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2.

Es war ein schöner Tag gewesen. Die Sonne warf ihre Strahlen in dicken Bündeln über die Stadt und zauberte Rembrandt-Effekte; die Menschen hasteten durch die Straßen, und der Lärm der Großstadt stieg wie die Melodie einer gigantischen Symphonie zum klaren Himmel. Selbst die unscheinbarsten Häuser und Menschen machten in der Beleuchtung einen netten und liebenswürdigen Eindruck.

Christian Mortensen stand am Gehsteig und musterte angelegentlich den etwas behäbigen Jeff Strucks, der aller Wahrscheinlichkeit nach auf einen Autobus wartete, denn er las die Wegkarte, die, auf blaues Email gedruckt, an der Säule hing. Zwischendurch fuhr er mit der Hand in den Kragen, der ihm etwas zu eng zu sein schien.

Neben Christian hielt John Farr, sein Diener; ein schmucker, junger Mann mit hübschem bartlosen Gesicht und schwarzen, unruhigen Augen, der die ganze Zeit über von einem Fuß auf den anderen trat.

»Besser wäre, ihn niederzuschlagen«, sagte Christian sinnend, ohne Strucks aus den Augen zu lassen, »aber der Polizeimann an der Ecke scheint lange Beine zu haben.«

»Ich würde es nicht tun«, meinte Farr und schüttelte den Kopf. »Solche Dinge erregen Aufsehen, und das können wir, weiß Gott, jetzt nicht brauchen.«

Angesichts der Vorsicht seines Begleiters konnte sich Christian eines gewissen Bedauerns nicht erwehren; für ihn stand es fest, daß er im Verlaufe der nächsten Stunde mit Jeff Strucks zusammenwachsen mußte, aber es war noch nicht klar, auf welche Weise dieses Zusammenwachsen erfolgen würde. Es war eher eine rein psychologische als materielle Angelegenheit. Im Falle eines Kampfes konnte der Sieg Christians im Hinblick auf seinen kräftigen und geschmeidigen Körperbau nicht zweifelhaft sein.

Sie waren dem etwas langsamen Strucks seit mehr als drei Stunden auf den Fersen, ohne daß dieser etwas gemerkt hatte, und nun reifte diese Tätigkeit zur Krisis heran. Jeff mochte auch etwas nervös sein, was im Hinblick auf die kommenden Ereignisse nicht gut zu sein schien. Er wäre aber noch nervöser gewesen, hätte er um die Absichten Christian Mortensens gewußt.

Jetzt rollte ein großer roter Autobus heran; er glich einem grell angestrichenen Schlauch mit einer Öffnung auf der Seite. Beim Umfahren der Ecke schwankte er wie ein betrunkener Dandy und hielt dann ächzend und stöhnend gerade vor Jeff Strucks, der sich sogleich daran machte, das Fahrzeug zu besteigen. Der kleine behende Farr folgte unverzüglich, während Christian noch stehen blieb; erst als sich der Wagen in Bewegung setzte, sprang er mit einem Satz nach und fiel natürlich auf den unsicher stehenden Jeff, der augenblicklich das Gleichgewicht verlor und sich auf den Schoß einer alten, sehr lebhaft gekleideten Dame niederließ. Die dichtgedrängten Fahrgäste beobachteten das ungewohnte Schauspiel je nach Laune und Temperament.

Christian rappelte sich mühsam auf; er murmelte zwischendurch eine Entschuldigung, die höflich klang. Dann lachte er.

»Es ist nicht meine Schuld. Manche dieser Fahrer haben die schlechte Gewohnheit anzufahren, ohne sich um das Publikum zu kümmern …«

»Sie haben achtzugeben«, knurrte Jeff bösartig und blickte sich kampflustig um.

»Ja – und ich komme mir recht unbeholfen vor, daß ich es nicht getan habe. Sie haben doch hoffentlich keinen Schaden genommen?«

»Hol Sie der Teufel«, knurrte Jeff Strucks ärgerlich und griff nach dem Halteseil.

Christian Mortensen ordnete seinen Anzug; er zwinkerte Farr zu, der knapp neben dem Ausgang stand, und warf einen Blick auf die Zieltafel. Dann sagte er grinsend: »Dabei bin ich sogar falsch eingestiegen.«

Der Autobus wurde einen Augenblick von einen Verkehrsschutzmann angehalten, und Christian, der jede Gelegenheit dankbar anerkannte, sprang heraus; hinter ihm Farr. Sie blieben stehen und blickten dem schwankenden roten Ungetüm interessiert nach.

Dann sagte Farr plötzlich eindringlich: »Achtung!«

Die Straße herauf kam Axel Nyström und die beiden verschwanden in einem Durchhaus.

Der schwere Wagen hielt mit einem Ruck gerade vor Nyström, der erstaunt den Kopf hob. Aus dem Inneren des Gefährts kam die rauhe und ungedämmte Stimme Jeff Strucks', der konsterniert und erbost eine Reihe recht häßlicher Bemerkungen losließ.

»Bestohlen«, schrie er atemlos und machte mit beiden Händen weitausholende Bewegungen, »auf offener Straße beraubt! Wo ist die Polizei … niemand darf den Wagen verlassen …«

Nyström blieb beim Eingang stehen und musterte Jeff aufmerksam; dann lächelte er. »Hallo, Strucks – was verloren?«

»Sie sind's?« sagte der andere und wandte sich blitzschnell um. »Jetzt kommen Sie, wo die Diebe schon über alle Berge sind? Verdammt die Polizei, die niemals zur rechten Zeit da ist …«

»Was Sie nicht sagen, Jeff?« Nyströms Stimme wurde immer sanfter. »Eine Menge Leute lebt davon, daß die Polizei niemals zurechtkommt. Was haben Sie verloren?«

»Verloren …« Der Anblick Nyströms schien Jeff Strucks in schreckliche Wut zu bringen. Er fletschte sogar die Zähne, was ihm ein unvorteilhaftes Aussehen gab. »Gar nichts verloren. Überfallen und beraubt, sage ich Ihnen. Das ist niederträchtiger Straßenraub – ärger als Mord. Na ja, die Polizei …«

»Wieviel hat man Ihnen geraubt?«

»Sechzigtausend, bares Geld, in Tausendernoten …«

Nyström nickte ununterbrochen wie ein guter Hausgötze. »So viel Geld tragen Sie bei sich herum?«

»Soviel und noch mehr«, bellte der andere. »Ich habe es vor zehn Minuten bei der Boden behoben. Sie können hingehen und sich erkundigen, falls Sie's nicht glauben.«

Nyström verlor niemals die Geduld. Er kam darauf, daß Jeffs Rock mit einem scharfen Messer aufgeschnitten worden war; einmal so weit, hatte der Dieb das Banknotenpaket anstandslos an sich nehmen können. »Die alte Sache; wahrscheinlich ist er auf Sie gefallen und hat sich dabei höflich entschuldigt.«

»Umgeworfen hat er mich …«

»Das ist ein alter Trick«, nickte der Inspektor behäbig. »Ich staune, daß Sie auf den Trick hineinfallen konnten.«

»Reden Sie keinen Unsinn! Ich hatte ja keine Ahnung, was der Mann wollte.«

»Das kann man niemals früher wissen«, sagte Nyström ruhig. »An den Taten sollt ihr eure Feinde erkennen. Das ist aus der Bibel, falls Sie das Buch vom Hörensagen kennen. – Wie hat der Mann ausgesehen?«

Jeff gab eine kurze Beschreibung des Fremden: mittelgroß, etwas hager, elegant gekleidet, Vollbart und Brillen mit Goldrand.

»Vollbart? Hm – wir haben momentan keinen einzigen von der Sorte mit Vollbart; die Leute gehen alle mit der Mode …«

»Er kann falsch gewesen sein.«

»Ausgezeichnet«, lachte Nyström und stieg ab. »Wir werden alles daransetzen, Ihnen Ihr Geld wieder zu verschaffen. Wenn Sie mal Zeit haben, Strucks, kommen Sie mich besuchen, ich möchte Sie was fragen. Zufahren – Schaffner …«

Der rote Autobus schoß mit einem grellen Aufheulen ins Straßengewirr.

Um die Zeit eilten Christian und Farr durchs dritte Durchhaus; in einem stillen Winkel zogen sie ihre Raglans verkehrt an und ersetzten ihre Reisekappen durch breitrandige dunkle Hüte; der Vollbart und die Brille flogen in eine Handtasche.

Das Geld deponierten sie teils in einer Bank, teils in den Postfächern zweier Postämter.

Eine Stunde später erreichten sie ihr Haus.

»Die Sache war brenzlig«, sagte Farr und rückte den Teetisch zurecht.

»Nur eine Minute lang; es hing alles davon ab, ob Jeff vor oder nach unserem Weggehen zu heulen begann.«

»Haben Sie gesehen, daß er heulte?«

»Nein.« Christian lächelte ergeben. »Aber ich denke mir's; Jeff gehört nicht zu den Leuten, die solche Ereignisse achtlos und still hinnehmen …«

Nach einer Weile kam's aus der Ecke, in der Farr stand: »Warum haben Sie's ihm gerade genommen?«

»Farr«, sagte Christian und bildete zwischen den Brauen eine Falte, »kümmere dich um Dinge, die dich angehen …«

Eine Weile später rief Tante Agathe an.

»Bist du dort, Christian?«

»Ja«, sagte Christian apathisch, noch in Gedanken bei Jeff Strucks, dessen Brieftasche er in der Hand hielt.

Tante Agathe, am anderen Ende der Leitung, überhörte den gelangweilten Ton, der erst durch ihren Anruf ausgelöst worden war, und erkundigte sich nach Christians Wohlbefinden.

Etwas mißtrauisch gab der junge Mann eine eingehende Erklärung ab; solche Gespräche waren nicht selten. Die alte Dame lebte im Wahn, alle Mitglieder der Familie wären ständig den Angriffen schlimmster Bazillen ausgesetzt.

»Schön, Bubi …« Obwohl Christian schon dreißig war, nannte sie ihn noch immer Bubi. »Und was soll ich Ulla antworten?«

»Was du willst, Tante Agathe.«

»Ah – bist du endlich so weit …« Ein langer Seufzer durchzitterte den Draht. »Du weißt, daß es mein Herzenswunsch ist, euch einmal als ein Paar zu sehen.«

»Schön, Tante; und was hat das mit meiner Gesundheit zu tun?«

»Bubi, sei nicht frech; ich möchte, daß du sie kennenlernst.«

»Ja.«

»Sie ist ein lieber und guter Kerl, Christian.«

»Alle Mortensen sind lieb und reizend.« Christian fühlte, wie ihn ein finsterer Trotz beschlich. Jedesmal, wenn Tante Agathe von Ulla Mortensen zu sprechen begann, überkam ihn dieses häßliche Gefühl.

»Sie interessiert sich für dich und würde dich mit Vergnügen heiraten.«

»Sie kennt mich gar nicht.«

»Doch – nach den Bildern und nach meinen Erzählungen.«

»Schrecklich«, sagte Christian.

Das Fräulein vom Amt mengte sich ein: »Sprechen Sie noch?«

Christian verneinte hastig. Die Gespräche mit Tante Agathe waren ermüdend, und von einer seltsamen Gleichmäßigkeit.«

Farr war der Unterredung mit weit offenen Augen gefolgt.

»Wieder die alte Geschichte«, sagte er neugierig.

»Schrecklich, Farr. Ich soll dieses scheußliche Frauenzimmer heiraten, nur weil die Tante es will.«

»Wieso wissen Sie, daß sie scheußlich ist?«

»Eine Mortensen«, lachte Christian ausgelassen. »Ich habe in meinem Leben keine hübsche Mortensen gesehen. Die Person muß bucklig sein und schielen.«

»Hat sie Geld?« forschte der praktisch veranlagte Farr weiter.

»Natürlich hat sie Geld, sonst wäre sie nicht so. Sie muß massig viel Geld haben … aber – ich heirate sie nicht.«

»Ich täte es auch nicht«, sagte Farr und begann das Geschirr abzuräumen. »Brauchen Sie mich heute noch?«

»Wir gehen um neun Uhr aus. Du kannst einige Kleinigkeiten zum Essen mitnehmen.«

Es wurde nahezu halb zehn, ehe sie sich auf den Weg machten. Seltsamerweise hatten sich zwei unbekannte Menschen auf dem Gehsteig vor dem Haus herumgetrieben, und Christian wollte an ihnen nicht vorbei. Er vermutete, daß es Polizisten waren.

So stiegen sie durch das Küchenfenster in einen Nachbarhof – brachten einen ohnehin ungeduldigen Hund zur Verzweiflung und kamen weit oberhalb ihres Wohnhauses auf die Straße zurück. Die Nacht war ziemlich dunkel, und große Wolken liefen eilig über den Himmel.

Abgesehen von der enganliegenden, dunklen Kleidung war nichts Bemerkenswertes an den beiden Wanderern. Sie hatten die Kappen tief in die Stirne gezogen und die Hände in den Hosentaschen stecken; so glichen sie den Leuten, denen sie in der Gegend begegneten und fielen nicht weiter auf. Jeder Stadtteil einer Großstadt hat seine eigenen Typen.

Später strich ein Regenschauer über die Gegend. Sie bogen mit leisem Frösteln von der Hauptstraße ab; weiter drüben war der Fluß, und ein großer Dampfer fuhr keuchend stromaufwärts. Die Straße war verlassen, und riesige Holzstapel säumten sie rechts und links ein.

»Scheint nicht sehr gesellig zu sein, der gute Jeff«, murmelte Christian, als sie das einsame Haus erreichten, das inmitten eines verwilderten Gartens stand. »Willst du vorausgehen und nachsehen, ob es Hunde gibt?«

Der kleine, schmächtige Farr zuckte leicht zusammen. »Es wäre besser, Sie täten es«, meinte er und schob den Kopf zwischen die Schultern. »Ich bin in der Jugend von einem Hund gebissen worden und habe seither einen Widerwillen gegen diese Tiere …«

Es war bestimmt jesuitische Kasuistik, aber Christian nahm es hin; manchmal tat ihm der Kleine leid. Schließlich konnte niemand von einem Diener verlangen, daß er sich dem Ansturm weiß Gott wie blutdürstiger Tiere aussetzte. Er sprang mit einem Satz über die niedere Mauer, trat in einen Haufen Konservenbüchsen und anderer Überreste menschlicher Mahlzeiten, und ging an die rückwärtige Front des Hauses. Auf seinen leisen Pfiff kam Farr nach; einmal lehnte er sich leicht an Christian, und der junge Mann fühlte, wie er zitterte.

»Hast du Angst?«

»Nein«, grinste der Kleine, »aber es ist reichlich frisch.«

Das Haus schien ausgestorben zu sein; nichts regte sich, nur das leise Pfeifen des Windes war zu hören. Die Sache war unheimlich, und es bedurfte nicht einmal einer telepathisch eingestellten Seele, um diese Art Ausflüge unangenehm zu empfinden.

Christian tastete sich leise über die ächzende Treppe; einmal blieb er horchend stehen; dann öffnete er geschickt das Schloß und trat in ein kleines, schlecht möbliertes Zimmer, in dem es nach unreiner Wäsche roch.

Der dünne Strahl der elektrischen Taschenlampe flitzte über die schmierigen Wände und blieb zitternd an einem kleinen Eisenkasten kleben, der halb in einer Nische stand.

»Aha«, sagte Christian, ohne den Grund seines Erstaunens näher zu präzisieren. Er nahm einen Schlüsselbund aus der Tasche und begann zu arbeiten. Es war eine schöne, aber gesellschaftlich verpönte Arbeit, und Farr betrachtete alles mit neugierigen Blicken; er schien ein junger Romantiker zu sein, der seinen Gefühlen keinerlei Zwang auferlegte.

Der Kasten sprang mit einem Seufzer auf und Christian nahm die darin liegenden Papiere heraus; einen großen braunen Umschlag prüfte er kurz, dann ließ er ihn in die Tasche gleiten. Ein Notizbuch folgte.

»Jeff wird etwas erstaunt sein«, sagte der junge Mann grimmig und warf den Kasten achtlos zu; er versorgte die Schlüssel in einem Lederetui. »Aber das hat nicht viel zu bedeuten … Hast du die Tür unten hinter dir geschlossen?«

»Ja. Warum?«

»Es schien mir, als hätte sie jemand geöffnet – aber es kann auch der Wind sein. Es wäre unangenehm, wenn Jeff gerade jetzt zurückkäme. Richte den Strahl der Laterne auf die Tür …«

Farr tat wie ihm befohlen; aber der Strahl schwankte bedenklich. Jetzt kam wieder ein Geräusch durch die plötzliche Stille – als klirre Stahl gegen Stahl – aber es war nicht auszunehmen, woher es kam.

»Haben Sie eine Pistole?« fragte Farr mit leicht zitternder Stimme.

»Unsinn … ich trage niemals eine Waffe bei mir …«

»Sehr angenehm zu wissen«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihnen. Christian fuhr blitzschnell herum; aber ein starkes Seil fiel über ihn und im nächsten Augenblick war er hilflos; Farr stieß einen spitzen kleinen Schrei aus und lief aufgeregt in eine Ecke.

Jeff Strucks drehte den Lichtschalter an und betrachtete mit sichtlichem Wohlgefallen die Szene.

»Sie sind's«, sagte er spöttisch. »Die Begegnung ist mir lieber als weiß Gott was auf der Welt; ich dachte, es wäre einer der schmutzigen kleinen Polizisten, die so zahlreich sind wie Kinder. Haben Sie alles gefunden?«

»Alles«, sagte Christian lächelnd. Er war vollkommen ruhig; nur seine Augen huschten unter halbgesenkten Lidern umher.

»Schön, daß Sie mir das sagen … Hallo, junger Mann – nicht so eilig.« Farr hatte, getäuscht durch das aufkeimende Gespräch der beiden Männer, versucht, die Tür zu gewinnen; der harte Anruf Jeff Strucks' warf ihn direkt zurück. Angesichts dieser Stimme sanken seine Freiheitshoffnungen in nichts zusammen.

»Ich wollte nur die Tür schließen«, sagte er entschuldigend.

»Danke – nicht nötig; ich werde euch einige Türen öffnen.« Mit einem geschickten Griff produzierte Jeff ein zweites Seil – er schien etliche ständig mit sich zu führen – und band den kleinen Diener an einen Sessel. Dann griff er Christian in die Taschen und zog den braunen Umschlag heraus.

»Oh – auch Liebhaber? Der Dieb, der den Dieb bestiehlt … Sie sind nicht bewandert in den Gesetzen der Zunft.« Das braune Kuvert verschwand, mit ihm auch die goldene Uhr und zwei Ringe, die Christian lose in der Tasche getragen hatte. Jeff begann zu schmunzeln. »Sie sind ein unerfahrener Mensch, Mortensen, daß Sie solche Dinge zu Ihren nächtlichen Unternehmungen mitnehmen. Der Kleine dort hat wohl nichts Sehenswertes bei sich?« Er machte einen Schritt auf Farr zu, der verschwindend klein geworden war; in sein Gesicht stieg ein Ausdruck, wie man ihn nur bei verängstigten Kindern findet. Ein Schauer schien ihn zu schütteln, aber Jeff unterbrach sein Vorhaben auf halbem Wege. Er ging ins Nebenzimmer und entnahm dem geöffneten Kasten einige Schriftstücke, dann kam er wohlgefällig schmunzelnd zurück.

»Da Sie nicht von der Polizei sind, wird Sie wohl niemand suchen«, meinte er nachdenklich. »Ich könnte Ihnen und dem Kleinen dort den Hals durchschneiden, aber das ist mir zu schmutzig; aufhängen – ginge auch nicht recht; die Decke ist verdammt hoch …« Er unterbrach seine menschenfreundlichen Betrachtungen und ging an die Wand. »Gas tut's auch. Sie haben nichts dagegen, wenn ich vor dem Weggehen den Gashahn öffne?«

»Nein«, sagte Christian kalt, »tun Sie, was Sie für richtig finden.«

»Vielen Dank.«

Jeff schloß bedächtig die Innenfenster und schob unter eine Tür einen zerrissenen Teppich; dann machte er sich bereit, den Schauplatz seiner Tätigkeit zu verlassen. »Damit dürfte nun Ihrer geheimnisvollen Laufbahn ein Ende gesetzt sein«, sagte er dann zufrieden, »aber das geht mich nichts an; ich bin kein öffentlicher Wohltäter, der die Menschheit von einer Pest befreit … wenn schon die Polizei mit Ihnen nicht fertig wird, will ich's besorgen … Übrigens«, er begann zu zwinkern, was seinem häßlichen Gesicht einen abscheuerregenden Ausdruck verlieh, »ist heute ein Haftbefehl gegen Sie und den kleinen Schurken dort ausgestellt worden. Morgen früh hätte Sie Nyström aus den Betten geholt.«

Christian wartete einen Augenblick; dann sagte er leidenschaftslos: »Vielen Dank, Jeff. Haben Sie die Polizei auf meine Spur gesetzt?«

»Nein. Sie haben einige Kleinigkeiten mit einem Einbrecher und zwei anderen ehrenwerten Herren gehabt, und die haben sich bemüßigt gefühlt, mit ihren Kenntnissen zu prunken … Was, zum Teufel, schleppen Sie dieses Kind dort mit sich herum?« Er wies auf Farr, der leise weinte, und runzelte die Brauen.

Christian war einen Augenblick verblüfft, sagte aber nichts.

Er hatte die letzten Minuten versucht, seinen Fuß aus der Schlinge zu ziehen, was ihm auch nach etlicher Anstrengung gelang. Um Jeff zu täuschen, begann er zu lachen; es war ein krampfhaftes Lachen, das der andere für beginnende Todesangst hielt.

Er überprüfte nochmals die Fenster und die Tür; unterdessen schob sich der Fuß Christians aus der Umklammerung; die am Rücken gebundenen Hände erfaßten blitzschnell die Erleichterung, und die Finger griffen gierig nach den Knoten.

»Leben Sie wohl«, sagte Jeff jetzt an der Tür. Er hatte das Licht abgedreht und seine Taschenlampe leuchtete; der Strahl flog über Farrs Gesicht und schien sich daran festzusaugen. So gelang es Christian, den letzten Strick abzuwerfen und seine Muskeln spannten sich zum Sprung. Jeff merkte noch immer nichts. Er kam sogar einen Schritt näher. »Teufel«, sagte er dann erstaunt, und seine Stimme zitterte eigenartig, »ist das nicht …«

»Rühren Sie mich nicht an«, schrie Farr plötzlich schrill und versuchte, den Sessel umzuwerfen.

In dem Augenblick schnellte sich Christian vor; aber die durch einige Zeit gehemmte Blutzirkulation verhinderte doch ein promptes Arbeiten der Muskeln. Er strauchelte, und in dem Bruchteil der Zeit wandte sich Jeff zur Flucht. Er verschwand von der Bildfläche wie eine Zeichnung, die von einer schwarzen Tafel weggewischt wird, und nur seine klopfenden Schritte auf der Treppe zeugten von seiner körperlichen Nähe.

Hundegebell stieg plötzlich auf, und eine harte Stimme rief irgend etwas; und Christian nahm ohne Zögern den schmächtigen kleinen Farr in seine Arme; er nahm auch den Stuhl mit und stürzte so eilends die Treppe herab.

Am Fuße der Treppe standen drei Männer und rangen miteinander; es waren zwei Geheimpolizisten und Jeff; ein großer, zottiger Hund erhöhte durch sein Bellen und zweckloses Herumspringen die Verwirrung. Und in diese lose Gruppe flog Christian mit dem kleinen Farr und dem Sessel im Arm und sprengte sie auseinander. Einer der Leute stürzte schwer zu Boden und gab einen zwecklosen Schuß ab, der niemand traf; der andere stolperte über seinen Kameraden, und der Hund lief in Todesangst davon; sein flüchtiger Schatten huschte wie ein verscheuchtes Gespenst über die niedere Mauer.

Jeff erfaßte die günstige Lage augenblicklich und schlug sich in die Büsche; und Christian lief mit seiner Beute querfeldein.

Erst weit außerhalb des gefährdeten Bereiches stellte er Farr auf den Boden und löste ihm die Fesseln; der Kleine sank wie ein umgewehtes Papier zu Boden; als ihn Christian weiter tragen wollte, sprang er mit erstaunlicher Gelenkigkeit auf.

»Es geht schon«, sagte er hastig. »Ich war nur einen Augenblick verwirrt …«

Schwere Tritte näherten sich, und Christian wartete eine weitere Begegnung nicht ab. Das Dunkel der Straße verschlang ihn mit seinem neben ihm einhertrippelnden Begleiter.

Erst als sie zu Hause waren, erinnerte sich der junge Mann an verschiedene Dinge. »Farr«, sagte er in oberflächlichem Gesprächston, »wo hat dich dieser Jeff schon einmal gesehen?«

Der Kleine rieb in einer Ecke eine Kaffeetasse ab. »Vor langer Zeit«, sagte er, »irgendwo … Ich weiß nicht mehr, bei welcher Gelegenheit es war.«

*

Um die gleiche Zeit rief Jeff Strucks den rührigen Axel Nyström an.

»Sie haben zwei Ihrer Greifer in meine Wohnung geschickt«, sagte er ärgerlich, »und die haben alles so wundervoll gemacht, daß ihnen Mortensen durch die Lappen gegangen ist.«

»Wie ist Mortensen in Ihre Wohnung gekommen?« fragte der Inspektor sanft zurück. Er hatte Jeff sofort erkannt.

Dieser lachte. »Wahrscheinlich hat er gehofft, bei mir irgendwelche Schätze zu finden. Jedenfalls kann ich Ihnen sagen, daß er ein braunes, großes Kuvert mit dem Aufdruck des Marineamtes bei sich gehabt hat … Wie meinen Sie? Ja – braun und länglich. – Nein, nicht besonders dick. Die Siegel waren unverletzt; ich habe es ihm genommen gehabt und wollte damit eben auf die nächste Polizeistation gehen, da sind Ihre Leute dazwischen gekommen … Unnötig zu fragen, was sie getan haben. Mortensen ist es unterdessen gelungen, sich zu befreien – ja, ich hatte ihn gebunden und. er hat unsere Unterredung gestört … in der Verwirrung entriß er mir das Kuvert und lief davon.«

Nyström dachte einen Augenblick nach. Die Behauptung Jeffs konnte jeden Augenblick kontrolliert werden. Dann sagte er freundlich: »Welcher Ansicht sind Sie nun, Jeff?«

»Daß Christian Mortensen einer der abgefeimtesten und gefährlichsten Halunken in Europa ist.«

Damit hängte er ab; mit der Miene eines Menschen, der ein gutes Werk getan.


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