Gottfried Keller
Die mißbrauchten Liebesbriefe
Gottfried Keller

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Gritli fügte sich darein; sie verbrachte den Rest des Winters in größter Stille; aber der Schnee schien ihr nicht weichen zu wollen und sie schwankte manchmal, ob sie die Probe überhaupt anstellen und nicht lieber die Sache gleich zu Ende führen wolle. Da kam endlich der gewaltige Südwind und goß seine warmen Regenfluten schief über Berg und Tal hin. In eilender Flucht schmolzen die Schneemassen und Wasser sprangen von allen Abhängen, lachend, redend und singend mit tausend Zungen. Gritli lauschte dem Klingen, als ob es ein Hochzeitgeläute wäre. Sobald die nächste Wiese trocken war, lief sie hinaus, um nach den Veilchen zu sehen; sie fand keines, dafür aber einige Schneeglöckchen, und als sie zurückkam, war dennoch die Freundin angekommen mit einem großen Koffer, worin sie das nötige Handwerkszeug für ihr Vorhaben mitbrachte.

Es war die vollständige stattliche Sonntagstracht einer Landfrau mit mehreren Stücken zum Wechseln, alles neu und zierlich, beinahe köstlich gemacht. Am ersten Sonntag in aller Frühe kleidete sich Ännchen mit Gritlis Hilfe sorgfältig darein und ließ ihrer Schönheit, die nicht gering war, mit übermütiger Berechnung den Zügel schießen. Über eine kurze Scharlachjuppe war eine genauso lange schwarze angezogen, so daß der Scharlach nur bei einer raschen Bewegung sichtbar wurde und das blendende Weiß der Strümpfe um so reizender erscheinen ließ. Rücken, Schultern und die runden Arme zeichnete eine knappe braune seidene Jacke vortrefflich und ließ die hohe Brust frei, welche dafür mit einem Brustlatz von schwarzem Sammet bedeckt und mit dergleichen Bändern eingeschnürt war, die durch silberne Haken gingen. Über der Stirn wurden einige kokette bäuerliche Löcklein gebrannt, das übrige Haar hing in dicken Zöpfen fast bis auf die Erde und endigte in breiten, mit Spitzen besetzten Sammetbändern. Mit jedem Stück, das sie der lachenden Freundin nesteln half, wurde Frau Gritli ernsthafter und besorgter, und als endlich die Übermütige ganz geschmückt war und sich in bewußter Schönheit spiegelte, bereute jene die ganze Erfindung und erhob allerlei Bedenklichkeiten. Doch sie wurde nur ausgelacht und Ännchen rief: »Was man tun will, das soll man recht tun! Willst du deinen Waldbruder mit einer Vogelscheuche versuchen? Dergleichen Heilige hatten von je einen bessern Geschmack!«

Da meinte Gritli, sie sollte wenigstens die weißen Strümpfe mit schwarzen wollenen vertauschen, es sei noch kühl und feucht! »Dafür hab ich starke Schuhe«, sagte Ännchen, »die Waden erkältet keine Frau, das weißt du wohl, mein Schatz!« – »Jedenfalls mußt du den Hals besser verwahren!« bat die Besorgte noch kläglich und die Unverbesserliche antwortete: »Da hast du recht! Gib mir jenes seidene Tüchlein, ich kann es nachher in die Tasche stecken, sobald ich an die warme Sonne komme!«

Dann öffnete sie das Fenster und guckte in die Sonntagsfrühe hinaus; es war noch alles still und die Zeit schien günstig, rasch hinweg zu huschen. Allein Gritli hielt sie mit dem Frühstück so lange als möglich auf und brockte ihr alle möglichen Lieblingsbissen vor, um den Augenblick hinauszuschieben; dennoch erschien er, und als Ännchen nun ging, brach die Bekümmerte in Tränen aus. Da kehrte jene mit großen Augen um und sagte ernsthaft: »Nun, du närrisches Ding! wenn du wirklich meinst, es sei nicht zu trauen, so lassen wir's einfach bleiben. Entscheide dich! Ich bin bald wieder umgekleidet!«

Gritli weinte heftiger, aber sie kämpfte mit sich und rief dann entschlossen: »Nein! geh nur und tu, was du für gut findest! Es muß ja sein!«

Frau Ännchen ging also wohlgemut durch das Frühlingsland und badete unternehmungslustig ihre Gestalt in der glänzenden Luft. Ihre Röcke schwangen sich hin und wider, daß der rote Scharlachsaum bei jedem Schritt aufleuchtete; im Arme trug sie einen frisch gebackenen Eierzopf und eine Schiefertafel in ein weiß und blau gewürfeltes Tuch gewickelt. Dergestalt erreichte sie das Rebhäuschen; diesmal klopfte sie nur mittelmäßig stark an die Tür und trat mit gutem Anstande in die Stube. Wilhelm erkannte sie nicht sogleich, war aber betroffen über die anmutvolle Erscheinung. Er kochte eben seinen Sonntagskaffee, welcher angenehm durch den Raum duftete. Ännchen machte einen zierlichen Knicks und sagte: »Da komme ich gerade recht! Habt Ihr meine Federn geschnitten, Herr Hexenmeister? Ich will sie abholen; und hier habt Ihr auch eine kleine Gabe für Eure Mühe, nur um den guten Willen zu zeigen!« Damit entwickelte sie das Gebäck, das sie trug, und legte es auf den Tisch. »So könnt Ihr das Geschenk wieder mitnehmen«, erwiderte Wilhelm, »denn Eure Federn sind nichts zum Schreiben und ich habe sie weggeworfen!« – »So? nun, da muß ich mir Federn in der Stadt kaufen; aber das tut nichts, ich lasse den Zopf dennoch hier und esse selbst einen Zipfel davon, wenn Ihr mir eine Tasse Kaffee dazu gebt! Das tut Ihr doch, nicht wahr?« Sie setzte sich ohne Umstände zum Tische und fing an, das feine Brot zu schneiden. Wilhelm wußte nicht, was er daraus machen sollte, es war ihm zumute, wie wenn da ein gefährlicher Geist durch sein stilles Häuschen wehte, und die Frühlingssonne funkelte gar seltsam durch die klaren Fenster und über die schöne Bäuerin her. Doch fügte er sich, holte eine von des Tuchscherers Porzellantassen, welche dieser hier aufbewahrte, und teilte seinen Kaffee ehrlich mit dem Eindringling.

»Ihr könnt wahrlich guten Kaffee machen, Herr Hexenmeister«, sagte sie, »wo habt Ihr's nur gelernt?« – »Freut mich, wenn er Euch schmeckt!« sagte Wilhelm, »doch bitte ich Euch, mich nicht immer Hexenmeister zu nennen; denn ich kann leider nicht hexen!« – »Nicht? ich hab's geglaubt!« sagte sie lächelnd, indem sie einen glänzenden Blick zu ihm hinüberschoß, »wenigstens habt Ihr mir es schon ein weniges angetan, obgleich Ihr nicht der Höflichste seid! Aber ein hübscher Mensch seid Ihr! Ist es Euch nicht langweilig so ganz allein?« – »Es scheint nicht so!« erwiderte Wilhelm errötend, »sonst würde ich wohl unter die Leute gehen; Ihr scheint aber gut aufgelegt, schöne Frau!«

»Schöne Frau? Ei seht, das tönt schon besser! Ihr solltet noch ein wenig in die Schule gehen, ich glaube, es könnte doch noch gut mit Euch kommen! Aber leider muß ich selbst in die Schule gehen. Da habe ich noch ein Anliegen, daß ich es nicht vergesse, das ist die Hauptsache, warum ich gekommen bin, wenn's erlaubt ist! Die Rechnung, die Ihr mir neulich so schnell gemacht, daß ich es nicht einmal merkte, hat mir guten Dienst geleistet. Ich habe aber einen großen Hof und kein Mann ist da, der das Wesen in Ordnung hält und rechnet; ich selbst habe als Schulkind niemals aufgemerkt und nichts gelernt, wie ich denn auch sonst nicht viel taugte. Nun muß ich es erst büßen und bereuen, denn ich weiß nie, wie ich stehe und ob ich betrogen werde oder nicht? Gut! dacht ich, du bist noch nicht zu alt zum Lernen, ein Jahr fünf- oder sechsundzwanzig, du gehst also zum Hexenmeister und bittest ihn, daß er dir zeige, wie man dies und jenes ausrechnet. Für guten Lohn wird er's gewiß tun, ein Sack Erdäpfel oder eine halbe Speckseite sollen mich nicht reuen, wenn er's zurecht bringt, daß ich mit den verwünschten Zahlen umgehen kann. Seht, da habe ich schon eine Tafel mitgebracht und auch eine Kreide, nun, wo hab ich die Kreide?«

Sie legte die Tafel auf den Tisch, fuhr mit der Hand in die Rocktasche und klapperte ungeduldig darin. Dann zog sie eine Handvoll Zeug heraus und warf es auf den Tisch, ein geringes Taschenmesser, einen eisernen Fingerhut, einige Geldstücke, Brotkrumen, eine Hundepfeife, eine gedörrte Birne und ein kleines Stück Kreide. Die Birne steckte sie schnell in den Mund und rief kauend: »Da ist die Teufelskreide! jetzt fangt nur an!« Zugleich rückte sie mit ihrem Stuhle ihm dicht zur Seite und schaute ihm erwartungsvoll ins Gesicht.

»So große Schülerinnen bin ich eigentlich nicht gewöhnt«, sagte Wilhelm verlegen und rückte ein bißchen zur Seite, »doch wenn Ihr gut aufmerken wollt, so will ich wohl sehen, was zu machen ist!« Hierauf begann er der Frau die vier Spezies vorzumachen, und sie stellte sich, als ob sie nagelneue Dinge hörte. Sie rückte ihm wieder näher, nahm ihm alle Augenblicke die Kreide aus der Hand, verdarb die Rechnung und trieb tausend schnackische Dinge, über welchen sie zuweilen plötzlich die Augen voll zu ihm aufschlug. Er sah sie dann verwundert und nicht ohne Wohlgefallen an, ohne jedoch aus der Fassung zu geraten, und auch wenn sie auf die Tafel blickte, betrachtete er ruhig den hübschen Kopf, wie man etwa ein edles Gewächs betrachtet. Indessen wurde er dabei still und vergaß ein paarmal zu antworten. Unversehens stand sie auf und sagte: »Für heute muß es gut sein, sonst werde ich zu gelehrt! Übermorgen auf den Abend komm ich wieder, wenn Ihr dann Zeit habt; behüt Euch Gott, Herr!«

Womit sie, ohne seine Antwort abzuwarten, sich entfernte, so unerwartet als sie gekommen war.

Wilhelm sah ihr nach, ohne von seinem Stuhle aufzustehen. Dann grübelte er etwas in seinen Gedanken herum und sagte schließlich: »Am Ende werde ich hier auch fortgetrieben; es scheint mir mit dieser Person nicht ganz richtig zu sein!«

Frau Ännchen gefiel sich so gut in der ländlichen Tracht, daß sie auf einsamen Feldwegen herumspazierte, bis es Mittag läutete. Sie betrachtete gedankenvoll bald die junge Saat, bald den emsigen Lauf eines Bächleins; doch sie bedachte weder die Saat noch das Wasser, sondern erwog, wie weit sie die Probe mit dem jungen Manne treiben wolle; sie glaubte den Erfolg in ihrer Gewalt zu haben und war nur unschlüssig, ob sie denselben erst ein wenig zu ihrer eigenen Lustbarkeit lenken oder ob sie als ehrliche Frau und Freundin handeln solle. Denn der Einsiedler schien ihr wie geschaffen zu einer ersprießlichen Zerstreuung und zu einem Lustspiel für eigene Rechnung. Wenn Wilhelm sich verlocken ließ, so war ja ihrer Freundin von einem unbeständigen Mann geholfen und trefflich gedient und er selbst wurde durch einen lustigen Betrug gehörig bestraft. Sie stand eben vor einer stillen Ansammlung eines Wässerleins und beschaute darin ihr Spiegelbild. Sie kam sich fast zu schön vor für ihren eigenen teilnahmlosen Mann; auf der anderen Seite aber schien das Abenteuer doch bedenklich und konnte ihr zuletzt übel bekommen und ihre behagliche Ruhe in die Luft sprengen; auch war der Freundin ein freundliches Los zu gönnen und sie wußte wohl, daß Gritli den Vogel festhalten würde, wenn sie ihn nur erst unversehrt in der Hand hielte. So schwebten ihre ernsten Erwägungen im Gleichgewicht; sie stellte die Entscheidung endlich auf ein welkes Blatt, das in der Wasserstille langsam kreiste und einen Ausweg suchte. Legte es sich ans rechte Bord, so wollte sie der Freundin dienen, wenn ans linke, für sich selbst sorgen! Allein das Blatt schwamm plötzlich abwärts und ins Weite, und sie beschloß, der Sache den Lauf zu lassen, wie es gehen möge. Da erklang die Mittagsglocke und Ännchen schritt, von keinem menschlichen Auge gesehen, nach der Hintertür in der Stadtmauer; denn es war die Zeit, da in der alten Welt der große Pan schlief und in der neuen die Seldwyler mit Kind und Kegel so vollzählig um den Sonntagsbraten saßen, daß die Straßen stiller waren als in dunkler Mitternacht.

Mit ängstlicher Erwartung verschlangen Gritlis Augen die mutwillige Freundin, als sie lachend in die Stube trat. Diese umarmte und küßte sie sogleich, indem sie rief: »Komm, es ist mir ganz küsserlich zumute geworden bei deinem Schatz!« – »Oh! sei nicht so häßlich!« rief jene vorwurfsvoll, »du hast doch nicht so tolles Zeug getrieben! Wie ist es gegangen? Wie hat er sich gehalten?« – »Sei ruhig, wie ein Stück Holz hat er sich gehalten!« sagte Ännchen und Gritli rief: »Gott sei Dank! So wollen wir es denn dabei bewenden lassen!« – »Bewenden lassen? Das wäre eine schöne Geschichte!« fuhr Ännchen dazwischen, »da wüßten wir erst recht nichts! Er war wie ein Stück Holz, aber nun kommt erst die Hauptsache, wo er sich immer noch zum Schlimmen wenden kann, freilich auch zum Guten! Nun, wie er sich bettet, so wird er liegen!«

Da ermannte sich Gretchen abermals und sagte: »Ja! es muß durchgeführt sein! Wenn er deinen Teufeleien entrinnt, so hat er sich gründlich gebessert und wird um so preiswürdiger sein!«

Also machte sich die Versucherin am zweiten Tag wieder auf den Weg und zwar in der Abenddämmerung. Sie trug dieselbe Tracht, nur mit einiger Abwechselung und größerer Einfachheit, wie eine Bäuerin etwa während der Woche zu tragen pflegt, wenn sie über Land geht. Sie trug aber Sorge, daß nichtsdestoweniger alles gut und reizend saß. Die Haare waren merkwürdigerweise städtisch geflochten und mit einem Tuche bedeckt.

Wilhelm war absichtlich weggegangen und dachte, die sonderbare Schöne, wenn sie wirklich wiederkommen sollte, einen vergeblichen Gang tun zu lassen. Als es aber dunkelte, beschleunigte er mehr als notwendig seine Schritte, die Wohnung zu erreichen, sei es aus Neugier oder aus dem Bedürfnisse, sich an der scherzhaften Dame zu erheitern. Er traf richtig mit ihr an der Tür zusammen, als sie eben vergeblich gepocht hatte. »Ach, da kommt Ihr!« sagte sie sanft, »ich habe schon geglaubt, Ihr hättet mich im Stich gelassen! Nun, da bin ich wieder, wenn's erlaubt ist, ich konnte den Tag über nicht abkommen.« Er zündete das Licht an und sagte: »Wie steht's? Habt Ihr noch was behalten vom neulichen Unterricht oder habt Ihr's schon wieder vergessen?« – »Ich weiß es selber kaum«, erwiderte sie bescheidentlich und schien überhaupt in einer weichen Stimmung zu sein, so daß der Lehrer wieder nicht aus ihr klug wurde.


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