu jenen, von denen die Zeitungen schrieben, daß sie Geld bekommen von den Feinden. Er stand auf einem Steinhaufen, redete, schrie und schwang die Soldatenmütze. Keine Granate mehr! Da aber kam die Polizei, und sie liefen – und auch er lief. So schnell wie die andern – hahaha! So schnell liefen sie, solche Angst hatten sie …

Manchmal kamen auch Freunde zu ihm, meistens junge Leute, Kameraden, die laut schrien und alle wild durcheinander redeten. Unvernünftige, Unerfahrene. Was für Leute waren das? Nun … dieselbe Sorte, um kein Haar besser. Für sie gab es nichts Heiliges, nichts vor dem sie haltmachten. Die Minister, was waren sie? Nun – höchst einfach – Dummköpfe und Verbrecher! Und die Generale – höchst einfach – geputzte Narren! Und die Diplomaten – selbstgefällige Gecken! Ja, sie, sie, diese jungen Leute, sie waren viel klüger als diese Minister und Diplomaten! Aber die höchsten Fürstlichkeiten, was waren sie – nun, er würde sich schämen, die Worte zu wiederholen. Aber auch die feindlichen Staatsmänner, Präsidenten und Minister, was waren sie – ganz das gleiche verbrecherische Gesindel. Nein, nichts gab es, was ihnen Respekt einflößte. Hat man es je gehört: Die deutsche Regierung bestand aus Anarchisten, die Tag und Nacht darüber nachdachten, wie sie das Deutsche Reich am schnellsten zugrunde richten könnten? Wie? War es denkbar?

Aber, was waren diese Leute in Rußland, diese Räuber und Diebe? – Heilige waren sie, nicht mehr und nicht weniger.

Ja, völlig neu mußte die Welt aufgebaut werden, von Grund auf – und sie, diese jungen Leute, die so laut schrien, sie allein wußten, wie alles gemacht werden mußte. Sie ganz allein.

Manchmal flüsterten sie auch, tuschelten, raunten, geheimnisvoll –

In diesem Augenblick lachte Ackermann in seinem Zimmer laut auf und sagte: Man sollte es nicht für möglich halten –

Und wütend prasselte die Schreibmaschine.

Nicht für möglich halten?

Warte nur, du, du … he?

Hast vergessen, daß Gott jeden deiner Schritte bewacht, daß die Haare auf deinem Haupte gezählt sind – die Fügung hast du ganz vergessen.

An den Sonntagen, da saßen sie oft bis in die späte Nacht und debattierten, schrien, sprachen durcheinander, daß man kein Wort verstand. Neu, völlig neu sollte die Welt erstehen!

Und sein Mädchen saß dabei, an den Sonntagen! Es war ja selbstverständlich, daß dieser, dieser – ein Mädchen hatte, aber, daß sie dabeisaß, während es nichts Heiliges für sie gab? Nein, nein, es störte sie gar nicht, nicht im geringsten. Im Gegenteil? Sie kochte Tee und sagte: Bitte, meine Herren – bitte. Und so ging es den ganzen Sonntag bis nachts um zwei, drei Uhr. Bitte, meine Herren – und sie qualmten, daß der Rauch durch die Türe quoll und er husten mußte, obschon er doch selbst ein starker Raucher war. Worte flogen, Worte, wilde, verwegene Worte.

Und sein Mädchen saß mitten unter ihnen!

Da schwieg die Schreibmaschine plötzlich. Ackermann verließ das Haus. Sein Schritt eilte die Treppe hinab, die Haustüre wurde ins Schloß geworfen. Bis zum grauenden Tag würde er nun fortbleiben.

Wann schläft er eigentlich? dachte Herr Herbst in seinem Bett.

Nun war es ganz still geworden. Es knackte in den Balken, rieselte in den Mauern, die Wände seufzten.

Ja, ganz still und dunkel.

Mitten in der unendlichen Dunkelheit und Stille saß der kleine alte Mann, und plötzlich begann er zu flüstern. Leise, oh, so leise – nur er hörte es.

»Robert – mein Sohn – Geliebter, Teurer – mein Liebling –!«

Zärtlich streckte er die kleinen Hände der Dunkelheit entgegen.

 

10

Mit der Minute kehrte der General abends aus dem Amt zurück. Er plauderte wie gewöhnlich etwas mit Niki, dem Kanarienvogel; plötzlich aber brach er die Unterhaltung ab und zeigte ein ganz unbegreifliches Interesse für den Papierkorb. Zuerst blickte er in den Papierkorb hinein, dann wühlte er darin mit der Hand, endlich stülpte er den Korb über den Arbeitstisch. Nichts. Es war sonderbar, jeder unbedeutende Zettel fand sich wieder – zum Beispiel, sollte man es glauben, Schnitzel jenes Briefes, den er vor einer vollen Woche an den Chefredakteur einer großen, besonders im Ausland vielgelesenen Zeitung in einer Aufwallung geschrieben hatte, worin er diesem Chefredakteur – – auch dieser Prospekt – alles, jede Kleinigkeit.

»Sonderbar, höchst sonderbar!«

Nicht ein Fetzen, nicht einmal ein Eckchen jenes grünen Briefumschlages, er würde die Farbe ja sofort wieder erkennen. Doch hier – nein, ein Notizzettel zu seiner Denkschrift: Die Armee der Frauen – worin er empfahl, diese brachliegende ungeheure Armee zum Wohle des Vaterlandes systematisch zu mobilisieren – lächerlich, alles, jede Kleinigkeit, aber von diesem Briefe: nichts.

Schon schlugen die Uhren.

Der General hatte heute aus dienstlichen Rücksichten bei Frau v. Dönhoff abgesagt und sich erst nach Tisch angemeldet.

Der Lüster im Speisezimmer brannte.

Dieser Lüster war aus schneeigem Glas, Tulpen, Prismen, Perlen. Eine Grotte aus schimmerndem Schnee, die leuchtete ohne zu schmelzen.

Das Zimmer war leer. Ruth war noch nicht da.

Daß er auch gerade diesen Brief – da trat Ruth ins Zimmer. Heiter und gut gelaunt, mit einer jungenhaften Verbeugung, wünschte sie »Guten Abend«.

»Frau v. Dönhoff läßt grüßen, Papa«, sagte sie, indem sie Platz nahm.

»Hast du Besuch gemacht?«

»Nein, ich traf sie auf der Straße.«

Jakob stürzte hinter seinem Schrank hervor, um die Serviette aufzuheben, die dem General entglitten war.

»Otto geht es gut?«

»Ja, nur zwei, drei Wochen«, erwiderte der General.

Es hatte beinahe den Anschein, als wolle eine Unterhaltung in Gang kommen. So leicht gingen die Worte hin und her. Da aber runzelte der General die Stirn, irgendein Gedanke war ihm durch den Kopf gegangen.

Schweigen. Jakob wechselte die Teller. Die Miene des Generals drückte deutlich den Wunsch aus, nicht mehr gestört zu werden.

Plötzlich hob er das Gesicht vom Teller und richtete den Blick voll auf Ruth. Ohne Zweifel, sie sah verändert aus! Daß es ihm erst heute auffiel? Sie trug auch eine andere Frisur, einen einfachen Knoten, der ziemlich tief im Nacken lag. Es sah aus, als habe sie soeben die Haare gewaschen und die Frisur rasch aufgesteckt. Diese Frisur mißfiel dem General, sie verriet geringe Sorgfalt. Wie gewöhnlich war ein Lächeln über Ruths Gesicht gebreitet, und besonders die langen Brauen, die über den Wangen schwebten, lächelten. Oh, wie genau kannte der General dieses Gesicht und dieses Lächeln!

Es war das Gesicht ihrer Mutter und das Lächeln ihrer Mutter. Dies war einer der Gründe, weshalb der General es vermied, in das Gesicht seiner Tochter zu blicken.

Ruth hob den Blick, und für eine Sekunde waren ihre Augen auf ihn gerichtet. Auch diese Augen kannte er genau, zu genau: sanft, schimmernd, schwärmerisch – aber, ein Nichts, und die Schwärmerei wandelte sich in Hysterie.

»Jakob!« Der General deutete mit dem Messer auf die leere Fachinger Flasche. Der Bursche stürzte zur Türe hinaus. Röte ergoß sich in das Gesicht des Generals.

Wo war sie?

Nun wäre der geeignetste Augenblick –

Es wäre ja das Natürlichste gewesen, Ruth ohne Umschweife zu fragen, wo sie in der vergangenen Nacht gewesen war. Vielleicht war sie bei Freunden und hatte dort übernachtet, weil sich kein Wagen auftreiben ließ? Möglich. Wahrscheinlich würde die Sache sich aufs Harmloseste aufklären. Aber diese Frage ließ die Tradition der Familie Hecht-Babenberg nicht zu, wo jeder eine kleine abgeschlossene Welt für sich bildete, die es vermied, die andere zu berühren. Eine Art luftleerer Raum trennte diese Welten, der die Worte verschlang und ihren Klang und Sinn entstellte.

Die Augen der Sommerstorf würden sich voller Staunen auf ihn richten, als ob er etwas völlig Unmögliches und Undenkbares ausgesprochen habe. Etwas, das der Welt der Sommerstorf völlig fern lag, das die Welt der Sommerstorf nie begriff und nie begreifen konnte. Ruth würde lächeln und die Brauen in die Höhe ziehen. Ja, auch dieses Flattern der Brauen liebte der General nicht und die leise Überheblichkeit, die im Lächeln der Sommerstorf lag.

Seine Gedanken verdichteten sich, ballten sich zusammen, die Stirn wurde düster.

Behutsam schob Jakob mit seinen großen, in weißen Wollhandschuhen steckenden Händen die neue Flasche Fachinger auf den Tisch.

»Der Wagen ist da?«

»Jawohl, Herr General!«

Und die Limousine zwitscherte die Tiergartenstraße hinunter zur Lessingallee. –

»Hoffentlich geben sie ihm bald ein Frontkommando!« dachte Ruth, die sofort hinter dem General das Haus verließ. Sie hatte sich am Kemperplatz, ganz in der Nähe, mit jemand verabredet.

Beim Rolandbrunnen am Kemperplatz stand schon dieser Jemand und wartete. Er hob sich fast ebenso deutlich ab wie der Roland auf dem Brunnen selbst. Ruth lief wie ein junges Mädchen – lief dem Jemand in die Arme.

»Papa kam heute unvermutet zu Tisch«, sprudelte sie hervor. »Seine Laune wird immer schlechter. Wollte Gott, daß er bald wieder an die Front käme –«

»Wollte Gott, daß es bald keine Front mehr gäbe –«

»Ein herrlicher Abend, aber etwas kühl!«

»Es ist immer herrlich, wenn Ruth da ist.« Und der Jemand hüllte Ruth in seinen Mantel.

 

11

Noch immer saß der kleine Herr Herbst inmitten der unendlichen Dunkelheit und flüsterte zärtlich den Namen seines Sohnes. Sein kleines, hohlwangiges Gesicht war in Tränen gebadet.

Da – nun wurde es lichter an der Türe – nun kam er! Der Teuerste, Heißgeliebte kehrte aus dem Reiche der Schatten, wie die Menschen es nennen, zu seinem Vater zurück, wie in jeder stillen, dunkeln Nacht.

Ein fahler Schein ging von der Türe aus – und er erschauerte. Ja, ja, er war es, der Geliebte, Beste. Deutlich sah er ihn im fahlen Schein stehen: genau so sah er aus wie zu Hause auf dem Bilde. Ein Soldat im Helm, ein Jäger, jung, ein blutjunges Bürschchen, in der Rechten den Gewehrlauf, der mit Blumen geschmückt war, ganz wie an jenem furchtbaren Tage, da er ihn zum Bahnhof begleitete.

Eisige Kälte brachte er mit aus dem Reiche der Schatten. Der alte Mann zittert. Die Kälte kroch über ihn, und er fühlte, wie sein kahler Schädel einschrumpfte. Die Angst schnürte ihm die Brust zusammen, und doch war es süß – erlösend.

»Bist du es?« flüsterte er voller Verzückung.

»Mein Sohn, mein Liebling!« Und er streckte seine eisigen, kleinen blauen Hände gegen die Türe aus.

»Bist du wieder hier?« Niemals sprach die Erscheinung, und er wartete auch nicht auf Antwort. Sie stand, regungslos, und blickte unverwandt auf ihn. Manchmal sah er deutlich die Augen, nicht immer. Seines Sohnes Augen, deren Glanz und Färbung er nie vergaß – glänzend und kristallen wie die Augen eines unschuldigen Tieres – während die Züge des Gesichts zuweilen schon seinem Gedächtnis entglitten.

»Bist du zurückgekehrt zu Papa –?«

Aber, Entsetzen! Wieder begann der Teure zu bluten –

Von der Stirn floß plötzlich dunkles Gerinnsel, gewiß, dort hatte ihn das tödliche Geschoß getroffen. Das Blut floß, es strömte, es färbte die Uniform dunkel, lautlos strömte es auf den Boden, ohne Ende. Und der Teure stand, regungslos blutete er, ohne jeden Laut …

»Wie schrecklich du heute wieder blutest, mein Einziger!« flüsterte der kleine alte Mann – oh, so leise! – und rang die Hände. Die Tränen stürzten über seine Wangen. »Immer noch findest du nicht Ruhe, du Teuerster? Warte, gedulde dich – ich habe schon an ihn geschrieben, er wird antworten – gewiß … Alles werde ich versuchen, nichts werde ich unversucht lassen – ich gelobe es – mein Liebling –«

Und er flüsterte, versprach, rang die Hände, verhüllte das tränennasse Gesicht –

Da wurde es licht, der Schein einer Kerze, und augenblicklich zerfloß die Erscheinung. Nichts blieb als die hellgestrichene Füllung einer Türe mit einem schwarzen Schloß.

Nicht eine Kerze, der Mond war über die Dächer gekommen. Ein Lichtkeil spaltete plötzlich die Dunkelheit des Zimmers. Erschrocken zog Herr Herbst die Hände aus dem Lichtstrahl zurück, als würden sie verbrannt.


Die Dunkelheit war zertrümmert, und nun kamen auch die Geräusche zurück. Stimmen murmelten, es hustete, alle Arten von Husten, vom pfeifenden Frauenhüsteln bis zum brüllenden Husten erkälteter Männer. Schlaflos war das ganze Haus, es brauchte nur der Mond über die Dächer zu kommen, aus Glas schien es zu sein. Die Lider standen im Schlummer geöffnet, wie bei den Toten, und die Strahlen des Mondes stachen wie Nadeln in die bloßgelegten Hirne.

Nebenan wimmerte ein Kind, eine Bettstelle knarrte.

»Bist du denn wieder aufgestanden?« zischelte es hinter der Wand.

»Ja, ja«, entgegnete Hähnleins heisere Stimme. »Ich sehe mir den Mond an.«

»Wie soll ein Mensch das ertragen?«

»Beruhige dich, Mutter – bald, ja bald –!«

Ermattet saß Herr Herbst, bebend vor Erschöpfung. Das Gespräch mit dem Sohn hatte ihn völlig entkräftet. Der Teure sog alle Kraft aus ihm. Das Herz zuckte in seiner Brust. Er wischte sich den Schweiß von der Stirne.

Ach, wie entsetzlich er doch wieder geblutet hatte – er litt – rasch mußte er handeln, rasch!

Er versank in tiefes Nachdenken. Langsam, wie betäubt bewegten sich die Gedanken in seinem kahlen Kopf, schlafschwer krochen sie dahin wie Schatten auf den Dächern. Das Geflüster und Gezischel hinter der Wand störte ihn nicht. Hähnleins alte Litanei – die Litanei des Elends und des Hungers. Nein, das Elend fremder Menschen machte keinen Eindruck mehr auf ihn. Worte, Nichtigkeiten! Weshalb sollten nicht andere ebenfalls unglücklich sein, alle. Neulich hatte er mit angesehen, wie ein vornehmer Herr von einem Militärlastauto überfahren wurde – gerade über das rechte Bein war das schwere Doppelrad gegangen. Er war in verzweifelter Stimmung, sofort aber besserte sich seine Laune! Die Unglücklichen weiden sich am Unglück, die Kranken an der Krankheit, die Armen an der Armut – nur die Glücklichen, das ist etwas ganz anderes, sie weiden sich nicht am Glück. Sie sehen andere Menschen nicht mehr.

Langsam – aber schließlich fand er sich doch zurecht in all den Dunkelheiten.

Nein, keine Antwort. Hunderte warten!

»Der General antwortet nicht!«

»Nein, nein!«

Erregt setzte er sich auf.

»Was aber dann? Was dann?«

Im Nu hatte er die Füße auf den Boden gestellt. Er saß mitten im Mondlicht und blickte zum Fenster hinaus. Sein Schädel glänzte wie eine Quecksilberkugel, seine Augen schimmerten wie die Augen toter Fische, die schon lange liegen. Er lauschte in sich hinein, er grub in seinem Gehirn. Plötzlich begann sein gleißender Schädel zu dampfen, Rauch kräuselte aus seinen Augen. Eine Wolke glitt über den Mond. Wieder glänzte die Quecksilberkugel. Aber plötzlich saß er gänzlich ohne Kopf da. Der Mond glitt hinter einen Schornstein. Als er wieder ins Zimmer blendete, hatte Herr Herbst die Hälfte seines Volumens verloren. Er hatte den Havelock abgelegt.

Rasch, rasch riß er den Kragen und die kleine schwarze Binde ab und steckte den Kopf in eiskaltes Wasser. Der Mond funkelte.

Einen ungeheuren Gedanken hatte der Mond im Gehirn des kleinen Herrn Herbst wachgeblendet.

Er konnte gar nicht genug eiskaltes Wasser über seinen Kopf gießen. Fieberhaft rieb er sich ab, zog Kragen und Binde an.

»Ja, ja, weshalb nicht –?« Rasch schlüpfte er in den Havelock.

»Ich werde –«

»Ich werde –«

» Ich werde ihn besuchen!«

Schon rannte er zur Türe hinaus. Halt! wohin? es ist mitten in der Nacht! Aber nichts hielt ihn zurück. Mit raschen Schritten eilte er die leere und verödete Fabriciusstraße hinab.

Ah, und wie eisig kalt es war!

 

12

Dora lachte belustigt auf.

»Achttausend Mark, Ruth, ich bitte Sie! Für eine ganz einfache Gesellschaftstoilette! Und ein Hemd, ganz und gar nicht luxuriös, etwas billige Spitzen, ein paar Seidenschleifen – fünfhundert Mark. Es ist wirklich eine Komödie. Ich wage es schon gar nicht mehr, ein Geschäft zu betreten.«

»Wie wird es aber werden?« fragte Ruth und zog die Brauen hoch. »Die Hälfte der Bevölkerung hat schon keine Wäsche mehr. Die Kinder schlafen auf Papier.«

Dora fand das sehr spaßig.

»Wie es werden wird? Höchst einfach, im nächsten Jahr werden wir uns alle in Papier kleiden, Ruth, und das wird ungeheuer lustig werden! Sie erinnern sich an die Dame, die im vorigen Sommer ohne Strümpfe Unter den Linden ging? Wenn man hübsche Beine hat, ist das reizend. Aber denken Sie sich eine Gesellschaft, ganz in Papier gekleidet! Die Industrie wird die reizendsten Farbtöne erfinden –« Dora mußte vor Lachen abbrechen – »Der General meint allerdings –«

»Was meint Papa?«

»Er sagt, die Industrie habe Ersatzstoffe erfunden, die viel besser sind als Wolle und Seide. Zum Beispiel, nun wie heißt sie, diese Patentfaser? Die ganze Lüneburger Heide soll mit Brennesseln bepflanzt werden, doch das wird wohl noch ein Weilchen dauern. Aber hören Sie, Ruth, welch blendende Idee! Ich werde bei meinem Hausball Papierkostüme vorschreiben!« Dora klatschte vor Vergnügen in die Hände, und wieder füllte ihr Lachen Ruths kleinen halbdunkeln Salon mit Heiterkeit und tausend Schelmereien. »Süß sehen Sie aus, mein Kind. Woher stammt diese Bluse? Lassen Sie fühlen, herrlich! Das ist noch Seide! Was man heute für schweres Geld bekommt, ist ja Schund, den früher unsere Neger getragen haben. Aber denken Sie doch Ruth, wenn wir erst in einer Papierserviette schlafen gehen werden –!« Es war Dora gänzlich unmöglich, diese drolligen Phantasien abzuschütteln.

Ruth bereitete den Tee, während die schöne Dora schwatzte und lachte. Sie folgte mit zärtlichen Blicken jeder Bewegung Ruths, die sie liebte. Ja, aufrichtig liebte, obschon sie ganz anders war, vielleicht, weil sie ganz anders war. Und sie fand sie in vieler Beziehung so amüsant! Zum Beispiel, der Hut hing auf einer Blumenvase und – bei Gott – ein kleiner schwarzgelber Abendschuh lag verlassen auf dem Sofa. War das nicht süß? Und die Teemaschine stand auf dem Schreibtisch, natürlich floß das kochende Wasser auf die Platte. Nein, wie reizend! Früher war Ruth häufig bei ihr gewesen, sie hatten zusammen musiziert –

»Singen Sie noch, Ruth?«

»Wenig nur, leider.«

Aber nun sah man sie selten. Dora nahm es ihr nicht übel. Sie liebte sie trotzdem, wie sie alle Menschen, die ihr nichts zuleide taten, liebte, wenn sie guter Laune war. Hatte sie aber ihre bösen Stunden – nun, da hätte sie ruhig sehen können, wie man die Menschen vor ihren Augen abschlachtete – aber das war natürlich eine Übertreibung. Dora konnte grausam sein, sehr grausam, wenigstens dachte sie es.

Butzi, der Griffon, ließ den schwarzgelben Abendschuh, der neben dem kleinen Sofa auf dem Boden lag, es war der zweite, plötzlich aus den Zähnen und schlich zur Türe.

Er steckte die Nase in die Ritze zwischen Schwelle und Türe und blies.

Dann aber schnellte er erschrocken auf allen vieren zurück …

Die Türe öffnete sich – behutsam – leise – und das breite steinfarbene Gesicht des Generals, nachdenklich gesammelt, wurde sichtbar. Aber schon in der nächsten Sekunde verschwand die nachdenkliche Sammlung und die Steinfarbe – betreten und überrascht prallte das Gesicht zurück und färbte sich rot.

Der General erschrak genau wie Butzi und wich genau wie Butzi zurück. Butzi erholte sich sogar zuerst und begann zu kläffen.

»Herr General?« rief Dora überrascht aus.

»Papa?« fragte Ruth leise und ungläubig.

»Ich bitte zu verzeihen, wollen die Damen, bitte …«

Dora lachte. »Kommen Sie doch, Herr General, wir sind eben bei den interessantesten Gesprächen.«

»– will nicht stören – ich wollte nur – ich hörte Stimmen – guten Tag, meine Damen.« Und der General verschwand sofort wieder und schloß leise die Türe hinter sich.

Butzi hatte gesiegt. Er kläffte wütend hinter dem abziehenden Gegner her.

»Was wollte er denn?«

Ruth schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Er kommt sonst nie in mein Zimmer.«

»Er ist argwöhnisch, Ruth«, sagte Dora.

Ruth blickte auf und errötete.

»Ja, ja, er glaubt, Sie haben einen Geliebten«, fuhr Dora fort und blinzelte mit dem rechten Auge.

Die Röte wich aus Ruths Wangen. Sie wurde bleich.

»Er glaubt –?«

»Ja, er hat Sie doch neulich erwischt.«

»Sie kamen erst am Morgen nach Hause. Er erzählte es mir. Gott, wie sie erschrocken ist, die Kleine. Ich habe es ihm natürlich ausgeredet. Sie können sich das wohl denken.«

»Ich bin bei Platens im Grunewald gewesen, und es wurde sehr spät.«

»Und Sie haben es ihm nicht gesagt?«

»Ich? Wieso? Er fragte nicht. Schließlich ist es auch nicht seine Sache. Nehmen Sie Süßstoff, Dora? Ich habe keinen Zucker.«

Ja, nun wurde also Tee getrunken, lange genug hatte es gedauert – und draußen goß es in Strömen, welches Wetter, in diesem Berlin! Dora zündete eine ihrer dicken englischen Zigaretten an.

»Aber vielleicht hat er doch recht, der General –?« sagte sie, und wieder blinzelte sie mit dem rechten Auge.

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, ich meine nur – so – so …«

Dora lachte. Es machte ihr Vergnügen, scheue Menschen in Verlegenheit zu bringen. Dann aber änderte sie den Ton.

»Und Dietz geht es gut in Bukarest?«

»Sehr gut, danke. Er bewohnt eine reizende Villa, reitet täglich spazieren, es fehlt ihm wirklich an nichts.«

»Hören Sie Ruth – aber Butzi, sehen Sie, er zerreißt Ihnen den ganzen Schuh –«

Ruth nahm den Schuh und warf ihn zu dem andern auf dem Sofa.

»Ich wollte sagen, Ruth, wenn Sie erst einmal auf Ferchow wohnen – es ist der schönste Sitz in Pommern, und Sie haben da einen chinesischen Pavillon auf einer Insel im See, märchenhaft, die Armins haben ja ihr Gut nebenan – wenn Sie erst auf Ferchow wohnen, versprechen Sie mir –«

Ruth unterbrach sie.

»Ich werde nie auf Ferchow wohnen, Dora!« sagte sie, jede Silbe betonend.

»Wie? Aber –?«

Ruth blickte Dora in die Augen.

»Nein, niemals!«

»So erklären Sie mir doch, meine Liebste –?«

»Sprechen wir nicht mehr davon.«

»Aber, ich bitte Sie, Ruth, wollen Sie mir nicht –?«

Doppelt so groß wie gewöhnlich waren Doras blaue Augen vor Erstaunen.


Das nächstemal war der General vorsichtiger. Er erkundigte sich erst, ob seine Tochter ausgegangen sei, und klopfte zur doppelten Vorsicht vorher an. Zu peinlich war es ihm neulich gewesen – Dora saß da, Ruth, nicht einmal angeklopft hatte er – was mochten sie denken von ihm?

Er hatte jahrelang Ruths Zimmer nicht betreten. Jahrelang hatte er sich überhaupt nicht im geringsten um Ruth gekümmert, ihr jegliche Freiheit gelassen, seinen Grundsätzen gemäß – nun aber schien es ihm an der Zeit zu sein …

Nicht ohne eine gewisse Scheu trat er ein.

Sofort aber waren diese beiden Augen auf ihn gerichtet, obwohl er den Blick abgewendet hatte, denn er wußte genau, wo das Bild hing. Diese Augen leuchteten ihm entgegen, und der General fühlte ihren schimmernden Blick durch die Lider hindurch, ja selbst durch den Kopf, wenn er das Gesicht abwandte. Er räusperte sich und murmelte etwas vor sich hin, um sein Gleichgewicht wieder zu finden.

Rügend schüttelte er den Kopf: Welche Unordnung!

Auch diesen Mangel an Ordnungssinn hatte sie von der Sommerstorf geerbt, keineswegs von ihm. Augenblicklich schossen ihm in einer Sekunde tausend Erinnerungen durch den Kopf. Da war, zum Beispiel, die Naht am Handschuh geplatzt, und sie machten Besuch beim Regimentskommandeur. Es war äußerst peinlich. Der Regimentskommandeur sah sofort die geplatzte Naht des Handschuhs, es sah aus, als sähe er überhaupt nichts anderes. Und da kamen, zum Beispiel, Gäste, sie waren auf acht Uhr geladen. Sie kamen, und der Salon war völlig in Unordnung. Notenblätter waren überall umhergestreut, und die Tischdecke lag voll von Rosenblättern, die von einem welken Strauß abgefallen waren. Wie in aller Welt sollte er sich denn vor den Gästen entschuldigen? Aber die Sommerstorf lachte nur darüber. Gerade über solche Dinge konnte sie ausgelassen lachen. Es fehlte ihr jedes Organ dafür. So waren sie, die Sommerstorfs. Sie kamen nicht umsonst aus dem Süden.

Ein Hut lag auf dem Tisch im Salon, daneben eine Schere und eine Rolle Zwirn. Die Nadel stak in der Tischdecke. Zeitungen waren über das Sofa verstreut, und in der Ecke lag sogar ein Abendschuh. Überall Schreibpapier, Bücher.

Zerstreut nahm der General ein aufgeschlagenes Buch vom Schreibtisch. Marx.

Karl Marx.

Ein Sozialist!

In dem Buche waren Stellen angestrichen. Sie arbeitete darin.

Einen Augenblick war der General geneigt, diese Lektüre für eine junge adelige Dame unpassend zu finden. Schon wollte er den Kopf schütteln. Aber er überwand sich. Mochte sie – weshalb nicht – wenn sie Interesse dafür hatte? Auch ein Sozialist hatte ja wohl manches zu sagen, was interessieren konnte – im übrigen, sie hatten ja in der Stunde der Gefahr das Vaterland über den Internationalismus gestellt, bewilligten die Kredite, was man wollte, gingen mit durch dick und dünn – in der Tat, sie hatten sich als wahre und echte Patrioten erwiesen!

Viele Bücher. Stöße von Büchern. Autoren und Titel waren ihm unbekannt. Er hatte keine Zeit, Bücher zu lesen – der Dienst – seit zwanzig Jahren hatte er eigentlich kein Buch mehr in die Hand genommen – seit dreißig, von fachwissenschaftlichen Werken natürlich abgesehen.

Im übrigen, diese modernen Autoren, soviel er von ihnen wußte, sie beliebten Konstruktionen, lebten in einer fiktiven Welt – während seine Welt, die Welt des Generals, eine Welt der harten Tatsachen war, ohne Beschönigung, ohne Lüge und Poesie, einfach der harten Tatsachen.

Aus einem Buch fiel ein Brief: »Geliebte Ruth« – sofort schob ihn der General wieder in das Buch zurück. Wieder schüttelte er rügend den Kopf. Daß sie, zum Beispiel, nicht daran dachte, daß Unberufene, etwa Therese, den Brief lesen könnten! Erschreckend diese Ähnlichkeit in den kleinsten Charakterzügen. Auch ihre Mutter hatte die wichtigsten Briefe und Schriftstücke herumliegen lassen. So hatte es ja seinen Anfang genommen …

Wiederum fühlte er den Blick der leuchtenden Augen so stark, daß die Hand matt wurde, die das Buch hielt. Deutlich, ganz deutlich hörte er eine Stimme in seinem Kopf, die irgendwo geschlafen hatte. Er verstand nicht die Worte, die diese Stimme aussprach, aber er hörte ihren Klang, ganz deutlich, und es war doch schon viele Jahre her, daß er diese Stimme zum letzten Male gehört hatte.

Diese Stimme wurde lauter und lauter und nahm einen immer heitereren Klang an. Deutlich hörte er, wie diese Stimme in seinem Kopfe oder irgendwo – sie schien irgendwo verborgen zu sein! – zu lachen anfing, ein Lachen, heiter, spöttisch. Der General legte das Buch zurück.

Traurigkeit stieg plötzlich in seinem Herzen auf.

»Was will ich eigentlich hier?« sagte er. Nachdenklich verließ er das Zimmer, während die Augen des Bildes ihm bis zur Schwelle folgten –

Und Marx? Weshalb nicht Marx? Aber es war eigentümlich, dieser Name klang in ihm weiter.

Als er wieder über den Korridor schritt, hatte er die Empfindung, aus einer fremden Welt und andern Zeit gekommen zu sein. Niki zwitscherte fröhlich sein Lied, und alle Dinge betonten plötzlich ihre Wirklichkeit und Vertrautheit.

Übrigens war es auch frostig in Ruths Zimmer gewesen.

 

13

In der kahlen, verwahrlosten Fabriciusstraße erscheint – ist es möglich, an einem Wochentage, in diesen Zeiten – ein Zylinder! Der Zylinder kommt näher, immer näher, er verschwindet im »Löwen von Antwerpen«.

Der bucklige Wirt blinzelt mit den düsteren Eulenaugen und bringt die Flasche Roten und das Schachbrett.

»Meine Hochachtung«, flüstert er, wie es seine Art ist, leise – er sprach jahrelang kein Wort, in einer gewissen Periode seines Lebens. »Sie treiben es nobel in diesen Tagen! Immer noch diese amtliche Sache?«

»Gestern war es leider nichts. Ich hatte versäumt – hatte ja keine Visitenkarten. Alles hat seine Formen. Plötzlich denke ich gestern: nun, und die Visitenkarten?«

Herr Herbst hatte sich verändert. Das Rasiermesser hatte Kinn und Wangen geglättet, und der Haarkranz war etwas geschnitten. Im ganzen hatte das Volumen des Kopfes nur minimal abgenommen, aber es schien, als sei der Kopf um die Hälfte eingeschrumpft. Und hinten im Nacken, wo der Hinterkopf ansetzte, waren faustgroße Höhlen sichtbar geworden. Wie in den letzten Tagen, trug er auch heute einen etwas verknüllten, zu langen schwarzen Gehrock, und wieder empfand der bucklige Wirt Hochachtung vor ihm, als er den Gehrock erblickte. Dieser kleine alte Mann, der mit dem Gläschen in der Hand vor den Munitionsarbeiterinnen tanzte und sich zum Gespött der frechen Geschöpfe machte – wer war er? Ein Heruntergekommener, ein Sonderling – er behauptete, Lehrer an einem Gymnasium gewesen zu sein, aber was behaupteten die Leute heutzutage nicht alles?

»Heute aber sollen die Karten fertig werden. Er hat mir sein Ehrenwort gegeben«, fügte Herr Herbst hinzu, und seine kleinen, etwas schmutzigen Hände rasselten gierig mit den Schachfiguren. Dieses Rasseln der Schachfiguren, immer erinnerte es ihn an einen kleinen Marmortisch mit blankgeputzter Messingeinfassung – sein Stammcafé in der Provinz, einst, lange war es her.

»Sie haben den Anzug, Herr Herbst!« flüsterte der Bucklige und schob das spitze Kinn über das Schachbrett.

Herr Herbst griff nach dem Glas. Seine Hand zitterte. Ja, schlimme Tage hatte er hinter sich. Er zerdrückte den Wein auf der Zunge zwischen den gelben Zahnstumpen. Plötzlich sah er deutlich – sollte man es für möglich halten? – das Gesicht des Generals im Glase! Er schloß rasch die Augen und ließ das ganze Glas durch die Kehle hinunterlaufen. Noch ein Glas – und nun war er bereit.

Kraft und Mut strömten aus dem Wein.

Furcht? Nein, nein, er hatte keine Furcht.

Er nahm das Aluminiumetui aus der Tasche, zündete sich eine Zigarre an und setzte sich zurecht.

»Und nun wollen wir einmal etwas ganz Neues versuchen.« Er zog den Turmbauern.

Noch weiter schob der Bucklige das spitze Kinn über das Brett.

Eine Falle? Wie, was? Was wollte er mit dem Turmbauern?

»Sie haben ja ein Feld zu weit gezogen.«

»Zu weit? Nun, dann nehmen wir ihn eben um ein Feld zurück.« So hochgemut fühlte sich Herr Herbst in diesem Augenblick, daß er den Bauern gleich über drei Felder vorstoßen ließ.

Die Partie begann. Beide waren leidenschaftliche Spieler.

Herr Herbst lehnte sich im Stuhl zurück und blies den Rauch in die Luft.

Furcht? Wieso? Vor wem? Vor ihm?

Die Karten würden um vier Uhr fertig werden, nun und dann …

Wieder trank er ein Gläschen.

Alles war ja in seinem Kopfe zurechtgelegt. Jedes Wort, die Rede floß in Gedanken. Und, hm, auch die Verbeugungen und Anreden hatte er schon eingeübt, ganz genau. Weshalb sollte er Furcht haben? Schließlich war er doch nicht der Kaiser, wie?

Kein Zweifel, er würde ihn zwingen, ihm Rede und Antwort zu stehen, jede Auskunft, die er wünschte, zu geben.

Er hatte ja die Briefe in der Tasche, zum Beispiel, am 4. August griff ein Jägerbataillon an, kein Mann kehrte zurück. Weshalb also mußte am 5. August – er würde natürlich in aller Höflichkeit, in aller Bescheidenheit …

»Schach der Königin!« rief er laut und warnend.

»Wahrhaftig! Nun, Sie erlauben, ich nehme den letzten Zug nochmals zurück – es heißt überlegen. Sie gehen ja scharf vor, heute.« Die düsteren Eulenaugen des Buckligen begannen zu glühen.

Herr Herbst griff in Wahrheit stürmisch an. Er fühlte sich seinem Gegner heute weit überlegen, und er hätte jede Summe gewettet, daß er gewann, obgleich der Bucklige für gewöhnlich stärker spielte – unter den jetzigen Umständen, früher, da hätte er ihn ja nie schlagen können.

Natürlich, der Kaiser war er ja am Ende nicht. Und schließlich – er würde ihm ja ebenfalls gefällig sein! Nein, nein, es war ganz und gar kein kleiner Dienst – bei rechtem Lichte betrachtet. Vielleicht würde er sagen: aber mein lieber Herr Herbst, weshalb sind Sie nicht früher gekommen? Wer weiß? Wer weiß?

Ja, so würde er beginnen. Von diesen jungen Leuten nebenan würde er berichten – von ihren Ideen, ihren Absichten, gefährlichen Absichten – nun ja, rascher als irgendein anderer würde der General verstehen.

Und dann würde er auf das Mädchen zu sprechen kommen –

»Vorsicht, Herr Herbst!«

»Ich sehe schon – eine richtige Falle. Ei, ei!«

»Aber was tun Sie?«

»Ich bin gezwungen, den letzten Zug zurückzunehmen.«

»Aber, aber –«

»Auch Sie haben ja einen Zug zurückgenommen.«

Dieses Mädchen also, so würde er sagen, hatte er zuerst gar nicht beachtet. Wie sollte er auch? Alle diese Soldaten hatten ja ihre Mädchen, nicht wahr, es war einmal nicht anders. Nicht beachtet. An den Sonntagen kochte sie den Tee, bot Zigaretten an. Sie selbst sprach eigentlich wenig, nur hier und da warf sie ein Wort ein. Man hörte ihre Stimme kaum, so fein klang sie.

An den Wochentagen kam sie zuweilen abends, und dann war sie mit ihm allein. Nun sie waren junge Leute, was sollte da besonderes dabei sein? Er hörte nicht zu, hatte seine eigenen Gedanken. Eines Abends aber, plötzlich sprechen sie über gewisse Dinge – wie interessant! Was ist das? Offenbar kennt das Mädchen genau die Familienverhältnisse einer gewissen hochgestellten Persönlichkeit. Nun, es war jedenfalls sonderbar, daß sie so genau Bescheid wußte –

Tief in seine Gedanken versunken, legte sich Herr Herbst im Sessel zurück und blies den Rauch in die Luft.

Sie plaudern also über gewisse Dinge, ganz harmlos. Sie denken wohl nicht, daß ich nebenan alles höre, denken wohl, ich sei ausgegangen.

Oben an der Türe sehe ich Licht.

Ich weiß wohl, was sich schickt und was unpassend ist – aber, aber, ich kann nicht widerstehen. Das Licht reizt mich. Ich trage den Stuhl zur Türe, vorsichtig natürlich – steige hinauf – so, so – strecke mich und blicke durch den Spalt. Ich drehe das Auge hin und her. Ah, da sitzt er also, der Soldat, und daneben – auf dem Sofa …

Plötzlich sehe ich ihr mitten ins Gesicht!

Der Schreck – glauben Sie mir – die Überraschung – ich wäre um ein Haar vom Stuhl gefallen! Denn wenn ich auch das und jenes dachte – ich glaubte es ja nicht – es schien mir unmöglich – die Stimme, hm, das Gespräch, aber es war ja unmöglich – und doch – doch!

Dieses Mädchen, Herr General, diese Dame –

»Schach und matt!« rief der Bucklige triumphierend, und Herr Herbst prallte zurück.

Also geschlagen, abermals geschlagen!

Herr Herbst zog die Uhr – er besaß eine goldene Uhr, sonderbar! – und wurde plötzlich von Unruhe ergriffen.

»Ja, nun wird es aber Zeit für mich – höchste Zeit!« sagte er und stülpte hastig den Zylinder über den Schädel. Ganz wie der steife schwarze Hut war auch der Zylinder um eine Nummer zu groß und sank auf die abstehenden grünlichen Ohren herab.

In höchster Eile verließ er die Kneipe.


Schon dunkelte es. Lautlos und unaufhörlich sank der schwarze Aschenregen auf die sterbende Stadt.

Eine Stunde später, und Berlin war völlig finster. Undurchdringliche Finsternis lag über den deutschen Landen, undurchdringliche schwarze Nacht lag über Europa, zuckend vor Schmerzen, gebadet in Blut und Tränen.

Wann endlich?

Horch! Hunderttausend Geschütze wiehern wollüstig durch Europas undurchdringliche schwarze Nacht.

Ja, wann endlich? Eile, binde deine Schuhe, Erlöser, und eile, wenn du kommen willst!

Schon sind Europas Augen blind vom Weinen, schon stockt der Schlag seines Herzens.


 << zurück weiter >>