Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

Um diese Zeit wurde der zweite Lehrer des Dorfes versetzt und an seine Stelle kam ein blutjunges Schulmeisterlein von kaum siebzehn Jahren, welches bald ein Original in der Gegend wurde. Es war ein wunderhübsches Bürschchen mit rosenroten Wänglein, einem kleinen lieblichen Munde, mit einem kleinen Stumpfnäschen, blauen Augen und blonden gelockten Haaren. Er nannte sich selbst einen Philosophen, weshalb ihm dieser Name allgemein zuteil wurde, denn sein Wesen und Treiben war in allen Stücken absonderlich. Mit einem vortrefflichen Gedächtnisse begabt, hatte er die zu seinem Berufe gehörigen Kenntnisse bald erworben und sich im Seminare daher mit dem Studium von allen möglichen Philosophien abgegeben, welche er der Reihe nach auswendig lernte; der Direktor dieser Anstalt war ein Mann, welcher seinen Zöglingen, obgleich sie nur Volkslehrer werden sollten, gern zum allgemeinsten Wissen verhalf, wenn sie sich .durch Fleiß die nötige Zeit dazu erwarben. Das hatte freilich zur Folge, daß alle, welche wirklich ein höheres und gründliches Wissen erreichten oder für erreichbar hielten, so bald als möglich der Volksschule Valet sagten und andere Bahnen verfolgten. Dies war indessen nur billig; wenn das Seminar dabei seinen unmittelbaren Zweck verfehlte, so vergab es doch seiner Würde nichts, indem es armen Bauerssöhnen die Welt auftat. Auch behielten diese, wenn sie ansehnliche Gelehrte oder Staatsbeamte wurden, doch immer eine besondere Anhänglichkeit und Liebe für die Volksschule, welcher sie sich anfänglich geweiht hatten, und was dieser oft zu Schutz und Gedeihen gereichte.

Aber es gab auch eine andere Art Wißbegieriger, welche, mehr vom äußeren Schein und Hochmut getrieben, vieles erschnappten, ohne je den rechten Schlüssel zum wissenschaftlichen Leben zu finden, auch sonst behindert und ohne Talent, Schulmeister bleiben mußten und manchmal tüchtige Lehrer abgaben, wenn sie Eitelkeit und Unzufriedenheit überwunden, manchmal aber auch unnütze Gesellen wurden, welche alle Liebe für ihren Beruf verloren, während sie doch von jedermann die unbedingteste Hochachtung verlangten, ihre Zeit zwischen Dorfintriguen und Kartenspiel teilten oder unausgesetzt um alle Mädchen im Lande sich bewarben, die einige tausend Gulden zu erben hatten. Am liebsten heirateten sie endlich, nach vielen verfehlten Plänen, irgend eine verwitwete Schenkebesitzerin, wo sie alsdann als gelehrte Wirte stattlich figurierten, froh, dem Schulstaube entronnen zu sein.

Zu allen diesen gehörte jedoch der Philosoph nicht. Er behauptete, der beste Volksschulmeister wäre nur derjenige, welcher auf dem höchsten und klarsten Gipfel menschlichen Wissens stände, mit dem umfassenden Blicke über alle Dinge, das Bewußtsein bereichert mit allen Ideen der Welt, zugleich aber in Demut und Einfalt, in ewiger Kindlichkeit wandelnd unter den Kleinen, womöglichst mit den Kleinsten. Demgemäß lebte er wirklich, aber dies Leben war seiner großen Jugend wegen eine allerliebste Travestie in Miniatur. Gleich einem Stare wußte er alle Systeme von Thales bis auf heute herzusagen, allein er verstand sie immer im wörtlichsten und sinnlichsten Sinn, wobei besonders seine Auffassung der Gleichnisse und Bilder einen komischen Unfug hervorbrachte. Wenn er von Spinoza sprach, so war ihm nicht etwa die Idee aller möglichen Stühle der Welt, als ein Stück zweckmäßig gebrauchter Materie, der Modus, sondern der einzige Stuhl, der gerade vor ihm stand, war ihm der fertige und vollständige Modus, in welchem die göttliche Substanz in wirklichster Gegenwart steckte, und der Stuhl wurde dadurch geheiligt. Bei Leibniz fiel ihm nicht etwa die Welt in einem greulichen Monadenstaub auseinander, sondern die Kaffeekanne auf dem Tisch, mit welcher er gerade exemplierte, drohte auseinanderzugehen und der Kaffee, welcher im Gleichnis nicht mitbegriffen, auf den Tisch zu fließen, so daß der Philosoph sich beeilen mußte, durch die prästabilierte Harmonie die Kanne zusammenzuhalten, wenn wir den erquickenden Trank genießen wollten. Bei Kant hörte man das göttliche Postulat so leibhaftig und zierlich erklingen, wie ein Posthörnchen, aus der tiefen Ferne der innersten Brust; bei Fichte verschwand wieder alle Wirklichkeit gleich den Trauben in Auerbachs Keller, nur daß wir nicht einmal an unsere Nasen glauben durften, welche wir in den Händen hielten; wenn Feuerbach sagte; Gott ist nichts anderes als was der Mensch aus seinem eigenen Wesen und nach seinen Bedürfnissen abgezogen und zu Gott gemacht hat, folglich ist niemand als der Mensch dieser Gott selbst, so versetzte sich der Philosoph sogleich in einen mystischen Nimbus und betrachtete sich selbst mit anbetender Verehrung, so daß bei ihm, indem er die religiöse Bedeutung des Wortes immer beibehielt, zu einer komischen Blasphemie wurde, was im Buche die strengste Entsagung und Selbstbeschränkung war. Am drolligsten nahm er sich jedoch aus in seiner Anwendung der alten Schulen, deren Lebensregeln er in seinem äußeren Behaben vereinigte. Als Cyniker schnitt er alle überflüssigen Knöpfe von seinem Rocke, warf die Schuhriemen weg und riß das Band von seinem Hute, trug einen derben Prügel in der Hand, welcher zu seinem zarten Gesichtchen seltsam kontrastierte, und legte sein Bett auf den bloßen Boden; bald trug er sein schönes Goldhaar in langen tausendfach geringelten Locken, weil die Schere überflüssig sei, bald schnitt er es so dicht am Kopfe weg, daß man mit dem feinsten Zängelchen kaum ein Härchen hätte fassen können, indem er die Locken als schnöden Luxus erklärte, und er sah dann mit seinem geschorenen Rosenköpfchen noch viel lustiger aus. Im Essen war er hinwieder Epikuräer, und die gewöhnliche Dorfkost verschmähend, schmorte er sich ein saures Eichhörnchen, briet ein Fischchen oder eine Wachtel, die er gefangen hatte, und aß ausgesuchte kleine Böhnchen, junge Kräutchen und dergleichen, wozu er ein halbes Gläschen alten Wein trank. Als Stoiker hingegen richtete er allerhand spaßhafte Händel an und brachte die Leute in Harnisch, um in dem entstandenen Lärm dann einen kalten Gleichmut zu behaupten und sich nichts anfechten zu lassen; insbesondere aber erklärte er sich als einen Verächter der Frauen und führte einen beständigen Krieg mit ihnen, welche mit ihren sinnlichen Reizen und ihrem eitlen Wesen die Männer ihrer Tugend und Ernsthaftigkeit berauben wollten. Als Cyniker verfolgte er die Frauen und Mädchen überall mit Natürlichkeiten, als Epikuräer mit erotischen Witzen, und als Stoiker sagte er ihnen Grobheiten, war aber immer zu finden, wo drei beieinander standen. Sie wehrten sich mit geräuschvollem Entsetzen gegen ihn, so daß überall, wo er erschien, ein lustiger Spektakel losging; nichtsdestominder sah man ihn überall gern, die Männer achteten nicht auf ihn und die Kinder hingen mit großer Liebe an ihm; denn mit diesen war er auf einmal wie ein Lamm und stand in dem reinsten und schönsten Verhältnisse zu ihnen. Er hatte die Allerkleinsten zu besorgen, und er tat dies so vortrefflich, daß man noch nie einen so wohlgearteten und sittigen Schlag kleiner Jüngelchen und Dirnchens im Dorfe gesehen hatte. Deshalb übersah man seine übrigen Geschichten, die er anrichtete und die man seiner tollen Jugend zuschrieb, und selbst daß er sich für einen Atheisten ausgab, konnte ihn der Gunst des weiblichen Dorfes nicht berauben.

Er fand sich auch im Hause meines Oheims ein, wo eine gute Anzahl Mädchen und junger Bursche, die durch vielfältigen Besuch noch verstärkt wurde, für seine Aufführungen empfänglich war. Ich gesellte mich dem Philosophen bei, einesteils von seinem Philosophieren angezogen, andernteils von seinem Weiberkriege, da dieser gerade mit meiner schiefen Lage zu den Mädchen zusammentraf. Wir machten große Spaziergänge, auf welchen er mir die Systeme der Reihe nach vortrug, wie er sie im Kopfe hatte und wie ich sie verstehen konnte. Es kam mir alles äußerst wichtig und erbaulich vor und ich ehrte bald, gleich ihm, jede Lehre und jeden Denker, gleichviel ob wir sie billigten oder nicht. Über den christlichen Glauben waren wir bald einig und machten in die Wette unsern Krieg gegen Pfaffen und Autoritätsleute jeder Art; als ich aber den lieben Gott und die Unsterblichkeit aufgeben sollte und der Philosoph dieses mit höchst unbefangenen Auseinandersetzungen verlangte, da lachte ich ebenso unbefangen, und es kam mir nicht einmal in den Sinn, die Sache ernstlich zu untersuchen. Ich sagte, am Ende wäre die Hauptformel einer jeden Philosophie, und sei diese noch so logisch, eine ebenso große und greuliche Mystik wie die Lehre von der Dreieinigkeit, und ich wollte von gar nichts wissen als von meiner persönlichen angeborenen Überzeugung, ohne mir von irgend einem Sterblichen etwas dazwischen reden zu lassen. Außerdem daß ich nicht gewußt hätte, was ich anfangen sollte ohne Gott, und ich die Ahnung hatte, daß ich einer Vorsehung im Leben noch sehr benötigt sein würde, band mich ein künstlerisches Bewußtsein an diese Überzeugung. Ich fühlte, daß alles, was Menschen zuwege bringen, seine Bedeutung nur dadurch hat, daß sie es zuwege bringen konnten und daß es ein Werk der Vernunft und des freien Willens ist; deshalb konnte mir die Natur, an die ich gewiesen war, auch nur einen Wert haben, wenn ich sie als das Werk eines mir gleichfühlenden und voraussehenden Geistes betrachten konnte. Ein sonnedurchschossener Buchengrund konnte nur dann ein Gegenstand der Bewunderung sein, wenn ich ihn mir durch ein ähnliches Gefühl der Freude und der Schönheit geschaffen dachte. »Sehen Sie diese Blume«, sagte ich zum Philosophen, »es ist gar nicht möglich, daß diese Symmetrie mit diesen abgezählten Punkten und Zacken, diese weiß und roten Streifchen, dies goldene Krönchen in der Mitte nicht vorher gedacht seien! Und wie schön und lieblich ist sie, ein Gedicht, ein Kunstwerk, ein Witz, ein bunter und duftender Scherz! So was macht sich nicht selbst!« – »Auf jeden Fall ist sie schön«, sagte der Philosoph, »sei sie gemacht oder nicht gemacht! Fragen Sie einmal! Sie sagt nichts, sie hat auch nicht Zeit dazu, denn sie muß blühen und kann sich nicht um Ihre Zweifel kümmern! Denn das sind alles Zweifel, was Sie vorbringen, Zweifel an Gott und schnöde Zweifel an der Natur, und es wird mir übel, wenn ich nur einen Zweifler höre, einen empfindsamen Zweifler! O weh!« Er hatte diesen Trumpf beim Disputieren älterer Leute gehört und brachte denselben wie ähnliche Gewandtheiten, die er sich angeeignet, gegen mich vor, so daß ich zuletzt immer geschlagen wurde; besonders sagte er zuletzt immer, ich verstehe eben die Sache noch nicht und wüßte nicht richtig zu denken, was mich dann gewaltig erboste, und wir gerieten manchmal in grimmigen Zank. Doch vereinigten wir uns immer wieder, wenn wir mit den Mädchen zusammentrafen, wo wir einen gemeinsamen Kampf zu bestehen hatten, von allen Seiten angegriffen. Wir schlugen unsere Feinde eine Zeitlang mit unseren Sarkasmen siegreich zurück, wenn sie aber nicht mehr weiter konnten und zu sehr gereizt waren, so ging der Krieg in Tätlichkeiten über; eine einzelne begann damit, einem von uns unversehens ein Glas Wasser über den Kopf zu gießen, und alsobald war ein hitziges Jagen und Verfolgen durch Haus und Gärten im Gange. Andere Bursche machten sich schnell herbei, denn fünf bis sechs zornige Mädchen waren eine zu reizende Gelegenheit für sie. Man warf sich mit Früchten, schlug sich mit ausgerissenen Nesselstauden, suchte sich gegenseitig ins Wasser zu drängen, wobei man ins allerengste Handgemenge kam, und ich war sehr verwundert, die tollen Kinder so rührig und wehrbar zu finden. Wenn ich eine junge Wilde mit aller Kraft umfaßt hielt, um sie zu bändigen, während sie mich böslich zu schädigen suchte, so stritt ich ganz ehrlich und tapfer, ohne irgend einen Nebenvorteil zu suchen, und ich wußte gar nicht, daß ich ein Mädchen in den Arm preßte. Solche Gefechte geschahen immer in Annas Abwesenheit; einst aber entzündete sich der Streit in ihrer Gegenwart, ohne daß man es gewollt hatte, sie suchte sich schleunigst zu salvieren, ich aber, der eben hitzig einer anderen nachstellte, um sie für eine meuchlerische Bosheit zu bestrafen, kriegte plötzlich Anna zu fassen und ließ erschrocken meine Hände sinken.

So mutig ich an der Seite des Philosophen war, umso kleinlauter war ich, wenn ich den Mädchen allein gegenüber stand, denn alsdann war keine Rettung, als alles über sich ergehen zu lassen. Der Philosoph fürchtete sich vor dieser Feuertaufe nicht und tummelte sich manchmal furchtlos in einer Hölle von zwölf jungen und alten Weibern umher, und er triumphierte umso lauter, je übler er von ihren Zungen und Händen zugerichtet wurde, wenn er ihnen weiberschmähende Aussprüche aus der Bibel und weltliche Argumente an den Kopf warf. Ich hingegen räumte das Feld, wenn mir die Sache zu arg wurde, oder ich stellte mich, als ob ich ungeneigt wäre, mich belehren und bekehren zu lassen. Wenn ich vollends mit einem der Mädchen ganz allein war, so wurde stets ein Waffenstillstand geschlossen und ich war immer halb bereit, unsere Sache zu verraten und mich unter den Schutz des Feindes zu stellen. Jedoch muß ich diese Neigung schlecht zu äußern gewußt haben, denn niemals schien man sie zu bemerken und ich mußte zufrieden sein, sonst ein vernünftiges Wort zu wechseln. Ich wünschte durch diesen gemäßigten und freundlichen Verkehr allmählich dahin zu gelangen, auch mit Anna wieder im einzelnen und allein zu sprechen, und glaubte dies törichterweise immer am besten auf weitläufigem Wege zu bewerkstelligen, indem ich mich an die anderen hielt, statt Anna einfach einmal bei der Hand zu nehmen und anzureden. Allein dies letztere schien mir eben noch himmelweit zu liegen und eine reine Unmöglichkeit; lieber hätte ich einen Drachen geküßt als so leichtsinnig die Schranke gebrochen, obgleich es vielleicht nur an diesem Drachenkuß, an diesem ersten Worte hing, die schöne Jungfrau Vertraulichkeit aus der Verzauberung wieder zu gewinnen. Allein wer konnte wissen! Ein Sperling in der Hand ist besser als ein Adler auf dem Dache! Lieber noch dies stumme Nahsein sicher behalten als durch die beleidigte Ehre genötigt zu sein, auf immer zu scheiden! Dadurch ward ich immer mehr und mehr verhärtet, und zuletzt ward es mir unmöglich, das gleichgültigste Wort an Anna zu richten; so kam es, als sie auch nichts zu mir sagte, daß nach einer sehr stillschweigenden Übereinkunft wir für einander gar nicht da waren, ohne uns deswegen zu meiden. Sie kam ebenso oft zu uns herüber, wenn ich da war, wie sonst, und ich besuchte den Schulmeister nach wie vor, wo sie sich dann zufrieden herumzubewegen schien, ohne sich um mich zu bekümmern. Indessen kam es mir wunderlich vor, daß kein Mensch unsere seltsame Haltung zu bemerken schien, obgleich es doch gewiß auffallen mußte, daß wir auch gar nie etwas zueinander sagten. Die älteste Base, Margot, hatte sich diesen Sommer mit dem jungen Müller verlobt, welcher ein stattlicher Reitersmann war, die mittlere duldete offen die Bewerbungen eines reichen Bauernsohnes, und die jüngste, ein Ding von sechzehn Jahren, welches sich im Kriege immer am wildesten und feindseligsten gebärdet, war unmittelbar oder fast während eines der hitzigsten Gefechte überrascht worden, wie sie in einer Laube sich schnell von dem Philosophen küssen ließ; die Wolken der Zwietracht hatten sich daher verzogen, der allgemeine Friede war hergestellt, nur zwischen mir und Anna, welche nie im Kriege gelegen miteinander, war auch kein Friede oder vielmehr ein sehr stiller, denn unser Verhältnis blieb sich immer gleich. Anna hatte die erste äußere Garnitur aus dem Wälschland schon abgelegt und war wieder frischer und freier geworden; allein sie blieb doch ein feines und sprödes Kind, das überhaupt nicht viel sprach, leicht beleidigt und gereizt wurde, was ein schnelles Erröten immer anzeigte, und besonders stellte sich ein leichter Stolz heraus, der sich mit etwas Eigensinn verband. Diesem Charakter zufolge war sie unerbittlich und hätte eher den Tod genommen, als daß sie sich durch das geringste Entgegenkommen etwas vergeben hätte. Desto verliebter aber wurde ich mit jedem Tage, so daß ich mich fortwährend mit ihr beschäftigte, wenn ich allein war, mich höchst unglücklich. fühlte und sehnsüchtig träumend die Wälder und Höhen durchstreifte; denn da ich nunmehr wieder der einzige war, welcher seine Liebe verbergen mußte, wie ich wenigstens glaubte, so ging ich auch vorzugsweise wieder allein und auf mich selbst angewiesen. Ich brachte die Tage im tiefen Walde zu, mit meinem Handwerkszeuge versehen; allein ich zeichnete nur wenig nach der Natur, sondern wenn ich eine recht geheime Stelle gefunden, wo ich sicher war, daß niemand mich überraschte, zog ich ein großes schönes Stück Pergament hervor, auf welchem ich Annas Bildnis aus dem Gedächtnis in Wasserfarben malte. Dies war für mich das allergrößte Glück, wenn ich mich in einem klaren Spiegelwässerchen unter dichtem Blätterdache so wohnlich eingerichtet hatte, das Bild auf den Knien. Ich konnte nicht zeichnen, daher fiel das Ganze etwas byzantinisch aus, was ihm bei der Fertigkeit und dem Glanz der Farben ein eigenes Ansehen gab. Jeden Tag betrachtete ich Anna verstohlen und offen und verbesserte danach das Bild, bis es zuletzt ganz ähnlich wurde. Es war in ganzer Figur und stand in einem reichen Blumenbeete, dessen hohe Blüten und Kronen mit Annas Haupt in den tiefblauen Himmel ragten; der obere Teil der Zeichnung war bogenförmig abgerundet und mit Rankenwerk eingefaßt, in welchem glänzende Vögel und Schmetterlinge saßen, deren Farben ich noch mit Goldlichtern erhöhte. Alles dies, sowie Annas Gewand, welches ich phantasievoll bereicherte, war mir die angenehmste Arbeit während vieler Tage, die ich im Walde zubrachte, und ich unterbrach diese Arbeit nur, um auf meiner Flöte zu spielen, welche ich beständig bei mir führte. Auch des Abends nach Sonnenuntergang ging ich oft mit der Flöte noch aus, strich hoch über den Berg, bis wo der See in der Tiefe und des Schulmeisters Haus daran lag, und ließ dann meine selbsterfundenen Weisen oder auch ein schönes Liebeslied durch Nacht und Mondschein ertönen. Hierauf schien kein Mensch zu achten oder sich wenigstens so zu stellen; denn ich hätte sogleich aufgehört, wenn irgend jemand sich darum bekümmert hätte, und doch suchte ich gerade dies und blies meine Flöte wie einer, der gehört sein will. So gingen die Sommermonate vorüber; ich verbarg das Bild sorgfältig und gedachte es noch lange zu verbergen, indem es von jedermann als ein ziemlich deutliches Geständnis der Liebe angesehen werden mußte. An einem sonnigen Septembernachmittage, als der herbstliche Schein mild auf dem Garten lag und das Gemüt zur Freundlichkeit stimmte, wollte ich eben ausgehen, als ein ganz kleines Knäbchen mir die Botschaft brachte, ich möchte in die größere Gartenlaube kommen. Ich wußte, daß sämtliche Mädchen dort mit Margots Aussteuer beschäftigt waren und daß Anna ihnen half; das Herz klopfte mir daher sogleich, weil ich irgend etwas Angenehmes ahnte, doch ging ich erst nach einer kleinen Weile mit gleichgültiger Miene hin. Die Mädchen saßen in einem Halbkreise um das weiße Leinenzeug herum, unter dem grünen Rebendache, und sie sahen alle schön und blühend aus. Als ich eintrat und fragte, was sie begehrten, lächelten und kicherten sie eine Zeitlang verlegen, daß ich trotzig schon wieder umkehren und weggehen wollte. Jedoch Margot ergriff das Wort und rief: »So bleib doch hier, wir werden dich nicht fressen!« und nachdem sie sich geräuspert, fuhr sie fort: »Es sind mannigfaltige Klagen über dich angesammelt und wir haben daher uns als eine Art Gerichtshof hieher gesetzt, um dich zu richten und ins Verhör zu nehmen, lieber Vetter! und wir fordern dich hiermit auf, uns auf alle Fragen treu, wahr und bescheiden zu antworten! Erstlich wünschen wir zu wissen – je, was wollten wir denn zuerst fragen, Caton?« »Ob er gern Aprikosen esse«, erwiderte diese, und Lisette rief: »Nein, wie alt er sei, müssen wir zuerst fragen, und wie er heiße!« »Bitte, macht euch nicht gar zu unnütz«, sagte ich, »und rückt heraus mit eurem Anliegen!« Doch Margot sagte: »Kurz und gut, du sollst einmal sagen, was du gegen die Anna hast, daß du dich so gegen sie benimmst?« »Wieso?« antwortete ich verlegen, und Anna wurde ganz rot und sah auf ihre Leinwand; Margot fuhr fort: »Wieso? das möchte ich auch noch fragen! Mit einem Wort: was hast du für einen Grund, seit deiner Ankunft bei uns kein Sterbenswörtchen zu Anna zu sagen und zu tun, als ob sie gar nicht in der Welt wäre? Dies ist nicht nur eine Beleidigung für sie, sondern für uns alle, und schon des öffentlichen Anstandes wegen muß es gehoben werden auf irgend eine Weise; wenn Anna dich beleidigt hat, ohne es zu wissen, so erkläre es, damit sie dir demütige Abbitte tun kann. Übrigens brauchst du hierauf nicht stolz zu sein oder zu glauben, es sei auf deine kostbare Gunst abgesehen! Einzig und allein muß durch gegenwärtige Verhandlung die Schicklichkeit und das gute Recht gewahrt werden!« Ich erwiderte, daß ich die Gründe für mein Benehmen gegen Anna angeben könne, sobald sie mir diejenigen für ihr eigenes Verhalten mitteilen wolle, indem ich mich ebensowenig eines an mich gerichteten Wortes rühmen könne. Auf diese Rede ward mir vorgehalten: ein Frauenzimmer könne immer noch tun, was sie wolle; jedenfalls müßte ich den Anfang machen, worauf dann Anna sich verpflichten würde, in einem gesellschaftlich freundlichen und zuvorkommenden Verkehr mit mir zu leben, wie mit anderen.

Dies ließ sich hören und schien mir ganz in dem Sinne gesagt zu sein, in welchem ich die Frauen als eine verschworene Einheit betrachtet hatte; es klang mir wie ein angenehmer Beweis davon, daß es gut sei, wenn sie eine Sache wohlwollend in die Hand nähmen. Ihre hochtrabenden Worte beirrten mich nicht und ich bildete mir gleich ein, daß man mich sehr nötig habe. Lächelnd erwiderte ich, daß ich mich einem vernünftigen Wort gern füge und daß ich nichts Besseres verlange, als mit aller Welt in Frieden zu leben. Nun stand ich aber wieder da, ohne Anna weiter anzusehen, welche emsig nähte. Lisette ergriff nun das Wort und sagte: »Um einen Anfang zu machen, gib nun der Anna die Hand und versprich ihr mit deutlichen Worten, jedesmal, wo du mit ihr zusammentriffst, sie mit ihrem Namen zu grüßen und sie zu fragen, wie es ihr geht; hierbei soll festgesetzt sein, daß jedesmal, wo du sie zuerst an dem Tage siehst, die Hand gereicht werde, wie es unter Christen gebräuchlich ist!« Ich näherte mich Anna, hielt meine Hand hin und sprach eine verworrene kleine Rede; ohne aufzusehen, gab sie mir die Hand, wobei sie die Nase ein bißchen rümpfte und ein wenig lächelte. Als ich hierauf mich aus der Laube entfernen wollte, begann Margot wieder: »Geduld, Herr Vetter! Es kommt nun der zweite Punkt, welcher zu erledigen ist.« Sie schlug die Tücher, welche den Tisch bedeckten, auseinander und enthüllte mein Bild Annas. »Wir wollen«, fuhr sie fort, »nicht lange erörtern, wie wir zu diesem geheimnisvollen Werke gelangt, genug, es ist entdeckt und wir wünschen nun zu wissen, mit welchem Recht und zu welchem Zweck harmlose Mädchen ohne ihr Wissen abkonterfeit werden?«

Anna hatte einen flüchtigen Blick auf das bunte Pergament geworfen und saß ebenso verlegen und unruhig da, als ich beschämt und trotzig war. Ich erklärte, daß das Blatt mein Eigentum und ich keiner sterblichen Seele eine Verantwortung darüber schuldig wäre, gleichviel ob es ans Tageslicht getreten oder noch im Verborgenen liege, wo ich künftig meine Sachen zu lassen bitte. Damit wollte ich meine Zeichnung ergreifen; allein die Mädchen deckten sie schleunig mit Leinwand zu und türmten die ganze Aussteuer darauf. Es könne ihnen nicht gleichgültig sein, sagten sie, ob ihre Bildnisse heimlich und zu unbekanntem Zwecke angefertigt würden. Ich müßte also bestimmt erklären, für wen ich besagtes Werk angefertigt habe oder was ich damit zu machen gedenke; denn daß ich es für mich behalten wolle, sei nach meinem bisherigen Verhalten nicht wohl anzunehmen, auch wäre dies nicht zu gestatten. »Die Sache ist sehr einfach«, erwiderte ich endlich, »ich habe dem Schulmeister, Annas Vater, eine kleine Freude zu seinem Namenstage machen wollen und gedachte dies am besten durch ein Porträt seiner Jungfer Tochter zu erreichen; habe ich damit Unrecht getan, so tut es mir leid, ich werde es nicht wieder tun! Ich kann vielleicht durch eine Abbildung seines Hauses und Gartens am See dem Herrn Vetter den gleichen Dienst leisten, mir verschlägt es nichts!«

Durch diese Ausflucht beraubte ich mich zwar selbst des Bildes, das mir auch der Mühe und Arbeit wegen lieb geworden war, zugleich aber schnitt ich der unbequemen Verhandlung den Faden ab, indem die Mädchen hiegegen nichts mehr einzuwenden wußten und meine aufmerksame Gesinnung für den Schulmeister noch zu loben veranlaßt wurden. Doch beschlossen sie, das Pergament aufzubewahren bis zum bestimmten Tage, wo wir es sämtlich dem Schulmeister feierlich überbringen würden. So kam ich um meinen Schatz, verhehlte aber meinen Verdruß, indessen die kleine Caton, noch nicht zufrieden, wieder anfing: »›Ihm verschlägt es nichts!‹, ob er das Haus zeichne oder Anna, sagte er! Was soll das wohl heißen?« Und Margot erwiderte: »Das soll heißen, daß er ein hochmütiger Gesell ist, welchem ein Haus und ein schönes Mädchen gleich unbedeutend sind! Hauptsächlich aber soll es heißen: Glaubt ja nicht etwa, daß ich das mindeste besondere Interesse an diesem Gesichtchen hatte, als ich es malte! Dies ist eine neue Beleidigung und der armen Anna gebührt eine glänzende Genugtuung!« Margot zog nun ein zusammengefaltetes Blatt aus dem Busen, entfaltete es und beauftragte Lisette, es laut und feierlich vorzulesen. Ich war sehr begierig, was es sein möchte, Anna wußte ebenfalls nicht, was das bedeute, und sah ein wenig auf; nach den ersten Worten aber erkannte ich, daß es meine Liebeserklärung aus dem Bienenhause war. Es wurde mir kalt und heiß während des Lesens, Anna kam, soviel ich in meiner Verwirrung bemerken konnte, erst nach und nach auf die Spur, die übrigen Mädchen, welche anfangs übermütige und lachende Gesichter zeigten, wurden durch die Stille während des Lesens und durch die ehrliche Schönheit und Kraft jener Worte betroffen und beschämt und sie erröteten der Reihe nach, wie wenn die Erklärung sie selber betroffen hätte. Indessen gab mir die Angst schon eine neue List ein, die Angst, welche ich vor dem Verklingen des letzten Wortes hatte. Als die Leserin schwieg, selbst in nicht geringer Verlegenheit, sagte ich so trocken als möglich: »Teufel! das kommt mir ganz bekannt vor, zeigt einmal her! – Richtig! das ist ein altes Blatt Papier, von mir beschrieben!«

»Nun? weiter?« sagte Margot etwas verblüfft, denn sie wußte nun ihrerseits nicht, wo es hinaus sollte. »Wo habt ihr das gefunden?« fuhr ich fort, »das ist ein Stück Übersetzung aus dem Französischen, das ich schon vor zwei Jahren hier im Hause gemacht habe. Die ganze Geschichte steht in dem alten vergoldeten Schäferroman, der im Dachstübchen liegt bei den alten Degen und Folianten; ich habe damals statt des Namens Melinde den Namen Anna hingesetzt zum Spaße. Hole einmal das Buch herunter, kleine Caton! ich will euch die Stelle französisch vorlesen.«

»Hol einmal selbst, kleiner Heinrich, wir sind gerade gleich alt!« versetzte die Kleine und die übrigen machten ganz enttäuschte Gesichter, da meine Erfindung zu natürlich und wahrhaft aussah. Nur Anna mußte wissen, daß die Erklärung doch ausschließlich an sie gerichtet war, weil sie allein an der Berufung auf das Grab der Großmutter erkennen konnte, daß Stoff und Datum neu waren. Sie rührte sich nicht. So war nun der Inhalt des fliegenden Blattes doch noch an seine rechte Bestimmung gelangt und ich konnte seine Wirkung sich selbst überlassen, ohne mit meiner Person unmittelbar dazu zu stehen und ohne daß die Mädchen einen Triumph davon hatten. Ich wurde so sicher und kühn, daß ich das Papier nahm, zusammenfaltete und es der Anna mit einer komischen Verbeugung und den Worten überreichte: »Da man dieser Stilübung einmal einen höheren Zweck zugeschrieben hat, so geruhen Sie, verehrtes Fräulein! dem irrenden Blatte ein schützendes Obdach zu geben und dasselbe als eine Erinnerung an diesen denkwürdigen Nachmittag von mir anzunehmen!« Sie ließ mich erst eine Weile stehen und wollte das Papier nicht nehmen; erst als ich eben links abschwenken wollte, nahm sie es rasch und warf es neben sich auf den Tisch.

Mein Witz war indessen zu Ende und ich suchte mit guter Manier aus der Laube zu kommen. Mit einer zweiten scherzhaften Verbeugung empfahl ich mich, sämtliche Mädchen standen zierlich auf und entließen mich unter spöttisch-höflichen Verneigungen. Der Spott kam von ihrem weiblichen Grolle, daß sie mich nicht gedemütigt und untergekriegt hatten, die Höflichkeit von der Achtung, welche ihnen mein Benehmen einflößte; denn während das Bild sowohl wie das beschriebene Blatt von dem Vorhandensein einer bestimmten Neigung zeugten, war ich doch nicht aufdringlich und schwächlich mit derselben und hatte trotz der Öffentlichkeit der Verhandlung das eigentliche zarte Geheimnis so zu schützen gewußt, daß unter dem Mantel des Scherzes nicht nur ich, sondern auch Anna die volle Freiheit behalten hatte anzuerkennen, was ihr beliebte.

Höchst zufrieden zog ich mich in das Dachstübchen zurück, wo ich meinen Sitz aufgeschlagen hatte, und verträumte dort eine kleine Stunde in der größten Seligkeit. Anna kam mir so liebenswert und köstlich vor wie noch niemals, und indem mein eigensüchtiger Sinn sie sich nun unentrinnbar verfallen dachte, bedauerte ich sie in ihrer Freiheit beinahe und fühlte eine Art zärtlichen Mitleidens mit ihr. Doch machte ich mich bald wieder auf die Beine und schlich, da die Septembersonne sich schon zu neigen begann, dem Garten zu, um dem Tage die Krone aufzusetzen und zu sehen, ob ich Anna nach Hause geleiten könnte, zum ersten Male wieder seit den schönen Kindertagen. Sie aber war schon fort und allein über den Berg gegangen, die Basen räumten ihre Arbeit zusammen und taten sehr gleichmütig und ruhig, ich überblickte den leeren Tisch, hütete mich aber wohl zu fragen, ob Anna das Papier wirklich mitgenommen habe, und schlenderte das Tal hinauf in den Schatten hinein, unmutig wie einer, welcher von einem fröhlichen Mittagsmahle kommt und nicht weiß, wie er den Abend zubringen soll; denn ich dachte nicht daran, daß Anna, wenn sie mich liebte, nun ja auch allein über den Berg wanderte.

Die nächsten Tage kam sie nicht zu uns und ich getraute mir auch nicht, zum Schulmeister zu gehen; sie hatte nun ein schriftliches Geständnis von mir in den Händen, weswegen mir nun unser beider Freiheit verloren und deshalb unser Benehmen schwieriger schien, weil ich die Gewaltsamkeit einer solchen Erklärung wohl fühlte. Ich sehnte mich auch nicht sowohl nach einer Erwiderung von ihrer Seite als nach einem schweigenden und ruhigen Einverständnis und nach sicheren Zeichen, daß nicht etwa eine andere Neigung in ihrem Herzchen entstanden sei. Wie nun ein Tag nach dem anderen vorüberging, verschwand meine vergnügte Sicherheit wieder, besonders da ich gar keinerlei Erwähnung und Spuren von dem Vorgange in der Laube erfuhr, und ich war eben wieder auf dem Punkte, in meinem Herzen trotzig zu verstocken, als der Namenstag des Schulmeisters, welchen ich in der Not angerufen hatte, wirklich da war und die Bäschen erklärten, wir würden auf den Abend alle hingehen, um ihn zu beglückwünschen. Erst jetzt bekam ich mein Bild wieder zu sehen, welches ganz fein eingerahmt war. An einem verdorbenen Kupferstiche hatten die Mädchen einen schmalen, in Holz auf das Zierlichste geschnittenen Rahmen gefunden, welcher wohl siebenzig Jahr alt sein mochte und eine auf einen schmalen Stab gelegte Reihe von Müschelchen vorstellte, von denen eins das andere halb bedeckte. An der inneren Kante lief eine feine Kette mit viereckigen Gelenken herum, fast ganz frei stehend, die äußere Kante war mit einer Perlenschnur umzogen. Der Dorfglaser, welcher allerlei Künste trieb und besonders in verjährten Lackierarbeiten auf altmodischem Schachtelwerk stark war, hatte den Muscheln einen rötlichen Glanz gegeben, die Kette vergoldet und die Perlen versilbert und ein neues klares Glas genommen, so daß ich höchst erstaunt war, meine Zeichnung in diesem Aufputze wiederzufinden. Sie erregte die Bewunderung aller ländlichen Beschauer, und besonders meine Blumen und Vögel, sowie die Goldspangen und Edelsteine, womit ich Anna geschmückt, auch die fromme und sorgfältige Ausarbeitung ihrer Haare und ihrer weißen Halskrause, die schönblauen Augen und die rosenroten Wangen, der tiefrote Mund, alles entsprach dem phantasiereichen Sinne der Leute, welche ihre Augen an den mannigfaltigen Gegenständen vergnügten. Das Gesicht war fast gar nicht modelliert und ganz licht, und dies gefiel ihnen nur umso mehr, obgleich dieser vermeintliche Vorzug in meinem Nichtkönnen seinen einzigen Grund hatte.

Ich mußte das allerherrlichste Werk eigenhändig tragen, als wir fortgingen, und wenn die Sonne sich in dem glänzenden Glase spiegelte, so erwies es sich recht eigentlich, daß kein Fädelein so fein gesponnen, das nicht endlich an die Sonne käme. Auch machten die Mädchen reichliche Witze, wenn sie sich nach mir umsahen, der den Rahmen sorgfältig in acht nehmen mußte und daher aussah, als ob ich ein Palladium im Schweiße meines Angesichts über den Berg trüge. Aber die Freude, welche der Schulmeister bezeugte, entschädigte mich reichlich für alles sowie über den Verlust des Bildes, zumal ich mir vornahm, für mich selbst noch ein viel schöneres zu entwerfen. Ich war der Held des Tages, als das Bild nach genügsamem Betrachten über dem Sofa im Orgelsaale aufgehängt wurde, wo es sich wie das Bild einer märchenhaften Kirchenheiligen ausnahm. Doch dies alles trug dazu bei, meine Annäherung zu Anna zu erschweren; es war mir unmöglich, diese Gelegenheit zu benutzen und mit ihr schön zu tun, ich begriff ebenfalls, daß sie jetzt eben sich sehr gemessen benehmen mußte, und ich erkannte, daß es eigentlich gar kein Spaß sei, einem Mädchen seine Neigung so bestimmt kund zu tun. Desto besser stand ich mich mit dem Schulmeister, mit welchem ich vielfach disputierte. Sein Bildungskreis umfaßte hauptsächlich das christlich moralische Gebiet in einem halb aufgeklärten und halb mystisch andächtigen Sinne, wo der Grundsatz der Duldung und Liebe, gegründet auf Selbsterkenntnis und auf das Studium des Wesens Gottes und der Natur, zu oberst stand. Daher war er sehr bewandert in den memoirenartigen Schriften geistreich andächtiger Leute aus verschiedenen Nationen, und er besaß und kannte seltene und berühmte Bücher dieser Art, die ihm die Überlieferung gleicher Bedürfnisse in die Hände gegeben hatte. Es war viel Schönes, Vornehmes und allgemein Wahres zu lesen in diesen Büchern und ich hörte mit Bescheidenheit und Wohlgefallen seinen Vorträgen zu, indem das Grübeln nach dem Wahren und Guten mich immer mehr anzog. Meine Einsprachen bestanden darin, daß ich gegen das Christliche protestierte, welches das alleinige Merkzeichen alles Guten sein sollte. Ich befand mich in dieser Hinsicht in einem peinlichen Zerwürfnisse. Während ich die Person Christi liebte, wenn sie auch, wie ich glaubte, in der Vollendung, wie sie dasteht, eine Sage sein sollte, und während ich vielfach das Wohltuende ihrer Erinnerung empfand, war ich doch gegen alles, was sich christlich nannte, ganz feindlich gesinnt geworden, ohne recht zu wissen warum, und ich war sogar froh, diesen Haß zu empfinden; denn wo sich Christentum geltend machte, war für mich reizlose und graue Nüchternheit. Ich ging deswegen schon seit ein paar Jahren nicht mehr in die Kirche als an hohen Festtagen, und die christliche Unterweisung besuchte ich sehr selten, obgleich ich gesetzlich dazu verpflichtet war; im Sommer kam ich durch, weil ich größtenteils auf dem Lande lebte, im Winter ging ich zwei oder drei Mal und man schien dies nicht zu bemerken, wie man mir überhaupt keine Schwierigkeiten machte, aus dem einfachen Grunde, weil ich der grüne Heinrich hieß, d. h. weil ich meiner ganzen Vergangenheit nach eine abgesonderte und abgeschiedene Erscheinung war; auch machte ich ein so finsteres Gesicht dazu, daß die Geistlichen mich gern gehen ließen. So genoß ich einer vollständigen Freiheit und, wie ich glaube, nur dadurch, daß ich mir dieselbe, trotz meiner Jugend, entschlossen angemaßt; denn ich verstand durchaus keinen Spaß hierin. Jedoch ein oder zwei Mal im Jahre mußte ich genugsam für dieselbe bezahlen, wenn nämlich an mich die Reihe kam, in der Kirche »aufzusagen«, d.h. in der öffentlichen Kinderlehre nach vorhergegangener Einübung einige auswendig gelernte Fragen zu beantworten und schließlich eine Liederstrophe herzusagen. Dies war vor vielen Jahren schon eine Pein für mich gewesen, nun aber geradezu unerträglich; und doch unterzog ich mich dem Gebrauche oder mußte es vielmehr, da, abgesehen von dem Kummer, den ich meiner Mutter gemacht hätte, das endliche gesetzliche Loskommen daran geknüpft war. Auf die nächste Weihnacht sollte ich nun konfirmiert werden, was mir ungeachtet der gänzlichen Freiheit, welche mir nachher winkte, große Sorgen verursachte. Daher äußerte ich mein Antichristentum jetzt gegen den Schulmeister mehr als ich sonst getan haben würde, obgleich es in ganz anderer Weise geschah, als wenn ich mit dem Philosophen zusammen war; ich mußte nicht nur den Vater Annas, sondern überhaupt den bejahrten Mann ehren, und besonders seine duldsame und liebevolle Weise schrieb mir von selber vor, mich in meinen Ausdrücken mit Maß und Bescheidenheit zu benehmen und sogar die Voraussetzung, daß ich als ein junger Bursche noch was zu lernen möglich fände, nicht aufzugeben. Auch war der Schulmeister eher froh über meine abweichenden Meinungen, indem sie ihm Veranlassung zu geistiger Bewegung gaben und er Ursache fand, mich förmlich lieb zu gewinnen, der Mühe wegen, die ich ihm machte. Er sagte, es sei ganz in der Ordnung, ich sei wieder einmal ein Mensch, bei welchem das Christentum das Ergebnis des Lebens und nicht der Kirche sein würde, und werde noch ein rechter Christ werden, wenn ich erst etwas erfahren habe. Der Schulmeister stand sich nicht gut mit der Kirche und behauptete, ihre gegenwärtigen Diener wären unwissende und rohe Menschen. Ich habe ihn aber ein wenig im Verdacht, daß dies nur darin seinen Grund hatte, daß sie Hebräisch und Griechisch verstanden, was ihm verschlossen war. Ich lernte bei ihm viele Bücher kennen, die wieder eine ganz andere Welt enthielten als diejenigen des Philosophen, welcher ein mächtiges Zuckerfaß voll philosophischer Bücher ins Dorf gebracht hatte.

Indessen war die Ernte längst vorüber und ich mußte an die Rückkehr denken. Mein Oheim wollte mich diesmal nach der Stadt bringen und zugleich seine Töchter mitnehmen, von denen die zwei jüngeren noch gar nie dort gewesen. Er ließ eine alte Kutsche bespannen, welche seit Menschengedenken im Wirtshause stand, und so fuhren wir davon, die Töchter in ihrem besten Staate, zum Erstaunen aller Dorfschaften, durch welche wir kamen. Der Oheim fuhr am gleichen Tage mit Margot zurück, Lisette und Caton blieben eine Woche bei uns, wo die Reihe an ihnen war, die Blöden und Schüchternen zu spielen, denn ich zeigte ihnen mit wichtiger Miene alle Herrlichkeiten der Stadt und tat, als ob mir dies alles gehörte. Nicht lange nachdem sie fort waren, kam eines Morgens ein leichtes Fuhrwerk vor unser Haus gerollt und heraus stiegen der Schulmeister und sein Töchterchen, letzteres durch einen fliegenden grünen Schleier gegen die scharfe Herbstluft geschützt. Eine lieblichere Überraschung hätte mir gar nicht widerfahren können, und meine Mutter hatte die größte Freude an dem guten Kinde. Der Schulmeister wollte sich umsehen, ob für den Winter eine geeignete Wohnung zu finden wäre, indem er doch allmählich sein Kind mit der Welt mehr in Berührung bringen mußte, um ihre Anlagen nach allen Seiten sich entwickeln zu lassen. Es sagte ihm jedoch keine Gelegenheit zu und er behielt sich vor, lieber im nächsten Jahre ein kleines Haus in der Nähe der Stadt zu kaufen und ganz überzusiedeln. Diese Aussicht erfüllte mich teils mit Freuden, teils aber hätte ich mir Anna doch lieber für immer als das Kleinod jener grünen entlegenen Täler gedacht, die mir einmal so lieb geworden. Indessen hatte ich das heimliche Vergnügen zu sehen, wie meine Mutter Freundschaft schloß mit Anna und wie diese ebenso tiefen Respekt als herzliche Zuneigung zu jener bezeigte und zu meiner allergrößten Genugtuung gern zu zeigen schien. Wir wetteiferten nun förmlich, ich dem Schulmeister meine Achtung darzutun und sie meiner Mutter, und über diesem angenehmen Streite fanden wir keine Zeit, miteinander selbst zu verkehren, oder wir verkehrten vielmehr nur dadurch miteinander. So schieden sie von uns, ohne daß ich mit ihr einen einzigen besondern Blick gewechselt hätte.

Nun rückte der Winter heran und mit ihm das Weihnachtsfest. Wöchentlich dreimal früh um fünf Uhr mußte ich in das Haus des Pfarrhelfers gehen, wo in einer langen schmalen riemenförmigen Stube an vierzig junge Leute zur Konfirmation vorbereitet wurden. Wir waren Jünglinge, wie man uns nun nannte, aus allen Ständen; am oberen Ende, wo einige trübe Kerzen brannten, die Vornehmen und Studierenden, dann kam der mittlere Bürgerstand, unbefangen und mutwillig, und zuletzt, ganz in der Dunkelheit, arme Schuhmacherlehrlinge, Dienstboten und Fabrikarbeiter, etwas roh und schüchtern, unter denen nur dann und wann eine plumpe Störung vorfiel, während weiter oben man sich mit Geschicklichkeit fortwährend unruhig verhielt. Diese Ausscheidung war gerade nicht absichtlich angeordnet, sondern sie hatte sich von selbst gemacht. Wir waren nämlich nach unserem Verhalten und nach unserer Ausdauer geordnet; da nun die Vornehmsten von Haus aus zum äußeren Frieden mit der Kirche streng erzogen wurden und die meiste Sicherheit im Sprechen besaßen und dies Verhältnis durch alle Grade herunterging, so war dem Scheine nach die Rangordnung ganz natürlich, besonders da die Ausnahmen sich dann von selbst zu ihresgleichen hielten und durchaus nicht sich unter die anderen Stände mischen wollten. Es geziemte sich auch, daß diejenigen, welche vermöge ihrer Verhältnisse darauf gewiesen waren, als Männer einst in der Kirche eine Stütze für ihre politischen und sozialen Grundsätze und einen Schutz für das »Eigentum« zu finden, in dieser geweihten Werkstätte des Christentumes obenan saßen und sich aufmerksam verhielten, während dem gezeichneten Häuflein, welchem eingeprägt werden mußte, daß Christi Reich nicht von dieser Welt sei, zur heilsamen Übung auch hier der unterste Platz gebührte.

Schon das pünktliche Aufstehen und Hingehen am kalten dunklen Wintermorgen, an regelmäßigen Tagen, und das Hinsitzen an einen bestimmten Platz war mir unerträglich, da ich seit der Schulzeit dergleichen nicht mehr geübt. Nicht daß ich gänzlich unfügsam war für irgend eine Disziplin, wenn ich einen notwendigen und vernünftigen Zweck einsah; denn als ich zwei Jahre später meiner Militärpflicht genügen und als Rekrut mich an bestimmten Tagen auf die Minute am Sammelplatze einfinden mußte, um mich nach dem Willen eines versoffenen Exerziermeisters sechs Stunden lang auf dem Absatze herumzudrehen, da tat ich dies mit dem größten Vergnügen und war ängstlich bestrebt, mir das Lob des alten Kommißbruders zu erwerben. Allein hier galt es, sich zur Verteidigung des Vaterlandes und seiner Freiheit fähig zu machen; das Land war sichtbar, ich stand darauf und nährte mich von seiner Frucht. – Dort aber mußte ich mich gewaltsam aus Schlaf und Traum reißen, um in der düsteren Stube zwischen langen Reihen einer Schar anderer schlaftrunkener Jünglinge das allerfabelhafteste Traumleben zu führen unter dem eintönigen Befehl eines weichlichen Schwarzrockes, mit dem ich sonst auf der Welt nichts zu schaffen hatte.

Was unter fernen östlichen Palmen vor Jahrtausenden teils sich begeben, teils von heiligen Träumern geträumt und niedergeschrieben worden war, ein Buch der Sage, zart und luftig und weise wie alle Sage, das wurde hier als das höchste und ernsthafteste Lebenserfordernis, als die erste Bedingung, Bürger zu sein. Wort für Wort durchgesprochen und der Glaube daran auf das genaueste reguliert. Die wunderbarsten Ausgeburten menschlicher Phantasie, bald heiter und reizend, bald finster, brennend und blutig, aber immer durch den Duft einer entlegenen Ferne gleichmäßig umschleiert, mußten als das wirklichste und festeste Fundament unseres ganzen Daseins angesehen werden und wurden uns nun zum letzten Male und ohne allen Spaß bestimmt erklärt und erläutert, zu dem Zwecke, im Sinne jener Phantasien ein wenig Wein und ein wenig Brot am richtigsten genießen zu können; und wenn dies nicht geschah, wenn wir uns dieser fremden wunderbaren Disziplin nicht mit oder ohne Überzeugung unterwarfen, so waren wir ungültig im Staate und es durfte keiner nur eine Frau nehmen. Von Jahrhunden zu Jahrhundert war dies so geübt und die verschiedene Auslegung der poetischen Vorstellung hatte schon ein Meer von Blut gekostet, der jetzige Umfang und Bestand unseres Staates war größtenteils eine Folge jener Kämpfe, so daß für uns die Welt des Traumes auf das engste mit der merklichsten und greifbarsten Wirklichkeit verbunden war. Was als geschichtliches Dokument vergangener Geistesträume von der größten poetischen Meisterschaft und künstlerischen Vernunftmäßigkeit war, wenn man es unbefangen betrachten durfte, das wurde als aufgedrungene gegenwärtige Realität mit einem Schlage zu einem beängstigenden Unsinn, und es ward mir zu Mute, wenn ich den widerspruchlosen Ernst sah, mit welchem ohne Mienenverzug das Fabelhafte behandelt wurde, als ob von alten Leuten ein Kinderspiel mit Blumen getrieben würde, bei welchem jeder Fehler und jedes Lächeln Todesstrafe nach sich zog.

Welchen Boden die ausgestreute Lehre in dem Herzen jedes einzelnen fand, war nicht zu merken. Alle hatten von Kindheit auf die gleichen Worte und Bilder des Christentumes gehört, immer ein wenig deutlicher; alle fühlten jetzt, daß man nun das wahre Verständnis von ihnen verlange als ein Hauptkennzeichen ihrer menschlichen Tauglichkeit und als eine Hauptbedingung ihrer Glückseligkeit, aber alle setzten dem beredten Lehrer ein farbloses und stummes Schweigen entgegen, durch ihre knappen Antworten nur dürftig unterbrochen. Die starrsinnigen Knüppelstirnen sowohl wie die glatten und heiteren, die engherzig schmalen und niederen wie die hohen freien Wölbungen, diejenigen Stirnen, welchen in der Mitte nur ein Knöpfchen fehlte, um ganz ein viereckiges Schublädchen vorzustellen, wie diejenigen, welche in edler Rundung eine ganze runde Welt abbildeten, alle waren in der gleichen kühlen Ruhe gesenkt; weder der künftige Freigeist noch der künftige Fanatiker gaben ein Zeichen ihrer Natur von sich, weil der größte Proselytenmacher, das Menschenschicksal, nicht mit in der Stube war. Doch waren alle einstweilen aufmerksam, und ich selbst merkte wohl auf die inneren christlichen Grundlehren, während ich auf das wunderbare Gewand derselben, auf die biblischen Gestaltungen der göttlichen Persönlichkeiten, nicht achtete, und ich weiß mich nicht einmal einer Zeit zu entsinnen, wo ich darauf geachtet oder angefangen hätte, nicht daran zu glauben. Desto mehr hatte ich in meinem Herzen gegen jenen inneren Gehalt zu eifern, welcher uns einzig unter der Bedingung zugut kommen sollte, daß wir an die äußere Gestalt glaubten, und mein Herz behauptete, daß es jenen Gehalt mit auf die Welt gebracht habe, soweit er brauchbar sei, und daß der Erlöser in ihm erwache, sobald nur ein zweites Herz hinzukomme. Meine unchristliche und ungeistliche Gesinnung war mir damals nicht klar, und ich hielt mich halb und halb selbst für unfromm und lachte dazu, indem ich dabei doch keinerlei Schuld empfand. Die Sache war aber die, daß ich schon lebhaft fühlte, daß jener angeborne und berechtigte Gehalt viel zu zarter Natur war, als daß er in eine Staatsreligion gespannt oder auch nur mit einem anderen als dem schlechtweg menschlichen oder göttlichen Namen bezeichnet werden könnte.

Das erste, was uns der Lehrer als christliches Erfordernis bezeichnete und worauf er eine weitläufige Wissenschaft gründete, war das Erkennen und Bekennen der Sündhaftigkeit. Diese Lehre traf auf eine verwandte Richtung in mir, welche tief in meiner Natur begründet ist, wie in derjenigen jedes ordentlichen Menschen; sie besteht darin, daß man jeden Augenblick sich selbst klaren Wein einschenken soll, nie und in keiner Weise sich blauen Dunst vormachen, sondern das Unzulängliche und Fratzenhafte, das Schwache und Schlimme sich und anderen offen eingestehen. Der natürliche Mensch betrachtet sich selbst als einen Teil vom Ganzen und darum ebenso unbefangen wie dieses oder einen anderen Teil desselben; daher darf er sich ebenso wichtig und erbaulich vorkommen wie alles andere, sich selbst unbedenklich hervorkehren, wenn er nur zu gleicher Zeit jedes kranke Pünktchen an sich selbst ebenso genau sieht und ins Licht setzt. Ferner muß man die besonderen Umstände seiner Fehler oder Vergehen in Betracht ziehen und die jedesmalige Verantwortlichkeit feststellen, welche immer eine andere ist; denn das gleiche Vergehen kann bei dem einen Menschen fast unbedeutend sein, während es für den andern eine Sünde ist; ja für ein und denselben Menschen ist es zu der einen Stunde unverzeihlicher und schwerer als zu der anderen Stunde. Das richtige und augenblickliche Erkennen ist nicht eine weitläufige und schwerfällige Kunst oder Übung, sondern eine ganz leichte, flüssige und schmiegsame, weil jeder alsbald recht wohl weiß, wo ihn der Schuh drückt. Das eine Mal besteht unser Vergehen nur darin, daß wir nicht auf der Hut waren und in der selbstbeherrschenden Haltung, welche wir uns nach dem Grade unserer Einsicht, Fähigkeit und Erfahrung zu eigen gemacht und welche bei jedem wieder einen andern Maßstab verlangt, nachgelassen haben, ohne dessen inne zu werden; das andere Mal besteht aber das Vergehen so recht in und durch sich selbst, indem wir es uns in der vollen Gegenwart unserer Einsicht und Erfahrung zu Schulden kommen lassen. Alsdann geht die Sünde sozusagen mit der Erkenntnis und Reue zusammen, und es gibt allerdings eine Hälfte Menschen, welche ihr Leben hindurch an der einen Hand die Sünde, an der anderen Hand die Reue gleichzeitig führen, ohne sich je zu ändern; aber ebenso gewiß gibt es eine Hälfte, welche im Verhältnis zu ihrer Erfahrung und Verantwortlichkeit in einem gewissen Grade von Schuldlosigkeit lebt, und jeder einzelne, wenn er sich recht besinnen will, kennt gewiß einzelne, bei welchen diese Schuldlosigkeit zu völliger Reinheit wird. Möge nun dieses auch eine bloße Folge von zusammengetroffenen glücklichen Umständen sein, so daß solche Erscheinungen zum Beispiel durch ein passives Fernsein vom Bösen von jeher schuldlos blieben: warum denn nicht ebenso gern an eine Unschuld des Glückes, ja der Geburt glauben als an eine Schuld des Mißgeschickes, der Vorherbestimmung? Solchen Glücklichen, welche, ohne zu wissen warum und wie, gerecht und rein sind, die Phantasie verderben und verunreinigen mit dem Gedanken angeborener ekler Sündlichkeit, ist im höchsten Grade unnütz und abgeschmackt, und wenn man nicht zu ihnen gehört, für sich selber das Bekenntnis der Sünden professionsmäßig betreiben, verwandelt jene natürliche und unbefangene Selbsterkenntnis mit einem Schlage in ein manieriertes Zopftum, aus welchem mich eine unsägliche frostige Nüchternheit und Schlaffheit anweht. Daher gedeiht diese Lehre am besten bei den entnervten und erschöpften Seelen; denn die Manieriertheit ist der Zeremonienmeister des Unvermögens auf jedem Gebiete, und sie ist es, welche die frischen Geister von jedem Gebiete wegscheucht, wo sie sich breit macht.

Nach der Lehre von der Sünde kam gleich die Lehre vom Glauben, als der Erlösung von jener, und auf sie ward eigentlich das Hauptgewicht des ganzen Unterrichtes gelegt; trotz aller Beifügungen, wie daß auch gute Werke vonnöten seien, blieb der Schlußgesang doch immer und allein: der Glaube macht selig! und dies uns einleuchtend zu machen als herangewachsenen jungen Leuten, wandte der geistliche Mann die möglichst annehmliche und vernünftig scheinende Beredsamkeit auf. Wenn ich auf den höchsten Berg laufe und den Himmel abzähle, Stern für Stern, als ob sie ein Wochenlohn wären und ich sie sämtlich in der Hosentasche hätte, so kann ich darunter kein Verdienst des Glaubens entdecken, und wenn ich mich auf den Kopf stelle und den Maiblümchen unter den Kelch hinaufgucke, so kann ich nichts Verdienstliches am Glauben ausfindig machen. Wer an eine Sache glaubt, kann ein guter Mann sein, wer nicht, ein ebenso guter. Wenn ich zweifle, ob zweimal zwei vier seien, so sind es darum nicht minder vier, und wenn ich glaube, daß zweimal zwei vier seien, so habe ich mir darauf gar nichts einzubilden und kein Mensch wird mich darum loben. Wenn Gott eine Welt geschaffen und mit denkenden Wesen bevölkert hätte, darauf sich in einen undurchdringlichen Schleier gehüllt, das geschaffene Geschlecht aber in Elend und Sünde verkommen lassen, hierauf einzelnen Menschen auf außerordentliche und wunderbare Weise sich offenbart, auch einen Erlöser gesendet unter Umständen, welche nachher mit dem Verstande nicht mehr begriffen werden konnten, von dem Glauben daran aber die Rettung und Glückseligkeit aller Kreatur abhängig gemacht hätte, alles dieses nur, um das Vergnügen zu genießen, daß an Ihn geglaubt würde, Er, der seiner doch ziemlich sicher sein dürfte: so würde diese ganze Prozedur eine gemachte Komödie sein, welche für mich dem Dasein Gottes, der Welt und meiner selbst alles Tröstliche und Erfreuliche benähme. Glaube! O wie unsäglich blöde klingt mich dies Wort an! Es ist die allerverzwickteste Erfindung, welche der Menschengeist machen konnte in einer zugespitzten Lammslaune! Wenn ich des Daseins Gottes und seiner Vorsehung bedürftig und gewiß bin, wie entfernt ist dies Gefühl von dem, was man Glauben nennt! Wie sicher weiß ich, daß die Vorsehung über mir geht gleich einem Stern am Himmel, der seinen Gang tut, ob ich nach ihm sehe oder nicht nach ihm sehe. Gott weiß, denn er ist allwissend, jeden Gedanken, der in meinem Inneren aufsteigt, er kennt den vorigen, aus welchem er hervorging, und sieht den folgenden, in welchen er übergeht; er hat allen meinen Gedanken ihre Bahn gegeben, die ebenso unausweichlich ist wie die Bahn der Sterne und der Weg des Blutes; ich kann also wohl sagen: ich will dies tun oder jenes lassen, ich will gut sein oder mich darüber hinwegsetzen, und ich kann durch Treue und Übung es vollführen; ich kann aber nie sagen; ich will glauben oder nicht glauben; ich will mich einer Wahrheit verschließen oder ich will mich ihr öffnen! Ich kann nicht einmal bitten um Glauben, weil, was ich nicht einsehe, mir niemals wünschbar sein kann, weil ein klares Unglück, das ich begreife, noch immer eine lebendige Luft zum Atmen für mich ist, während eine Seligkeit, die ich nicht begriffe, Stickluft für meine Seele wäre.

Dennoch liegt in dem Worte: der Glaube macht selig! etwas Tiefes und Wahres, insofern es das Gefühl unschuldiger und naiver Zufriedenheit bezeichnet, welches alle Menschen umfängt, wenn sie gern und leicht an das Gute, Schöne und Merkwürdige glauben, gegenüber denjenigen, welche aus Dunkel und Verbissenheit oder aus Selbstsucht alles in Frage stellen und bemäkeln, was ihnen als gut, schön oder merkwürdig erzählt wird. Wo das religiöse Glauben bei mangelnder Überlegungskraft seinen Grund in jener liebenswürdigen und gutmütigen Leichtgläubigkeit hat, da sagt man mit Recht, es mache selig, und denjenigen Unglauben, welcher aus der anderen Quelle herrührt, kann man billig unselig nennen. Allein mit der eigentlichen dogmatischen Lehre vom Glauben haben beide rein nichts zu tun; denn während es christlich Gläubige gibt, welche in allen anderen Dingen die unangenehmsten Bezweifler und Bemäkler sind, gibt es ebenso viele Ungläubige, sogar Atheisten, welche sonst an alles Hoffnungsvolle und Erfreuliche mit allbereiter Leichtigkeit glauben, und es ist ein beliebtes Argument der christlichen Polemiker, daß sie solchen höhnisch vorhalten, wie sie jeden auffallenden Quark als bare Münze annähmen und sich von Illusionen nährten, während sie nur das Große und Eine nicht glauben wollten. So haben wir das komische Schauspiel, wie Menschen sich der abstraktesten aller Ideologien hingeben, um nachher jeden, der an etwas erreichbar Gutes und Schönes glaubt, einen Ideologen zu nennen; sie bilden eine eigene wunderliche Bank der Spötter, vom Cäsar Napoleon bis herunter zum letzten Zappler und Stänker, der vor Hochmut und Unruhe nicht weiß, was er anfangen soll und, da es ihm an jedem Körnlein von Autorität und Witz mangelt, sich an die Rückwand des Glaubens lehnt, um was hinter sich zu haben, von wo aus er rumoren kann. Der Cäsar ehrt den Glauben als Tyrann und Aristokrat, der Zappler und Stänker schätzt ihn als geistiger Proletarier und Skandalmacher, beide aus Selbstsucht. Will man die Bedeutung des Glaubens kennen, so muß man nicht sowohl die orthodoxen Kirchenleute betrachten, bei denen der Institutionen wegen alles über einen Kamm geschoren ist und das Eigentümliche daher zurücktritt, als vielmehr die undisziplinierten Wildlinge des Glaubens, welche außerhalb der Kirchenmauern frei umherschwirren, sei es in entstehenden Sekten, sei es in einzelnen Personen. Hier treten die rechten Beweggründe und das Ursprüngliche in Schicksal und Charakter hervor und werfen Licht in das verwachsene und fest gewordene Gebilde der großen geschichtlichen Masse.

Es lebte in unserer Stadt ein Mann, welcher sich ein Vergnügen daraus machte, den Leuten, welche sich mit ihm abgaben, allerlei Erfindungen und Aufschneidereien vorzutragen, um sie nachher ihrer Leichtgläubigkeit wegen zu verhöhnen, indem er erklärte, die Geschichte sei gar nicht wahr. Jemand anders aber mochte erzählen was er wollte, so stellte der Mann es in Abrede und hatte eine ganz eigene tückische Manier, die Treuherzigkeit, mit welcher ihm etwas gesagt wurde, ins Lächerliche zu ziehen, auf die gleiche Weise, wie er die Treuherzigkeit derer, welche ihm glaubten, spöttisch zu machen wußte. Er aß keine Krume Brotes, die er sich nicht durch eine Lüge verschafft; denn er wäre lieber Hungers gestorben, eh als er in ein auf gradem Wege erworbenes Stück Brot gebissen hätte. Aß er aber sein Brot, so sagte er, es sei gut, wenn es schlecht war, und schlecht, wenn es gut war; hatte er Hunger, so benagte er es zimpferlich und warf die Brocken umher; hatte er keinen Hunger, so nahm er anderen den Bissen weg, den sie eben in den Mund stecken wollten, und fraß sich so voll, daß er krank wurde; alsdann behauptete er, sich sehr wohl zu befinden! Überhaupt ging sein ganzes Streben dahin, sich immer für etwas anderes zu geben als er war, was ihm ein fortgesetztes Studium verursachte, so daß er, der eigentlich nichts tat und nie etwas genützt hatte, doch zu jeder Minute in der kompliziertesten Tätigkeit begriffen war. Hierzu bedurfte er eines fortgesetzten Schleichens und Lauerns, teils um die günstigen Momente zu erhaschen, um seine Narrheiten vorzubringen, teils um andere auf schwachen Seiten zu ertappen, da eine Hauptleidenschaft von ihm darin bestand, die ganze Welt der Unwahrheit und Lüge zu überführen, und es war nichts Lustigeres zu sehen, als wenn er, soeben hinter einer Tür, wo er gelauert hatte, auf den Zehen hervorhüpfend, plötzlich strack und steif da stand, mit rollenden Augen um sich stierte und mit bombastischen Worten seine Gradheit, Ehrlichkeit und arglose Derbheit anrühmte. Da er bei alledem wohl fühlte, daß jedermann besser daran war als er, so erfüllte ein unnennbar neidisches Wesen seine Seele, welches ihn verzehrte wie ein glühendes Feuer und welches sich dadurch äußerte, daß sein drittes Wort immer das Wort »Neid« war. Er versicherte, sich in einer ewig glückseligen moralischen Überlegenheit zu befinden, und sah daher in jedem Blatte, das nicht nach seiner Weise säuselte, einen neidischen Widersacher, und die ganze Welt war nur ein vor Neid zitternder Wald für ihn. Widersprach ihm jemand, so schrieb er jeden Widerspruch dem Neide zu, schwieg man während seiner Vorträge, so ward er wütend und konnte kaum das Weggehen des Schweigenden abwarten, um denselben des Neides zu beschuldigen, so daß seine ganze Rede durch das unaufhörlich wiederkehrende Wort Neid recht eigentlich zum neidisch tönenden Gesange des Neides selbst wurde. So war er in allem der persönliche Feind der Wahrheit und atmete nur in Abwesenheit derselben, wie die Mäuse auf dem Tische tanzen, wenn die Katze nicht zu Hause ist, und die Wahrheit rächte sich auf die einfachste Weise an ihm. Sein Grundübel war, daß er schon im Mutterleibe hatte gescheiter sein wollen als seine Mutter, und infolgedessen konnte er nur leben, wenn er nichts zu glauben brauchte, was irgend ein Mensch sagte, alle Menschen aber glaubten, was er sagte. Nun konnte er sich freilich stellen, als ob dem so wäre, und er tat es auch, was schon eine energische Zusammenfassung der einzelnen Verlogenheiten und seine Hauptlüge war; allein der Beweis vom wahren Sachverhalte machte sich doch zu offenbar im Gelächter seiner Nebenmenschen. Daher fand er kurz und gut seinen besten Stützpunkt in derjenigen Lehre, welche den unbedingten Glauben zum Panier erhebt. Schon daß die allgemeine Richtung der Zeit sich vom Glauben abwandte und die Mehrzahl der denkenden Menschen, wenn sie sich auch nicht dagegen aussprachen, doch denselben gut sein ließen und in der Praxis nur auf das Begreifliche und Erkennbare bauten, war ihm Grund genug, sich dieser Richtung schnurstracks entgegenzustellen und dabei zu behaupten, der Hang und Drang der Zeit ginge unverkennbar auf den erneuten Glauben los; denn er konnte das Lügen nirgends lassen. Diejenigen, welche wirklich glaubten, waren ihm höchst langweilig und er bekümmerte sich nicht um sie, daher er auch nie in einer Kirche oder religiösen Gemeinschaft gesehen wurde. Dagegen hatte er es umso mehr mit denen zu tun, welche nicht glaubten. Nicht daß er sich um das Seelenheil derselben viel gekümmert hätte, obgleich er die Sache mit ängstlicher Hast verfolgte; seine Angst war die: Hatte er einmal gesagt, daß er glaube, so mußten für ihn alle, welche nicht glaubten, Esel sein, und wenn dies auf sein Wort hin nicht angenommen wurde, so glaubte er selbst als ein Esel dazustehen. Er hatte sich im Mutterleibe schon gesagt: Wenn du nun ans Licht kommst, so wird die Frage deiner Existenz die sein; Entweder bist du ein Esel, oder alle anderen sind Esel! Er verriet dies in schwachen Augenblicken des Streites, wenn er sich in eine Sackgasse verrannt, indem ihm alsdann das Wort entschlüpfte: Nun, da müßte ich also ein Esel sein, wenn ich so was glaubte, was nicht wahr wäre! und er bezeichnete damit, ohne es zu wollen, seinen Standpunkt und auch das Herz, welches er für seine Sache hatte. In der Tat könnte man den unseligen Streit die Eselfrage nennen, da gewiß von tausend Fanatikern, welche für ihre religiöse Meinung im Blute wateten, neunhundert neun und neunzig nur aus dem Grunde den Frieden verrieten und Scheiterhaufen anzündeten, weil ihnen aus dem Trotze der Verfolgten das Wort Esel entgegen zu tönen schien. Nichts haßte der Mann mehr als die gewissenhafte und redliche Forschung und die Entdeckung der Wissenschaft; wenn irgend ein Ergebnis derselben bekannt wurde, so zappelte er mit Händen und Füßen dagegen und suchte es lächerlich zu machen, und wenn es sich als richtig erwies und seine bedeutenden Folgen auf allen Gassen zu sehen und zu greifen waren, so tobte er erst recht und nannte es ins Angesicht eine Lüge. Das Einmaleins und eine chemische Schale waren ihm unerträglicher als dem Teufel Vaterunser und Weihkessel; aber auch die Natur rächte sich lächelnd an ihm. Denn während er die fünf Sinne nicht gelten ließ, war er stets bemüht, dieselben durch einige erfundene Sinne zu vermehren, durch deren possierliche Ausmalung er die christliche Wunderwelt erklären wollte. Wenn er hierdurch vielfach gegen den christlichen Geist verstieß und man ihm dies durch das neue Testament bewies, so sagte er, er pfeife auf das neue Testament, er habe seinen eigenen Kopf, im gleichen Augenblicke, wo er es das Buch des Lebens genannt hatte. Trotz alledem glaubte er aufrichtig, denn nach irgend einer Seite hin muß jeder Mensch sich ergeben, und er glaubte umso aufrichtiger, als einesteils der Gegenstand des Glaubens unerwiesen, unbegreiflich und überirdisch war, anderenteils ihn das innere Gefühl seines verunglückten Witzes sentimental und weinerlich machte.

Eines Tages ging er mit einer lustigen Gesellschaft über eine Felsenhöhe am Seeufer. Er war ursprünglich gut gewachsen, doch die andauernde Verdrehtheit seiner Seele hatte seinen Körper ganz windschief gemacht, daß er aussah wie ein verbogener Wetterhahn. Sein schöner Wuchs war aber ein Lieblingsthema seiner Rede und jeden Augenblick war er bereit, sich auszukleiden und ihn zu zeigen, während er an allen Sterblichen etwas auszusetzen hatte, ungefragt diesem einen Höcker andichtete, jenem krumme Beine. Als er nun etwas verstimmt vor den übrigen Gesellen herging, die ihn schon verschiedentlich aufgezogen hatten, rief plötzlich einer, welcher ihn zum ersten Mal genauer ins Auge faßte: Sie! Herr Ölfinger! Sie sind eigentlich verteufelt krumm! Erstaunt kehrte er sich um und sagte: Sie träumen wohl, oder soll das ein Witz sein? Der andere wandte sich aber zur Gesellschaft und forderte sie auf, ihn ebenfalls näher zu betrachten; man hieß ihn einige Schritte vorwärts gehen, er tat es, und jedermann bestätigte nun: Ja, er sei schief! Aufgebracht stellte er sich sogleich neben den Angreifer und wollte ihm beweisen, daß dieser selbst der Mißgewachsene sei. Der war aber schlank wie eine Tanne und die Gesellschaft fing an zu lachen. Sprachlos und hastig kleidete er sich aus und ging splitternackt vor den übrigen her; die rechte Schulter war vom unaufhörlichen spöttischen Achselzucken höher als die linke, die Ellbogen von seiner eitlen Gespreiztheit nach auswärts gedreht und die Hüften verschoben; dazu wurde er durch das Bestreben, grade zu scheinen, nur noch krummer; er machte in seiner Nacktheit die wunderlichsten Beine, als er so dahinschritt und sich dann und wann ängstlich umsah, ob ihm noch nicht Beifall und Achtung der Gesellschaft nachfolge. Als diese aber in ein maßloses Gelächter ausbrach, geriet er in großen Zorn und begann, um sich Achtung zu erzwingen, ungeheuerliche Sprünge und Kunststücke zu machen, um die Stärke seines Körpers zu zeigen. Das Gelächter wurde immer größer und die Lachenden mußten sich auf die Erde setzen. An jener Stelle war vor Zeiten ein Fichtenwald in den See gestürzt und wurde in der Tiefe durch die nachgerollten Felsblöcke festgehalten. Wie nun der nackt umher Tanzende sah, daß die lachenden Menschen sich bereits auf der Erde wälzten mit nassen Augen, sprang er plötzlich in einem Anfall von unsäglicher Wut und irgend etwas Wunderbares erzwingen wollend, mit einem mächtigen Satz über den Rand hinaus in den See, hoch hinunter, wo der versunkene Wald lag. Erst eine geraume Weile nachher, als die lachende Gesellschaft sich einigermaßen gesammelt hatte, bemerkten sie sein Verschwinden, suchten ihn überall, traten an den Rand des Abgrundes, aber niemand hat ihn wieder gesehen.

Dies krankhafte Beispiel von den wunderbaren Gängen, welche die Entstehung des »Glaubens« in den Menschen verfolgt, mag nun freilich sehr vereinzelt dastehen; doch wenn sie auch bei der Mehrzahl einen edleren Grund und Boden hat, so werden ihre Schneckenlinien doch nicht grad. Ich würde mich schämen, wenn ich jemals dahin kommen würde, jemanden seines Glaubens wegen zu verachten oder zu verhöhnen oder den Gegenstand desselben nicht zu ehren, wenn der Gläubige darin seinen Trost findet; aber die nackte und gewaltsame Forderung des Glaubens, sozusagen die Theorie des Glaubens selbst, ist eine so mißliche Sache für mich, daß ich, indem ich diese meine geheime Schreiberei übersehe, mein Herz durch die lange Kundgebung gegen den Glauben beinahe so staubig, trocken und unangenehm fühle, als wenn ich ein ehrbarer Theologe wäre und für den Glauben polemisiert hätte, und ich muß mich beeilen, aus diesem unerquicklichen Gebiete wieder zu den Gestalten des einfachen wirklichen Lebens zu gelangen.

Die dritte Hauptlehre, welche der Geistliche uns als christlich vortrug, handelte von der Liebe. Hierüber weiß ich nicht viel Worte zu machen; ich habe noch keine Liebe betätigen können und doch fühle ich, daß solche in mir ist, daß ich aber auf Befehl und theoretisch nicht lieben kann. Inwiefern durch die stete Wiederholung des Worts das Christentum einen gewissen Bestand wirklicher Liebe in die Welt gebracht habe, wage ich nicht zu beurteilen; doch dünkt es mich, es habe vor zweitausend Jahren auch Liebe gegeben und gebe auch jetzt noch, wo das Christentum nicht hingelangt ist, wenn man nur die verschiedenen Formen unterscheiden will, in welche das wahre Gefühl sich hüllt. Gewiß ist schon mancher einzelne Unglücksmensch und mancher arme rauhe Volksstamm durch das eindringlich und heiß ausgesprochene Wort Liebe aufgeweckt und einem helleren und schöneren Dasein gewonnen worden; wenn aber solche gewonnenen Völker, einmal dem Christentum einverleibt, endlich das ganze Bewußtsein und die Bildung der christlichen Welt, welche wir alle zusammen ausmachen, erreicht haben, dann wird jenes naive Morgengefühl der Liebe wieder untergehen in der allgemeinen Kälte der alten Christenwelt und nur da bestehen,. wo es ursprünglich in den Menschen wurzelte, also zuletzt überall auferstehen. Schon die unmittelbare Rücksicht auf den lieben Gott ist mir hinderlich und unbequem, wenn sich die natürliche Liebe in mir geltend machen will. Da einmal bei unseren Handlungen das Denken an Gott und das Verdienst in den Augen Gottes so fest in die Menschenwelt gewebt ist, so kann man oft trotz aller Unbefangenheit nicht verhindern, daß bei guten oder vielmehr pflichtmäßigen Handlungen nicht im tiefsten Innern der Hinblick auf Gott auftaucht mit der eigennützigen Hoffnung, daß Er uns die Tat wohlgefällig gut schreiben werde. Schon oft ist es mir begegnet, daß ich einen armen Mann auf der Straße abwies, weil ich, während ich ihm eben das wenige geben wollte, das ich hatte, zugleich an das Wohlgefallen Gottes dachte und nicht aus Eigennutz handeln wollte. Dann dauerte mich aber der Arme, ich lief zurück; allein während des Zurücklaufens dünkte meiner Selbstsucht gerade dieses Bedauern wieder artig und verdienstlich, ich kehrte nochmals um, bis ich endlich auf den vernünftigen Gedanken kam: Möge dem sein, wie ihm wolle, der arme Teufel müsse jedenfalls zu seiner Sache kommen, das sei die erste Frage! Manchmal kommt dieser Gedanke aber zu spät, und die Gabe bleibt in meiner Tasche, wo sie mir alsdann unerträglich ist. Daher freue ich mich immer wie ein Kind, wenn es mir passiert, daß ich unbedacht meine Pflicht erfüllt habe und es mir erst nachträglich einfällt, daß das etwas Verdienstliches sein dürfte; ich pflege dann höchst vergnügt ein Schnippchen gegen den Himmel zu schlagen und zu rufen: Siehst du, alter Papa! nun bin ich dir doch durchgewischt! Das höchste Vergnügen erreiche ich aber wenn ich mir in solchen Augenblicken denke, wie ich Ihm nun sehr komisch vorkommen müsse; denn da der liebe Gott alles versteht, so muß er auch Spaß verstehen, obgleich man auch wieder mit Recht sagen kann, der liebe Gott verstehe keinen Spaß!

Das Heiterste und Schönste war mir die Lehre vom Geiste, als welcher ewig ist und alles durchdringt. Er war mächtig im Christentume, dessen Beweglichkeit und Feinheit die Welt fortbaute, solange es geistig war; als es aber geistlich wurde, war diese Geistlichkeit die Schlangenhaut, welche der alte Geist abwarf. Denn Gott ist nicht geistlich, sondern ein weltlicher Geist, weil er die Welt ist und die Welt in ihm; Gott strahlt von Weltlichkeit.

Alles in allem genommen, glaube ich doch, daß ich unter Menschen, welche rein in dem ursprünglichen geistigen Christentum lebten, glücklich sein und auch nicht ganz ohne deren Achtung leben würde, und wenn ich dies Annas Vater, dem Schulmeister, eingestehen mußte, forderte er, das Wunderbare und die Glaubensfragen einstweilen freisinnig bei Seite setzend, mich auf, das Christentum wenigstens dieser geistigen Bedeutung nach anzuerkennen und darauf zu hoffen, daß es in seiner wahren Reinheit erst noch erscheinen und seinen Namen behaupten werde; etwas Besseres sei einmal nicht da noch abzusehen. Hierauf erwiderte ich aber: der Geist könne wohl durch einen Menschen leidlich schön ausgesprochen, niemals aber erfunden werden, da er von jeher und unendlich sei; daher die Bezeichnung der Wahrheit mit einem Menschennamen ein Raub am unendlichen Gemeingute sei, aus welchem der fortgesetzte Raub des Autoritäts- und Pfaffenwesens aller Art entspringe. In einer Republik, sagte ich, fordere man das Größte und Beste von jedem Bürger, ohne ihm durch den Untergang der Republik zu vergelten, indem man seinen Namen an die Spitze pflanze und ihn zum Fürsten erhebe; ebenso betrachte ich die Welt der Geister als eine Republik, die nur Gott als Protektor über sich habe, dessen Majestät in vollkommener Freiheit das Gesetz heilig hielte, das er gegeben, und diese Freiheit sei auch unsere Freiheit und unsere die seinige! Und wenn mir jede Abendwolke eine Fahne der Unsterblichkeit, so sei mir auch jede Morgenwolke die goldene Fahne der Weltrepublik! »In welcher jeder Fähndrich werden kann!« sagte freundlich lachend der Schulmeister; ich aber behauptete: die moralische Wichtigkeit dieses Unabhängigkeitssinnes scheine mir sehr groß und größer zu sein, als wir es uns vielleicht denken könnten.

Der geistliche Unterricht ging nun zu Ende; wir mußten auf unsere Ausstattung denken, um würdig bei der Festlichkeit zu erscheinen. Es war unabänderliche Sitte, daß die jungen Leute auf diese Tage den ersten Frack machen ließen, den Hemdekragen in die Höhe richteten und eine steife Halsbinde darum banden, auch die erste Hutröhre auf den Kopf setzten; zudem schnitt jeder, wer jugendlich lange Haare getragen, dieselben nun kurz und klein, gleich den englischen Rundköpfen. Dies waren mir alles unsägliche Greuel und ich schwur, dieselben nun und nimmermehr nachzumachen. Die grünen Kleider meines Vaters waren endlich zu Ende und zum ersten Male mußte neues Tuch gekauft werden. Die grüne Farbe war mir einmal eigen geworden und ich wünschte nicht einmal meinen Übernamen abzuschaffen, der mir noch immer gegeben wurde, wenn man von mir sprach. Leicht wußte ich meine Mutter zu überreden, grünes Tuch zu wählen und statt eines Frackes einen hübschen kurzen Rock mit einigen Schnüren machen zu lassen, dazu statt des gefürchteten Hutes ein schwarzes Sammetbarett, da Hut und Frack doch selten getragen und wegen meines Wachstums sowie wegen der Mode also eine unnütze Ausgabe sein würden. Es leuchtete ihr klar ein, umso mehr da die armen Lehrlinge und Tagelöhnersöhne auch keinen schwarzen Habit zu tragen pflegten, sondern in ihren gewöhnlichen Sonntagskleidern erschienen, und ich erklärte, es sei mir vollkommen gleichgültig, ob man mich zu den ehrbaren Bürgerssöhnen zähle oder nicht. So breit ich konnte, schlug ich den Hemdekragen zurück, strich mein langes Haar kühn hinter die Ohren und erschien so, das Barett in der Hand, am heiligen Abend in der Stube des Geistlichen, wo noch eine herzliche und vertrauliche Vorbereitung stattfinden sollte. Als ich mich unter die feierlich steif geputzte Jugend stellte, wurde ich mit einiger Verwunderung betrachtet, denn ich stand allerdings in meinem Anzuge als ein vollendeter Protestant da; weil ich aber ohne Trotz und Unbescheidenheit mich eher zu verbergen suchte, so verlor ich mich wieder und wurde nicht weiter beachtet. Die Ansprache des Geistlichen gefiel mir sehr wohl; ihr Hauptinhalt war, daß von nun an ein neues Leben für uns beginne, daß alle bisherigen Vergehungen vergeben und vergessen sein sollten, hingegen die künftigen mit einem strengeren Maße gemessen würden. Ich fühlte wohl, daß ein solcher Übergang notwendig und die Zeit dazu gekommen sei; darum schloß ich mich mit meinen ernsten Vorsätzen, welche ich insbesondere faßte, gern und aufrichtig diesem öffentlichen Vorgange an und war auch dem Mann gut, als er angelegentlich uns ermahnte, nie das Vertrauen zum Besseren in uns selbst zu verlieren. Aus seiner Behausung zogen wir in die Kirche vor die ganze Gemeinde, wo die eigentliche Feier vor sich ging. Dort war der Geistliche plötzlich ein ganz anderer; er trat gewaltig und hoch auf, holte seine Beredsamkeit aus der Rüstkammer der bestehenden Kirche und führte in tönenden Worten Himmel und Hölle an uns vorüber. Seine Rede war kunstvoll gebaut und mit steigender Spannung auf einen Moment hingerichtet, welcher die ganze Gemeinde erschüttern sollte, als wir, die in einem weiten Kreise um ihn herumstanden, ein lautes und feierliches Ja aussprechen mußten. Ich hörte nicht auf den Sinn seiner Worte und flüsterte ein Ja mit, ohne die Frage deutlich verstanden zu haben; jedoch durchfuhr mich ein Schauer und ich zitterte einen Augenblick lang, ohne daß ich dieser Bewegung Herr werden konnte. Sie war eine dunkle Mischung von unwillkürlicher Hingabe an die allgemeine Rührung und von einem tiefen Schrecken, welcher mich über dem Gedanken ergriff, daß ich, so jung noch und unerfahren, doch einer so uralten Meinung und einer gewaltigen Gemeinschaft, von der ich ein unbedeutendes Teilchen war, abgefallen gegenüberstand.

Am Weihnachtsmorgen mußten wir wieder im vereinten Zuge zur Kirche gehen, um nun das Nachtmahl zu nehmen. Ich war schon in der Frühe guter Laune, noch ein paar Stunden und ich sollte frei sein von allem geistigen Zwange, frei wie der Vogel in der Luft! Ich fühlte mich daher mild und versöhnlich gesinnt und ging zur Kirche, wie man zum letzten Mal in eine Gesellschaft geht, mit welcher man nichts gemein hat, daher der Abschied aufgeweckt und höflich ist. In der Kirche angekommen, durften wir uns unter die älteren Leute mischen und jeder seinen Platz nehmen, wo ihm beliebte. Ich nahm zum ersten und letzten Male in dem Männerstuhle Platz, welcher zu unserem Hause gehörte und dessen Nummer mir die Mutter in ihrem häuslichen Sinne sorglich eingeprägt hatte. Er war seit dem Tode des Vaters, also viele Jahre, leer geblieben oder vielmehr hatte sich ein armes Männchen, das sich keines Grundbesitzes erfreute, darin angesiedelt. Als er herankam und mich an dem Orte vorfand, ersuchte er mich mit kirchlicher Freundlichkeit, »seinen Ort« räumen zu wollen, und fügte belehrend hinzu, in diesem Reviere seien alles eigentümliche Orte. Ich hätte als ein grüner Junge füglich dem bejahrten Männchen Platz machen und mir eine andere Stelle suchen können; allein dieser Geist des Eigentums und des Wegdrängens mitten im Herzen christlicher Kirche reizte meine kritische Laune; zweitens wollte ich den frommen Kirchgänger für seine gemütliche Anmaßung bestrafen, und drittens tat ich dieses nur in dem Bewußtsein, daß der Abgewiesene alsobald wieder und für immer seinen gewohnten Platz einnehmen könne, und dieser Gedanke machte mir das größte Vergnügen. Als ich ihn meinerseits auch belehrt und ihn ganz verblüfft und traurig eine entfernte Stelle unter den unstet herumwandernden Besitzlosen aufsuchen sah, nahm ich mir vor, ihm am anderen Tage anzudeuten, daß er sich immerhin meines Stuhles bedienen solle, indem ich denselben nicht brauche. Einmal aber wollte ich darin sitzen und stehen, wie es mein Vater getan. Derselbe besuchte an allen Festtagen die Kirche, denn alle hohen Feste erfüllten ihn mit heiterer Freude und tapferem Mute, indem er den großen und guten Geist, welchen er in aller Welt und Natur sich erfüllen sah, alsdann besonders fühlte und verehrte. Weihnachten, Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten waren ihm die herrlichsten Freudentage, an welchen es mit edlen Betrachtungen, Kirchenbesuch, duftendem Mittagsmahl und frohen Spaziergängen auf grüne Berge hoch herging. Diese Art hat sich auf mich vererbt, nämlich das frohe Genießen der Festtage, und wenn ich an einem Pfingstmorgen auf einem duftigen Berge stehe in der kristallklaren Luft, so ist mir das Glockengeläute in der fernen Tiefe die allerschönste Musik, und ich habe schon oft darüber spintisiert, durch welchen Gebrauch bei einer allfälligen Abschaffung des Kirchentumes das schöne Geläute wohl erhalten werden dürfte. Es wollte mir jedoch nichts einfallen, was nicht töricht und gemacht ausgesehen hätte, und ich fand zuletzt immer, daß der sehnsüchtige Reiz der Glockentöne gerade in dem jetzigen Zustande bestehe, wo sie fern aus der blauen Tiefe herüberklangen und mir sagten, daß dort das Volk in alten gläubigen Erinnerungen versammelt war. In meiner Freiheit ehrte ich dann diese Erinnerungen wie diejenigen der Kindheit, und eben dadurch, daß ich von ihnen geschieden war, wurden mir die Glocken, die so viele Jahrhunderte in dem alten schönen Lande klangen, wehmütig ergreifend. Ich empfand, daß man nichts »machen« kann und daß die Vergänglichkeit, der ewige Wandel alles Irdischen schon genugsam für poetisch sehnsüchtigen Reiz sorgen.

Der Freiheitssinn meines Vaters in religiöser Hinsicht war vorzüglich gegen die Übergriffe des Ultramontanismus und gegen die Unduldsamkeit und Verknöcherung reformierter Orthodoxen gerichtet, gegen absichtliche Verdummung und Heuchelei jeder Art, und das Wort Pfaff war bei ihm daher öfter zu hören. Würdige Geistliche ehrte er aber und freute sich, ihnen, Ergebenheit zu zeigen, und wenn es wo möglich ein erzkatholischer, aber ehrenwerter Priester war, welchem er Ehrerbietung beweisen konnte, so machte ihm dies umso größeres Vergnügen, gerade weil er sich im Schoße der Zwinglischen Kirche sehr geborgen fühlte. Zwinglis Erscheinung ist reiner und milder als diejenige Luthers. Er hatte einen freieren Geist und einen weiteren Blick, war viel weniger ein Pfaff als ein humaner Staatsmann und besiegelte sein Wirken mit einem schönen Tode auf dem Schlachtfeld, das Schwert in der Hand. Daher war sein Bild meinem Vater ein geliebter sichrer Führer und Bürge. Ich aber stand nun auf einem anderen Boden und fühlte wohl, daß ich bei aller Ehrerbietung für den Reformator und Helden doch nicht eines Glaubens mit meinem Vater sein würde, während ich seiner vollkommenen Duldsamkeit und Achtung für die Unabhängigkeit meiner Überzeugung gewiß war. Dieses friedliche und achtungsvolle Ausscheiden in Glaubenssachen zwischen Vater und Sohn feierte ich nun in dem Kirchenstuhle, indem ich mir den Vater noch lebend vorstellte und ein geistiges Gespräch mit ihm führte, und als die Gemeinde sein ehemaliges Lieblings- und Weihnachtslied: »Dies ist der Tag, den Gott gemacht!« anstimmte, sang ich es für meinen Vater laut und froh mit, obgleich ich Mühe hatte, den richtigen Ton zu halten; denn rechts stand ein alter Kupferschmied, links ein gebrechlicher Chorherr, welche mich mit den wunderbarsten Variationen von der rechten Bahn zu locken suchten und dies umso lauter und kühner, je standhafter ich blieb. Dann hörte ich aufmerksam auf die Predigt, kritisierte sie und fand sie gar nicht übel; je näher das Ende rückte und mir die Freiheit winkte, desto trefflicher fand ich die Predigt, und ich nannte in meinem Herzen den Pfarrer einen wackeren Mann. Meine Stimmung ward immer heiterer, endlich wurde das Nachtmahl genommen; aufmerksam verfolgte ich die Zurüstungen und beobachtete alles sehr genau, um es nicht zu vergessen; denn ich gedachte nicht mehr dabei zu erscheinen. Das Brot besteht aus weißen Blättern von der Größe und Dicke einer Karte und sieht feinem glänzendem Papiere ähnlich. Der Küster backt es und die Kinder kaufen sich bei ihm die Abfälle als einen unschuldigen Leckerbissen, und ich selbst hatte mir manchmal eine Mütze voll erworben und mich gewundert, daß man eigentlich doch nichts daran äße. Zahlreiche Kirchendiener bieten es aus, den Reihen entlang, worauf die Andächtigen eine Ecke davon brechen und die Blätter weitergeben, während andere Beamtete den Wein in hölzernen Bechern nachfolgen lassen. Manche Leute, besonders die Frauen und Mädchen, behalten gern ein Blättchen zurück, um es andächtig in ihr Gesangbuch zu legen. Auf ein solches, das ich im Buche einer meiner Basen gefunden, hatte ich einst ein Osterlämmchen gemalt mit einem Amor, der darauf reitet, und bei der Entdeckung ein strenges Verhör nebst Verweis zu bestehen gehabt; als ich jetzt mehrere solcher Blätter in der Hand hielt, erinnerte ich mich daran und mußte lächeln; auch gelüstete es mich einen Augenblick lang, eins zurückzubehalten, um irgend ein lustiges Erinnerungszeichen an meinen Abschied von der Kirche darauf zu malen. Aber ich besann mich, daß ich in dem väterlichen Stuhle stand, und gab das Brot weiter, nachdem ich eine Ecke davon in den Mund gesteckt zum andächtigen, aber allerletzten Abschiede von der Kinderzeit und der Kinderspeise, die ich beim Küster gekauft hatte. Als ich den Becher in der Hand hielt, blickte ich fest in den Wein, ehe ich trank; aber es rührte mich nicht, ich nahm einen Schluck, gab die Schale weiter und indem ich, mit den Gedanken schon weit auf dem Wege nach Hause, den Wein hinabschluckte, drehte ich ungeduldig mein Sammetbarett in der Hand und mochte kaum das Ende des Gottesdienstes abwarten, da es mich anfing, gewaltig an den Füßen zu frieren, und das Stillstehen sehr schwierig wurde.

Als die Kirchentüren geöffnet wurden, drängte ich mich geschmeidig durch die vielen Leute, ohne die Freude meiner Freiheit sichtbar werden zu lassen und ohne jemanden anzustoßen, und war bei aller Gelassenheit doch der erste, der sich in einiger Entfernung von der Kirche befand. Dort erwartete ich meine Mutter, welche sich endlich in ihrem schwarzen Gewande demütig aus der Menge hervorspann, und ging mit ihr nach Hause, gänzlich unbekümmert um meine Genossenschaft des geistlichen Unterrichts. Es war kein einziger darunter, mit welchem ich in näherer Berührung stand, und viele derselben sind mir bis jetzt noch gar nicht wieder begegnet. In unserer warmen Stube angekommen, warf ich vergnügt mein Gesangbuch hin, indessen die Mutter nach dem Essen sah, welches sie am Morgen in den Ofen gesetzt hatte. Es sollte heute so reichlich und festlich sein, wie unser Tisch seit den Tagen des Vaters nie mehr gesehen hatte, und eine arme Witwe war dazu eingeladen, welche der Mutter manche kleine Dienste leistete und sich jetzt pünktlich einfand. Am Weihnachtstage wird immer das erste Sauerkraut genossen, und so wurde es auch hier aufgestellt mit schmackhaften Schweinsrippchen. Die Beurteilung desselben gab den Frauen einen guten Anfang zum Gespräche. Die Witwe war von ebenso gutmütiger als polternder Gemütsart; als hierauf eine Pastete kam, schlug sie die Hände über dem Kopfe zusammen und versicherte, sie esse gewiß nichts davon, es wäre schade dafür. Den Schluß machte ein gebratener Hase, den der Oheim gesendet hatte. Diesen, ermahnte die Frau, sollten wir unangetastet lassen und auf den zweiten Feiertag versparen, es sei nun schon mehr als genug; trotzdem aßen wir alle mit trefflichem Appetit und saßen lange bei Tisch, aufs beste unterhalten von der armen Frau, welche die Tischreden mit der Erzählung ihres Schicksales durchflocht und die Schleusen ihres Herzens weit öffnete. Sie hatte vor langer Zeit einmal ein Jahr lang einen nichtsnutzigen Mann gehabt, der in alle Welt gegangen mit Hinterlassung eines Sohnes, welchen sie mit großer Not so weit gebracht, daß er als Geselle bei Dorfschneidern sich kümmerlich umhertreiben konnte, während sie in der Stadt ihr Brot mit Wassertragen, Waschen und solchen Dingen verdienen mußte. Schon die Beschreibung ihres Mannes, des Lumpenhundes, wie sie ihn nannte, machte uns höchlich lachen, doch noch mehr das Verhältnis, in welchem sie zu ihrem Sohne stand. Während sie ihn als eine Frucht des Lumpenhundes mit der größten Verachtung bezeichnete, war derselbe doch der einzige Gegenstand ihrer Liebe und ihrer Sorge, so daß sie fortwährend von ihm sprach. Sie gab ihm alles, was sie irgend konnte, und gerade die Kleinheit dieser Gaben, die für sie so viel waren, mußte uns rühren und zugleich zum Lachen reizen, wenn sie die »Opfer«, welche sie fortwährend bringe, mit gutmütiger Prahlerei aufzählte. Letzte Ostern, erzählte sie, habe er ein rot und gelbes Kattunfoulard von ihr erhalten, auf Pfingsten ein Paar Schuh, und zu Neujahr hätte sie ihm ein Paar wollene Strümpfe und eine Pelzkappe bereit, dem miserablen Kerl, dem Knirps, dem Milchsuppengesicht! Seit drei Jahren hätte er an zwei Louisd'or nach und nach von ihr empfangen, der Seuberling, die elende Krautstorze. Aber für alles müsse er ihr eine Bescheinigung zustellen, denn so wahr sie lebe, müsse ihr Mann, der Landstreicher, ihr jeden Liard ersetzen, wenn er sich nur einmal sehen ließe. Die Bescheinigungen ihres Sohnes, des Stuhlbeines, seien sehr schön, denn derselbe könne besser schreiben als der eidgenössische Staatskanzler, auch blase er die Klarinette gleich einer Nachtigall, daß man weinen müsse, wenn man ihm zuhöre. Allein er sei ein ganz miserabler Bursche, denn nichts gedeihe bei ihm, und so viel Speck und Kartoffeln er auch verschlinge, wenn er mit seinem Meister bei den Bauern auf Kundschaft gehe, nichts helfe es und er bleibe mager, grün und bleich, wie eine Rübe. Einmal habe er die Idee gehabt zu heiraten, da er nun doch dreißig Jahr alt sei. Da sie aber nun gerade ein Paar Strümpfe für ihn fertig gehabt, habe sie selbige unter den Arm genommen, auch eine Wurst gekauft und sei auf das Dorf hinaus gerannt, um ihm die saubere Idee auszutreiben. Bis er die Wurst fertig gegessen, habe er sich auch endlich in sein Schicksal ergeben, und nachher habe er noch auf das schönste die Klarinette geblasen. Er könne nähen wie der Teufel, sowie auch sein Vater nicht auf den Kopf gefallen sei und die besten Garnhaspel zu machen verstehe weit und breit; allein es wäre einmal ein böses Blut in diesen verteufelten Burschen und daher müsse der junge Seuberling im Zaume gehalten und mit dem Heiraten vorsichtig verfahren werden. Sie lobte das Essen unaufhörlich und pries jeden Bissen mit den überschwenglichsten Worten, nur bedauernd, daß sie ihrem Galgenstrick nichts davon geben könne, obschon er es nicht verdiene. Dazwischen brachte sie die Geschichte von drei oder vier Meisterfamilien an, bei denen ihr Söhnchen gearbeitet, die unschuldigen Zerwürfnisse mit denselben und lustige Vorfälle, welche sich in den Dörfern ereignet, wo Meister und Geselle geschneidert hatten, so daß die Schicksale einer großen Menge unser Mahl würzten, ohne daß diese etwas davon ahnte. Nach dem Essen nahm die Frau, durch ein paar Gläser Wein lustig geworden, meine Flöte und suchte darauf zu blasen, gab sie dann mir und bat mich, einen Tanz aufzuspielen. Als ich dies tat, faßte sie ihre Sonntagsschürze und tanzte einmal zierlich durch die Stube herum, wir kamen aus dem Lachen nicht heraus und waren alle höchst zufrieden. Sie sagte, seit ihrer Hochzeit habe sie nicht mehr getanzt, es sei doch der schönste Tag ihres Lebens, wenn schon der Hochzeiter ein Lumpenhund gewesen; und am Ende müsse sie dankbar bekennen, daß der liebe Gott es immer gut mit ihr gemeint und für ihr Brot gesorgt, auch ihr noch jederzeit eine fröhliche Stunde gegönnt habe; so hätte sie noch gestern nicht gedacht, daß sie einen so vergnügten Weihnachtstag erleben würde. Dadurch wurden die beiden Frauen veranlaßt, ernsthaftere und zufriedene Betrachtungen anzustellen, indessen ich Gelegenheit hatte, einen Blick in das Leben einer Witwe zu werfen, welche aus ihrem Sohne einen Mann machen möchte und hierzu nichts tun kann als demselben Strümpfe stricken. Auch mußte ich gestehen, daß meine Lebensverhältnisse, welche mir oft arm und verlassen schienen, wahrhaftes Gold waren im Vergleich zu der dürftigen Verlassenheit und Getrenntheit, in welcher die Witwe und ihr armer magerer Sohn lebten und die mir wie schlechtes Blei vorkamen.

*


 << zurück weiter >>