Gottfried Keller
Die mißbrauchten Liebesbriefe
Gottfried Keller

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Dieser Seldwyler, obgleich er ein Tuchscherer war, hatte den Einfall bekommen, Landwirtschaft zu treiben, weil deren Erzeugnisse hoch im Preise standen und die Betreibung zahlreiche Spaziergänge veranlaßte. Der Weinberg bildete mit mehreren großen Wiesen und einigen Bergäckern eine ehemalige Staatsdomäne, welche der Tuchscherer gekauft, und er war jetzt hinaufgestiegen, um den Zustand der Reben zu untersuchen, weil die Frühlingsarbeit in denselben beginnen sollte. Er fragte Wilhelm, wo er hin wolle, was er im Sinne habe; denn er wußte noch nichts von seiner Absetzung. Wilhelm sagte, daß er bei Landleuten sein Auskommen suchen wolle, indem er ihnen in allem an die Hand gehe, was zu tun sei; da er nicht viel bedürfe, so hoffe er, sich im stillen durchzubringen. Der Tuchscherer wunderte sich hierüber und drang weiter in ihn, bis er die Ursache von des Schulmeisterleins Auszug erfahren. »Das ist«, sagte er, »ein recht hämischer Streich von dem Pfaffen, der eine Kinderei nicht von einer Schlechtigkeit unterscheiden kann. Wir wollen ihm übrigens sein ewiges Gehätschel und Getätschel mit seinen Unterweisungsschülerinnen auch einmal abschaffen; die Hübschen und Feinen hält er sich allfort dicht in der Nähe, die Buckligen aber, die Einäugigen und die Armseligen setzt er in den Hintergrund und spricht kaum mit ihnen, und das ist ärgerlicher als Eure ganze Briefschreiberei. Wenn diese Stilübungen ihm übel angebracht schienen, so ist uns sein Schönheitssinn noch weniger am rechten Ort! Aber verstehen Sie denn etwas von der Feldarbeit und den ländlichen Dingen überhaupt?«

»O ja, ziemlich!« antwortete Wilhelm, »ich habe während der Krankheit meiner verstorbenen Eltern alles gemacht und bin erst im achtzehnten Jahre, als sie gestorben und unser Gut verkauft wurde, mit dem kleinen Vermögensreste ins Lehrerseminar gegangen; es sind erst fünf Jahre seither, und im Seminar mußten wir auch Feldarbeit betreiben.« – »Und warum wollen Sie nicht lieber Ihre Kenntnisse benutzen und eine bessere Tätigkeit suchen als den Bauern zu dienen?« fragte jener; allein Wilhelm hatte seinen Entschluß gefaßt und war nicht aufgelegt, sich mit dem Manne weiter über seine Lage einzulassen.

Indessen hatte sich der Regen wirklich gelegt und die Sonne beschien sogar die weite Gegend. Der Eigentümer schickte sich an, den Weinberg zu besehen, und forderte Wilhelm auf, ihm noch eine Stunde Gesellschaft zu leisten, weil er für heute noch weit genug kommen würde.

In den Reben sah der Seldwyler, daß Wilhelm in diesen Dingen ebenso sichere Kenntnis als guten Verstand besaß, und als er hier und da eine Rebe schnitt und aufband, um seine Meinung zu zeigen, erwies sich auch eine geübte Hand. Er ging daher mit ihm auch in die Matten und Äcker und befragte ihn dort um seine Meinung. Wilhelm riet ihm kurzweg, die Äcker ebenfalls wieder in Matten umzuschaffen, was sie früher auch gewesen seien; denn was an Ackerfrüchten hier oben gedeihe, sei nicht der Rede wert, während vom Walde her genug Feuchtigkeit da sei, die Wiesen zu tränken. Dadurch würde ein Viehstand erhalten, der an Milch und verkäuflichen Tieren schönen Vorteil verspräche, schon die Herbstweide allein sei reiner Gewinn. Das leuchtete dem Tuchscherer ein; er besann sich kurze Zeit, worauf er dem Lehrer antrug, in seinen Dienst zu treten. Er solle arbeiten, was er leicht möge, und im übrigen das Gut in Ordnung halten und alles beaufsichtigen. Was er irgend zu verdienen gedächte, das wolle er ihm auch geben und ihn darüber hinaus noch mit Rücksicht behandeln. Wilhelm bedachte sich auch einige Minuten und schlug dann ein, aber unter der Bedingung, daß er in dem Rebhäuschen auf dem Berge wohnen dürfe und nicht in der Stadt zu verkehren brauche. Das war jenem sogar lieb, und so hatte der Flüchtling schon am Beginne seiner Wanderschaft ein Obdach gefunden.

Der Tuchscherer ließ noch denselben Tag ein Bett hinaufbringen und etwas Lebensmittel, welche von Zeit zu Zeit erneuert werden sollten. Eine kleine Küche war vorhanden, um zur Zeit der Weinlese sieden und braten zu können; ebenso enthielt das Erdgeschoß einen Vorratsraum und unter der Treppe war mit wenig Mühe ein Ziegenstall hergestellt für eine solche Milchträgerin. So ward Wilhelm plötzlich zu einem einsiedlerischen Arbeitsmanne und fügte sich mit Geschick und Fleiß in seine Lage. Er ließ die Äcker von den Tagelöhnern, welche der Tuchscherer anstellte, sorgfältig zubereiten und besonders die Steine hinaustragen und besäte sie mit Heusamen. Die Reben bearbeitete er fast ganz allein und kam damit zu Ende, ehe man es gedacht; wie es denn öfter vorkommt, daß solche, die ausnahmsweise oder nach langer Unterbrechung ein Werk beginnen, im ersten Eifer mehr vor sich bringen als die immer dabei sind. In wenigen Wochen gewann er Zeit, sich zunächst dem Häuschen ein Gemüsegärtchen anzulegen, um etwas Kohl und Rüben mit dem Fleische kochen zu können, welches man ihm wöchentlich zweimal schickte. In einer dunklen Nacht holte er sich sogar in der Stadt Schößlinge von seinen Nelken und Levkojen und setzte sie, wo sich ein Raum bot; um das Gärtchen her zog er eine Hecke von wilden Rosen, an Geländer und Säulen empor ließ er Geißblatt ranken, und als der Sommer da war, sah das Ganze aus fast so bunt und zierlich wie ein Albumblatt.

Noch ehe die Sonne im Osten heraufstieg, war er täglich auf den Füßen und suchte seinen Frieden in rastloser Bewegung, bis der letzte Rosenschimmer im Hochgebirge verblichen war. Dadurch wurde seine Zeit ausgiebig und reichlich, daß er frei wurde in der Verwendung der Stunden, ohne seine Pflicht zu vernachlässigen. Um sich seinen Holzbedarf zu sammeln, machte er weite Rundgänge durch den Wald, auf welchen sich eine Bürde fast von selbst zusammenfand. Er benutzte dazu die heiße Tageszeit, um im Schatten zu sein und zugleich für die Erdschwere der Handarbeit ein erbauliches Gegengewicht zu suchen. Denn der Wald war jetzt seine Schulstube und sein Studiersaal, wenn auch nicht in großer Gelehrsamkeit, so doch in beschaulicher Anwendung des wenigen, was er wußte. Er belauschte das Treiben der Vögel und der andern Tiere, und nie kehrte er zurück, ohne Gaben der Natur in seinem Reisigbündel wohlverwahrt heimzutragen, sei es eine schöne Moosart, ein kunstreiches, verlassenes Vogelnest, ein wunderlicher Stein oder eine auffallende Mißbildung an Bäumen und Sträuchern. Aus einem verfallenen Steinbruche klopfte er manches Stück mit uralten Resten heraus von Kräutern und Tieren. Auch legte er eine vollständige Sammlung an von den Rinden aller Waldbäume in den verschiedenen Lebensaltern, indem er schöne viereckige Stücke davon, mit Moosen und Flechten bewachsen, herausschnitt oder sinnig zusammensetzte, die Nadelhölzer sogar mit den glänzenden Harztropfen, so daß jedes Stück ein artiges Bild abgab. Mit alledem schmückte er in Ermangelung anderen Raumes die Wände und die Decke seines Stübchens. Nur nichts Lebendiges heimste er ein; je schöner und seltener ein Schmetterling war, den er flattern sah, und es gab auf diesen Höhen deren mehrere Arten, desto andächtiger ließ er ihn fliegen. Denn, sagte er sich, weiß ich, ob der arme Kerl sich schon vermählt hat? Und wenn das nicht wäre, wie abscheulich, die Stammtafel eines so schönen, unschuldigen Tieres, welches eine Zierde des Landes ist und eine Freude den Augen, mit einem Zuge auszulöschen! Abzutun, ab und tot, das Geschlecht einer zarten fliegenden Blume, die sich durch so viele Jahrtausende hindurch von Anbeginn erhalten hat und welche vielleicht die Letzte ihres Geschlechtes in der ganzen Gegend sein könnte! Denn wer zählt die Feinde und Gefahren, die ihr auflauern?

Für diesen frommen Sinn wurde er von einem untergegangenen Geschlechte belohnt, indem eine Erderhöhung mitten im Forste, welche ihm verdächtig erschien und die er aufgrub, das Grab eines keltischen Kriegsmannes enthüllte. Ein langes Gerippe mit Schmuck und Waffen zeigte sich vor seinen Blicken. Aber er baute das Grab sorgfältig wieder auf, ohne jemand davon zu sagen, weil er nicht aus seiner Verborgenheit treten mochte. Indessen durchforschte er den Wald aufmerksam, entdeckte noch mehrere solche Erhöhungen mit darauf zerstreuten Steinen und behielt sich vor, in späterer Zeit davon Anzeige zu machen. Die gefundenen Schmuck- und Waffensachen fügte er den Merkwürdigkeiten seiner Einsiedelei bei.

Auf diese Weise erfuhr er, wie das grüne Erdreich Trost und Kurzweil hat für den Verlassenen und die Einsamkeit eine gesegnete Schule ist für jeden, der nicht ganz roh und leer.

Um so schneller machte er sich unsichtbar, wenn der Tuchscherer etwa mit großer Gesellschaft heraufkam, um sie in dem luftigen Winzerhäuschen zu bewirten und auf den Matten herumspringen zu lassen. Insbesondere die lustigen Damen suchten neugierig des einsiedlerischen Jünglings ansichtig zu werden, der sich so gut anschickte und in Freiheit, Sonne und Bergluft ein hübscher brauner Gesell geworden. Es schien auf einmal der Mühe wert, den Flüchtling nicht zu unabhängig von der Macht ihrer Augen werden zu lassen. Auch einzeln dehnte dann und wann eine Vorwitzige ihre Spaziergänge bis zu dieser Höhe aus und spukte wie von ungefähr um das Häuschen herum. Allein Wilhelm war wie umgewandelt. Anstatt die Augen niederzuschlagen und heimlich verliebt zu sein, blickte er die Streifzüglerinnen ruhig und halb spöttisch an und ging seiner Wege ohne alle Anfechtung. Das war ein neues Wunder und vermehrte das Gerede über ihn in der Stadt.

Der Tuchscherer war zufrieden über seinen Besitz. In der Ebene, wo er auch ein Stück Land besaß, hatte er eine geräumige Stallung und eine Scheune gebaut. Dort stand das Vieh, dessen Zucht und Verkauf Wilhelm mit gutem Verstande beriet. Die zweimalige Heuernte brachte er ebenfalls glücklich unter Dach, und die Weinlese, welche darauf folgte, zeigte, daß der Berg trefflich besorgt war.

Als der Tuchscherer nun seine Rechnung machte, fand er, daß er für die Zukunft wohl bestehen würde, wenn es so fortginge, und statt nur seinen vorübergehenden Spaß an der Sache zu haben, wie es am Orte Sitte war, entschloß er sich, mit Ernst dabei auszuharren und zu trachten, daß er ein gutes Ende gewänne. Obgleich er auch ein lustiger Tuchscherer war, barg er doch eine gute Anlage in sich von irgendeinem Äderchen her, weshalb er durch die frische Arbeitslust, Verständigkeit und Ausdauer Wilhelms aufmerksam wurde, besonders da er sah, daß der träumende und verliebte Schulmeister ganz plötzlich diese Tugenden hervorgekehrt, als wenn er sie auf der Straße gefunden hätte. Was ein anderer könne, dachte er, das werde er auch imstande sein; und so wurde er in ehrgeiziger Laune ein sorgfältiger und wachsamer Mann. Er stand früh auf und nahm seine Geschäfte der Ordnung nach an die Hand. Statt in seiner Tuchschererei alles den Arbeitern zu überlassen, sah er selbst dazu und förderte die Arbeit, daß sie gut getan wurde und rasch vor sich ging, und er gewann noch hinlängliche Zeit für seine Landwirtschaft. Den Aufenthalt in den Versammlungen und Wirtshäusern, wo die Spottvögel saßen, kürzte er immer mehr ab und gewöhnte sich, zu jeder beliebigen Zeit aufzubrechen und sich loszureißen, ohne gerade ein sogenannter Leimsieder zu werden. Er bemerkte, daß die rechte Lustigkeit erst nach getaner Arbeit entsteht und daß Leute, welche immer in derselben Wirtshausluft, bei denselben Manieren sitzen, zur schönsten Krähwinkelei gedeihen; daß der liederliche Spießbürger um kein Haar geistreicher ist als der solide und daß überhaupt Männer, die sich immerwährend und täglich mehrmals sehen, einander zuletzt dumm schwatzen. Dennoch stieß seine Bekehrung auf große Schwierigkeiten und er mußte die tapfersten Anstrengungen machen, um nicht zurückzufallen. Aber wenn die Verlockung und das Geräusch zu stark wurden, verließ er die Stadt und floh zu Wilhelm hinauf, den er liebgewonnen und zu seinem Vertrauten machte. Hiedurch wurde dieser wiederum angefeuert, daß er in seinem löblichen Wesen nicht mürbe wurde. Allein der Teufel suchte abermals Unkraut zu säen, indem des Tuchscherers Frau nicht von der alten Weise lassen wollte und den Verkehr mit den Müßigen und Lustigmachern stets erneuerte. Der Mann klagte dem Einsiedler seine Not; Wilhelm dachte nach und riet ihm dann, der Frau das Haar dicht am Kopfe wegzuschneiden, damit sie ein Jahr lang nicht ausgehen könne. Denn er hielt sich für einen Weiberfeind und freute sich, einer eine Buße anzutun. Doch der Tuchscherer sagte, das ginge nicht an, das Haar seiner Frau sei zu schön und, da sie sonst nicht viel tauge, ein Hauptstück seines Inventars. Da besann sich Wilhelm aufs neue und riet ihm dann, der Frau den Milchverkauf zu übergeben und ihr einen Teil des Gewinns zu lassen. Dadurch würde ihre Habsucht gereizt, sie werde nicht verfehlen Wasser unter die Milch zu mischen, sich deshalb mit der ganzen Stadt verfeinden und in eine wohltätige Isolierung geraten. Dieser Plan ward nicht übel befunden und bewährte sich auch so ziemlich. Die Frau fand Freude an dem Gewinn und war, besonders des Abends, ans Haus gebunden, um das Melken der Kühe zu überwachen und zu sehen, daß sie nicht zu kurz käme.


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