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Achtes Kapitel

Einige Wochen nach Neujahr, als ich eben den Frühling herbeiwünschte, erhielt ich vom Dorfe aus die Kunde, daß mehrere Ortschaften jener Gegend sich verbunden hätten, dieses Jahr zusammen die Fastnachtsbelustigungen durch eine großartige dramatische Schaustellung zu verherrlichen. Die ehemalige katholische Faschingslust hat sich nämlich als allgemeine Frühlingsfeier bei uns erhalten, und seit einer Reihe von Jahren haben sich die derben Volksmummereien nach und nach in vaterländische Aufführungen unter freiem Himmel verwandelt, an welchen erst nur die reifere Jugend, dann aber auch fröhliche Männer teilnahmen; bald wurde eine Schweizerschlacht dargestellt, bald eine Handlung aus dem Leben berühmter Schweizerhelden, und nach dem Maßstabe der Bildung und des Wohlstandes einer Gegend wurden solche Aufzüge mit mehr oder weniger Ernst und Aufwand vorbereitet und ausgeführt. Einige Ortschaften waren schon berühmt und jedesmal stark besucht durch dieselben, andere suchten es zu werden. Mein Heimatdorf war nebst ein paar anderen Dörfern von einem benachbarten Marktflecken eingeladen worden zu einer großen Darstellung des Wilhelm Tell, und infolgedessen war ich wieder durch meine Verwandten aufgefordert worden, hinauszukommen und an den Vorbereitungen teilzunehmen, da man mir manche Einsicht und Fertigkeit besonders als Maler zutraute, umso mehr, als unser Dorf in einer fast ausschließlichen Bauerngegend lag und in solchen Dingen wenig Gewandtheit besaß. Ich war vollständig Herr meiner Zeit, auch war eine Unterbrechung zu solchem Zwecke zu sehr im Geiste meines Vaters, als daß die Mutter dagegen Bedenken erhoben hätte; also ließ ich es mir nicht zweimal sagen und ging jede Woche für einige Tage hinaus, wobei mir schon das stete Wandern zu dieser Jahreszeit, manchmal durch die schneebedeckten Felder und Wälder, die größte Freude machte. Ich sah nun das Land auch im Winter, die Winterbeschäftigungen und Winterfreuden der Landleute und wie dieselben dem erwachenden Frühling entgegengehen.

Man legte der Aufführung Schillers Tell zu Grunde, welcher in einer Volksschulausgabe vielfach vorhanden war und welchem nur die Liebesepisode zwischen Berta von Brunneck und Ulrich von Rudenz fehlte. Das Buch ist den Leuten sehr geläufig, denn es drückt auf eine wunderbar richtige Weise die schweizerische Gesinnung aus, und besonders der Charakter des Tell entspricht ganz der Wahrheit und dem Leben, und wenn Börne darin nur ein selbstsüchtiges und philiströses Ungeheuer finden konnte, so scheint mir dies ein Beweis zu sein, wie wenig die krankhafte Empfindsamkeit der Unterdrückten geeignet ist, die Art und Weise unabhängiger Männer zu begreifen. Weitaus der größere Teil der Teilnehmer sollte als Hirten, Bauern, Fischer, Jäger das Volk darstellen und in seiner Masse von Schauplatz zu Schauplatz ziehen, wo die Handlung vor sich ging, getragen durch solche, welche sich zu einem kühnen Auftreten für berufen hielten; in den Reihen des Volks nahmen auch junge Mädchen teil, sich höchstens in den gemeinschaftlichen Gesängen äußernd, während die handelnden Frauenrollen blühenden Jünglingen übertragen waren. Es sollte nur vorgeführt werden, was wirklich geschichtlich ist, mit Weglassung aller Vorbereitungen und dramatischen Zwischenspiele, das Geschichtliche aber mit dem Schillerschen Personal und Dialog, außerdem aber auch seine poetische Färbung über dem Ganzen walten. Der Schauplatz der eigentlichen Handlung war auf alle Ortschaften verteilt, je nach ihrer Eigentümlichkeit, so daß dadurch ein festliches Hin- und Herwogen der kostümierten Menge und der Zuschauermassen bedingt wurde.

Ich erwies mich als brauchbar bei den Vorbereitungen und wurde mit manchen Geschäften betraut, welche in der Stadt zu besorgen waren. Ich stöberte alle Magazine durch, wo sich etwa Flitter- und Maskenwerk vorfinden mochte und suchte das Tauglichste vorzuschlagen, besonders da andere Beauftragte geneigt waren, zuerst nach dem Grellen und Auffallenden zu greifen. Ja ich kam sogar mit den Beamten der Republik in Berührung und fand Gelegenheit, mich als einen tapferen Vertreter meiner Landesgegend zu zeigen, da mir die Auswahl und Übernahme der alten Waffen übergeben wurde, welche die Regierung unter der Bedingung treuer Sorgfalt bewilligte. Weil aber gerade diesmal mehrere ähnliche Feste stattfanden, so mußten beinahe alle Vorräte geräumt werden, und nur die wertvollsten Trophäen, an welche sich bestimmte Erinnerungen knüpften, blieben zurück. Überdies stritten sich die Abgeordneten der Gemeinden um die Waffen, alle wollten dasselbe haben, obschon es nicht für alle sich schickte; eine Anzahl großer Schlachtschwerter und Morgensterne, welche ich für meine Eidgenossen ausgesucht, wollte mir von einem Gegner durchaus abgerungen werden, ungeachtet ich ihm vorstellte, daß er für den Schwabenkrieg, aus welchem seine Leute eine Schlacht spielen wollten, ganz anderer Gegenstände bedürfe. Ich berief mich endlich auf den Zeugwart, welcher mir Recht gab, und der ansehnliche starke Wirt aus den Dörfern, welcher hinter mir stand, um die Sachen wegzuführen, triumphierte und respektierte mich freundlich. Allein die Gegner hielten mich nun für einen gefährlichen Burschen, der das Beste vorwegnähme, und gingen mir auf Schritt und Tritt nach in dem alten Zeughause, gerade das ausersehend, was ich ins Auge faßte, so daß ich nur mit der äußersten Beharrlichkeit noch einen Wagen voll Eisenhüte und Hellebarden für meine reisigen Tyrannenknechte zur Seite brachte. So kam ich mir sehr wichtig vor, als ich mit den Aufsehern das Verzeichnis der verabfolgten Sachen feststellte, obgleich der Wirt der eigentliche Gewährsmann war und dasselbe unterschrieb.

Dann hatte ich wieder auf dem Lande vollauf zu tun und begab mich mit einigen Paketen Farbstoff und mächtigen Pinseln hinaus, um ein schönes neues Bauernhaus an der Straße noch völlig in Stauffachers Wohnung umzuwandeln mittelst bunter Zieraten und Sprüche; denn nicht nur sollte da die Unterredung zwischen Stauffacher und seinem Weibe stattfinden, sondern der Zwingherr vorher selbst heranreiten und seine böse Harangue loslassen.

Im Hause des Oheims war ich ein eigentliches Faktotum und eifrig bestrebt, die Kleidung der Söhne so historisch als möglich zu machen und die Töchter, welche sich sehr modern aufputzen wollten, von solchem Beginnen abzuhalten. Mit Ausnahme der Braut wollten sich alle Kinder des Oheims beteiligen und sie suchten auch Anna zu überreden, welche überdies von dem leitenden Ausschusse dringend eingeladen war. Allein sie wollte sich durchaus nicht dazu verstehen, ich glaube nicht nur aus Zaghaftigkeit, sondern auch ein wenig aus Stolz, bis der Schulmeister, für diese Veredlung der alten roheren Spiele durchaus begeistert, sie entschieden aufforderte, auch das ihrige beizutragen. Nun war aber die große Frage, was sie vorstellen sollte; ihre Feinheit und Bildung sollte dem Feste zur Zierde gereichen, während doch alle hervorragenden Frauenrollen jungen Männern zuteil geworden. Ich hatte mir aber längst etwas für sie ausgedacht und überzeugte bald meine Basen und den Schulmeister von der Trefflichkeit meines Vorschlages. Obgleich die Rolle der Berta von Brunneck gänzlich wegfiel, so konnte sie doch als stumme Person das ritterliche Gefolge Geßlers verherrlichen. Dieses war sonst vom Volkshumor ziemlich schofel und wild, und besonders der Tyrann sehr fratzenhaft und lächerlich dargestellt worden; dagegen hatte ich nun durchgesetzt, daß der Aufzug des Landvogts recht glänzend und herrisch sein müsse, weil der Sieg über einen elenden Widersacher nichts Absonderliches sei. Ich selbst hatte den Rudenz übernommen, auch sein Verhältnis zum Attinghausen fiel weg, und erst am Schlusse hatte er zum Volke überzugehen, so daß mir viel Freiheit und Zeit zu mancher Aushilfe und vor allem wenig zu sprechen blieb. Einer der Vettern machte Rudolf den Harras und Anna konnte also sich im Schutze von zwei Verwandten befinden. Zufällig war die Originalausgabe von Schiller gar nicht bekannt im Hause, und selbst der Schulmeister las diesen Dichter nicht, weil seine Bildung nach anderen Seiten hin strebte; also ahnte kein Mensch die Beziehungen, welche ich in meinen Plan legte, und Anna ging arglos in die ihr gestellte Falle. Das Schwerste war, sie zum Reiten zu bringen; ein kugelrunder gemütlicher Schimmel stand im Stalle meines Oheims, welcher nie jemandem ein Haar gekrümmt hatte und auf welchem der Oheim über Land zu reiten pflegte. Auf dem Boden befand sich ein vergessener Damensattel aus der alten Zeit; dieser wurde mit rotem Plüsch neu bezogen, welchen man einem ehrwürdigen Lehnstuhle entnahm, und als Anna zum ersten Mal sich darauf setzte, ging es ganz trefflich, besonders da der reitkundige Nachbar Müller einige Anleitung gab, und Anna fand zuletzt großes Vergnügen an dem guten Schimmel. Eine mächtige hellgrüne Damastgardine, welche einst ein Himmelbett umgeben hatte, wurde zerschnitten und in ein Reitkleid umgewandelt; auch besaß der Schulmeister als ein altes Erbstück eine Krone von silbernem Flechtwerke, wie sie ehemals die Bräute getragen; Annas goldglänzendes Haar wurde nur zunächst der Schläfe zierlich geflochten, unterhalb aber in seiner ganzen Länge frei ausgebreitet und dann die Krone aufgesetzt, auch ein breites goldenes Halsband umgetan, auf meinen Rat einige Ringe über die weißen Handschuhe gesteckt, und als sie zum ersten Mal diesen ganzen Anzug probierte, sah sie nicht nur aus wie ein Ritterfräulein, sondern wie eine Feenkönigin, und das ganze Haus war in ihrem lieblichen Anblick verloren. Aber jetzt weigerte sie sich aufs neue, an dem Spiele teilzunehmen, weil sie sich selber so fremd vorkam, und wenn nicht die ganze Bevölkerung in ihren ehrbarsten Familien bei der Sache gewesen wäre, so hätte man sie nicht dazu gebracht. Unterdessen hatte ich nicht geruht und mit meinen Herren Vettern ein wenig ins Sattlerhandwerk gepfuscht, indem wir die nicht sehr sauberen Zügelriemen des Oheims mit rotem Seidenzeuge umnähten, welches wir von einem Juden billig gekauft; denn Annas Hände sollten das alte Lederwerk nicht unmittelbar berühren.

Meinen eigenen Anzug hatte ich längst in Ordnung gebracht und denselben grün und jägermäßig gewählt, da dadurch eine größere Einfachheit möglich war für meine geringen Mittel. Doch war er noch erträglich getreu, eine große zimmetfarbene Decke, ohne Beschädigung in einen faltenreichen Mantel umgewandelt, verhüllte die Unvollkommenheiten; auf dem Rücken trug ich eine Armbrust und auf dem Kopfe einen grauen Filz. Allein da der Mensch immer eine schwache Seite haben muß, so schnallte ich den langen Toledodegen um aus der Dachkammer; ich hatte alle anderen zu historischer Treue ermahnt, hatte zeitgemäße Waffen in Menge selbst aus dem Zeughause geholt und doch wählte ich diesen spanischen Bratspieß, ohne daß ich mir heute klar machen kann, was ich mir dabei dachte!

Der wichtige und ersehnte Tag brach an mit dem allerschönsten Morgen; der Himmel war ganz wolkenlos, es war in diesem Hornung schon so warm, daß die Bäume anfingen auszuschlagen und die Wiesen grünten. Mit Sonnenaufgang, als eben der Schimmel an dem funkelnden Flüßchen stand und gewaschen wurde, tönten Alpenhörner und Herdengeläute durch das Dorf herab und ein Zug von mehr als hundert prächtigen Kühen, bekränzt und mit Schellen versehen, kam heran, begleitet von einer großen Menge junger Bursche und Mädchen, um das Tal hinauf zu ziehen in die anderen Dörfer und so eine Bergfahrt vorzustellen. Die Leute hatten nur ihre altherkömmliche Sonntagstracht anzuziehen gebraucht, mit Ausschluß aller eingedrungenen Neuheiten und Hinzufügung einiger Prachtstücke ihrer Eltern und Großeltern, um ganz festlich und malerisch auszusehen, und der stärkste Anachronismus waren die kurzen Pfeifen, welche die Bursche unbekümmert im Munde trugen. Die frischen Hemdärmel der Jünglinge und Mädchen, ihre roten Westen und blumigen Mieder leuchteten weithin in frohem Gewimmel, und als sie vor unserem Hause und der benachbarten Mühle anhielten und unter den Bäumen plötzlich das bunteste Gewühl entstand, von Gesang, Jauchzen und Gelächter begleitet, als sie mit lautem Grüßen einen Frühtrunk verlangten, da fuhren wir vom reichlichen Frühstück, um welches wir, mit Ausnahme Annas, schon angekleidet versammelt waren, lustig auf, und die Freude überraschte uns in ihrer Wirklichkeit viel gewaltiger und feuriger, als wir bei aller Erwartung darauf gefaßt waren. Schnell begaben wir uns mit den bereitgehaltenen Weingefäßen und einer Menge Gläser in das Gewimmel, der Oheim und seine Frau mit großen Körben voll ländlichen Backwerkes. Dieser erste Jubel, weit entfernt eine frühe Erschöpfung zu bedeuten, war nur der sichere Vorbote eines langen Freudentages und noch herrlicherer Dinge. Die Muhme prüfte und pries das schöne Vieh, streichelte und kraute berühmte Kühe, welche ihr wohlbekannt waren, und machte tausend Späße mit dem jungen Volke; der Oheim schenkte unaufhörlich ein, seine Töchter boten die Gläser herum und suchten die Mädchen zum Trinken zu überreden, während sie wohl wußten, daß ihr ehrsames Geschlecht am frühen Morgen keinen Wein trinkt. Desto munterer sprachen die Hirtinnen den schmackhaften Kuchen zu und versorgten mit denselben die vielen Kinder, welche nebst ihren Ziegen den Zug vergrößerten. In der Mitte des Gedränges stießen wir auf die Müllersleute, welche den Feind von der anderen Seite her angegriffen hatten, angeführt vom jungen Müller, der als geharnischter Reiter schwer einherklirrte und sein verjährtes Eisengewand andächtig verehren und betasten ließ. Auf einmal zeigte sich Anna, schüchtern und verschämt; doch ihre Zaghaftigkeit ward von der Gewalt der allgemeinen Freude sogleich vernichtet und sie war in einem Augenblicke wie umgewandelt. Sie lächelte sicher und wohlgemut, ihre Silberkrone blitzte in der Sonne, ihr Haar wehte und flatterte schön im Morgenwind und sie ging so anmutig und sicher in ihrem aufgeschürzten Reitkleide, das sie mit den ringgeschmückten Händen hielt, als ob sie ihr Lebenlang ein solches getragen hätte. Sie mußte überall herumgehen und wurde mit staunender Bewunderung begrüßt. Endlich aber bewegte sich der Zug weiter und mit seinem Aufbruche teilte sich auch unser Hausstand. Die zwei jüngeren Basen und zwei ihrer Brüder schlossen sich demselben an, die verlobte Schwester und der Schulmeister setzten sich in ein leichtes Fuhrwerk, um als Zuschauer ihren eigenen Weg zu fahren und uns gelegentlich zu treffen, auch um Anna aufzunehmen, im Falle ihr die Sache nicht zusagen würde. Der Oheim und die Frau blieben zu Hause, um andere Herumschwärmer zu bewirten und abwechselnd etwa sich in der Nähe umzusehen. Anna, Rudolf der Harras und ich aber setzten uns nun zu Pferde, eskortiert von dem klirrenden Müller. Dieser hatte für mich unter seinen Pferden einen ehrlichen Braunen ausgesucht und über den Sattel zu mehrerer Sicherheit einen Schafpelz geschnallt. Doch kümmerte ich mich im mindesten nicht um die Reitkunst, und da auch kein Mensch sich um dergleichen kümmerte, so schwang ich mich ganz unbefangen auf den Braunen und tummelte denselben mit einer Keckheit herum, die ich jetzt gar nicht mehr begreife. Auf dem Lande kann jedermann reiten, der von einem dressierten Pferde herunterfallen würde. So ritten wir stattlich das Dorf hinauf und gaben nun selbst ein Schauspiel für die Leute, welche zurückblieben, und für eine Menge Kinder, welche uns nachliefen, bis eine andere Gruppe ihre Aufmerksamkeit erregte. Vor dem Dorfe sahen wir es bunt und schimmernd von allen Seiten her sich bewegen, und als wir eine Viertelstunde weit geritten waren, kamen wir an eine Schenke an einer Kreuzstraße, vor welcher die sechs barmherzigen Brüder saßen, welche den Geßler wegtragen sollten. Dies waren die lustigsten Bursche der Umgegend, hatten sich unter den Kutten ungeheure Bäuche gemacht und schreckliche Bärte von Werg umgebunden, auch die Nasen rot gefärbt; sie gedachten den ganzen Tag sich auf eigene Faust herumzutreiben und spielten gegenwärtig Karten mit großem Halloh, wobei sie andere Spielkarten aus den Kapuzen zogen und statt der Heiligen an die Leute austeilten. Auch führten sie große Proviantsäcke mit sich und schienen schon ziemlich angeglüht, so daß wir für die Feierlichkeit ihrer Verrichtung bei Geßlers Tod etwas besorgt wurden. Im nächsten Dorf sahen wir den Arnold von Melchthal ruhig einem Stadtmetzger einen Ochsen verkaufen, wozu er schon seine alte Tracht trug; dann kam ein Zug mit Trommel und Pfeife und mit dem Hut auf der Stange, um in der Umgegend das höhnische Gesetz zu verkünden. Denn dies war das Schönste bei dem Feste, daß man sich nicht an die theatralische Einschränkung hielt, daß man es nicht auf Überraschung absah, sondern sich frei herum bewegte und wie aus der Wirklichkeit heraus und wie von selbst an den Orten zusammentraf, wo die Handlung vor sich ging. Hundert kleine Schauspiele entstanden dazwischen und überall gab es was zu sehen und zu lachen, während doch bei den wichtigen Vorgängen die ganze Menge andächtig und gesammelt zusammentraf. Schon war unser Zug ansehnlich gewachsen, um mehrere Berittene und auch durch Fußvolk verstärkt, welche alle zu dem Ritterzuge gehörten; wir kamen an eine neue Brücke, die über einen großen Fluß führt; von der anderen Seite näherte sich ein großer Teil der Bergfahrt, um das Vieh nach Hause zu bringen und nachher wieder als Volk zu erscheinen. Nun war ein knauseriger Zolleinnehmer auf der Brücke, welcher durchaus von Kühen und Pferden den Zoll erheben wollte, gemäß dem Gesetze; er hatte den Schlagbaum heruntergelassen und ließ sich durchaus nicht bereden, diesmal von seiner Forderung abzustehen, indem man jetzt nicht eingerichtet und aufgelegt sei, diese Umständlichkeiten zu befolgen. Es entstand ein großes Gedränge, ohne daß man jedoch wagte, mit Gewalt durchzukommen. Da erschien unversehens der Tell, welcher mit seinem Knaben einsam seines Weges ging. Es war ein berühmter fester Wirt und Schütze, ein angesehener und zuverlässiger Mann von etwa vierzig Jahren, auf welchen die Wahl zum Tell unwillkürlich und einstimmig gefallen war. Er hatte sich in die Tracht gekleidet, in welcher sich das Volk die alten Schweizer ein für allemal vorstellt, rot und weiß mit vielen Puffen und Litzen, rot und weiße Federn auf dem eingekerbten rot und weißen Hütchen. Überdies trug er noch eine seidene Schärpe über der Brust, und wenn dies alles nichts weniger als dem einfachen Waidmann angemessen war, so zeigte doch der Ernst des Mannes, wie sehr er das Bild des Helden in seinem Sinn durch diesen Pomp ehrte; denn in diesem Sinne war der Tell nicht nur ein schlichter Jäger, sondern auch ein politischer Schutzpatron und Heiliger, der nur in den Farben des Landes, in Sammet und Seide, mit wallenden Federn denkbar war. Der Schnitt seines Kleides war aus dem sechzehnten Jahrhundert, so wie er überhaupt als alte Schweizertracht noch bei dem Volke gilt und aus den letzten großen Heldentagen der Schweizer herrührt. Sie pflegten sich mit einer Last von Federn zu schmücken und sonst großen Aufwand zu treiben aus Beute und fremdem Gold und gingen so in den Tod für fremde Herren. Aber in seiner braven Einfalt ahnte unser Tell die Ironie seines prächtigen Anzuges nicht; er trat mit seinem eigenen Knaben, der wie eine Art Genius aufgeputzt war, besonnen auf die Brücke und fragte nach der Verwirrung. Als man ihm die Gründe angab, setzte er dem Zöllner auseinander, daß er gar kein Recht habe, den Zoll zu erheben, indem sämtliche Tiere nicht aus der Ferne kämen oder dahin gingen, sondern als im gewöhnlichen Verkehr zu betrachten seien. Der Zollmann aber, erpicht auf die vielen Kreuzer, beharrte spitzfindig darauf, daß die Tiere in einem großen Zuge los und ledig auf der Straße getrieben würden und gar nicht vom Felde kämen, also er den Zoll zu fordern berechtigt sei. Hierauf faßte der wackere Tell den Schlagbaum, drückte ihn wie eine leichte Feder in die Höhe und ließ alles durchpassieren, die Verantwortung auf sich nehmend. Die Bauern ermahnte er, sich zeitig wieder einzufinden, um seinen Taten zuzusehen, uns Rittersleute aber grüßte er kalt und stolz und er schien uns auf unseren Pferden für wirkliches Tyrannengesindel anzusehen, so sehr war er in seine Würde vertieft.

Endlich gelangten wir in den Marktflecken, welcher für heute unser Altorf war. Als wir durch das alte Tor ritten, fanden wir das winzige Städtchen, welches nur einen mäßigen Platz bildete, schon ganz belebt, voll Musik, Fahnen und Tannenreiser an allen Häusern. Eben ritt Herr Geßler hinaus, um in der Umgegend einige Untaten zu begehen, und nahm den Müller und den Harras mit; ich stieg mit Anna vor dem Rathause ab, wo die übrigen Herrschaften versammelt waren, und begleitete sie in den Saal, wo sie von dem Ausschusse und den versammelten Gemeinderatsfrauen bewunderungsvoll begrüßt wurde. Ich war hier nur wenig bekannt und lebte nur in dem Glanze, welchen Anna auf mich warf. Jetzt kam auch der Schulmeister angefahren mit seiner Begleiterin; sie gesellten sich zu uns, nachdem das Gefährt notdürftig untergebracht, und erzählten, wie soeben auf der Landschaft dem jungen Melchthal die Ochsen vom Pfluge genommen, er flüchtig geworden und sein Vater gefangen worden sei, wie die Tyrannen überhaupt ihren Spuk trieben und vor dem Stauffacherschen Hause merkwürdige Szenen stattgefunden hätten vor vielen Zuschauern. Diese strömten auch bald zum Tore herein; denn obgleich nicht alle überall sein wollten, so begehrte doch die größere Zahl die ehrwürdigen und bedeutungsvollen Hauptbegebenheiten zu schauen und vor allem den Tellenschuß. Bereits sahen wir auch aus dem Fenster des Rathauses die Spießknechte mit der verhaßten Stange ankommen, dieselbe mitten auf dem Platze aufpflanzen und unter Trommelschlag das Gesetz verkünden. Der Platz wurde jetzt geräumt, das sämtliche Volk, mit und ohne Kostüm, an die Seiten verwiesen und vor allen Fenstern, auf Treppen, Galerien und Dächern wimmelte die Menge. Bei der Stange gingen die beiden Wachen auf und ab, jetzt kam der Tell mit seinem Knaben über den Platz gegangen, von rauschendem Beifall begrüßt; er hielt das Gespräch mit dem Kinde nicht, sondern wurde bald in den schlimmen Handel mit den Schergen verwickelt, dem das Volk mit gespannter Aufmerksamkeit zusah, indessen Anna und ich nebst anderm zwingherrlichen Gelichter uns zur Hintertür hinaus begaben und zu Pferde stiegen, da es Zeit war, uns mit dem Geßlerschen Jagdzuge zu vereinigen, der schon vor dem Tore hielt. Wir ritten nun unter Trompetenklang herein und fanden die Handlung in vollem Gange, den Tell in großen Nöten und das Volk in lebhafter Bewegung und nur zu geneigt, den Helden seinen Drängern zu entreißen. Doch als der Landvogt seine Rede begann, wurde es still. Die Rollen wurden nicht theatralisch und mit Gebärdenspiel gesprochen, sondern mehr wie die Reden in einer Volksversammlung, laut, eintönig und etwas singend, da es doch Verse waren; man konnte sie auf dem ganzen Platze vernehmen, und wenn jemand, eingeschüchtert, nicht verstanden wurde, so rief das Volk: »lauter, lauter!« und war höchst zufrieden, die Stelle noch einmal zu hören, ohne sich die Illusion stören zu lassen. So erging es auch mir, als ich einiges zu sprechen hatte; ich wurde aber glücklicherweise durch einen komischen Vorgang unterbrochen. Es trieben sich nämlich ein Dutzend Vermummte der alten Sorte herum, arme Teufel, welche weiße Hemden über ihre ärmlichen Kleider gezogen hatten, ganz mit bunten Läppchen besetzt, auf dem Kopfe trugen sie hohe kegelförmige Papiermützen, mit Fratzen bemalt, und vor dem Gesicht ein durchlöchertes Tuch. Dieser Anzug war sonst die allgemeine Vermummung gewesen zur Fastnachtszeit und in derselben allerlei Spaße getrieben worden; er scheint von der löblichen Tracht herzurühren, in welcher einst die verurteilten Ketzer verhöhnt wurden und welche nachher in den Fastnachtsspielen sich erhielt. Die armen Kerle waren den neueren Spielen nicht grün, da sie in dieser seltsamen Maskierung sich Gaben zu sammeln gewohnt und daher für deren Erhaltung begeistert waren. Sie stellten gewissermaßen den Rückschritt und die Verkommenheit vor und tanzten jetzt wunderlich genug mit Pritschen und Besen umher. Besonders zwei derselben störten das Schauspiel, als ich eben reden sollte, indem sie einander am Rückteile des Hemdes herumzerrten, welches mit Senf bestrichen war. Jeder hielt eine Wurst in der Hand und rieb sie, indem er sie aß, an dem Hemde des andern, während sie fortwährend sich im Kreise herumdrehten, wie zwei Hunde, die einander nach dem Schwanze schnappen. Auf diese Weise tanzten sie zwischen Geßler und Tell vorbei und glaubten wunder was zu tun in ihrer Unwissenheit; auch erfolgte ein schallendes Gelächter, indem das Volk im ersten Augenblicke seinen alten Nücken nicht widerstehen konnte. Doch alsobald erfolgten auch derbe Püffe und Stöße mit Schwertknäufen und Partisanen, die erschrockenen Spaßmacher suchten sich unter die Zuschauer zu retten, wurden aber überall mit Gelächter zurückgestoßen, so daß sie längs der fröhlichen Reihen kein Unterkommen fanden und ängstlich umherirrten, mit zerzausten Mützen und furchtsam ihre Verhüllung an das Gesicht drückend, damit sie nicht erkannt würden. Anna empfand Mitleiden mit ihnen und beauftragte Rolf den Harras und mich, den mißhandelten Fratzen einen Ausweg zu verschaffen, und so wurde ich meiner Rede enthoben. Dies störte übrigens nicht, da man gar nicht die Worte zählte und manchmal sogar die Schillerschen Jamben mit eigenen Kraftausdrücken verzierte, so wie es die Bewegung eben mit sich brachte. Doch machte sich der Volkshumor im Schoße des Schauspieles selbst geltend, als es zum Schlusse kam. Hier war seit undenklichen Zeiten, wenn bei Aufzügen die Tat des Tell auf derbe Weise vorgeführt wurde, der Scherz üblich gewesen, daß der Knabe während des Hin- und Herredens den Apfel vom Kopfe nahm und zum großen Jubel des Volkes gemütlich verspeiste. Dies Vergnügen war auch hier wieder eingeschmuggelt worden, und als Geßler den Jungen grimmig anfuhr, was das zu bedeuten hätte, erwiderte dieser keck: Herr! Mein Vater ist ein so guter Schütz, daß er sich schämen würde, auf einen so großen Apfel zu schießen! Legt mir einen auf, der nicht größer ist als Euere Barmherzigkeit, und der Vater wird ihn umso besser treffen! Als der Tell schoß, schien es ihm fast leid zu tun, daß er nicht seine Kugelbüchse zur Hand hatte und nur einen blinden Theaterschuß absenden konnte. Doch zitterte er wirklich und unwillkürlich, indem er anlegte, so sehr war er von der Ehre durchdrungen, diese geheiligte Handlung darstellen zu dürfen. Und als er dem Tyrannen den zweiten Pfeil drohend unter die Augen hielt, während alles Volk in atemloser Beklemmung zusah, da zitterte seine Hand wieder mit dem Pfeile, er durchbohrte den Geßler mit den Augen und seine Stimme erhob sich einen Augenblick lang mit solcher Gewalt der Leidenschaft, daß Geßler erblaßte und ein Schrecken über den ganzen Markt fuhr. Dann verbreitete sich ein frohes Gemurmel, tief tönend, man schüttelte sich die Hände und sagte, der Wirt wäre ein ganzer Mann, und so lange wir solche hätten, tue es nicht not! Doch ward der wackere Mann einstweilen gefänglich abgeführt und die Menge strömte aus dem Tore nach verschiedenen Seiten, teils um anderen Szenen beizuwohnen, teils um sich sonst vergnüglich umher zu treiben. Viele blieben auch im Orte, um dem Klange der Geigen nachzugehen, welche da und dort sich hören ließen. Auf die Mittagsstunde machte sich aber alles bereit, auf dem Grütli einzutreffen, wo der Bund beschworen wurde, mit Weglassung der Schillerschen Stellen, die sich auf die Nacht bezogen. Eine schöne Wiese an dem breiten Strom, von ansteigendem Gehölz umschlossen, war dazu bestimmt, wie auch der Strom überhaupt den See ersetzen mußte und den Fischern und Schiffsleuten zum Schauplatz diente. Anna setzte sich zu ihrem Vater in das Gefährt, ich ritt neben her und so begaben wir uns gemächlich auf den Weg dahin, um als Zuschauer auszuruhen und ausruhend zu genießen. Auf dem Grütli ging es sehr ernst und feierlich her; während das bunte Volk auf den Abhängen unter den Bäumen umhersaß, tagten die Eidgenossen in der Tiefe. Man sah dort die eigentlichen wehrbaren Männer mit den großen Schwertern und Bärten, kräftige Jünglinge mit Morgensternen und die drei Führer in der Mitte. Alles begab sich auf das beste und mit vielem Bewußtsein, der Fluß wogte breit glänzend und zufrieden vorüber; nur tadelte der Schulmeister, daß die Jungen und die Alten bei der feierlichen Handlung keinen Augenblick die Pfeifen aus dem Munde täten und kaum Walter Fürst und Stauffacher die ihrigen beiseite getan hätten; Melchthal aber, der viel Geld mit dem Ochsenhandel verdiente, rauchte eine Zigarre und der Pfarrer Rösselmann schnupfte unaufhörlich. Das störte in der Tat aber niemand als den Schulmeister, welcher weder rauchte noch schnupfte.

Als der Schweizerbund unter donnerndem Zuruf des lebendigen Berges umher beschworen war, setzte sich die ganze Menge, Zuschauer und Spieler untereinander gemischt, in Bewegung; der größte Teil wogte wie eine Völkerwanderung nach dem Städtchen, wo ein einfaches Mahl bereitet und fast jedes Haus in eine Herberge umgewandelt war, sei es für Freunde und Bekannte, sei es für Fremde gegen einen billigen Zehrpfennig; denn so unbefangen, wie wir die Aufzüge des Stückes durcheinander geworfen, hielten wir auch für gut, sie durch eine Erholungsstunde zu unterbrechen, um nachher die gewaltsamen Schlußereignisse mit desto frischerem Mute herbeizuführen. Der eigentliche Festwirt hatte in Betracht des ungewöhnlich warmen Wetters rasch den Markt, oder besser gesagt, den ganzen und einzigen inneren Raum des Städtchens in einen Speisesaal umgeschaffen; lange Tischreihen waren errichtet und gedeckt für diejenigen der »Verkleideten« und sonstigen Ehrenpersonen, welche das gemeinsame Essen teilen wollten, die übrigen besetzten die Häuser und viele einzelne Tische, welche vor die Häuser gestellt waren. So gewann das Städtchen doch wieder das Ansehen einer einzigen Familie, aus allen Fenstern blickten die abgesonderten Gesellschaften auf die große Haupttafel, und diejenigen vor den Häusern sahen bald wie unregelmäßige Verzweigungen derselben aus. Den Stoff zu den lauten Gesprächen lieh die allgemeine Theaterkritik, die sich über alle Tische verbreitete und deren mündliche Artikel die Künstler selbst verfaßten. Diese Kritik befaßte sich weniger mit dem Inhalte des Dramas und mit der Darstellung desselben als mit dem romantischen Aussehen der Helden und mit der Vergleichung mit ihrem gewöhnlichen Behaben. Daraus entstanden hundertfache scherzhafte Beziehungen und Anspielungen, von denen kaum der Tell allein frei gehalten wurde; denn dieser schien unangreifbar. Aber der Tyrann Geßler geriet in ein solches Kreuzfeuer, daß er in der Hitze des Gefechtes einen kleinen Rausch trank und seinen blinden Ingrimm bald auf sehr natürliche Weise darzustellen imstande war. Die heitersten Scherze veranlaßten die jungen Leute, welche in Frauentracht an der Tafel saßen. Es waren drei oder vier Burschen wie Milch und Blut, mit Sorgfalt gekleidet, und benahmen sich sehr züchtig und zimpferlich; während sie verliebter und kecker Natur und angehende Don Juans waren, ließen sie sich nun von ihren Kameraden, den ländlichen Kavalieren, spröde den Hof machen und ahmten aufs beste die Art sittsamer Frauen nach. Die wirklichen Mädchen betrachteten aus der Entfernung ziemlich wohlgefällig ihre neuen Rivalinnen; doch wenn die verkleideten Schälke plötzlich sich unter sie mischten und ein mädchenhaft vertrauliches Wort flüstern wollten, fuhren sie schreiend auseinander. Aber dies alles belustigte mich nicht sehr, da ich mich genug um Anna zu kümmern hatte. Sie saß am Ehrentische zwischen ihrem Vater und dem Regierungsstatthalter, gegenüber dem Tell und seiner wirklichen anwesenden Ehefrau. Nachdem sie schon ihrer reizenden und vornehmen Erscheinung wegen die allgemeine Aufmerksamkeit erregt, machte sich nun auch der ehrbare Ruf ihres Vaters, ihre feine Erziehung und im Hintergrunde ihr artiges Erbe geltend; ich mußte zu meiner großen Bekümmernis sehen, wie der Platz, wo sie saß, von allerhand hoffnungsvollen Gesellen belagert wurde, ja wie alle vier Fakultäten sich bestrebten, dem gravitätischen Schulmeister zu Gefallen zu leben. Ein frisch patentierter junger Doktor spielte den Erfahrenen, ein Jurist machte Witze, ein Vikarius verdrehte die Augen und sprach von der Poesie wie eine Kuh von der Muskatnuß (um das Sprichwort zu gebrauchen), und ein rationeller Landwirt, der die Philosophie vertrat, zog alle Augenblicke eine große Schweinsblase hervor, welche wenigstens funfzig Gulden in allen Silbersorten enthielt, und suchte mit starkem Gerassel einige Kreuzer, um einen Aufwärter zu bezahlen. Doch alle waren stattliche blühende Bursche mit einer behaglichen Zukunft; ich war arm und hatte einen Beruf gewählt, der nicht nur mit ewiger Armut verbunden war nach meinen eigenen Begriffen und zu meinem stolzen Vergnügen, sondern überhaupt bei allen diesen Leuten nichts gelten konnte, während der Stand eines jeden der vier Hoffnungsvollen, selbst wenn diese arm waren, großes Ansehen bei dem Volke genoß, wie alles, was es nach seinen Begriffen für notwendig hält und vom Staate kontrolliert oder besoldet sieht. Ich entdeckte daher zum ersten Mal mit Schrecken, welch einer geschlossenen Macht ich gegenüberstand. Anna war gegen alle gleich freundlich, so unbefangen und offen, wie ich sie gar nie gesehen und am wenigsten gegen mich; aber obgleich mich gerade das hätte beruhigen sollen und ich überdies die ungewöhnlich edle Denkart des Schulmeisters kannte, so wurde es mir doch ganz heiß und ich beschuldigte sogleich die Weiber, daß sie unter dem Vorwande der Selbstverleugnung und des kindlichen Gehorsams es doch immer vorzögen, wenn auch unter heuchlerischen Tränen, sich unvermerkt dahin zu salvieren, wo guter Rat und Wohlstand wäre, und wenn sie eine Ausnahme machten, so geschähe das weniger aus Liebe als aus Eigensinn, welcher sich auch in Übertreibung und Ungebärdigkeit alsobald kundgebe! Doch kam mir kein Gedanke an einen besonderen Vorwurf gegen Anna, weil mir alles achtungswert und notwendig schien, was sie tat oder je tun würde, und ich entschuldigte sie sogar im voraus, wenn sie etwa in den Fall geraten sollte, nach dem Willen ihres Vaters einem Angesehenen und Reichen ihre Hand zu geben. Auch achtete ich diese ganze mächtige Volksschaft zu sehr und fühlte mich nur unbedeutend und unnütz in diesem Augenblicke. Betrübt erhob ich mich von meinem Sitze, wo ich zufällig zwischen zwei fremde Personen geraten war, und schlenderte um die Tische herum, meine Vettern und Basen aufsuchend, die sich im vollen Jubel befanden. Sie waren zu sehr mit ihrer Freude beschäftigt, als daß sie meinen Trübsinn hätten bemerken können, und ich war nahe daran, in das empfindsame Mitleid mit mir selbst, das ich in früheren Tagen gekannt, zu verfallen, als Margot, die Braut, welche in stiller Glückseligkeit neben dem Müller saß, mich heranwinkte, mit freudestrahlenden und doch teilnehmenden Augen fragte, warum ich mich so einsam und düster umhertreibe, mich mit ungewohnter Herzlichkeit beim Arme nahm und an ihrem Stuhle festhielt. Ich hätte sie aus Dankbarkeit umhalsen und küssen mögen, zumal sie mir so schön und liebenswürdig vorkam wie früher nie. Eine Braut zur Beschützerin zu haben, schien mir halb gewonnenes Spiel. Ich empfand sogleich eine warme und treue Freundschaft für sie, und auch sie schien froh zu sein, die dünne Scheidewand der bisherigen Ironie zwischen uns fallen zu lassen und einen ihrem künftigen Hause ergebenen Vetter aus mir zu machen. Sie unterhielt sich fortwährend und angelegentlich mit mir und veranlaßte den Müller, an dem vertraulichen Geplauder teilzunehmen. Das tat er denn auch mit freundschaftlicher Kraft, wir wurden herzlicher und offener gegeneinander, kurz, ich glaubte endlich zu meinem großen Troste zu entdecken, daß man mich achtete und wert hielt. Zutraulich bei diesem hübschen Paare stehend, sah ich nun ruhiger über die Versammlung hin und rückte endlich ein Stück weiter, um mich bei dem Schulmeister und seiner Tochter einzufinden. Trotz des Vorkommnisses in der Gartenlaube war unser Verkehr nicht sehr fortgeschritten, wir wechselten kaum einige Worte, im übrigen blieben wir still und zufrieden in unserer gegenseitigen Nähe, und selbst heute hatten wir fast nichts unmittelbar zueinander gesprochen. Als ich mich nachlässig hinter Annas Stuhl lehnte, bot mir der Schulmeister, während er mit den Nachbaren sprach, leichthin das Glas, wie man einem Angehörigen tut, den man oft sieht; seine Tochter kehrte sich nicht einmal um und fuhr fort, ihre Verehrer anzuhören. Das schmeichelte mir nun wieder, vor einer Viertelstunde hätte es meine Betrübnis vermehrt; ich schlug die Arme übereinander und hörte gelassen dem Gespräche zu. In ihrem Wetteifer waren die vier jungen Herren ein wenig kühn und prahlerisch geworden; ihre Studentenbildung und die Sitten ihres ländlichen Herkommens gerieten wunderlich durcheinander, sie verloren ihren Takt gegenüber dem feinen Kinde, das sie wie eine Mücke zu fangen glaubten, sagten Dummheiten ohne alle Anmut, und als das Zeichen zum Aufbruch erklang, gaben sie Anna ihre Visitenkarten! Was das heißen sollte, wußte kein Mensch; einer hatte angefangen, die anderen wollten nicht zurückbleiben. Sie hatten diese Karten beim Abgange von der Universität machen lassen, wie sie es bei anderen gesehen, die Hälfte davon gegen diejenigen ihrer Freunde vertauscht, indem sie einander besuchten, wenn sie nicht zu Hause waren, die andere Hälfte war nun noch vorrätig, und obgleich hier zu Lande keine Visitenkarten abgegeben wurden, wenn die Leute nicht zu Hause waren, so trugen sie doch stets einige bei sich, wie die Habichte auf einen günstigen Zufall lauernd, wo sie eine derselben anbringen konnten. Jetzt hatten sie mit kühner Hand sich die Gelegenheit vom Zaun gebrochen und ohne weiteres die glänzenden Dinger hervorgeholt. Anna hielt sie anscheinend bewunderungsvoll in der Hand; auf einem stand Dr. med., auf dem andern Cand. jur., auf dem des Vikars V.D.M. Als Anna fragte, was letzteres bedeute, lag es mir auf der Zunge, zu sagen: Verdammter Mucker! Denn der arme junge Priester war zwar ein sogenannter freisinniger Theologe, hatte aber von der Universität eine bedenkliche ästhetische Muckerei heimgebracht. Er erklärte aber, es hieße Verbi divini Minister [Diener des göttlichen Wortes]. Nur der rationelle Landwirt besaß keine Karte; dafür zog er noch einmal seine Blase heraus, setzte sie klirrend auf den Tisch, grub einen Franken aus derselben hervor und warf denselben ohne alle Veranlassung einem Kinde hin. Ich bemerkte, daß dies von den Anwesenden sehr mißfällig angesehen wurde, und triumphierte nun vollkommen in meinem schadenfrohen Gemüte. Es kann mich aber vielleicht entschuldigen, daß alle Vier sechs bis sieben Jahre älter als ich und schon gereist waren; auch haben sie seither nach ihrem Wunsche achtbare und vermögliche Frauen bekommen und sind ebenso tüchtige als geachtete junge Männer mit Ausnahme des Verbi divini Minister, welcher einen schlimmen Handel bekam und außer Landes ging.

Auf einmal kehrte sich Anna um und bat mich, ihr die Karten aufzubewahren; sie bemerkte lächelnd, ich möchte ja recht Sorge tragen, und als ich sie einsteckte, war mir, als ob ich alle vier Helden in der Tasche trüge. Doch diese mochten auch bereits einsehen, daß sie einen unschicklichen und törichten Streich begangen, und verloren sich aus unserer Umgebung; denn als kluger Bauern ebenso kluge Söhnlein waren sie nur oberflächlich in solche Schnörkeleien hineingeraten und soeben durch Annas feines Wesen fälschlich zu deren Anwendung verlockt worden.

Während man nun von allen Seiten aufbrach, hatte sich in unserer Nähe, wo der Statthalter, Wilhelm Tell, der Wirt, und andere Männer von Gewicht saßen, eine bedächtige Unterhaltung entsponnen. Es handelte sich um die Richtung einer neuen Straße erster Klasse, welche von der Hauptstadt her durch diese Gegend an die Grenze geführt werden sollte. Zwei verschiedene Pläne standen sich in bezug auf unser engeres Gebiet entgegen, welche mit gleichwiegenden Vorteilen und Schwierigkeiten verbunden waren; die eine Richtung ging über eine gedehnte Anhöhe, fast zusammenfallend mit einer älteren Straße zweiten Ranges, mußte aber im Zickzack geführt werden und stellte bedeutende Kosten in Aussicht; die andere ging mehr grad und eben über den Fluß, allein hier war das anzukaufende Land teurer und überdies ein Brückenbau notwendig, so daß die Kosten also sich gleich kamen, während die Verkehrsverhältnisse die Wünschbarkeit ebenfalls ziemlich gleich verteilten. Aber an der älteren Straße auf der Anhöhe lag das Gasthaus des Tell, weit hinschauend und viel besucht von Geschäftsmännern und Fuhrleuten; durch die große Straße in der Niederung würde sich der Verkehr dort hingezogen haben und das alte berühmte Haus vereinsamt worden sein; daher sprach sich der wackere Tell, an der Spitze eines Anhanges anderer Bewohner der Anhöhe, energisch für die Notwendigkeit aus, daß die neue Straße über dieselbe gezogen werde. In der Tiefe hingegen hatte ein reicher Holzhändler, die Schiffahrt abwärts benutzend, seine weitläufigen Räume angelegt, dem nun die Straße zum Transport aufwärts unentbehrlich schien. Er war seit einer Reihe von Jahren, schon in der Restaurationszeit, Mitglied des Großen Rates und einer jener Männer, die weniger ideellen Stoff in eine gesetzgebende Behörde bringen als durch geschäftliche Sach- und Lokalkenntnis ebenso schlichte als unentbehrliche und darum stehende Erscheinungen in denselben und jeder herrschenden Partei von Nutzen sind. Er war radikal und stimmte in allen politischen Fragen im Sinne des Fortschrittes, aber ohne viel Umstände, indem er mehr durch sein Beispiel als durch Reden wirkte. Nur wenn eine Frage in den Geldbeutel eingriff, pflegte er die Debatte mit genauen Erörterungen und Bedenklichkeiten aufzuhalten; denn auch der Radikalismus war ihm ein Geschäft und er der Meinung, mit den äußersten Ersparnissen, die man den Kosten von sechs Unternehmungen abgezwackt, könne man eine siebente obendrein ermöglichen. Er wollte die Sache der Freiheit und Aufklärung nach der Weise eines klugen Fabrikanten betrieben wissen, welcher nicht darauf ausgeht, mit ungeheuren Kosten auf einmal ein kolossales Prachtgebäude herzustellen, in welchem er die Arbeiter zur Not beschäftigen könnte, sondern der es vorzieht, unscheinbare räucherige Gebäude, Werkstatt an Werkstatt, Schuppen an Schuppen zu reihen, wie es Bedürfnis und Gewinn erlauben, bald provisorisch, bald solid, nach und nach, aber immer rascher mit der Zeit, daß es raucht und dampft, pocht und hämmert an allen Ecken, während jeder Beschäftigte in dem lustigen Wirrsal seinen Griff und Tritt kennt. Deswegen eiferte er immer gegen die schönen großen Schulhäuser, gegen die erhöhten Besoldungen der Lehrer und dergleichen, weil ein Land, welches mit einer Menge bescheidener, aber mit allen Mitteln vollgepfropfter Schulstuben gespickt sei, in bequemer Nähe überall, wo ein Paar Kinder wohnen, und wo an allen Ecken und Enden tapfer und emsig gelernt würde in aller Unscheinbarkeit, erst die wahre Kultur aufzeige. Der gravitätische Aufwand, behauptete der Holzhändler, behindere nur die tüchtige Bewegung; nicht ein goldenes Schwert tue not, dessen mit Edelsteinen besetzter Griff die Hand geniere, sondern eine scharfe leichte Axt, deren hölzerner Stiel, vom rüstigen Gebrauche geglättet, der Hand vollkommen gerecht sei zur Verteidigung wie zur Arbeit, und die ehrwürdige Politur an einem solchen Axtstiele sei ein viel schönerer Glanz als Gold und Steine jenes Schwertgriffes darböten. Ein Volk, welches Paläste baue, bestelle sich nur zierliche Grabsteine, und der Wandelbarkeit könne noch am besten widerstanden werden, wenn man sich unter ihrem Panier schlau durch die Zeit bugsiere, leicht und behende; erst ein Volk, das dies begriffen, immer bewaffnet und marschfertig, ohne unnützes Gepäck, aber mit gefüllter Kriegskasse versehen sei, dessen Tempel, Palast, Festung und Wohnhaus in einem Stück das leichte, luftige und doch unzerstörbare Wanderzelt seiner geistigen Erfahrung und Grundsätze sei, überall mitzuführen und aufzuschlagen, könne sich Hoffnung auf wahre Dauer machen, und selbst seinen geographischen Wohnsitz vermöge ein solches länger zu behaupten. Besonders von den Schweizern wäre es ein Unsinn, wenn sie ihre Berge mit schönen Gebäuden bekleben wollten; höchstens am Eingange wären allenfalls ein paar ansehnliche Städte zu dulden, sonst aber müßten wir es ganz der Natur überlassen, die Honneurs zu machen; dies sei nicht nur das Billigste, sondern auch das Klügste. Von den Künsten ließ er einzig Beredsamkeit und Gesang gelten, weil sie seinem »Wanderzelte« entsprachen, nichts kosten und keinen Platz einnehmen. Sein eigenes Besitztum sah ganz nach seinen Grundsätzen aus; Brenn- und Bauholz, Kohlen, Eisen und Stein bildeten in ungeheuren Vorräten ein großes Labyrinth, dazwischen kleine und große Gärten, denn wenn ein Platz für einen Sommer frei war, so wurde schnell Gemüse darauf gesäet; hie und da beschatteten mächtige Tannen, die er noch hatte stehen lassen, eine Sägemühle oder Schmiede. Sein Wohnhaus lag mehr wie eine Arbeiterhütte als wie ein Herrenhaus dazwischen hingeworfen und seine Frauensleute mußten für ein bescheidenes Ziergärtchen einen fortwährenden Krieg führen und mit demselben stets um das Haus herum flüchten; bald wurde es an diese, bald an jene Ecke geschoben, von Hecken oder Geländern war auf dem ganzen Grundstück nichts zu sehen. Es lag ein großer Reichtum darin, aber dieser änderte täglich seine äußere Gestalt; selbst die Dächer von den Gebäuden verkaufte der Mann manchmal, wenn sich günstige Gelegenheit bot, und doch saß er seit langer Zeit auf diesem Besitze und die fragliche Straße schien demselben die Krone aufzusetzen; denn eine gute Straße dünkte ihm das beste Ding von der Welt, nur müsse sie ohne kostspielige Meilenzeiger und ohne Akazienbäumchen und derlei Firlefanz sein. Auch war er fast immer auf der Straße in einem leichten, einfachen, aber vortrefflichen Fuhrwerke, dessen Remise ebenfalls auf steter Wanderung begriffen war und lediglich aus losen Bauhölzern bestand. Der Holzhändler meinte nun, der Wirt müsse oben seine Hütte zuschließen und einen Gasthof unten an die neue Straße und Brücke bauen, wo noch ein größerer Verkehr zu erwarten wäre, da hier noch die Schiffsleute hinzukämen. Allein der Wirt war der entgegengesetzten Gesinnung. Er saß in dem Hause seiner Väter; es war seit alten Zeiten immer ein Gasthaus gewesen; von seiner sonnigen Höhe war er gewohnt, über das Land hinzublicken, und das Haus hatte er mit schönen Schweizergeschichten bemalen lassen. Von der Verteidigung mit einer schlechten Axt wollte er nichts hören, dieselbe sei höchstens zum gelegentlichen Erschlagen eines Wolfenschießen gut; sonst bedurfte er einer trefflichen und fein gearbeiteten Büchse, die Übung mit derselben war ihm der edelste Zeitvertreib. Er war auch der Meinung, ein freier Bürger müsse arbeiten und sorgen, sich ein unabhängiges Auskommen zu schaffen und zu erhalten, aber nicht mehr als nötig sei, und wenn die Sache in sicherm Gange, so zieme dem Mann eine anständige Ruhe, ein vernünftiges Wort beim Glase Wein, eine erbauliche Betrachtung der Vergangenheit des Landes und seiner Zukunft. Er betrieb einen beschränkten Weinhandel, nur mit gutem und wertvollem Wein, mehr gelegentlich als geschäftsmäßig; in seinem Hause ging alles seinen Gang, ohne daß er viel umhersprang, wozu er auch zu beleibt war. Auch er war ein Mann des Rates und der Tat, aber mehr in der moralischen Welt, und in politischen Dingen ein einflußreicher Volksmann, ohne daß er im Großen Rate saß. Bei den Wahlen hörten viele auf ihn; daher mochte die Regierung ihn so wenig gegen sich aufbringen als den Holzhändler. Sie hatte dem Großen Rate, behufs eines Gesetzes über den fraglichen Straßenbau, ihr Gutachten vorzulegen; man wünschte, daß der betreffende Nachteil des Entscheides nicht den Behörden zur Last gelegt, sondern an Ort und Stelle ausgekocht würde, und zu diesem Ende hin hatte der Statthalter diese Gelegenheit ergriffen, die beiden Männer aneinander zu bringen und zu einer Verständigung aufzufordern. Der Statthalter war ein freundlicher und wohlbeleibter Mann mit einem hübschen Gesichte und vornehm grauen Haaren; er trug feine Wäsche und einen feinen Rock, an der feinen Hand goldene Ringe und lachte gern. Immer war er gelassen, führte seine Geschäfte mit Festigkeit durch, ohne sich auf die Gewalt zu berufen und als Regierungsperson zu brüsten. Er war sehr gebildet, allein davon zeigte er jederzeit nur so viel nötig war und tat dies auf eine Weise, als ob er den Bauern nur etwas erzählte, das er zufällig erfahren und sie ebenso gut wissen könnten, wenn es sich just gefügt hätte. Mit seinem feinen Rock und seinen Manschetten ging er überall hin, wo ein Bauersmann hinging, nahm seinen Putz nicht in acht dabei und verdarb ihn doch nicht. Zu den Leuten verhielt er sich nicht wie ein Vogt zu seinen Untergebenen oder wie ein Offizier zu seinen Soldaten, auch nicht wie ein Vater zu den Kindern oder ein Patriarch zu seinen Hirten, sondern unbefangen wie ein Mann, der mit dem andern ein Geschäft zu verrichten und eine Pflicht zu erfüllen hat. Er strebte weder herablassend noch leutselig zu sein, am wenigsten suchte er den besoldeten Diener des Volkes zu affektieren. Er gründete seine Festigkeit gar nicht auf die Amtsehre, sondern auf das Pflichtgefühl; doch wenn er nicht mehr sein wollte als ein anderer, so wollte er auch nicht weniger sein. Oder vielmehr wollte er gar nicht, denn er war alles, was er vorstellte. Und doch war er kein unabhängiger Mann; einer reichen, aber verschwenderischen Familie entsprossen und in seiner Jugend selbst ein lustiger Vogel, kehrte er mit erlangter Besonnenheit gerade in das väterliche Haus zurück, als dasselbe in Verfall geriet; es war gar nichts zu leben übrig geblieben, sein verkommener, lärmender Vater mußte noch erhalten werden; so sah sich der junge Mann genötigt, gleich ein Amt zu suchen, und war endlich unter vielen Wechseln und Erfahrungen einer von denen geworden, die ohne ihr Amt Bettler und Regierungspersonen von Profession sind. Er konnte aber als eine Ehrenrettung und Verklärung dieser verrufenen Lebensart gelten; den ersten Schritt hatte er in der Jugend und in der Not getan, und als es nachher nicht mehr zu ändern war, zog er sich wenigstens mit Ehre und wahrer Klugheit aus der Sache. Der Schulmeister pflegte von ihm zu sagen: er sei einer von den wenigen, die durch das Regieren weise werden. Doch alle Weisheit half ihm jetzt nicht, den Holzhändler und den Wirt zu einer Verständigung zu bringen, damit er der Regierung berichten könne, welcher Zug der Straße in der Gegend allgemein gewünscht werde. Jeder der beiden Männer verteidigte hartnäckig seinen Vorteil; der Holzhändler hielt sich schlechtweg an den Vernunftgrund, daß die Wahl zwischen einer ebenen und graden Linie und zwischen einem Berge heutzutage unzweifelhaft sein müsse, und barg so seinen eigenen Vorteil hinter die Vernunft; auch ließ er merken, daß er als Mitglied der Behörde derselben zum Siege zu verhelfen hoffe. Der Wirt dagegen sagte geradezu, er wolle sehen, ob er es um die Regierung verdient habe, daß man ihm das Haus seiner Väter in eine Einöde setze! Herabzusteigen und an dem feuchten Wasser sich anzunisten, wie eine Fischotter, dazu werde man ihn nicht überreden; oben, wo es trocken und sonnig, sei er geboren, und dort werde er auch bleiben! Hierauf versetzte sein Gegner lächelnd: Das möge er unbehindert tun und von der Freiheit träumen, während er ein Untertan seiner Vorurteile sei; andere zögen es vor, in der Tat frei zu sein und sich munter umherzutreiben. Schon fing die Gelassenheit an zu weichen und bei den beiderseitigen Anhängern Worte wie: Starrsinn und Eigennutz! laut zu werden, als ein fröhlicher Haufe den Tell zur Fortsetzung seiner Taten abholte; denn er sollte noch auf die Platte springen und den Vogt erschießen. Etwas zornig brach er auf, indes auch die übrigen sich zerstreuten und nur Anna mit ihrem Vater und ich sitzen blieben. Die Unterredung hatte einen peinlichen Eindruck auf mich gemacht; besonders am Wirt hatte mich dies unverhohlene Verfechten des eigenen Vorteils, an diesem Tage und in solchem Gewande, gekränkt; diese Privatansprüche an ein öffentliches Werk, von vorleuchtenden Männern mit Heftigkeit unter sich behauptet, das Hervorkehren des persönlichen Verdienstes und Ansehens widersprachen durchaus dem Bilde, welches von dem unparteiischen und unberührten Wesen des Staates in mir war und das ich mir von den berühmten Volksmännern gemacht hatte. Ich äußerte diesen Eindruck in vorlauten Worten gegen Annas Vater, hinzufügend, daß mir der Vorwurf der Kleinlichkeit, des Eigennutzes und der Engherzigkeit, welcher den Schweizern von fremden, namentlich deutschen Reisenden gemacht würde, nun bald gerecht erschiene. Der Schulmeister milderte in etwas meinen Tadel und forderte mich zur Duldsamkeit auf mit der menschlichen Unvollkommenheit, welche auch diese sonst wackeren Männer überschatte. Übrigens, meinte er, sei nicht zu leugnen, daß unsere Freiheitsliebe noch zu sehr ein Gewächs der Scholle sei und daß unseren Fortschrittsmännern die wahre Religiosität fehle, welche in das schwere politische Leben jenen heitern, frommen, liebevollen Leichtsinn bringe, der aus warmem Gottvertrauen entspringe und erst die rechte Opferfreudigkeit, die allerfreieste Beweglichkeit von Leib und Seele möglich mache. Wenn unsere fleißigen Männer einmal einsähen, daß im Evangelio noch eine viel aufgewecktere und schönere Beweglichkeit gelehrt würde als diejenige sei, welche der Holzhändler predige, so werde das Politisieren noch viel erklecklicher vonstatten gehen und erst die reifen Früchte bringen. Ich wollte eben hiegegen mein rundes Veto einlegen, als jemand mir auf die Achsel klopfte; als ich mich umwandte, stand der Statthalter hinter uns, welcher freundlich sagte: Obgleich ich nicht der Ansicht bin, daß man in einer guten Republik stark auf die Meinungen der Jugend achte, so lange die Alten das Salz nicht verloren haben und Toren geworden sind, so will ich doch versuchen, junger Herr! Euren Kummer zu lindern, damit Euch über vermeintlichen trüben Erfahrungen nicht dieser schöne Tag zu Schanden gehe; zudem habt Ihr noch nicht einmal jenes Jugendalter erreicht, welches ich eigentlich meine, und da Ihr schon so kräftig zu tadeln wißt, so versteht Ihr gewiß noch ebenso gut zu lernen. Vor allem freut es mich, Euch in betreff der beiden Männer, welche soeben weggingen, Euren Mut wieder aufzurichten; es mögen allerdings nicht alle gleich sein in unserem Schweizerlande; doch vom Herrn Kantonsrat sowohl wie vom Leuenwirt mögt Ihr sicher glauben, daß sie Hab und Gut sowohl dem Lande in Gefahr hingeben als es einer für den andern opfern würde, wenn er ins Unglück geriete, und das vielleicht gerade desto unbedenklicher als der andere sich heut kräftiger um die Straße gewehrt hat. Sodann merkt Euch für Eure künftigen Tage: wer seinen Vorteil nicht mit unverhohlener Hand zu erringen und zu wahren versteht, der wird auch nie imstande sein, seinem Nächsten aus freier Tat einen Vorteil zu verschaffen! Denn es ist (hier schien sich der Statthalter mehr an den Schulmeister zu wenden) ein großer Unterschied zwischen dem freien Preisgeben oder Mitteilen eines erworbenen, errungenen Gutes und zwischen dem trägen Fahrenlassen dessen, was man nie besessen hat, oder dem Entsagen auf das, was man zu schwächlich ist zu verteidigen. Jenes gleicht dem wohltätigen Gebrauche eines wohlerworbenen Vermögens, dieses aber der Verschleuderung ererbter oder gefundener Reichtümer. Einer, der immer und ewig entsagt, überall sanftmütig hintenansteht, mag ein guter harmloser Mensch sein; aber niemand wird es ihm Dank wissen und von ihm sagen: Dieser hat mir einen Vorteil verschafft! Denn dieses kann, wie schon gesagt, nur der tun, der den Vorteil erst zu erwerben und zu behaupten weiß. Wo man dies aber mit frischem Mute und ohne Heuchelei tut, da scheint mir Gesundheit zu herrschen und gelegentlich ein tüchtiger Zank um den Vorteil ein Zeichen von Gesundheit zu sein: Wo man nicht frei heraus für seinen Nutzen und für sein Gut einstehen kann, da möchte ich mich nicht niederlassen; denn da ist nichts zu erholen als die magere Bettelsuppe der Verstellung, der Gnadenseligkeit und der romantischen Verderbnis, da entsagen alle, weil allen die Trauben zu sauer sind, und die Fuchsschwänze schlagen mit bittersüßem Wedeln um die dürren Flanken. Was aber die Meinung der Fremden betrifft (hier wandte er sich wieder mehr an mich), so werdet Ihr einst auf Euren Reisen lernen, weniger darauf zu achten. Man macht den Engländern und den Amerikanern die gleichen Vorwürfe der Engherzigkeit, des Eigennutzes; uns, die wir als kleine Schar unter den Tadlern leben, hängt man scharfsinnigerweise noch die Kleinlichkeit an; wenn Ihr aber einst die Grenzen überschreitet, so werdet Ihr erleben, daß der große Sinn nicht mit den Quadratmeilen zunimmt und, wo etwas dergleichen in den Lüften zu schweben scheint, es eigentlich nur ein trügerischer Wolkenmantel der Unentschlossenheit und der Verzweiflung ist.

Nach dieser Rede schüttelte uns der Statthalter die Hände und entfernte sich. Ich war indessen nicht überzeugt worden, so wenig als dem Schulmeister die Wendung des Gesprächs zu behagen schien. Doch kamen wir darin überein, daß er ein liebenswürdiger und kluger Mann sei, und indem ich ihm, mich durch seine Ansprache geehrt fühlend, wohlwollend nachblickte, pries ich ihn gegen den Schulmeister als einen verdienstvollen und daher gewiß glücklichen Mann. Der Schulmeister schüttelte aber den Kopf und meinte, es wäre nicht alles Gold, was glänze. Er hatte seit einiger Zeit angefangen, mich zu duzen, und fuhr daher jetzt fort: Da du ein nachdenklicher Jüngling bist, so gebührt es dir auch, früher als viele einen Blick in das Leben der Menschen zu gewinnen; denn ich halte dafür, daß die Kenntnis recht vieler Fälle und Gestaltungen jungen Leuten mehr nützt als alle moralischen Theorien; diese kommen erst dem Manne von Erfahrung zu, gewissermaßen als eine Entschädigung für das, was nicht mehr zu ändern ist. Der Statthalter eifert nur darum so sehr gegen das, was er Entsagung nennt, weil er selbst eine Art Entsagender ist, das heißt weil er selbst diejenige Wirksamkeit geopfert hat, die ihn erst glücklich machen würde und seinen Eigenschaften entspräche. Obgleich diese Selbstverleugnung in meinen Augen eine Tugend ist und er in seiner jetzigen Wirksamkeit so verdienstlich und nützlich dasteht als er es kaum anderswie könnte, so ist er doch nicht dieser Meinung, und er hat manchmal so düstere und prüfungsreiche Stunden, wie man es seiner heiteren und freundlichen Weise nicht zumuten würde. Von Natur nämlich ist er ebenso feuriger Gemütsart als von einem großen und klaren Verstande begabt und daher mehr dazu geschaffen, im Kampfe der Grundsätze beim Aufeinanderplatzen der Geister einen tapferen Führer abzugeben und im Großen Menschen zu bestimmen als in ein und demselben Amte ein stehender Verwalter zu sein. Allein er hat nicht den Mut, auf einen Tag brotlos zu werden, er hat gar keine Ahnung davon, wie sich die Vögel und die Lilien des Feldes ohne ein fixes Einkommen nähren und kleiden, und daher hat er sich der Geltendmachung seiner eigenen Meinung begeben. Schon mehr als ein Mal, wenn durch den Parteienkampf Regierungswechsel herbeigeführt wurden und der siegende Teil den unterlegenen durch ungesetzliche Maßregeln zwacken wollte, hat er sich wie ein Ehrenmann in seinem Amte dagegen gestemmt, aber das, was er seinem Temperament nach am liebsten getan hätte, nämlich der Regierung sein Amt vor die Füße zu werfen, sich an die Spitze einer Bewegung zu stellen und mittelst seiner Einsicht und seiner Energie die Gewalthaber wieder dahin zu jagen, von wannen sie gekommen: das hat er unterlassen, und dies Unterlassen kostet ihn zehnmal mehr Mühe und Bitterkeit als seine ununterbrochene arbeitsvolle Amtsführung. Den Landleuten gegenüber braucht er nur zu leben, wie er es tut, um in seiner Würde fest zu stehen. Bei den Behörden aber und in der Hauptstadt braucht es manches verbindliche Lächeln, manche, wenn auch noch so unschuldige Schnörkelei, wo er lieber sagen würde: Herr! Sie sind ein großer Narr! oder; Herr! Sie scheinen ein Spitzbube zu sein! Denn wie gesagt, er hat ein dunkles Grauen vor dem, was man Brotlosigkeit nennt.

Aber zum Teufel! sagte ich, sind denn unsere Herren Regenten zu irgend einer Zeit etwas anderes als ein Stück Volk und leben wir nicht in einer Republik?

Allerdings, mein lieber Sohn! erwiderte der Schulmeister; allein es bleibt eine wunderbare Tatsache, wie besonders in neuerer Zeit ein solches Stück Volk, ein repräsentativer Körper durch den einfachen Prozeß der Wahl sogleich etwas ganz merkwürdig Verschiedenes wird, einesteils immer noch Volk und andernteils etwas dem ganz Entgegengesetztes, fast Feindliches wird. Es ist wie mit einer chemischen Materie, welche durch das bloße Eintauchen eines Stäbchens, ja sogar durch bloßes Stehen auf geheimnisvolle Weise sich in ihrem ganzen Wesen verändert. Manchmal will es fast scheinen, als ob die alten patrizischen Regierungen mehr den Grundcharakter ihres Volkes zu zeigen und zu bewahren vermochten. Aber lasse dich ja nicht etwa verführen, unsere repräsentative Demokratie nicht für die beste Verfassung zu halten! Besagte Erscheinung dient bei einem gesunden Volke nur zu einer wohltätigen Heiterkeit, da es sich mit aller Gemütsruhe den Spaß macht, die wunderbar verwandelte Materie manchmal etwas zu rütteln, die Phiole gegen das Licht zu halten, prüfend hindurch zu gucken und sie am Ende doch zu seinem Nutzen zu verwenden.

Den Schulmeister unterbrechend, fragte ich, ob denn der Statthalter als ein Mann von solchen Kenntnissen und solchem Verstande sich nicht reichlicher durch eine Privattätigkeit ernähren könnte als durch ein Amt? Worauf er antwortete: Daß er dies nicht kann, oder nicht zu können glaubt, ist wahrscheinlich eben das Geheimnis seiner Lebenslage! Der freie Erwerb ist eine Sache, für welche manchen Menschen der Sinn sehr spät, manchen gar nie aufgeht. Vielen ist es ein einfacher Trick, dessen Verständnis ihnen durch ein Handumdrehen, durch Zufall und Glück gekommen, vielen ist es eine langsam zu erringende Kunst. Wer nicht in seiner Jugend durch Übung und Vorbild seiner Umgebung, sozusagen durch die Überlieferung seines Geburtshauses, oder sonst im rechten Moment den rechten Fleck erwischt, wo der Tick liegt, der muß manchmal bis in sein vierzigstes oder funfzigstes Jahr ein umhergeworfener und bettelhafter Mensch sein, oft stirbt er als ein sogenannter Lump. Viele Personen des Staates, welche zeitlebens tüchtige Angestellte waren, haben keinen Begriff vom Erwerbe; denn alle öffentlich Besoldeten bilden unter sich ein Phalansterium, sie teilen die Arbeit unter sich und jeder bezieht aus den allgemeinen Einkünften seinen Lebensbedarf ohne weitere Sorge um Regen oder Sonnenschein, Mißwachs, Krieg oder Frieden, Gelingen oder Scheitern. Sie stehen so als eine ganz verschiedene Welt dem Volke gegenüber, dessen öffentliche Einrichtung sie verwalten. Diese Welt hat für solche, die von jeher darin lebten, etwas Entnervendes in bezug auf die Erwerbsfähigkeit. Sie kennen die Arbeit, die Gewissenhaftigkeit, die Sparsamkeit, aber sie wissen nicht, wie die runde Summe, welche sie als Lohn erhalten, im Wind und Wetter der Konkurrenz zusammengekommen ist. Mancher ist sein Leben lang ein fleißiger Richter und Exekutor in Geldsachen gewesen, der es nie dazu brächte, einen Wechsel auf seinen Namen in Umlauf zu setzen. Wer essen will, der soll auch arbeiten; ob aber der verdiente Lohn der Arbeit sicher und ohne Sorgen sein oder ob er außer der einfachen Arbeit noch ein Ergebnis der Sorge, des Geschickes und dadurch zum Gewinst werden soll, welches von beiden das Vernünftige und von höherer Absicht dem Menschen Bestimmte sei: das zu entscheiden wage ich nicht, vielleicht wird es die Zukunft tun. Aber wir haben beide Arten in unseren Zuständen und dadurch ein verworrenes Gemisch von Abhängigkeit und Freiheit und von verschiedenen Anschauungen. Der Statthalter glaubt sich abhängig und enthält sich während jeder Krise mit edlem Stolze gleichmäßig aller eigenen Kundgebung und weiß dabei nicht einmal, wie viele sich bemühen, hinter seinem Rücken seine innersten Gedanken zu erfahren, um sich danach zu richten.

Ich empfand eine große Teilnahme für den Statthalter und ehrte ihn aufrichtig, ohne mir darüber Rechenschaft geben zu können; denn ich mißbilligte höchlich seine Scheu vor der Armut, und erst später ward es mir klar, daß er das Schwerste gelöst habe: eine gezwungene Stellung ganz so auszufüllen, als ob er dazu allein gemacht wäre, ohne mürrisch oder gar gemein zu werden. Indessen waren mir die Reden des Schulmeisters über das Erwerben und über den rechten Tick keine liebliche Musik; es wurde mir ängstlich, ob ich diesen auch erwischen würde, da ich einzusehen begann, daß für alles dies rüstige Volk die Freiheit erst ein Gut war, wenn es sich seines Brotes versichert hatte, und ich fühlte vor den langen nun leeren Tischreihen, daß selbst dieses Fest bei hungrigem Magen und leerem Beutel ein sehr trübseliges gewesen wäre. Ich war froh, daß wir endlich aufbrachen. Annas Vater schlug vor, wir beide sollten uns zu ihm ins Fuhrwerk setzen, damit wir zusammen dem Schauspiele nachführen; doch gab sie den Wunsch zu erkennen, lieber noch einmal den Schimmel zu besteigen und noch ein wenig hinaus zu reiten, da es später unter keinem Vorwande mehr geschehen würde. Hiermit war der Schulmeister auch zufrieden und erklärte: so wolle er wenigstens mit uns fahren, bis er etwa Gelegenheit finde, einer bejahrten Person den Heimweg zu erleichtern, da ihn die Jungen alle im Stiche ließen. Ich aber lief mit frohen Gedanken nach dem Hause, wo unsere Pferde standen, ließ dieselben auf die Straße bringen, und als ich Anna in den Sattel half, klopfte mir das Herz vor heftigem Vergnügen und stand wieder still vor angenehmem Schreck, weil ich voraussah, bald allein neben ihr durch die Landschaft zu reiten.

Dies traf auch ein, obgleich noch auf andere Weise als ich es gehofft hatte. Wir waren noch nicht weit aus dem Tore, als der gastliche Schulmeister sein Wägelchen schon mit drei alten Leutchen beladen hatte und in lustigem Trabe vorausfuhr, der angenommenen hohlen Gasse zu. Still ritten wir nun im Schritte dahin und grüßten sehr beflissen die fröhlichen Leute, denen wir begegneten, links und rechts, bis wir in die Nähe der wogenden und summenden Menge kamen und dieselbe beinah erreichten. Da stießen wir auf den Philosophen, dessen schönes Gesichtchen vor Mutwillen glühte und den tollen Spuk verkündigte, welchen er schon ausgeübt. Er war in gewöhnlicher Kleidung und trug ein Buch in der Hand, da er nebst einem anderen Lehrer das Amt eines Einbläsers übernommen, um überall zur Hand zu sein, wenn einen Helden die Erinnerung verlassen sollte. Doch erzählte er jetzt, wie die Leute gar nichts mehr hören wollten und alles von selber seinen ziemlich wilden Gang ginge; er habe daher, rief er, nun die schönste Muße, uns beiden zu der Jagdszene zu soufflieren, die wir ohne Zweifel aufzuführen so einsam ausgezogen wären; es sei auch die höchste Zeit dazu und wir wollten uns ungesäumt ans Werk machen!

Ich wurde rot und trieb die Pferde an; aber der Philosoph fiel uns in die Zügel; Anna fragte, was denn das wäre mit der Jagdszene, worauf er lachend ausrief; er werde uns doch nicht sagen müssen, was alle Welt belustige und uns ohne Zweifel mehr als alle Welt! Anna wurde nun auch rot und verlangte standhaft zu wissen, was er meine. Da reichte er ihr das aufgeschlagene Buch, und während mein Brauner und ihr Schimmel behaglich sich beschnupperten, ich aber wie auf Kohlen saß, las sie, das Buch auf dem rechten Knie haltend, aufmerksam die Szene, wo Rudenz und Berta ihr schönes Bündnis schließen, von Anfang bis zu Ende, mehr und mehr errötend. Die Schlinge kam nun an den Tag, welche ich ihr so harmlos gelegt, der Philosoph rüstete sich sichtbar zu endlosem Unfuge, als Anna plötzlich das Buch zuschlug, es hinwarf und höchst entschieden erklärte, sie wolle sogleich nach Hause. Zugleich wandte sie ihr Pferd und begann feldein zu reiten auf einem schmalen Fahrwege, ungefähr in der Richtung nach unserm Dorfe. Verlegen und unentschlossen sah ich ihr eine Weile nach; doch faßte ich mir ein Herz und trabte bald hinter ihr her, da sie doch einen Begleiter haben mußte; während ich sie erreichte, sang uns der Philosoph ein loses Lied nach, welches jedoch immer schwächer hinter uns verklang, und zuletzt hörten wir nichts mehr als die muntere, aber ferne Hochzeitsmusik aus der hohlen Gasse und vereinzelte Freudenrufe und Jauchzer an verschiedenen Punkten der Landschaft. Diese erschien aber durch die Unterbrechungen nur umso stiller und lag mit Feldern und Wäldern friedevoll und doch so freudenvoll im Glanze der Nachmittagssonne wie im reinsten Golde. Wir ritten nun auf einer gestreckten Höhe, ich hielt mein Pferd immer noch um eine Kopflänge hinter dem ihrigen zurück und wagte nicht, ein Wort zu sagen. Da gab Anna dem Schimmel einen kecken Schlag mit der Gerte und setzte ihn in Galopp, ich tat das gleiche; ein lauer Wind wehte uns entgegen, und als ich auf einmal sah, daß sie, ganz gerötet die balsamische Luft einatmend und, während ihr Haar wie ein leuchtender Streif waagrecht schwebte, langhin flatternd: daß sie so ganz vergnügt vor sich hin lächelte, den Kopf hoch aufgehalten mit dem funkelnden Krönchen, da schloß ich mich dicht an ihre Seite, und so jagten wir wohl fünf Minuten lang über die einsame Höhe dahin. Aber diese fünf Minuten, kurz wie ein Augenblick, schienen doch eine Ewigkeit von Glück zu sein, es war ein Stück Dasein, an welchem die Zeit ihr Maß verlor, welches einer Blume vollkommen glich, einer Blume, von der man keine Frucht zu verlangen braucht, weil die bloße Erinnerung ihrer Blütezeit ein volles Genügen und ein Schutzbrief ist für alle Zukunft. Der Weg war noch halb feucht und doch fest, rechts unter uns zog der Fluß, wir sahen seine glänzende Länge hinauf, jenseits erhob sich das steile Ufer mit dunklem Walde und darüber hin sahen wir über viele Höhenzüge weg im Nordosten ein paar schwäbische Berge, einsame Pyramiden, in unendlicher Stille und Ferne. Im Südwesten lagen die Alpen weit herum, noch tief herunter mit Schnee bedeckt, und über ihnen lagerte ein wunderschönes mächtiges Wolkengebirge im gleichen Glanze, Licht und Schatten ganz von gleicher Farbe wie die Berge, ein Meer von leuchtendem Weiß und tiefem Blau, aber in tausend Formen gegossen, von denen eine die andere übertürmte, Gletscherhäupter und Wolken durcheinander geworfen. Das Ganze war eine senkrecht aufgerichtete glänzende und wunderbare Wildnis, gewaltig und nah an das Gemüt rückend und doch so lautlos, unbeweglich und fern. Wir sahen alles zugleich, ohne daß wir besonders hinblickten; wie ein unendlicher Kranz schien sich die weite Welt um uns zu drehen, bis sie sich verengte, als wir allmählich bergab jagten, dem Flusse zu. Aber es war uns nur, als ob wir im Traume in einen geträumten Traum träten, als wir auf einer Fähre über den Fluß fuhren, die durchsichtig grünen Wellen sich rauschend am Schiff brachen und unter uns wegzogen, während wir doch auf Pferden saßen und uns in einem schönen Halbbogen über die Strömung weg bewegten. Und wieder glaubten wir uns in einen andern Traum versetzt, als wir, am anderen Ufer angekommen, langsam einen dunklen Hohlweg emporklommen, in welchem schmelzender Schnee lag. Hier war es kalt, feucht und schauerlich; von den dunklen Büschen tropfte es und fielen zahlreiche Schneeklumpen, wir befanden uns ganz in einer kräftig braunen Dunkelheit, in deren Schatten der alte Schnee traurig schimmerte, nur hoch über uns glänzte der goldene Himmel. Auch hatten wir den Weg nun verloren und wußten nicht recht, wo wir waren, als es mit einem Male grün und trocken um uns wurde. Wir kamen auf die Höhe und befanden uns in einem hohen Tannenwald, dessen Stämme drei bis vier Schritte auseinander standen, dessen Boden dicht mit trockenem Moose bezogen war und dessen Äste hoch oben ein dunkelgrünes Dach bildeten, so daß wir vom Himmel fast nichts mehr sehen konnten. Ein warmer Hauch empfing uns hier, goldene Lichter streiften hier und da über das Moos und an den Stämmen, der Tritt der Pferde war unhörbar, wir ritten gemächlich zwischendurch, um die Tannen herum, bald trennten wir uns und bald drängten wir uns nahe zusammen zwischen zwei Säulen durch, wie durch eine Himmelspforte. Eine solche Pforte fanden wir aber gesperrt durch den quergezogenen Faden einer frühen Spinne; derselbe blitzte in einem Streiflichte in allen Farben, blau, grün und rot, wie ein Diamantstrahl. Wir bückten uns einmütig darunter weg und in diesem Augenblicke kamen sich unsere Gesichter so nahe, daß wir uns unwillkürlich küßten. Wir hatten schon im Hohlweg zu sprechen angefangen und plauderten nun eine Weile ganz glückselig, bis wir uns darauf besannen, daß wir uns geküßt, und sahen, daß wir rot wurden, wenn wir uns anblickten. Da wurden wir wieder still. Der Wald senkte sich nun auf die andere Seite hin und stand wieder im tiefen Schatten. In der Tiefe sahen wir ein Wasser glänzen und die gegenüberstehende Berghalde, ganz nah, leuchtete mit Felsen und Fichten im hellen Sonnenscheine durch die dunklen Stämme, unter denen wir zogen, und warf ein wunderbares Zwielicht in die schattigen Hallen unseres Tannenwaldes. Der Boden wurde jetzt so abschüssig, daß wir absteigen mußten. Als ich Anna vom Pferde hob, küßten wir uns zum zweiten Male, sie sprang aber sogleich weg und wandelte vor mir über den weichen grünen Teppich hinunter, während ich die beiden Tiere führte. Wie ich die reizende, fast märchenhafte Gestalt so durch die Tannen gehen sah, glaubte ich wieder zu träumen und hatte die größte Mühe, die Pferde nicht fahren zu lassen, um mich von der Wirklichkeit zu überzeugen, indem ich ihr nachstürzte und sie in die Arme schloß. So kamen wir endlich an das Wasser und sahen nun, daß wir uns bei der Heidenstube befanden, in einem wohlbekannten Bezirke. Hier war es wo möglich noch stiller als in dem Tannenwalde, und am allerheimlichsten; die besonnte Felswand spiegelte sich in dem reinen Wasser, über ihr kreisten drei große Weihen in der Luft, sich unaufhörlich begegnend, und das Braun auf ihren Schwingen und das Weiß an der inneren Seite wechselten und blitzten mit dem Flügelschlage und den Schwenkungen im Sonnenscheine, während wir unten im Schatten waren. Ich sah dies alles in meinem Glücke, indessen ich den guten Gäulen, welche nach dem Wasser begehrten, die Zäume abnahm. Anna erblickte ein weißes Blümchen, ich weiß nicht was für eines, brach es und trat auf mich zu, es auf meinen Hut zu stecken; ich sah und hörte jetzt nichts mehr, als wir uns zum dritten Male küßten. Zugleich umschlang ich sie mit den Armen, drückte sie mit Heftigkeit an mich und fing an, sie mit Küssen zu bedecken. Erst hielt sie zitternd einen Augenblick still, dann legte sie ihre Arme um meinen Hals und küßte mich wieder; aber bei dem fünften oder sechsten Kusse wurde sie totenbleich und suchte sich loszumachen, indessen ich ebenfalls eine sonderbare Verwandlung fühlte. Die Küsse erloschen wie von selbst, es war mir, als ob ich einen urfremden, wesenlosen Gegenstand im Arme hielte, wir sahen uns fremd und erschreckt ins Gesicht, unentschlossen hielt ich meine Arme immer noch um sie geschlungen und wagte sie weder loszulassen noch fester an mich zu ziehen. Mich dünkte, ich müßte sie in eine grundlose Tiefe fallen lassen, wenn ich sie los ließe, und töten, wenn ich sie ferner gefangen hielt; eine große Angst und Traurigkeit senkte sich auf unsere kindischen Herzen. Endlich wurden mir die Arme locker und fielen auseinander, beschämt und niedergeschlagen standen wir da und blickten auf den Boden. Dann setzte sich Anna auf einen Stein, dicht an dem klaren tiefen Wasser, und fing bitterlich an zu weinen. Erst als ich dies sah, konnte ich mich wieder mit ihr beschäftigen, so sehr war ich in meine eigene Verwirrung und in die eisige Kälte versunken, die uns überfallen hatte. Ich näherte mich dem schönen, trauernden Mädchen, und suchte eine Hand zu fassen, indem ich zaghaft ihren Namen nannte. Aber sie hüllte ihr Gesicht fest in die Falten des langen grünen Kleides, fortwährend reichliche Tränen vergießend. Endlich erholte sie sich ein wenig und sagte bloß: »O es war so schön! wir waren so glücklich bis jetzt!« Ich glaubte sie zu verstehen, weil ich ziemlich das gleiche fühlte, nur nicht so tief und fein wie sie; daher erwiderte ich nichts, sondern setzte mich still neben sie, sie lehnte sich auf meine Schulter, und so blickten wir mit düsterem Schweigen in das feuchte Element, von dessen Grund unser Spiegelbild, Haupt neben Haupt, zu uns herauf sah.

Nicht nur unsere Neigung, sondern unsere ganze gegenseitige Art war zu ernst und zu tief, als daß ein so frühzeitiges unbeschränktes Liebkosen, Herzen und Küssen derselben hätte entsprechen können; wir waren keine Kinder mehr und doch lagen noch zu viele Jugendjahre vor uns, deren allmähliche Blüten voraus zu brechen unsere Natur zu stolz war. Meine Phantasie war zwar schon seit geraumer Zeit, eigentlich von jeher wach; allein abgesehen davon, daß zwischen Phantasie und Wirklichkeit eine jähe Kluft liegt, hatte ich, wenn mich verlangte, schöne Frauen zu liebkosen, immer mir sonst gleichgültige, meist nicht ganz junge Weiber im Sinne, nicht ein einziges Mal aber Anna, welcher immer nah zu sein und sie mein eigen zu wissen mein einziger Wunsch war. Um wieviel mehr mußte sie betroffen sein, welche ein Mädchen und dazu tausendmal feiner, reiner und stolzer war als alle anderen! Indem ich sie so gewaltsam an mich drückte und küßte und sie in der Verwirrung dies erwiderte, neigten wir den Becher unserer unschuldigen Lust zu sehr; sein Trank überschüttete uns mit plötzlicher Kälte und das fast feindliche Fühlen des Körpers riß uns vollends aus dem Himmel. Diese Folgen einer so unschuldigen und herzlichen Aufwallung zwischen zwei jungen Leutchen, welche als Kinder schon genau dasselbe getan ohne alle Bekümmernis, mögen vielen närrisch vorkommen; uns aber dünkte die Sache gar nicht spaßhaft, und wir saßen mit wirklichem Grame an dem Wasser, das um keinen Grad reiner war als Annas Seele. Unsere Lage war umso peinlicher, als wir uns diese Rechenschaft darüber damals nicht zu geben vermochten. Ich meinerseits befand mich in der völligsten Verwirrung. Daß wir etwas Unrechtes getan, konnte mir nicht einfallen; ich glaubte daher, daß der Vorfall irgend etwas Fremdes, Unheimliches zwischen uns ans Licht geführt, gar gezeigt hätte, daß eines von uns das andere nicht liebe; und doch fühlte ich wahrer als je meine Liebe und wagte auch nicht zu denken, daß Anna mich nicht lieben sollte. Den wahren Grund der schreckhaften Begebenheit ahnte ich gar nicht; denn ich hatte keine Ahnung davon, daß in jenem Alter das rote Blut weiser sei als der Geist und sich von selbst zurückdämme, wenn es in ungehörige Wellen geschlagen worden. Anna hingegen mochte sich hauptsächlich vorwerfen, daß sie nun doch für ihr Nachgeben, dem Feste beizuwohnen, bestraft und ihre eigene Art und Weise, unser Verhältnis nach ihrem freien und zarten Fühlen sich entwickeln zu lassen, gewaltsam gestört worden sei. Wäre ich ein paar Jahre älter gewesen als sie, so hätte ich ein gewisses Recht und damit auch die Kraft und Sicherheit gehabt, ihre Sprödigkeit zu überwinden und zu beruhigen; so aber vermehrte meine eigene Ratlosigkeit die Vorwürfe, die sie sich machte, während doch alle Schuld auf mir lag. Ja, es schien nun ausgemacht, daß eigentlich mein Plan, daß sie heute die Brunneckerin vorstellen sollte, während ich den Rudenz machte, das Ereignis herbeigeführt und daß unsere Küsse in den seltsamen Kleidern wohnten, welche wir anhatten. Jedenfalls hätte ich ohne diesen Umstand noch lange warten können, bis uns eine solche Vertraulichkeit widerfahren wäre.

Ein gewaltiges Rauschen in den Baumkronen rings um uns weckte uns aus der melancholischen Versenkung, die eigentlich schon wieder an eine andere Art von schönem Glück streifte; denn meiner Erinnerung sind die letzten Augenblicke, ehe uns der starke Südwind wach rauschte, nicht weniger lieb und kostbar als jener Ritt auf der Höhe und durch den Tannenwald. Auch Anna schien sich zufriedener zu fühlen; als wir uns erhoben, lächelte sie flüchtig gegen unser verschwindendes Bild im Wasser, doch schienen ihre anmutig entschiedenen Bewegungen zugleich zu sagen: Wage es ferner nicht, uns berührend zu begegnen, bis die rechte Stunde gekommen!

Die Pferde hatten längst zu trinken aufgehört und standen verwundert in der engen Wildnis, wo sie zwischen Steinen und Wasser keinen Raum fanden zu stampfen oder zu scharren; ich legte ihnen das Gebiß an, hob Anna auf den Schimmel, und denselben führend, suchte ich auf dem schmalen, oft vom Flüßchen beeinträchtigten Pfade so gut als möglich vorwärts zu dringen, während der Braune geduldig und treulich nachfolgte. Wir gelangten auch wohlbehalten auf die Wiesen und endlich unter die Bäume vor dem alten Pfarrhause. Kein Mensch war daheim, selbst der Oheim und seine Frau waren auf den Abend fortgegangen und alles still um das Haus. Derweil Anna sogleich hineineilte, zog ich den Schimmel in den Stall, sattelte ihn ab und steckte ihm sein Heu vor. Dann ging ich hinauf, um für den Braunen etwas Brot zu holen, da ich auf ihm noch dem Schauspiele zuzueilen gedachte. Auch forderte mich Anna gleich dazu auf, als ich in die Stube kam. Sie war schon umgekleidet und flocht eben ihr Haar etwas hastig in seine gewohnten Zöpfe; über dieser Beschäftigung von mir betroffen, errötete sie aufs neue und ward verlegen. »Reut dich denn«, sagte ich, »dieser Tag so ganz und gar?« – »O nein!« erwiderte sie, auf ihr Kostüm deutend, welches schon zusammengelegt auf dem Tische lag, die Krone oben auf, »ich will auch diese Sachen aufbewahren und sie sollen nie mehr getragen werden!«

Ich ging hinab, den Braunen zu füttern, und während ich ihm das Brot vorschnitt und ein Stück um das andere in das Maul steckte, stand Anna an dem offenen Fenster, ihr Haar vollends aufbindend, und schaute mir zu. Die gemächliche Beschäftigung unserer Hände in der Stille, die über dem Gehöfte lagerte, erfüllte uns mit einer tiefen und von Grund aus glücklichen Ruhe, und wir hätten Jahre lang so verharren mögen; manchmal biß ich selber ein Stück von dem Brote, ehe ich es dem Pferde gab, worauf sich Anna ebenfalls Brot aus dem Schranke holte und am Fenster aß. Darüber mußten wir lachen, und wie uns das trockene Brot so wohl schmeckte nach dem festlichen und geräuschvollen Mahle, so schien auch die jetzige Art unseres Zusammenlebens das rechte Fahrwasser zu sein, in welches wir nach dem kleinen Sturme eingelaufen und in welchem wir bleiben sollten. Anna gab ihre Zufriedenheit auch dadurch zu erkennen, daß sie das Fenster nicht verließ, bis ich weggeritten war, und mir noch ein liebevoll schalkhaftes Adieu nachrief.

Gleich vor dem Dorfe kam der Schulmeister heim gefahren mit dem oheimlichen Ehepaar, denen ich sagte, daß Anna schon zu Hause sei, und ein Stück weiter stieß ich auf des Müllers Knecht, welcher dessen Pferd nach Hause führte. Da ich vernahm, daß schon alles bei dem Zwinguri versammelt und dort ein großes Halloh sei, auch der Weg dahin nicht mehr weit war, gab ich meinen Gaul auch dem Knecht und eilte zu Fuß weiter. Zum Zwinguri hatte man eine verfallene Burgruine bestimmt, welche auf dem höchsten Punkte einer Bergallmende steht und eine weite Aussicht ins Gebirge hinüber gewährt. Die Trümmer waren durch einiges Stangen- und Brettergerüst so bekleidet, als ob sie eben im Aufbau statt im Verfalle wären, und mit den Kränzen der triumphierenden Tyrannei behangen. Die Sonne ging eben unter, als ich ankam und sah, wie das Volk das Gerüste zusammen brach und mit den Kränzen auf einen gewaltigen Holz- und Reisighaufen warf und diesen anzündete. Hier ging auch die Verherrlichung des Tell vor sich, statt vor seinem Hause, doch nicht mehr nach der geschriebenen Ordnung, sondern infolge einer allgemeinen Erfindungslust, wie der Augenblick sie in den tausend Köpfen erweckte, und der Schluß der Handlung ging unbestimmt in eine rauschende Freudenfeier über. Die weggejagten Zwingherren mit ihrem Trosse waren wieder herangeschlichen und gingen um unter dem Volke als vergnügte Gespenster; sie stellten die harmloseste Reaktion vor. Auf allen Hügeln und Bergen sahen wir jetzt die Fastnachtsfeuer brennen; das unsrige flammte bereits in großem Umfange, wir standen in einem Kreise hundertweise darum und Tell, der Schütz, zeigte sich jetzt auch als einen guten Sänger, sogar als einen Propheten, indem er ein kräftiges Volkslied von der Sempacherschlacht vorsang, dessen Chorzeilen von allen wiederholt wurden. Wein war in Menge vorhanden, es bildeten sich mehrere Liederchöre, schlichte, einstimmige, welche alte Lieder sangen, wie vierstimmige Männerchöre mit neuen Liedern, gemischte Singschulen von Mädchen und Jünglingen, Kinderscharen, alles sang, klang und wogte durcheinander auf der Allmende, über welche das Feuer einen rötlichen Schein verbreitete. Vom Gebirge herüber wehte immer stärker und wärmer der Föhn und wälzte große Wolkenzüge über den Himmel; je dunkler die Luft wurde, desto lauter ward die Freude, welche zunächst um Burgtrümmer und Feuer in einem großen Körper lagernd, weiterhin die Halde hinab sich in viele Gruppen und einzelne verteilte, die bald noch im rötlichen Scheine streiften, bald in der Dunkelheit jauchzten. Noch weiterhin summte die Luft aus den dunklen Gefilden und widerglänzte zuletzt wieder sichtbar in den zahlreichen Flammen am Horizonte. Der uralte gewaltige Frühlingshauch dieses Landes, obschon er Gefahr und Not bringen konnte, weckte ein altes, trotzig frohes Naturgefühl, und indem er in die Gesichter und in die wilden Flammen wehte, ging die Ahnung zurück vom Feuerzeichen des politischen Bewußtseins, über die Christenfeuer des Mittelalters, zu dem Frühlingsfeuer der Heidenzeit, das vielleicht zur selben Stunde, auf derselben Stelle gebrannt. In den dunklen Wolkenlagern schienen Heerzüge verschwundener Geschlechter vorüberzuziehen, manchmal anzuhalten über dem nächtlich singenden und tönenden Volkshaufen, als ob sie Lust hätten herabzusteigen und sich unter die zu mischen, welche ihre Spanne Zeit am Feuer vergaßen. Es war aber auch eine köstliche Stelle, diese Allmende; der bräunliche Boden, vom ersten Anflug des ergrünenden wilden Grases überschossen, dünkte uns weicher und elastischer als Sammetpolster, und vor der fränkischen Zeit schon war er für die Bewohner der Gegend dasselbe gewesen, was heute.

Die Stimmen der Weiber waren mit der Nacht lauter geworden; während die älteren schon fortgegangen und die verheirateten Männer sich zusammentaten, um vertraute Zechstuben aufzusuchen, begannen die Mädchen ihre Herrschaft unbefangener auszuüben, erst in lachenden Kreisen, bis zuletzt alles beieinander war, was zusammengehörte, und jedes Paar auf seine Weise sich zeigte oder verbarg. Doch als das Feuer zusammenfiel, lösten sich die verschlungenen Menschenkränze und begannen in großen und kleinen Gruppen dem Städtchen zuzuziehen, wo auf dem Rathause sowie in einigen Gasthäusern Pfeifen und Geigen sie erwarteten. Ich hatte mich in dem Gedränge unstät herumgetrieben; denn wo es die Geschlechter miteinander zu tun haben, wird auf den Vereinzelten keine Rücksicht genommen, und jeder ist nur mit dem Gegenstande seiner Neigung beschäftigt, das Errungene festhaltend oder das noch nicht Errungene mit seinen Wünschen verfolgend. So war ich achtlos zurückgeblieben und vergnügte mich an der verlöschenden Glut, um welche außer einigen Knaben nur noch jene Fratzengestalten herumtanzten, weil das für sie nichts kostete. Sie sahen in den flatternden Hemden und mit den hohen Papiermützen aus wie Gespenster, die dem grauen Gemäuer entstiegen. Einige zählten auch die Münzen, welche sie etwa erhascht, andere suchten aus dem Feuer noch ein verkohltes Holzscheit zu ziehen, und besonders sah ich einen, welcher sich zu den tollsten Sprüngen angestrengt und den ich für einen jungen Taugenichts gehalten, nunmehr nach der Entlarvung als ein eisgraues Männchen zum Vorschein kommen und sich hastig mit einem rauchenden Fichtenklotze abquälen.

Ich wandte mich endlich hinweg und ging langsam davon, unschlüssig, ob ich nach Hause gehen oder dem Städtchen zusteuern sollte. Mein Mantel, der Degen und die Armbrust waren mit längst hinderlich; ich nahm alles zusammen unter den Arm, und indem ich rascher von der Allmende herunter schritt, fühlte ich mich so munter und lebenslustig wie am frühen Morgen, und je länger ich ging, desto stärker erwachte mir ein unbändiger Durst, einmal die Nacht zu durchschwärmen, und zugleich ein mächtiger Zorn, daß ich Anna so leichten Kaufes entlassen. Ich bildete mir ein, ganz der Mann dazu zu sein, in hohem Liebesglücke ein Liebchen eine festliche Nacht entlang zu führen, unter Tanz, Becherklang, Scherz und Kuß. Ich machte mir die bittersten Vorwürfe, den einzigen Tag so ungeschickt und schwachmütig verpfuscht zu haben, und stellte mir zugleich voll Eitelkeit vor, daß es Anna ebenso ergehe und sie vielleicht schlaflos auf ihrem Lager sich nach mir sehne; denn es mochte schon zehn Uhr vorüber sein. Unversehens war ich in dem Flecken angelangt, welcher von Musik ertönte, und als ich in einen übervollen Saal trat, in welchem die blühenden Paare sich drehten, da klopfte mein Blut immer unwilliger und heißer; ich bedachte nicht, daß wir die einzigen sechzehnjährigen Leutchen gewesen wären, die sich im offenkundigen Vereine zeigten, noch weniger, daß unsere heutigen Erlebnisse zehnmal schöner und bedeutsamer waren als alles, was diese lärmende Jugend hier genießen konnte, und daß ich mich in der Erinnerung derselben reich und glücklich genug hätte fühlen sollen. Ich sah nur die Freude der Zwanzigjährigen, der Verlobten und Selbständigen, und maßte mir ihr Recht an, ohne im mindesten zu ahnen, daß mein prahlerisches Blut, sobald ich Anna wirklich zur Seite gehabt hätte, augenblicklich wieder zahm und sittig geworden wäre. Es gereicht mir auch nicht zur Ehre, daß es ihrer leibhaften Gegenwart bedurft hätte, zur Bescheidenheit zurückzukehren. Doch als ich von meinen Vettern und Bekannten als ein verloren Geglaubter tapfer begrüßt und in den Strudel gezogen wurde, blendete mich das Licht der Freude, daß ich mich und meinen Ärger vergaß und der Reihe nach mit meinen drei Basen tanzte. Nach diesen tanzte ich mit einem fremden zierlichen Mädchen; allein ich erhitzte mich immer mehr, ohne zufrieden zu sein; die Lust, welche im ganzen so viel Geräusch machte, ging mir im einzelnen viel zu langsam und nüchtern vor sich. So freudestrahlend alle die jungen Leute drein blickten, schien es mir doch nur ein matter Schimmer zu sein gegen den Glanz, der in meiner Phantasie wach geworden. Unruhig streifte ich durch einige Trinkstuben, die neben dem Saale waren, und wurde von einer Gesellschaft junger Burschen angehalten, welche purpurroten Wein tranken und dazu sangen. Hier schien meine Sehnsucht endlich ein Ziel zu finden, ich trank von dem kühlen Wein, dessen schöne Farbe meinen Augen sehr wohl gefiel, und fing leidenschaftlich an zu singen. Kaum hatte ein Lied geendet, so begann ich ein anderes, schlug ein rascheres Tempo an und erhob bei ausdrucksvollen Stellen die Stimme, daß sie bald die anderen übertönte. Verwundert, daß der Duckmäuser aus der Stadt noch besser trinken und lärmen könne als sie, wollten die Burschen nicht zurückbleiben, wir feuerten uns gegenseitig an, ich sang und sang immerzu und bemerkte erst bei einem Rundgesange, wo ich eine Weile schweigen mußte, daß sämtliche Bäschen durch die Türe guckten und mich mit vergnügtem Erstaunen in meiner Gloria sitzen sahen. Sie lachten mir zu, winkten mir drohend, weil ich ihr Panier verlassen, und forderten mich auf, wieder zu tanzen. Aber ich war nun ein gemachter und angesehener Mann unter meinen Gesellen, ganz wie einst als Knabe, wo ich eine Zeitlang den Renommisten gespielt, und als einige davon sich wieder nach Mädchen umsahen, brach ich mit zwei wilden Jünglingen auf, das Städtchen zu durchziehen. Arm in Arm stürmte ich mit den gesunden Bauerssöhnen über die Straße, wir gaben uns die lustigsten Redensarten zum besten, sangen und empfanden das reine und edle Vergnügen, welches entsteht, wenn Ungleiches sich eint und zu Gefallen lebt. Doch schon im nächsten Tanzhause, in welches wir traten, verlor ich einen um den anderen meiner neuen Freunde, indem sie hier fanden, was sie wahrscheinlich gesucht hatten, und ich setzte allein, aber rastlos, meinen Streifzug fort. Hie und da schaute ich einen Augenblick zu, trank bei Bekannten ein Glas, erwiderte ungesäumt und etwas gesalzen die Späße, die man an mich richtete, bis ich in eine Stube kam, wo an einem großen runden Tische noch vier von den barmherzigen Brüdern saßen. Zwei waren schon abgefallen und verschwunden; die hier saßen, hatten bereits ihren dritten Rausch hinter sich und befanden sich nun in jenem lässigen Zustande, in welchem erfahrene Zechbrüder einen lustigen Tag austönen lassen, wohlgeschliffene Witze machen und ihren Wein so trinken, als ob sie nicht mehr viel darum gäben, sich aber wohl hüten, schließlich einen Tropfen stehen zu lassen. Etwas entfernt von ihnen saß am gleichen Tische die Judith, welcher die Brüder der Sitte gemäß ein Glas geboten. Sie schien sich ganz allein bei dem Feste umgesehen zu haben und sich nun am besten zu gefallen, die Witze und Verfänglichkeiten dieser Herren schlagfertig zurückzugeben und sie in Respekt zu halten, wozu es keiner geringen Gewandtheit und Kraft bedurfte. Sie saß ebenso lässig da, zurückgelehnt und halb abgewandt und warf ihre Erwiderungen gleichmütig hin. Die Mönche hatten ihre Flachsbärte abgelegt und die gefärbten Nasen gewaschen; nur der älteste, welcher einen angehenden Kahlkopf und eine natürliche Feuernase besaß, prangte noch mit dem hohen Rot derselben. Dies war der Unnützeste und rief mir zu, als ich vorübergehen wollte; »Heda, Grünspecht! wo hinaus?« Ich stand still und erwiderte: »Guter Freund! Ihr habt vergessen, den Zinnober von Eurer Nase zu wischen, wie die anderen Herren doch getan! Ich mache Euch hiermit aufmerksam, damit Ihr nicht etwa Euer Kopfkissen rot macht.«

Das Gelächter der übrigen nahm mich sogleich in den holden Bund auf; ich mußte mich setzen und ein Glas annehmen, worauf sie sagten: »Und dennoch, könnt Ihr glauben, daß dieser Kerl es noch für nötig befunden hat, heut seine Nase zu schminken?« – »Das war freilich«, erwiderte ich, »ebenso töricht, als wenn man eine Rose schminken wollte!«

»Und dazu viel gefährlicher«, versetzte ein anderer, »denn eine Rose schminken, heißt ein Werk Gottes verbessern wollen, und der liebe Gott verzeiht! Aber eine rote Nase schminken, heißt den Teufel verhöhnen, und der verzeiht nicht!«

So ging es fort; sie verhandelten nun seinen Kahlkopf, wobei ich aber bald weit zurückblieb, indem sie über diesen Gegenstand allein wohl zwanzig verschiedene Witze machten, welche in der Phantasie die lächerlichsten Vorstellungen erregten und von denen einer den andern an Neuheit und Kühnheit der Bilder überbot. Judith lachte, als die Taugenichtse über sich selbst herfuhren, und als der Angegriffene dies sah, suchte er sich aus dem Feuer zu retten, indem er sich gegen sie wendete. Sie saß da in einem schlichten braunen Kleide, die Brust mit einem weißen Halstuche bedeckt, welches ein wenig ihren prächtigen Hals sehen ließ; um diesen lag eine feine Goldkette und verlor sich im Halstuche, sonst trug sie keinen Putz als ihr schönes braunes Haar. Der Kahlkopf blinzelte mit den Augen und sang:

»Mein Schatz, um deinen weißen Hals
Geht eine Schnur von Katzengold,
Die führt an deinem Busam
Teuf in dein falsches Herz!«

Judith erwiderte schnell: »Damit Ihr meinen weißen Hals einmal vergeßt, will ich Euch auch ein Lied von etwas Weißem berichten!« und sie sang nicht, sondern sagte einfach wohlklingend:

»Es ist eine üble Zeit!
Luna, die weiland keusche Maid,
Liebäugelt auf den Köpfen alter Sünder
Am hellen Tag und höhnt uns arme Kinder.
Schäm dich, Mondschein!

Ich tat das Fenster auf
In dunkler Nacht und suchte Lunas Lauf;
Da glänzt sie frech an meines Hauses Schwelle,
Wild goß ich Wasser auf die weiße Stelle.
Schäm dich, Mondschein!«

Ihre Mutter war gestorben, auch hatte sie seither in einer ausländischen Lotterie mehrere Tausend Gulden gewonnen, da sie aus langer Weile sich mit dergleichen Dingen befaßte. So schien sie nun mehr als je für schwere und leichte Schnapphähne ein guter Fang, und der Kahle glaubte sie, nachdem er verschiedene Anleihen bei ihr gemacht, welche sie ihm lachend gewährt, im Sturme nehmen zu können, ward aber ebenso lachend abgewiesen. Das obige Liedchen aber schien sogar auf ein schlimmes Abenteuer zu deuten, welches er auf seiner Freite bestanden. Denn mit einer ganz heillosen Diskretion sahen sich die drei übrigen an, mit funkelnden Augen und mühsam verhaltenem Munde, indem sie anfingen, halblaut zu summen:

hm! hm! – hm! hm! hm!
hm! hm! hm! – hm! hm! hm!

Der Rhythmus dieses Gesummes war so verführerisch, daß ich mit einstimmte und eine stolze Glückseligkeit empfand, mit den Spöttern singen zu dürfen: hm hm hm! hm hm hm! – es war still und feierlich in der nur noch schwach erleuchteten Stube und mit feierlicher Behaglichkeit setzten wir die seltsamen Takte fort. Judith lachte hell auf und rief: »O ihr Kindsköpfe!« Da brachen wir laut aus: Ha ha ha! – ha ha ha! Der Gehöhnte aber spähte umher, zog unversehens dem lautesten Spötter ein hervorguckendes Blatt aus der Kutte und las dessen Überschrift: »Christliche Wochenbötin, ein konservatives Volksblättlein.« Der Spott entlud sich nun auf den Überraschten, dessen schwache Seite sein Konservatismus war, den er weder genugsam zu erklären noch zu verteidigen vermochte. Diese Benennung war erst seit einiger Zeit im Umlauf und fing einige Leute, welche vorher im Nebelhaften geschwebt. Der Kahle forderte den Konservativen auf, er solle einmal sagen, was er sich eigentlich darunter denke, wenn er behaupte, konservativ zu sein. Dieser wollte tun, als ob er hierüber keinen Spaß verstehe, und wünschte mit wichtigem Gesicht, nicht zu politisieren! Doch ein anderer rief: »Die Erklärung ist schon im Paradies zu suchen! Als Adam den Tieren ihren Namen gab, war eines darunter, das wedelte gar bedächtig mit den Ohren und sagte, es sei konservativ; es konnte aber keinen Grund hierfür angeben und Adam sagte: du sollst Esel heißen!« Erbost rückte dieser nun mit seinem innersten und eigentlichen Grunde, der seine fixe Idee war, heraus und warf dem Radikalismus vor, daß er den Wein versäuert und verteuert hätte. Wenn man noch ein süßes und billiges Glas trinken wolle, so sei dieses einzig in den abgelegenen altväterischen Wirtschaften zu finden, wo die alten Zöpfe hinkröchen, sich vor der Welt zu verbergen. »Sauft«, schrie er, »den radikalen Rachenputzer eurer berühmten politischen Wirte! Ich halt es mit den Zöpfen!« Da allerdings etwas Wahres in diesem Vorwurfe lag, so entbrannten die drei übrigen ihrerseits im Zorne, schalten den Konservativen einen Verleumder und suchten ihm zu beweisen, daß er ohne den Radikalismus gar keinen Wein zu riechen bekäme, weder guten noch schlechten, daß er selbst als konservativer Parteibedienter völlig überflüssig wäre und von seinen Zöpfen den Schuh unter den Rücken erhielte statt des stärkenden Weinchens der Proselytenbelohnung. Dies führte zu einem hitzigen Gefechte, worin die Herren gegenseitig ihre Grundsätze, Tatsachen und Parteichefs heruntermachten, und das in Ausdrücken, Vergleichungen und Wendungen, Schlag auf Schlag, wie sie kein dramatischer Dichter für seine Volksszenen treffender und eigentümlicher erfinden könnte; nicht einmal nachzuschreiben wären sie, so leicht und blitzähnlich entsprangen die Witze aus den Voraussetzungen, welche bald scharf zutreffend, bald böslich ersonnen, doch immer sich auf die Verhältnisse und Personen gründeten und zu immer neuen Gruppen verschlangen. Ein Leitartikel oder eine Rede wäre zwar aus diesem Turnier nicht zu schöpfen gewesen; doch konnte man sehen, welch eine ganz vertrackte Kritik das Volk auf seine Weise führt und wie sehr sich derjenige trügt, welcher, von der Tribüne herunter zu zweifelhaften Zwecken das »biedere, gute Volk« anrufend, irgend ein wohlwollendes und naives Pathos voraussetzt. Selbst Äußerlichkeiten, Angewöhnungen und körperliche Gebrechen wurden in einen solchen Zusammenhang mit den Worten und Handlungen hervorragender Männer gebracht, daß die letzten nur eine notwendige Folge der ersten zu sein schienen und man glaubte, in den ungelehrten, aber phantasiereichen Volksherren die doktrinärsten Physiognomisten vor sich zu sehen. Mancher angesehene Mann ward hier zu einem lächerlichen oder unheimlichen Popanz umgeschaffen, daß er leibhaft zu sehen war, und selbst die Verteidigung desselben hätte etwas Demütigendes für ihn gehabt, wenn er sie gehört hätte. Wie in einer ganz anderen Welt war ich hier als bei dem Schulmeister; und doch fühlte ich mich gleich zu Hause und schlürfte die starken und rücksichtslosen Redensarten, die spöttischen und wilden Einfälle ebenso andächtig ein wie die gewählten ruhigen Worte von Annas Vater, ohne deswegen den Verkehr mit diesem zu verachten. Ich schien mir dort ein anderer und hier ein anderer und doch immer der gleiche zu sein. Ich freute mich, daß mein Leben eine Seite um die andere vor mir auftat, und war stolz darauf, indem ich mir einbildete, daß diese lustigen Männer mich ihrer Gesellschaft würdig hielten und ihre Witze vor mir nicht zurückhielten. Mit Vergnügen dachte ich an den Schulmeister und wie ich fürder ernsthaft und anständig mit ihm disputieren wolle, während ich doch noch von was anderem wüßte; denn es schien mir nun darauf anzukommen, nirgends ausgeschlossen zu sein und alles zu übersehen, in welchem Vorsatze ich mir unendlich klug vorkam und nicht bemerkte, daß meine Einsicht bereits hintergangen war und ich als ein rechter Knabe in den Schlingen der schönen Judith saß; denn ihrer Anwesenheit war ein guter Teil meiner Behaglichkeit zuzuschreiben. Die barmherzigen Brüder waren durch die Politik wieder rüstig und munter geworden und hatten die Flaschen wieder füllen lassen, obgleich Mitternacht lange vorüber, als Judith plötzlich aufbrach und sagte: Frauen und junge Knaben gehören nun nach Hause! Wollt Ihr nicht mitkommen, Vetter, da wir den gleichen Weg haben? Ich sagte Ja, doch müßte ich erst nach meinen Verwandten sehen, welche wahrscheinlich auch mitkommen würden. »Die werden wohl schon fort sein«, erwiderte sie, »denn es ist spät; wenn ich nicht darauf gerechnet hätte, daß ich mit Euch gehen könnte, so wäre ich auch längst fort.« »Oho!« riefen die Zecher, »als ob wir nicht auch da wären! Wir alle begleiten Euch! Das soll nicht gesagt sein, daß die Judith nicht Begleiter zur Auswahl habe!« brachen auf und sorgten, noch den frischen Wein unterzubringen, während Judith mir winkte und, auf dem Flur angekommen, sagte: »Diese vier Heiden wollen wir schön anführen!« Auf der Straße sah ich, daß der Saal, wo meine Vettern und Basen sich aufgehalten, schon dunkel war, und mehrere Leute bestätigten ihre Heimkehr. So mußte ich der Judith folgen, als sie mich durch ein dunkles Seitengäßchen ins Freie und durch einige Feldwege auf die Landstraße führte, daß wir einen Vorsprung gewannen und die vier Männer hinter uns rufen hörten. Indem wir eilend weiter schritten, gingen wir um einige Spannen entfernt neben einander her; ich hielt mich spröde zurück, während mein Ohr keinen Ton ihres festen und doch leichten Schrittes verlor und begierig das leise Rauschen ihres Kleides vernahm. Die Nacht war dunkel, aber das Frauenhafte, Sichere und die Fülle ihres Wesens wirkte aus allen Umrissen ihrer Gestalt wie berauschend auf mich, daß ich alle Augenblicke hinüberschielen mußte, gleich einem angstvollen Wanderer, dem ein Feldgespenst zur Seite geht. Und wie der Wanderer mitten in seiner Angst sein christliches Bewußtsein wachruft zum Schutze gegen den unheimlichen Begleiter, trug ich während des verlockenden Ganges einen geistlichen Hochmut der Sprödigkeit und der Unfehlbarkeit in mir. Judith sprach von den Männern und lachte über sie, erzählte mir unbefangen die Dummheiten, die der eine ihr gemacht, und fragte mich, ob Luna nicht eine alte Mondgöttin wäre? Wenigstens habe sie das immer vermutet, wenn sie jenes Lied in einem alten Buche gelesen; es habe auch gut für den Schlingel gepaßt. Dann fragte sie mich plötzlich, warum ich so stolz geworden sei und sie seit Jahren nie mehr angesehen, viel weniger besucht habe? Ich wollte mich damit entschuldigen, daß sie keinen Verkehr mit dem Hause meines Oheims pflege und ich daher schicklicherweise nicht allein sie besuchen könne. »Ach was!« sagte sie, »Ihr seid ja auch noch mein Vetter und könnt mich von Rechts wegen wohl heimsuchen, wenn Ihr wollt! Damals, wo Ihr so jung gewesen, habt Ihr mich so gern gehabt und Ihr seid mir immer ein wenig lieb; aber jetzt habt Ihr ein Schätzchen, in welches Ihr verliebt seid, und meint, keine andere Frau mehr ansehen zu dürfen!« – »Ich ein Schätzchen?« erwiderte ich, und als sie diese Behauptung wiederholte und Anna nannte, leugnete ich die Sache auf das bestimmteste. Wir waren unversehens beim Dorfe angekommen, in welchem noch viele Stimmen laut wurden und die jungen Leute über die Straße gingen; Judith wünschte ihnen aus dem Wege zu gehen, und obgleich ich nun füglich meine Straße hätte ziehen können, leistete ich doch keinen Widerstand und folgte ihr unwillkürlich, als sie mich bei der Hand nahm und zwischen Hecken und Mauern durch ein dunkles Wirrsal führte, um ungesehen in ihr Haus zu gelangen. Sie hatte ihre Äcker verkauft und nur einen schönen Baumgarten nächst dem Hause behalten, in welchem sie ganz allein wohnte. Der genossene Wein erhöhte die Aufregung, in welcher ich mich befand, wie wir so durch die engen Wege hinschlüpften, und als bei dem Hause angekommen Judith sagte: »Kommt herein, ich will noch einen Kaffee kochen!« und ich hineinging und sie die Haustüre fest hinter uns verriegelte, da klopfte mir das Herz wie mit Hämmern, während ich mich übermütig des Abenteuers freute und mich vermaß, dasselbe zu meiner Ehre, aber verwegen zu bestehen. An Anna dachte ich gar nicht, mein wallendes Blut verfinsterte ihr Bild und ließ nur den Stern meiner Eitelkeit durchschimmern; denn genau erwogen, wollte ich nur um meiner selbst willen meine Standhaftigkeit erproben. So stark ist die Selbstsucht, daß sie selbst da noch leuchtet, wo die reinste Liebe untergeht, und mit trügerischen Vorspiegelungen den Willen zu gängeln weiß. Doch darf ich mir gestehen, daß es im Grunde eine Art romantischen Pflichtgefühls war, welches mich unbefangen antrieb, keiner merkwürdigen Erfahrung auszuweichen. Auch verlor sich die unheimliche Aufregung, sobald Judith Licht angezündet und ein helles Feuer entflammt hatte. Ich saß auf dem Herde und plauderte ganz vergnüglich mit ihr, und indem ich fortwährend in ihr vom Feuer beglänztes Gesicht sah, glaubte ich stolz mit der Gefahr spielen zu können und träumte mich in die Lage der Dinge zurück, wie ich vor zwei Jahren noch ihr Haar auf- und zugeflochten hatte. Während der Kaffee singend kochte, ging sie in die Stube, um ihr Halstuch abzulegen und ihr Sonntagskleid auszuziehen, und kam im weißen Untergewande zurück, mit bloßen Armen, und aus der schneeweißen Leinwand enthüllten sich mit blendender Schönheit ihre Schultern. Sogleich ward ich wieder verwirrt und erst allmählich, indem ich unverwandt sie anschaute, entwirrte sich mein flimmernder Blick an der ruhigen Klarheit dieser Formen. Ich hatte sie schon als Knabe ein oder zwei Mal so gesehen, wenn sie beim Ankleiden nicht sehr auf mich achtete, und obgleich ich jetzt anders sah als damals, schien doch die gleiche Vorwurfslosigkeit auf diesem Schnee zu ruhen, auch bewegte sich Judith so sicher und frei, daß diese Sicherheit auch auf mich überging. Sie trug den fertigen Kaffee in die Stube, setzte sich neben mich, und indem sie das herbeigeholte Kirchenbuch aufschlug, sagte sie: »Seht, ich habe alle die Bildchen noch, die Ihr mir gezeichnet habt!« Wir betrachteten die komischen Dinger, eins ums andere, und die unsicheren Striche von damals kamen mir höchst seltsam vor, wie vergessene Zeichen einer unabsehbar entschwundenen Zeit. Ich erstaunte vor diesen Abgründen der Vergessenheit, die zwischen den kurzen Jugendjahren liegen, und betrachtete die Blättchen sehr nachdenklich; auch die Handschrift, womit ich die Sprüche hineingeschrieben, war eine ganz andere und noch diejenige aus der Schule. Die ängstlichen Züge sahen mich traurig an; Judith sah auch eine Zeitlang still auf das gleiche Bildchen mit mir, dann sah sie mir plötzlich dicht in die Augen, indem sie ihre Arme um meinen Hals legte und sagte: »Du bist immer noch der gleiche? An was denkst du jetzt?« – »Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Weißt du«, fuhr sie fort, »daß ich dich gleich fressen möchte, wenn du so studierst, ins Blaue hinaus?« und sie drückte mich enger an sich, während ich sagte: »Warum denn?« – »Ich weiß selbst nicht recht; aber es ist so langweilig unter den Leuten, daß man oft froh ist, wenn man an etwas anderes denken kann; ich möchte dies auch gern, aber ich weiß nicht viel und denke immer das gleiche, obschon mir etwas Unbekanntes im Kopfe herumgeht; wenn ich dich nun so staunen sehe, so ist es mir, als ob du gerade an das denkst, woran ich auch gern sinnen möchte, ich meine immer, es müßte einem so wohl sein, wenn man mit deinen geheimen Gedanken so in die Weite spazieren könnte! O, es muß einem da so still und klug, so traurig und glückselig zu Mute sein!« So etwas hatte ich noch niemals zu hören bekommen; obgleich ich wohl einsah, daß die Judith sich allzusehr zu meinen Gunsten täuschte, was meine inneren Gedanken betraf, und ich tief beschämt errötete, daß ich glaubte, die Röte meiner brennenden Wange müsse ihre weiße Schulter anglühen, an welcher sie lag: so sog ich doch Wort für Wort dieser süßesten Schmeichelei begierig ein, und meine Augen ruhten dabei auf der Höhe der Brust, welche still und groß aus dem frischen Linnen emporstieg und in unmittelbarster Nähe vor meinem Blicke glänzte wie die ewige Heimat des Glückes. Judith wußte nicht, oder wenigstens nicht recht, daß es jetzt an ihrer eigenen Brust still und klug, traurig und doch glückselig zu sein war. Es dünkt mich, die Ruhe an der Brust einer schönen Frau sei der einzige und wahre irdische Lohn für die Mühe des Helden jeder Art und für alles Dulden des Mannes und mehr wert als Gold, Lorbeer und Wein zusammen. Nun war ich zwar sechzehn Jahr alt und weder ein Held noch Mann, der was getan hatte; doch fühlte ich mich ganz außer der Zeit, wir waren gleich alt oder gleich jung in diesem Augenblicke, und mir ging es durch das Herz, als ob ich jetzt jene schöne Ruhe vorausnähme für alles Leid und alle Mühe, die noch kommen sollten. Ja dieser Augenblick schien so sehr seine Rechtfertigung in sich selbst zu tragen, daß ich nicht einmal aufschreckte, als Judith, in dem Gesangbuch blätternd, ein zusammengefaltetes Blatt hervorzog, es aufmachte, mir vorhielt und ich nach langem Sinnen jenes beschriebene und an Anna gerichtete Liebesbriefchen erkannte, das ich vor Jahren einst den Wellen übergeben hatte. »Leugnest du noch, daß dies gute Kind dein Schätzchen sei?« sagte sie, und ich leugnete es aus Mutwillen zum zweiten Male, das Blatt eine vergessene Kinderei erklärend. In diesem Augenblicke riefen Stimmen vor dem Hause, welche wir als diejenigen der vier Männer erkannten. Sogleich löschte sie das Licht aus, daß wir im Dunkeln saßen; doch die unten begehrten nichtsdestominder Einlaß, indem sie riefen: »So macht doch auf, schöne Judith, und wartet uns mit einer Tasse heißem Kaffee auf! wir wollen uns ehrbar benehmen und noch ein vernünftiges Wort sprechen! Aber macht auf, zum Lohn dafür, daß Ihr uns so angeführt habt; es ist Fastnacht und Ihr dürft ohne Gefährde einmal die vier ruhmwürdigsten Kumpane des Landes bewirten!« Wir hielten uns aber ganz still; schwere Regentropfen schlugen an die Scheiben, es wetterleuchtete sogar und in der Ferne donnerte es, daß es klang, als wäre es Mai oder Juni; um Judith kirre zu machen, sangen die Männer mit heuchlerischer Sorgfalt ein vierstimmiges Lied, so schön sie konnten, und ihr überwachter Zustand gab ihren Stimmen wirklich etwas gerührt Vibrierendes. Als dies alles nichts half, fingen sie an zu fluchen, und einer kletterte am Spalier zum Fenster empor, um in die dunkle Stube zu sehen. Wir bemerkten wohl seine spitzige Kapuze, die er über den Kopf gezogen hatte; da erhellte mit einem Mal ein Blitz die Stube, und der Späher konnte Judith ihres weißen Zeuges wegen erkennen. »Die verwünschte Hexe sitzt ganz aufrecht und munter am Tisch!« rief er gedämpft hinunter; ein anderer sagte: »Laß mich einmal sehen!« Doch während sie sich ablösten und die Stube wieder finster war, huschte Judith schnell zu ihrem Bett, nahm die weiße Decke desselben und warf sie über den Stuhl, worauf sie mich leis nach dem Bett hinzog, welches man vom Fenster aus nicht sehen konnte. Als jetzt ein zweiter, noch stärkerer Blitz die Stube ganz klar machte, sagte der Mann, welcher die Augen wie eine Doppelbüchse auf den Stuhl gerichtet hatte: »Es ist sie nicht, es ist nur ein weißes Tuch; das Kaffeegeschirr steht auf dem Tisch und das Kirchenbuch liegt dabei. Der Himmelteufel ist am Ende frömmer als man glaubt!« Judith aber flüsterte mir ins Ohr: »Der Schelm hätte dich jetzt ganz gewiß erblickt, wenn wir sitzen geblieben wären!« Doch die gewaltigen Regengüsse, Blitz und Donner, die nun hereinbrachen, vertrieben den Späher vom Fenster; wir hörten, wie sie ihre Kutten schüttelten und auseinander sprangen, um im Dorfe ein Unterkommen zu suchen, da sie alle weit von Hause waren, Als wir nichts mehr von ihnen hörten, saßen wir noch eine Weile ganz still auf dem Bette und lauschten auf das Gewitter, welches das Häuschen erzittern machte, so daß ich mein eigenes leises Zittern nicht recht davon unterscheiden konnte. Ich umfaßte Judith, um nur dies beklemmende Zittern zu unterbrechen, und küßte sie auf den Mund; sie küßte mich wieder, fest und warm; doch dann löste sie meine Arme von ihrem Hals und sagte: »Glück ist Glück und es gibt nur ein Glück; aber ich kann dich nicht länger hier behalten, wenn du mir nicht gestehen willst, daß du und des Schulmeisters Tochter einander gern habt! Denn nur das Lügen macht alles schlimm!«

Ohne Rückhalt begann ich nun, ihr die ganze Geschichte zu erzählen von Anfang bis zu Ende, alles was je zwischen Anna und mir vorgefallen, und verband die beredte Schilderung ihres Wesens mit derjenigen der Gefühle, die ich für sie empfand. Ich erzählte auch genau die Geschichte des heutigen Tages und klagte der Judith meine Pein in betreff der Sprödigkeit und Scheue, welche immer wieder zwischen uns traten. Nachdem ich lange so erzählt und geklagt, antwortete sie auf meine Klagen nicht, sondern fragte mich: »Und was denkst du dir jetzt eigentlich darunter, daß du bei mir bist?« Ganz verwirrt und beschämt schwieg ich und suchte ein Wort; dann sagte ich endlich zaghaft: »Du hast mich ja mitgenommen!« – »Ja«, erwiderte sie, »aber wärest du mit jeder anderen hübschen Frau ebenso gegangen, die dich gelockt hätte? Besinne dich einmal hierauf!« Ich besann mich in der Tat und sagte dann ganz entschieden: »Nein, mit gar keiner!« »Also bist du mir auch ein bißchen gut?« fuhr sie fort. Jetzt geriet ich in die größte Verlegenheit; denn die Frage zu bejahen, fühlte ich nun deutlich, würde die erste eigentliche Untreue gewesen sein, und doch, indem es mich trieb, ehrlich nachzudenken, konnte ich noch weniger ein Nein hervorbringen. Endlich konnte ich doch nicht anders und sagte: »Ja – aber doch nicht so wie der Anna!« – »Wie denn?« Ich umschlang sie ungestüm, und indem ich sie streichelte und ihr auf alle Weise schmeichelte, fuhr ich fort; »Siehst du! für die Anna möchte ich alles Mögliche ertragen und jedem Winke gehorchen; ich möchte für sie ein braver und ehrenvoller Mann werden, an welchem alles durch und durch rein und klar ist, daß sie mich durchschauen dürfte wie einen Kristall, nichts tun, ohne ihrer zu gedenken, und in alle Ewigkeit mit ihrer Seele leben, auch wenn ich von heute an sie nicht mehr sehen würde! Dies alles könnte ich für dich nicht tun! Und doch liebe ich dich von ganzem Herzen, und wenn du zum Beweis dafür verlangtest, ich sollte mir von dir ein Messer in die Brust stoßen lassen, so würde ich in diesem Augenblicke ganz still dazu halten und mein Blut ruhig auf deinen Schoß fließen lassen!« Ich erschrak sogleich über diesen Worten und entdeckte zugleich, daß sie nichts weniger als übertrieben, sondern ganz der Empfindung gemäß waren, die ich von jeher für Judith unbewußt getragen. Mit meinen Liebkosungen plötzlich innehaltend, ließ ich die Hand auf ihrer Wange liegen und in diesem Augenblicke fühlte ich eine Träne darauf fallen. Zugleich seufzte sie und sagte: »Was tue ich mit deinem Blute! – O! nie hat ein Mann gewünscht, brav, klar und lauter vor mir zu erscheinen, und doch liebe ich die Wahrheit wie mich selbst!« Betrübt sagte ich: »Aber ich könnte doch nicht dein ernsthafter Liebhaber oder gar dein Mann sein?« – »O das weiß ich wohl und fällt mir auch gar nicht ein!« erwiderte sie, »ich will dir auch sagen, was du von mir zu denken hast! Ich habe dich zu mir gelockt, erstens, weil ich wieder einmal ein wenig küssen wollte, was ich auch gleich hernach tun will, du bist mir dazu gerade recht! Zweitens wollte ich dich als ein hochmütiges Bürschchen ein wenig in die Schule nehmen, und drittens macht es mir Vergnügen, in Ermangelung eines anderen, den Mann zu lieben, der noch in dir verborgen ist, wie ich dich schon als Kind gern gesehen habe.« Mit diesen Worten packte sie mich und fing an mich zu küssen, daß es mir glutheiß wurde und ich nur, um die Glut zu kühlen, ihre feuchten Lippen festhalten und wieder küssen mußte. Als ich Anna geküßt, war es gewesen, als ob mein Mund eine wirkliche Rose berührt hätte; jetzt aber küßte ich eben einen heißen, leibhaften Mund, und der geheimnisvolle balsamische Atem aus dem Innern eines schönen und starken Weibes strömte in vollen Zügen in mich über. Dieser Unterschied fiel mir so auf, daß mitten im heftigen Küssen Annas Stern aufging, eben als Judith mehr wie für sich flüsterte: »Denkst du nun auch an dein Schätzchen?« – »Ja«, erwiderte ich, »und ich geh nun!« und wollte mich losmachen. »So geh!« sagte sie lächelnd, doch löste sie ihre weichen nackten Arme auf eine so sonderbare Weise auseinander, daß es mir schneidend weh tat, mich frei zu fühlen, und eben wieder im Begriffe war, in dieselben zu sinken, als sie aufsprang, mich noch einmal küßte und dann von sich stieß, indem sie leise sagte: »Nun pack dich, es ist jetzt Zeit, daß du heimkommst!« Beschämt suchte ich meinen Hut und eilte davon, daß sie laut lachte und mir kaum nachkommen konnte, um mir die Haustüre aufzumachen. »Halt«, flüsterte sie, als ich davonlaufen wollte, »geh da oben durch den Baumgarten hinaus und ein wenig ums Dorf herum!« und sie kam mit mir durch den Garten in ihrem leichten Gewande, obgleich es regnete und stürmte, was vom Himmel herunter mochte. Am Gatter stand sie still und sagte: »Hör einmal! ich sehe nie einen Mann in meinem Hause und du bist der erste, den ich seit langer Zeit geküßt! Ich habe Lust, dir nun erst recht treu zu bleiben, frage mich nicht warum, ich muß etwas probieren für die lange Zeit und es macht mir Spaß. Dafür verlange ich aber, daß du jedesmal zu mir kommst, wenn du im Dorfe bist, in der Nacht und heimlich; am Tage und vor den Leuten wollen wir tun, als ob wir uns kaum ansehen möchten. Ich verspreche dir, daß es dich nie gereuen soll. Es wird in der Welt nicht so gehen, wie du es denkst, und vielleicht auch mit Anna nicht; das alles wirst du schon sehen; ich sage dir nur, daß du später froh sein sollst, wenn du zu mir gekommen bist!« – »Nie komme ich wieder!« rief ich heftig – »Bst! nicht so laut«, sagte sie; dann sah sie mir ernsthaft in die Augen, daß ich trotz Sturm und Dunkelheit die ihrigen glänzen sah, und fuhr fort: »Wenn du mir nicht heilig und auf deine Ehre versprichst, daß du wieder kommen willst, so nehm ich dich sogleich wieder mit, nehme dich zu mir ins Bett und du mußt bei mir schlafen! Das schwöre ich bei Gott!« Es kam mir gar nicht in den Sinn, über diese Drohung zu lachen oder dieselbe zu verachten; vielmehr versprach ich, so schnell ich konnte, in Judiths Hand, daß ich wieder kommen wollte, und eilte davon. Ich lief daraufzu, ohne zu wissen wohin; denn der strömende Regen tat mir wohl; so war ich bald aus dem Dorfe und auf eine Höhe gekommen, auf welcher ich weiter ging. Der Morgen graute und warf ein schwaches Licht in das Unwetter; ich machte mir die bittersten Vorwürfe und fühlte mich ganz zerknirscht, und als ich plötzlich zu meinen Füßen den kleinen See und des Schulmeisters Haus erblickte, kaum erkennbar durch den grauen Schleier des Regens und der Dämmerung, da sank ich erschöpft auf den Boden und brach gar jämmerlich in Tränen aus. Es regnete immerfort auf mich nieder, die Windstöße fuhren und pfiffen durch die Luft und heulten erbärmlich in den Bäumen, ich weinte dazu, was nur die Augen fassen mochten; seltsamerweise machte ich niemandem Vorwürfe als mir selbst und dachte nicht daran, der Judith irgend eine Schuld beizumessen. Ich fühlte mein Wesen in zwei Teile gespalten und hätte mich vor Anna bei der Judith oder vor Judith bei der Anna verbergen mögen. Ich gelobte aber, nie wieder zur Judith zu gehen und mein Versprechen zu brechen; denn ich empfand ein grenzenloses Mitleid mit Anna, die ich in der grauen feuchten Tiefe zu meinen Füßen jetzt so still schlafend wußte. Endlich raffte ich mich auf und stieg wieder ins Dorf hinunter; der Rauch stieg aus den Schornsteinen und kroch in wunderlichen Fetzen durch den Regen, ich sann etwas gefaßter darüber nach, was ich im Hause meines Oheims über mein nächtliches Ausbleiben vorgeben wollte. Ich wollte sagen, ich hätte mich verirrt und sei die ganze Nacht umhergestreift. Dies war seit den kritischen Knabenjahren das erste Mal, wo ich zu einem eigennützigen Zwecke wieder lügen mußte; mehrere Jahre hindurch hatte ich nicht mehr gewußt, was lügen sei, und diese Entdeckung machte mir vollends zu Mute, als ob ich aus einem schönen Garten hinausgestoßen würde, in welchem ich eine Zeit lang zu Gast gewesen.

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