Gottfried Keller
Die mißbrauchten Liebesbriefe
Gottfried Keller

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Inzwischen war der Herbst gekommen und für Wilhelm nichts weiter zu tun als das Vieh zu hüten, welches jetzt auf die Weide getrieben wurde. Er ließ sich das demütige Amt nicht nehmen und wollte wenigstens einen Herbst entlang mit den schönen Tieren allein auf der Weide sein. Allein gerade diese Übertreibung, da er den Dienst eines kleinen Hirtenbuben verrichtete, bekam ihm übel und beraubte ihn plötzlich wieder der Freiheit und Gemütsruhe, welche er sich erarbeitet hatte. Denn als er so dasaß auf den sonnigen Hügeln, beim Getön der Herdenglocken, und die Stadt im goldenen Herbstrauch liegen sah, tauchte die Gestalt Gritlis immer deutlicher wieder empor, fast nach dem Sprichworte: Müßiggang ist aller Laster Anfang! Im Grunde war es eine von den unfertigen und abgebrochenen Geschichten, welche wie ein abgeschossenes Bein mit der Veränderung der Jahreszeiten und des Wetters sich immer bemerklich machen. Jedes zurückgebliebene Restchen von Hoffnung auf ein verlorenes Glück erneut tausend Schmerzen, sobald die Seele müßig wird und die Sonne durchscheinen läßt.

Als er eines Tages, da es in den Tälern Mittag läutete, nach seinem Häuschen ging, um sein einfaches Essen zu bereiten, entdeckte er plötzlich eine zierliche Frau, welche unter dem Vordache stand und in die Ferne hinaussah. Er war kaum noch zweihundert Schritte entfernt und glaubte Gritli zu erkennen. Heftig erschreckend, stand er still und sagte: »Was will sie hier? Was sucht sie da?«

Er verbarg sich hinter einem wilden Birnbaum und wagte wohl fünf Minuten lang nicht mehr hinzusehen. Als er es aber endlich tat, hatte sich die Erscheinung umgekehrt, guckte durch das Fenster in das Innere des Winzerhäuschens und schien die kleine Stube aufmerksam zu betrachten, darauf setzte sie sich auf die oberste Treppenstufe, zog, wie es schien, ein Brötchen oder dergleichen aus der Tasche und fing an es zu essen, und kurz, es war keine Aussicht, daß die Dame so bald wieder abziehen wolle. Wilhelm machte Kehrtum und ging ohne Umsehen und ohne gegessen zu haben zu seiner Herde zurück, da er seine Behausung solchergestalt bewacht fand. In großer Aufregung blieb er bis zum Abend fort, aber endlich trieb ihn der Hunger wieder hin; vorsichtig näherte er sich seiner Klause und fand den Platz geräumt. Der Engel mit dem feurigen Schwert war abgezogen vor der Pforte. Wilhelm betrachtete alles wohl, das Fenster und die Treppe, und fand alles, wie es gewesen, still und unverfänglich. Doch seine Ruhe war dahin, wenngleich er nicht einmal bestimmt wußte, ob es Gritli gewesen sei.

Ohne es sich gestehen zu wollen, kleidete er sich von dem Tage an sorgfältiger, daß er für einen Rinderhirten fast zu gut aussah, und näherte sich nicht selten behutsam dem Häuschen; aber die Erscheinung kehrte nicht wieder. Dafür bevölkerte sich der ganze Berg mit ihrem Bilde, auf Weg und Steg trat es ihm entgegen und guckte ihm durch die runden Scheiben; es schien ihm unerträglich, so nahe bei ihr zu wohnen, und doch hätte er nicht wegziehen mögen; denn der Umstand, daß sie jetzt frei und einsam war, vermehrte die Unordnung seiner Gedanken. Doch zuletzt wurde er nochmals Meister über dies Wesen und stellte sich wieder steif auf die Beine.

Als der erste Schnee fiel, war es mit dem Hirtenleben vorbei; der Tuchscherer wollte Wilhelm nun zu sich ins Haus nehmen. Der aber sträubte sich dagegen und bat, ihn auf dem Berge zu lassen; jener mochte ihn in seiner Laune nicht hindern, schaffte ihm einen kleinen Ofen hinauf und versah ihn mit allerhand Arbeit von sich und andern. Auch kaufte sich Wilhelm für den Lohn, den er erhielt, einige Bücher, die ihm der Tuchscherer besorgte, damit er der Pflege seiner Geisteskräfte obliegen könne, und so wurde er bald eingeschneit und sah sich einsamer als je.

Eigentlich nur so einsam als ein rechter Einsiedel sein kann, denn ein solcher hat noch allerlei Zuspruch. So bekam auch Wilhelm jetzt eine wunderliche Kundschaft. Die Bauern der Umgegend, mehrere Stunden in die Runde, sprachen von ihm als von einem halben Weisen und Propheten, was hauptsächlich von seinem Treiben im Walde und der seltsamen Ausstaffierung seiner Wohnung herrührte. Sobald die Bauern einen solchen Heiligen aufspüren, der, von Reue über irgendeinen geheimnisvollen Fehltritt ergriffen, sich auf außerordentlichem Wege zu helfen sucht, in die Einsamkeit geht und ein ungewöhnliches Leben führt, so wird alsobald ihre Phantasie aufgeregt und sie schreiben dem Sonderling besondere Einsichten und Kräfte zu, welche zu nutznießen sie eine unüberwindliche Lust verspüren, im Gegensatze zu den Städtern und Aufgeklärten, so ihren Rat bei denen holen, die niemals von der goldenen Mittelstraße abweichen und nie über die Schnur gehauen haben.

Zuerst kam eine bedrängte Witwe mit einem ungeratenen Kinde, welches in der Schule nichts lernen wollte und sonst allerlei Streiche verübte, und bat ihn um Rat, indem sie vor dem Kinde ihre bittere Klage vorbrachte. Wilhelm sprach freundlich mit dem Sünder, fragte, warum es dies und jenes tue und nicht tue, und ermahnte es zum Guten, indem es sich besser dabei befinden werde. Der weite Gang, die feierliche Klage der Mutter, die abenteuerliche Einrichtung des Propheten und dessen freundlich-ernste Worte machten einen solchen Eindruck auf das Kind, daß es sich in der Tat besserte und die Witwe verbreitete den Ruhm Wilhelms.

Bald darauf kam eine andere Frau, welche über eine böse Nachbarin klagte; dann kam ein alter Bauer, der sich das Schnupfen abgewöhnen wollte, weil er es für Sünde hielt; Wilhelm sagte, er solle nur fortschnupfen, es sei keine Sünde, und dieser lobte und pries den Ratgeber, wo er hinkam. Endlich verging kaum ein Tag, wo er nicht solchen Besuch empfing, und alle möglichen moralischen und häuslichen Gebrechen enthüllten sich vor ihm. Am meisten besuchten ihn Mädchen und Weiber, um geheime Briefe von ihm schreiben zu lassen, welchen sie eine besondere Wirkung zutrauten, und sogar abergläubische Leute kamen, denen er gestohlene oder verlorene Sachen wieder verschaffen oder geheimnisvolle Mittel gegen körperliche Übel oder am Ende gar weissagen sollte. Das wurde ihm denn doch lästig und bedenklich, und er suchte die Bittsteller mit Scherzen oder barschen Worten abzuweisen. Allein nun hieß es erst recht, er habe seine Mucken und stehe nicht jedem Rede, woran er ganz recht tue. Am liebsten verkehrte er mit Kindern, die in der Schule nicht fortkamen und deren man ihm häufig brachte, so daß sie nachher allein kommen konnten. Mit diesen gab er sich liebevoll ab und war froh, öfter eines oder mehrere um sich zu haben. Er brachte fast alle ins Geleise und erwarb sich dadurch Dank und Ansehen und unter den Kleinen eine große Anhängerschaft, die ihn an schönen Sonntagen manchmal in ganzen Scharen besuchte und ihm kindliche Geschenke brachte, zum Beispiel jedes einen schönen Apfel, so daß alle zusammen ein Körbchen voll gaben, oder jedes zehn Nüsse, so daß sich eine Lade damit füllte. Sie mußten dann singen und er geleitete sie eine Strecke weit heimwärts.

Von diesen Taten hörte Frau Gritli häufig erzählen und sie nahm lebendigen Anteil, ohne es merken zu lassen. Sie war sehr neugierig und wünschte eifrig, seine Wirtschaft selbst einmal zu sehen und ihn sprechen zu hören. Als eine auswärtige vertraute Freundin sie für einige Zeit besuchte, um ihr die Tage verbringen zu helfen, beschlossen die beiden, zu dem Einsiedel zu gehen. Sie verkleideten sich in junge Bäuerinnen, färbten ihre Gesichter mit vieler Kunst und verhüllten überdies die Köpfe mit großen Tüchern. So machten sie sich an einem hellen Wintermorgen auf den Weg und bestiegen den Berg, der in seiner weißen Decke blendend vom blauen Himmel abstach. Als sie vor dem Rebhäuschen anlangten, standen sie still und betrachteten es neugierig und mit erstaunten Blicken. Denn es glitzerte und leuchtete wie lauter Kristall und Silber. Vom Dache hingen ringsherum große Eiszacken nieder mit feinen Spitzen, manche beinahe bis auf den Boden. Die Wetterfahne, die eisernen Verzierungen des Geländers, noch aus der Zopfzeit, und die Geißblattranken waren mit Reif besetzt, und das alles wurde von der Sonne mit siebenfarbigen Strahlen umsäumt. Unter dem Vordache auf den Steinplatten wimmelte es von größern und kleinen Waldvögeln, die da ihr Futter pickten und lustig durcheinander hüpften; sie waren so zahm, daß sie kaum Platz machten vor den Füßen der Pilgerinnen und sich der Reihe nach auf das Geländer und vor das Fenster setzten. Jede der Frauen stieß die andere an, daß sie anklopfen sollte; die eine hustete, die andere kicherte, aber keine wollte klopfen. Doch wagte es endlich die Freundin, pochte nun so stark wie ein Bauer und öffnete zugleich die Tür, mit patzigen Schritten eintretend.

Wilhelm saß über einem großen Buche mit Pflanzenbildern; er war nicht sehr erfreut über die frühe Störung, zumal er zwei junge frische Weibsbilder ankommen sah. Aber Ännchen, die Freundin, begann sogleich ein geläufiges Kauderwelsch, in welchem sie eine Anzahl Fragen und Anliegen bunt durcheinander vorbrachte. Sie wollte eine Rechnung über verkauftes Stroh berichtigt haben, gegen welches sie eine Zeitkuh eingetauscht, zog ein Papier voll gegossenen Bleies hervor und forderte die Erklärung desselben; dann sollte er aus ihrer Hand wahrsagen, Auskunft geben, wann es am besten Hafer zu säen sei, ob man im gleichen Jahre zweimal die Ehe versprechen dürfe, ob er nicht eine verhexte Kaffeemühle herstellen könne, in welcher ein Kobold sitze; ferner brachte sie ein dickes Bündel Hühner-, Enten- und Gänsefedern zutage und bat ihn, dieselben zu schneiden für Geld und gute Worte, sie wolle sie dann schon gelegentlich abholen; denn sie schreibe für ihr Leben gern, habe aber keine Federn; und endlich verlangte sie zu wissen, ob das neue Jahr gedeihlich zum Heiraten sein würde für eine ehrbare junge Bäuerin. Dies alles, Stroh, Zeitkuh, Hafer, Blei, Kaffeemühle, Kobold, Federn und Heirat, warf sie so behend und verworren untereinander, daß kein Mensch darauf antworten konnte, und wenn Wilhelm den Mund auftat, unterbrach sie ihn sogleich, widersprach ihm, sie habe nicht das, sondern jenes gemeint, und machte den ergötzlichsten Auftritt. In der Zeit stand Gritli da, die Hände unter der Schürze, und rührte sich nicht, aus Furcht sich zu verraten. Sie beschaute sich eifrig Wilhelms sonderliche Behausung, welche inwendig noch märchenhafter aussah als von außen. Die Wände waren mit bemooster Baumrinde, mit Ammonshörnern, Vogelnestern, glänzenden Quarzen ganz bekleidet, die Decke mit wunderbar gewachsenen Baumästen und Wurzeln, und allerhand Waldfrüchte, Tannzapfen, blaue und rote Beerenbüschel hingen dazwischen. Die Fenster waren herrlich gefroren; jedes der runden Gläser zeigte ein anderes Bild, eine Landschaft, eine Blume, eine schlanke Baumgruppe, einen Stern oder ein silbernes Damastgewebe; es waren wohl hundert solcher Scheiben, und keine glich der anderen, gleich dem Werk eines gotischen Baumeisters, der einen Kreuzgang baut und für die hundert Spitzbogen immer neues Maßwerk erfindet.

Das alles gefiel der Frau, welche von Viggi und seiner Kätter als eine platte und prosaische Natur verschrieen wurde, über die Maßen wohl; doch ließ sie zuweilen auch einen Blick über den Bewohner dieses Raumes gleiten, und derselbe gefiel ihr nicht minder. Er war in einen rötlichen Fuchspelz gehüllt, den ihm der Tuchscherer für den Winter gegeben; sein dunkles Haar war dicht und lang gewachsen, ein dunkles Bärtchen war auf seiner Oberlippe erstanden und der ganze Gesell hatte an selbstbewußter und freier Haltung gewonnen. Ein langes rotes Tuch, welches er lose um den Hals geschlungen trug, vermehrte noch die kecke Wirkung seines Aussehens, welche freilich kaum so keck gewesen wäre, wenn er gewußt hätte, wen er vor sich habe.

Ännchen machte aber ihre Sache so gut, daß er keinen Verdacht schöpfte und ein tolles Weibsstück zu sehen glaubte, begleitet von einer blöden und schüchternen Person. Als ihm der Handel endlich zu bunt wurde, unterbrach er die Schwätzerin gewaltsam und sagte: »Eure Rechnung über Stroh und Kuh beträgt so und so viel, alles übrige ist dummes Zeug, das Ihr anderwärts anbringen mögt, liebe Frau!«

»So!« sagte Ännchen in köstlichem Tone, und Wilhelm: »Ja, so! Geht in Gottes Namen und laßt mich in Ruhe!«

»Auf diese Weise!« erwiderte Ännchen, »aha! So so! Nun, so habt denn Dank, Herr Hexenmeister! und nichts für ungut! Behüt Euch Gott wohl und zürnet nicht! Komm, Frau Barbel!«

Doch als sie bereits unter der Tür war, kehrte sie nochmals um und rief. »Ei, so hätte ich bald vergessen Euch den Gruß auszurichten! Oder hab ich's schon getan?« – »Nein! von wem?« – »Ei, von einer gar feinen und hübschen Frau, Ihr werdet sie besser kennen als ich, denn ich weiß ihren Namen nicht zu sagen!« – »Ich weiß nicht, ich kenne keine solche Frau!« – »He, so besinnt Euch nur, sie wohnt an der Stadtmauer, ist nicht gar groß, aber ebenmäßig gewachsen und trägt den Kopf voll brauner Haarlocken wie ein Pudel! Da die Barbel und ich haben ihr Eier gebracht, wir sagten, daß wir da hinaufgehen wollten, um uns wahrsagen zu lassen, und da war's, daß sie uns den Gruß bestellte!«

Wilhelm wurde hochrot, rief hastig: »Ich weiß nicht, wen Ihr meint!« und wandte sich stracks zu seinem Buche, ohne die Frauen weiter eines Blickes zu würdigen. So trollten sich diese davon und polterten in ihren schweren Schuhen mutwillig die Stufen hinunter.

Kaum waren sie außer dem Bereiche des Häusleins, so sagte Ännchen: »Höre, wenn ich nicht schon einen Mann hätte, so würde ich dir den wegfangen! Dies ist ja ein netter Kerl, obgleich er ein grober Lümmel ist!«

»Ach, er gefällt mir nur gar zu wohl«, seufzte Gritli, »aber ich trau ihm nicht! Er könnte trotz der soliden Manier, die er angenommen hat, leicht wieder ein verliebter Zeisig werden oder noch sein, der sich in alle Welt vergafft und dann käme ich vom Regen in die Traufe. Man müßte ihn auf irgendeine Art auf die Probe stellen!«

»Nun, das kann man ja tun!« sagte die Freundin; sie berieten sich über den Weg, den sie einschlagen wollten, und Ännchen versprach die Sache auszuführen, sobald der Winter vorüber sei. Da seufzte Gritli abermals und meinte: »Ach das ist noch lange hin und im Frühling sollte es schon getan sein!«

Lachend erwiderte Ännchen: »Da kann ich nicht helfen, meine Liebe! Ich muß jetzt wieder zu meinem Mann; auch habe ich doch nicht Lust, durch diesen Schnee öfter in die Wildemannshütte zu klettern, so hübsch eingefroren sie auch ist! Also Geduld! Sobald die Veilchen blühen, werde ich wieder kommen und deine Bergamsel probieren, aber auf deine Gefahr hin!«


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