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Im Kampf mit dem Verbrechen.

1. Bericht des Detektivs Langholm.

»Hilfe!« Aufhorchend blieb ich stehen, um die Richtung beurteilen zu können, aus welcher dieser Schrei zu mir herdrang. In unmittelbarer Nähe mußte es sein. Es war schon zwölf Uhr vorüber, und die Hälfte der elektrischen Bogenlampen war bereits erloschen. Die Straßen waren in das Dunkel der Nacht gehüllt, in diesen treuesten Bundesgenossen aller Verbrecher. Mit verhaltenem Atem lauschte ich. »Hilfe! Hilfe!«

Das kam aus der Mariahilfergasse, die zu denen gehörte, die man unter Tags nur ungern betrat, bei Nacht aber so viel als möglich mied.

Ich durfte mich nicht lange besinnen, da es meine Pflicht war, sofort einzuschreiten; auf meine Sicherheit konnte ich keine Rücksicht nehmen; denn es galt hier vielleicht einen Mitmenschen vor dem Schlimmsten zu retten. Ich eilte nach der Mariahilfergasse, die ich erreichte, wenn ich nur in die nächste Straßenkreuzung einbog. Da lag sie vor mir; dunkel und undurchdringlich. Die alten Häuser und Baracken ragten gleich finsteren Schatten in den Nachthimmel empor, und mußte ich erst mein Auge an diese Finsternis gewöhnen.

Dann sah ich dunkle Schatten. Das mußte es sein! Ein dunkler Schatten lag am Boden hingestreckt, über welchem eine Gestalt kniete. Das Klappern meiner eilenden Schritte widerhallte in der engen, nächtlich einsamen Gasse. Da sprang die zweite Gestalt vom Boden auf und schien mein Näherkommen zu bemerken; sofort eilte sie dann in entgegengesetzter Richtung davon.

Jetzt stand ich bei der auf der Straße zusammengebrochenen Gestalt; ein einziger Blick verriet mir, daß ich hier nichts mehr retten konnte. Ein Blutstrom quoll aus der Wunde, die an der Brust zu sehen war und die Lunge selbst getroffen haben mußte. Mit dem Schmutz des Bodens vermengte sich das warme Blut, während die starren Hände sich am Boden festzukrallen schienen, als wollten sie das Leben halten, daß es nicht entfliehen könne. Die stieren Augen blickten mich an. Da war nichts mehr zu retten!

Und vorne rannte die Gestalt, die über dem Toten gekniet hatte; war das Leben des Unglücklichen nicht mehr zu retten, so galt es doch, seinen Tod zu sühnen.

Der Mörder! Dieser bog nach der Michelsgasse ein. Da war ich schon auf seiner Fährte und rannte hinter ihm her; ich zog die Signalpfeife heraus und während des Laufens blies ich das Signal, das alle Schutzleute in der Umgebung zusammenrufen mußte.

Die schrillen Pfeifentöne gellten durch die stille Nacht. Und weiter ging die Jagd hinter dem Verbrecher. Aus einer Seitenstraße kam ein Schutzmann gelaufen; während er an meiner Seite dahineilte, verständigte ich ihn von dem Vorgefallenen und forderte ihn auf, zu dem Ermordeten zurückzukehren, was er denn auch tat. Ich allein verfolgte den Täter; denn es konnte ja nur der Mörder sein. Durch Gäßchen und Winkelchen ging die Jagd in atemloser Hast, immer weiter hinein in die Stadtteile, in denen das Verbrechen heimisch ist. Ich mußte das schon fühlen. Manche dunklen, unheimlichen Gestalten hatte der Lärm herbeigelockt, und alle ließen den Mörder ungehindert laufen, während ich erkennen mußte, wie mißtrauische Reden auf mich fielen.

Aber es war mein Signal nicht ohne Erfolg. Zwei weitere Schutzleute kamen zu meiner Unterstützung, und so wagten es die Burschen des Annenviertels nicht mehr, mich tätlich anzugreifen und dadurch die Flucht des Verfolgten zu ermöglichen. Am Zeughauseck taumelte der Verfolgte, er war über einen Stein gefallen; dies aber brachte uns schon wieder bedeutend näher. Zehn Schritte trennten mich noch von ihm. Ich konnte das keuchende Atmen seiner Brust hören.

Bald mußte das Ende kommen! Lange hielt es der Verfolgte nicht mehr aus; seine Lunge war schwach, was mir das pfeifende Keuchen verriet. Seine Hände hielt er gegen die Brust. Ein Sprung noch, und ich stieß nach ihm, so daß er zu Boden stürzte. Ehe er sich noch aufrichten konnte, war er schon festgehalten und seine Hände lagen in den Eisen der Schließkette, die ihm einer der Schutzleute sofort angelegt hatte.

Jetzt erst sah ich in sein Gesicht; ein Bursche war es, von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, von blassem Gesicht mit dichten Bartstoppeln, mit schwarzen, leuchtenden Augen; die Wangen waren eingefallen, und die Backenknochen standen weit hervor. Sein ganzer Körper zitterte, und er konnte sich nur mühsam aufrecht erhalten.

Das fahle Licht einer Gaslaterne beleuchtete sein Gesicht. Da rief einer der Schutzleute: »Das ist ja Blechkopf, den wir schon lange suchen.«

»Blechkopf« war der Name eines vielgefürchteten Einbrechers, der auch mir bekannt war. Aber er konnte noch immer nicht antworten, er keuchte und rang nach Atem.

»Wir müssen zurück nach der Leiche,« ordnete ich nun an, um dort einen ausführlichen Tatbestand aufzunehmen. Der Gefangene wurde mitgeschleppt; anfangs wollte er sich dagegen zur Wehr setzen; als er dann aber ohne Rücksicht fortgestoßen wurde, bequemte er sich zu freiwilligem Mitlaufen.

In der Mariahilferstraße standen dicht gedrängt eine Menge Leute, größtenteils halbwüchsige Burschen, herumziehende Frauenzimmer, eben das Gesindel des Annenviertels; ich sah darunter Gestalten, die man sofort hätte festnehmen können, ohne Gefahr zu laufen, einen Unschuldigen verhaftet zu haben.

Da ließ auch der Gefangene zum ersten Male sich hören: »Den dort vorne habe ich nicht ermordet!«

»Das wird sich schon finden! Jetzt heißt es vorerst mit uns gehen.«

»Ich mag wohl ein Einbrecher sein, aber ich habe den dort nicht erstochen.«

Ich achtete nicht weiter auf seine Reden, sondern bahnte mir einen Weg durch die umstehende Menge, die nur unter Murren zurückwich und eine Bahn frei ließ. Bei dem Toten waren zwei Schutzleute und Kommissär Aurnhammer, der mir natürlich bekannt war. Bei diesem meldete ich mich und erklärte, der vermutliche Mörder sei von mir bereits festgenommen.

»Wer ist es denn?« fragte der Kommissär.

»Der Blechkopf.«

»Herr Kommissär!« unterbrach der Verhaftete. »Ich bin es nicht gewesen. Ich will keine Ausrede machen, aber ich war es nicht.«

Der Kommissär lachte darauf höhnisch: »Natürlich der Blechkopf! Wissen Sie auch, Herr Kollege,« wandte er sich an mich, »wer hier ermordet worden ist?«

»Nein!«

»Wie haben Sie den Blechkopf angetroffen?«

Ich berichtete nun, wie ich durch Hilferufe aufmerksam geworden und herbeigeeilt war, wobei ich den nun Festgenommenen über dem am Boden Liegenden knien sah.

»Demnach gäbe es keine andere Möglichkeit, als dieser sei der Mörder,« erklärte darauf der Kommissär.

Ich konnte dieser Auffassung nur zustimmen; denn nach dem von mir beobachteten Tatbestand war eine andere Möglichkeit ausgeschlossen. Der Blechkopf schwieg.

»Wenn ich Ihnen jetzt noch sage, der Eicher ist es, der Wirt von der Schildkröte, der hier ermordet wurde.«

»Dann, dann muß es wohl nur der Blechkopf gewesen sein.«

»Natürlich,« rief dieser. »Das habe ich mir auch gedacht und habe mich deshalb aus dem Staube machen wollen.«

Die Schildkröte war eine Verbrecherkneipe, die aber nur ungern aufgesucht wurde, denn der Wirt stand im Verdacht, ein Vigilant (Aufpasser der Polizei) zu sein. So war es bekannt, daß es Eicher Fritz, der Schildkrötenwirt, war, der den bekannten Blechkopf nach seinem Einbruch in der Kreuzstraße der Polizei angegeben hatte, wegen welcher Tat Blechkopf zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Dabei hatte Blechkopf wiederholt geäußert, der Eicher werde noch an ihn denken. Seit zwei Monaten war der Blechkopf wieder in Freiheit, und nun hatte sich dieser Mord ereignet und ich selbst hatte den Blechkopf über den Toten gebückt gesehen.

Da war es selbstverständlich, daß niemand, trotz der Beteuerungen des Festgenommenen, an dessen Schuld zweifelte. Da der Kommissär mir den Fall zur weiteren Behandlung übergab, so ordnete ich vorerst an, es solle der Verhaftete unter sicherem Gewahrsam nach der Polizeihaft gebracht werden. Ich selbst blieb am Orte der Tat, um hier das Notwendigste zu veranlassen.

Zunächst wurde mir gemeldet, es sei bei dem Toten auch die Waffe gefunden worden, die der Täter benützt hatte, und die an mich abgegeben wurde. Es war dies ein im Griff stehendes Messer mit scharfer Klinge, die erst frisch geschliffen war, woraus ich die Folgerung ziehen konnte, daß dies für diese geplante Tat geschehen war; es mußte demnach ein mit Ueberlegung ausgeführter Mord vorliegen. Das Messer hatte einen Hirschhorngriff, auf dem oben in einem Monogramm die Buchstaben G. W. eingraviert waren. Das war allerdings nicht das Monogramm Blechkopfs, dessen eigentlicher Name Anton Reichhold lautete; damit aber war für eine eventuelle Schuldlosigkeit Blechkopfs gar nichts bewiesen, denn dieser konnte das Messer irgendwo gestohlen oder mit diesem Monogramm gekauft haben.

Die Taschen des Ermordeten waren geleert, und da die Innenseite der Taschen herausgekehrt war, so ergab sich daraus mit Sicherheit, daß der Ermordete auch beraubt worden war, wobei mit der raschen Hast auch die Taschen herausgerissen wurden. Ich hatte bei der Verfolgung Blechkopfs auf diesen meine Aufmerksamkeit gerichtet und hätte dieser während der Flucht etwas weggeworfen, was ihn hätte verraten können, so würde ich dies bemerkt haben. Demnach mußten die geraubten Sachen noch im Besitz des Verhafteten sein. Oder es waren die Taschen des Toten leer, so daß der Mörder nichts hatte nehmen können.

Der tödliche Stich hatte, wie ich sofort erkannt hatte, die Lunge getroffen, so daß das Opfer rettungslos verloren war. Ich suchte nun den Boden in der Umgebung der Mordstelle ab, aber es war nichts mehr zu finden, was zu einer weiteren Beweisführung hätte dienen können. Inzwischen kamen die herbeigerufenen Leichenträger an, die den Toten auf der mitgebrachten Bahre nach dem Zentralfriedhof schafften.

Nach einer weiteren halben Stunde war der Schauplatz der Tat wieder ebenso einsam wie vorher und nur die rote Blutlache am Boden gab noch Zeugnis von dem begangenen Verbrechen.

Nur wenige Stunden dieser Nacht gehörten der Ruhe; denn schon in früher Stunde des nächsten Tages fand ich mich im Polizeiarrest ein, um den in der Nacht verhafteten Blechkopf zu verhören. Der Gefangene schien keine gute Nacht hinter sich zu haben; denn als er mir im Verhörzimmer vorgeführt wurde, da war sein Gesicht verschlafen, die Augen glanzlos trübe und jede seiner Bewegungen schwerfällig plump.

»Sie heißen Anton Reichhold und werden mit dem Spitznamen Blechkopf gerufen!« Der Gefragte nickte nur. »Es verhält sich in Richtigkeit, daß Sie Ihre letzte Zuchthausstrafe auf Grund der Aussagen des Schildkrötenwirts Eicher zu verbüßen hatten und dabei diesen mit einer Aeußerung bedrohten, die den gestrigen Mord begreiflich erscheinen läßt?«

»Das ist ja richtig, ich wäre nicht ins Zuchthaus gekommen, wenn mich der Vigilant nicht verraten hätte. Ich habe auch gleich ein Geständnis gemacht über die Einbruchdiebstähle, denn das Leugnen hat keinen Zweck. Den Schildkröten-Wirt habe ich schon bedroht, aber wie ich frei gekommen bin, da hatte ich das lange schon vergessen.«

»Sie wollen also bei der Behauptung bleiben, Sie hätten den Mord nicht begangen?«

»So ist es auch!«

»Aber ich kann Ihnen nur vorhalten,« war meine Gegenantwort, »wie wenig glaubhaft das ist. Es wäre doch das Beste, Sie würden die Wahrheit gestehen. Schließlich war es auch kein Mord. Als Sie in der Nacht Ihren Feind allein erkannten, da hat Sie der Zorn gepackt und Sie sind dann über ihn hergefallen. Ein Totschlag, eine Körperverletzung mit Todesfolge. Das können Sie nicht leugnen; denn ich selbst habe Sie bei dem Toten gesehen.«

»Sie brauchen mich nicht durch Freundlichkeit zu einem Geständnis bewegen, ich habe da nichts zu gestehen.«

»Aber Sie waren doch bei dem Toten!« wiederholte ich, da mich die Hartnäckigkeit des Burschen empörte, der doch nach allem Tatbestande schuldig sein mußte.

»Das weiß ich, und das ist alles, was mir bewiesen werden kann, was ich aber gar nicht leugne. Aber als ich zu dem Ermordeten kam, war er schon tot. Ich hatte den Hilfeschrei gehört, ging dem Schrei nach und sah den Getroffenen am Boden liegen, während ein dunkler Schatten um die nächste Straßenecke huschte. Ich kniete mich zu dem Zusammengestürzten nieder, um zu sehen, ob er noch zu retten sei. Da erkannte ich den Eicher, dem ich mit dem Tode gedroht hatte. Als ich dann jemanden näherkommen hörte, da war mein erster Gedanke: Sie werden mich für den Mörder halten; denn der, der vor mir ermordet am Boden lag, war von mir mit der gleichen Tat bedroht worden. Und in dieser Furcht bin ich davongerannt! Ich habe bisher immer ein Geständnis gemacht, aber ein Mörder bin ich nicht geworden!«

In diesen Ausführungen des Blechkopfs lag eine gewisse Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit, die vorerst allerdings durch nichts bewiesen werden konnte und nur in der Behauptung des Angeklagten feststand. Aber es hatte mich die langjährige Erfahrung gelehrt, wie ein jeder Indizienbeweis, um einen solchen konnte es sich auch bei Blechkopf nur handeln, hinfällig sein könne, weshalb ich diese Angaben nicht von vornherein verwarf. Ich fragte weiter:

»Haben Sie den Mörder nicht gesehen?«

»Nein! Ich kam vom Zwingereck, und der Mörder verschwand in der Kapellengasse; ich sah nur noch den Schatten.«

»Und das Messer, mit dem der Mord begangen wurde?«

»Von dem weiß ich nichts.«

»Aber es wurde am Orte der Tat vorgefunden.«

»Wirklich! Dann kann ich meine Unschuld beweisen; denn mein Messer wurde mir erst im Arrest abgenommen.«

Das war das Resultat des Verhörs. –

Ich hatte viel und doch wieder nichts erreicht; der Verdacht gegen den Blechkopf war auch durch die Tatsache noch nicht vollends beseitigt, als mir bei dem Arrestverwalter die Effekten des Verhafteten vorgelegt wurden, unter denen sich ein griffestes Messer mit dem eingravierten R. A. befand, weiter noch eine alte Börse mit drei Mark Inhalt und eine Tabaksdose. Daß der Verhaftete sein eigenes Messer noch bei sich hatte, während am Orte des Verbrechens ein anderes vorgefunden war, ließ seine Angaben wohl etwas glaubhafter erscheinen, während die Hauptverdachtsmomente dadurch nicht beseitigt wurden.

In dem Berichte, den ich an den Staatsanwalt weitergeben mußte, erläuterte ich im einzelnen alle Punkte und überließ es dieser Behörde, über die weitere Haft Blechkopfs zu entscheiden; wie ich dann erfuhr, wurde der Haftbefehl gegen diesen aufrecht erhalten.

Es war nun meine Pflicht, nicht allein das Beweismaterial zur weiteren Ueberführung Blechkopfs anzusammeln, sondern auch eventuelle Möglichkeiten seiner Schuldlosigkeit auf ihre Tatsachen zurückzuführen. Die Wahrscheinlichkeit eines an Eicher begangenen Raubes hatte ich schon erwähnt, als die herausgezogenen geleerten Taschen diese Annahme vermuten ließen.

Deshalb führte mich mein Weg zur Schildkröte, um vielleicht dort neue Tatsachen zu erfahren. Die Schildkröte war eine Kellerkneipe an der Ecke der Mariahilfergasse und des Zwingerecks. Obwohl der Wirt als Vigilant bekannt war, so waren es doch vorherrschend Verbrecher, die sich dort immer wieder einfanden; es war dies in der Schildkröte so üblich. Kamen von fremden Städten Verbrecher an, so war es die Schildkröte, wo sie sich Anschluß verschaffen und über die Verhältnisse in der Stadt sich orientieren konnten.

Das Aussehen des Lokals war das einer gewöhnlichen Bierstube und verriet nichts den Charakter des Raumes; das bunte Gemengsel der hier anzutreffenden Gestalten würde wohl einem unbekannten Beobachter aufgefallen sein, aber er hätte in dem vornehm gekleideten jungen Manne mit den entgegenkommend freundlichen Manieren und den harmlos blauen Augen nicht den »glatten Adolf«, den bekannten Falschspieler und Bauernfänger erkannt, und in dem biederen Alten mit der Arbeiterjoppe, der mit einem ähnlichen Karten spielte, den »Staatsanwalt« vermutet, der als Kolli- und Schaufensterdieb geradezu gefürchtet war. Sein Spielgenosse mit der ewig lächelnden Miene, der zu jedem Spaß so herzlich lachen konnte, war der »Regierungsrat«, der als Taschendieb keine schlechten Geschäfte machte. Als diese Kunden der Schildkröte mich hereinkommen sahen, da wollten alle verschwinden, aber ich rief ihnen sogleich zu:

»Keine Sorge! Meinetwegen könnt ihr ruhig bleiben; denn ich suche keinen von euch, wenn euch auch das Gewissen drückt.«

»Dann ist's wohl wegen dem Blechkopf!« fiel mir der »Staatsanwalt« ins Wort.

»Das ist es!« gab ich zur Antwort. »Was der geliefert hat, das ist euch ja schon bekannt.«

»Hab's gehört!« meinte darauf der »Staatsanwalt«. »Ich glaub's aber nicht. Der Blechkopf ist ein berufsmäßiger Dieb, aber er macht keine schlechten Sachen.«

»Ich habe ihn dabei gesehen!«

»Gebe nicht viel auf das Sehen! Hab' auch schon oft was gesehen und in der Nähe betrachtet, war's nichts. So wird's auch sein.«

Die »Mutter Anna«, die Frau des Ermordeten, kam auch zu mir heran und sagte:

»Ich will es Ihnen nur gleich sagen, Herr Kriminal, ich kann es auch nicht glauben. Der Blechkopf hat wohl einen Haß gehabt, aber das Geld hätte er nicht genommen.«

»Geld? Wissen Sie, ob der Tote Geld bei sich hatte?«

»Natürlich! Sie wissen doch, wir haben hier nur die Budike, wohnen aber in der Sternstraße; ich bin nun gestern schon um elf Uhr nach unserer Wohnung gegangen, und der Fritz blieb allein, da noch mehrere Gäste in der Stube waren. Er hatte nun die Angewohnheit, nie Geld zurückzulassen und nahm das stets mit nach Hause. Gestern waren etwa sechzig Mark eingegangen und lagen in der Wirtschaft außer diesem Gelde noch dreihundert Mark, die er an einem Viehhandel verdient hatte. Dieses Geld wollte er auch mitnehmen.«

Nach dieser Angabe ergab sich schon eine neue Fährte, die ich nicht außer acht lassen durfte; denn an Geld wurde bei dem Toten nichts vorgefunden.

»Woher wissen Sie, daß der Ermordete dieses Geld mit sich genommen hat?« fragte ich weiter.

»Das ist doch gewiß selbstverständlich; denn ich hätte das Geld sonst hier vorfinden müssen; hätte er dieses nicht mit sich genommen, so müßte es doch hier liegen. Aber es ist nicht hier.«

»Wer war im Lokal hier?«

»Eine ganze Menge!«

»Wußte von diesen irgendeiner von dem Gelde?«

»Ich glaube nicht.«

»Dann wissen Sie auch nicht, wer zuletzt die Schildkröte verlassen hat, und ob der Ermordete allein war, als er die Budike versperrte.« Da meldete sich der »Staatsanwalt« wieder: »Darüber kann ich ein Lied singen. Ich tue es nicht gerne, anderen am Zeuge zu flicken, aber es ist schade für den Blechkopf, der ganz sicher schuldlos ist. Ich war einer der letzten; nur ein Fremder war noch da. Ein Anfänger! Der hatte für diese Nacht eine schwere Arbeit vor. So dachte ich mir und glaubte, er würde sein Geschäft mit dem andauernden Mutzutrinken schließlich doch versäumen. Wie es mir aber scheint, hat er doch noch gehandelt.«

Es schien, als sollte ich doch noch auf die richtige Fährte kommen; mein Verhör nahm seinen Fortgang.

»Ist Ihnen sonst nichts aufgefallen?«

»Nein! Unsereinem fällt gar nichts auf; denn schließlich hat jeder Geschäfte, die einen zweiten nichts angehen. Daß es solche Geschäfte waren, das hatte ich ja nicht geahnt.«

Es war nun allerdings möglich, daß der »Staatsanwalt«, um dem Blechkopf herauszuhelfen, Behauptungen aufstellte, die mit der Wirklichkeit nicht das geringste zu tun hatten; ich mußte diese Möglichkeit aber ausschließen, da sie nach dem Messerfund, der Aussage Blechkopfs und der Frau des Ermordeten viel eher der Wahrheit entsprach.

»Wie sah der Bursche aus?«

»Klein und schwächlich. Ein schmales, verhungertes Gesicht, daß ich bei mir dachte, der hat wohl keinen anderen Ausweg. Aber an was Schlechtes dachte ich nicht. Vielleicht an einen Einbruch oder an einen Diebstahl!«

»Seine Kleider?«

»Kleider?« Der »Staatsanwalt« schien nachzudenken. »Um solche Kleinigkeiten kümmere ich mich sonst nicht! Aber erbärmlich war die Kleidung! Erbärmlich! Der Wind pfeift bei Nacht schon ziemlich kalt, und da muß er den Burschen ordentlich hergerüttelt haben. Zwillich! Dünn. Fadendünn! Seine blauen Augen brannten. Wie schon gesagt, ein Anfänger, der zum erstenmal einen Einbruch versuchen will. So dachte ich mir. Ich war der letzte, der ging, da sagte der Wirt zu dem Burschen, er müsse jetzt auch gehen. Um mehr habe ich mich nicht gekümmert. Ich bin dann nach – nach Hause.«

Daß der »Staatsanwalt« nicht nach seiner Wohnung gegangen war, daran zweifelte ich nicht. Doch war dies für den Fall Eicher Nebensache. Ich hatte eine neue Spur gefunden, die mit ungleich größerer Sicherheit zu einem befriedigenden Resultate führte, als ein Weiterverfolgen des Verdachts gegen Blechkopf.

»Wie alt war der Bursche?«

»Achtzehn! Neunzehn! Aelter nicht!«

Damit hatte ich vorerst wieder alles erfahren, was in Erfahrung gebracht werden konnte. Ich teilte der Frau des Toten noch mit, was für diese notwendig war, und verließ dann die Schildkröte. Nun war es mir möglich, den Verdachtsgründen gegen Blechkopf folgende Tatsachen gegenüberzustellen: Am Orte der Tat wurde ein Messer G. W. gezeichnet gefunden, das dem Verhafteten nicht gehörte, der sein eigenes Messer hatte, das ihm erst im Polizeiarrest abgenommen worden war. Der Ermordete war nach Aussage der Frau beraubt worden: aber von dem angeblichen Besitze fand sich bei dem Verhafteten nichts vor und wurde auf dem Wege seiner Flucht nichts bemerkt, wonach er es vielleicht weggeworfen hätte, als er verfolgt wurde. Der letzte Gast in der Schildkröte war ein junger Bursche, der nach den Beobachtungen des »Staatsanwalts« ein Verbrechen plante.

Das Nächste, was ich nun tun mußte, war, jenen Burschen ausfindig zu machen. Das war der nächste Weg! Aber wie war es möglich, den jungen Burschen in der großen Stadt aufzufinden, von dem nichts bekannt war, als sein hageres Aussehen, das der »Staatsanwalt« als verhungert bezeichnet hatte, sein Alter von noch nicht zwanzig Jahren und sein leichter Anzug.

Sonst wußte ich nichts! Und doch gab es noch mancherlei, was ich ausnutzen konnte; die wenigen Mitteilungen verrieten mir immerhin mehr als für notwendig zu wissen war. Einen Anfänger hatte ihn der »Staatsanwalt« genannt, der als Gewohnheitsdieb hierfür einen schärferen Blick hatte, als ein Kriminalist; den Anfänger verriet auch des Burschen sonstiges Benehmen, der sich Mut zutrank, der die Unvorsichtigkeit begangen hatte, sein Messer am Orte der Tat zurückzulassen. Dieses Messer verriet mir noch außerdem, daß der Name des Burschen die Anfangsbuchstaben G. W. hatte. Nach der Kleidung aus den Beschreibungen des »Staatsanwalts« hatte der Bursche vielleicht bessere Zeiten hinter sich, und da er in größter Not sein mußte, als er seine Zuflucht zu solch einer Tat nahm, war er sicherlich stellenlos.

Und am gleichen Tage erging an die sechsundzwanzig Polizeiämter der Stadt das nachfolgende amtliche Ersuchen: »In dem Fall »Eicher«, Mord an demselben, soll in allen Polizeibezirken nach einem Burschen der nachfolgenden Beschreibung geforscht werden. Zu recherchieren dürfte insbesondere bei allen Zimmer- und Schlafstellenvermieterinnen sein, wobei darauf zu achten ist, daß die Mieter selbst nichts davon erfahren. Anfangsbuchstaben des Namens: G. W.; Alter: achtzehn bis zwanzig Jahre; hageres, blasses Gesicht; arbeits- und mittellos; dünner, fadenscheiniger Anzug; bisher noch nicht oder nur sehr selten vorbestraft; von guter Familie.«

Das war der wissenswerteste Teil des Ansuchens, das in beschleunigter Weise seine Erledigung fand. Die polizeiliche Organisation, ist nun in allen Großstädten eine derartige, daß solche Requisitionen innerhalb vierundzwanzig Stunden Erledigung finden können; es wird in allen Polizeirevieren einzeln Kontrolle über alle Inwohner und deren Mieter sowie deren Personalien geführt. Es brauchte zunächst nur nach einem achtzehn- bis zwanzigjährigen Burschen mit dem Anfangsbuchstaben G. W. gesucht werden; solche waren in jedem einzelnen Bezirke vielleicht dreißig oder vierzig zu finden; die nächste Kontrolle beschränkte sich auf die Tätigkeit; Arbeitslose mit diesem Namen fanden sich nur drei oder vier in jedem Bezirk; nunmehr galten die Nachforschungen den Vermieterinnen dieser Burschen. So ergab sich allmählich ein Schlußresultat.

Am folgenden Tage waren vierzehn Berichte eingekommen, die vielleicht in Betracht kommen konnten; von diesen vierzehn aber fand ich nach eingehender Prüfung nur zwei, die mir als im höchsten Grade verdächtig erscheinen mußten. Bei den zweien hatte die Hausfrau erklärt, ihr Mietherr sei in der Nacht des Mordes nicht zurückgekommen; aber während bei dem ersten festgestellt worden war, daß er zwar Mehrauslagen machte, die aber den Betrag von fünf Mark nicht überschritten, hatte der zweite ein Zwanzigmarkstück wechseln lassen und sich in sein Zimmer eingesperrt, das er seit dem Morgen nach der Tat nicht mehr verlassen hat.

Ich mußte diese beiden aufsuchen und zweifelte nicht, daß ich in einem der beiden den Mörder finden müsse. Dem zweiten, der sich in seinem Zimmer versteckt hielt, galt mein erster Besuch: Gustav Wetzel war sein Name.

Seine Hausfrau empfing mich, wies sofort nach dessen Tür und murmelte: »Er ist noch immer nicht ausgegangen!« Ich pochte an die bezeichnete Tür. Keine Stimme antwortete mir; ich hörte nur das hastige, erschreckte Rücken eines Stuhles. Ich öffnete. In einem kleinen ärmlichen Zimmer stand ein Bursche und starrte mich mit großen, erschreckten Augen an; sein Gesicht war fahl und blaß.

In ruhigem Tone sagte ich: »Mein Name ist Langholm; ich bin Polizeidetektiv.« Da schrie er auf, ein Schrei der Angst und des Schreckens:

»Ich bin es nicht gewesen!«

Da wußte ich, daß er es war. Auf seiner Stirn und in dem Ton seiner Stimme war es zu lesen; das sprach die Wahrheit, wie auch das bebende Zucken der blutleeren Lippen. Und ich fand in seinem Besitze noch dreihundertfünfzig Mark. Ich erklärte ihn für verhaftet, als er mir dann unter Tränen die fürchterliche Tat gestand. –

2. Geständnisse.

Ueberall hörte ich das vierte Gebot und überall lehrte man mich die Pflichten der Kinder gegen die Eltern. Aber nie sprach man zu mir von den Pflichten, die die Eltern gegen ihre Kinder haben! Und auch die Eltern haben Pflichten. Man klagt mich des Mordes an. Aber ist es nur meine Schuld?

Ja! Ich habe es getan, ich bin gesunken, tiefer und tiefer, bis ich nicht mehr herauskommen konnte aus dem Schlamm, der über mir zusammenschlug und mich darunter begrub.

Tiefer, tiefer! Und ein solches Ende! Was nützt es, wenn ich die Hände vor mein Gesicht schlage, wenn in meinen Augen die Tränen der Reue brennen? Jetzt, da es nun zu spät ist. Ich will niemand anklagen, nur mich selbst; denn ich allein habe gesündigt! Aber hätte es nicht anders kommen müssen, wenn jene diese Bitte nie vergessen hätten, die sie nie vergessen durften, da die Bitte doch täglich über ihre Lippen kam?

»Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.« Wie auch wir vergeben!

Können wir das? Tun wir das? Nichts hat man mir vergeben! Man klagte mich an und beschwerte eine Schuld mit der nicht vergebenen, vergessenen Schuld. Aber wen klage ich an? Meine Eltern? Nein! Nein! Die Mutter liebte mich und liebkoste mich, wie nur Mütter ihre Kinder lieben können.

Mutter! Das einzige Wort, bei dessen Gedanken mir das Blut heiß in die Wangen schoß. Wenn sie in Nächten weinte, wenn sie schlaflos in das Dunkel der Nacht hineinstarrte und bange vielleicht an die Zeiten dachte, die kommen mußten, die sie in ihrer Schrecklichkeit nicht ahnen konnte, da galten ihre Tränen nur mir allein. Sie litt in Qualen, die nur ein Mutterherz ertragen kann. Warum?

Weil – – es sind die Worte schwer zu finden! Weil wir Menschen mit anderen strenger urteilen, als über uns selbst, weil wir die Splitter in dem Auge eines anderen sehen, aber nicht die Balken in unserem eigenen, weil wir jene Bitte nur mit den Lippen murmeln, weil sie aber nicht aus unserem Herzen kommt, und weil die Strenge nicht zugleich mit dem Verzeihen geht. Das war mein Vater!

Ich habe ihn nie geliebt! Ich habe ihn gefürchtet, gefürchtet wie das Dunkelste, Unheimlichste; schon als Kind verkroch ich mich, wenn ich das ernste, erbarmenlose Gesicht sah, das nur die Schuld sah, aber nie und nirgends das Verzeihen. Die dunklen Augen, die alles sahen, das Gesicht, das kein Lachen kannte. Schon als Kind flüchtete ich mich zu der Mutter, wenn ich die kalte Stimme des Vaters hörte.

Ich weiß es noch! Ich konnte nichts in seiner Gegenwart tun, ohne daß ich am ganzen Körper zitterte, in namenloser Furcht. Aber nicht allein ich fürchtete ihn, sondern auch die Mutter litt. Wenn ich heute an sie denke, so ist sie mir eine Märtyrerin, die Unsagbares, Namenloses erduldete, unter einem Manne, der nie verzeihen konnte.

Soll ich Kinderstreiche berichten? Streiche, die jedes Kind begeht? Nur eines steht lebhaft in meinem Gedächtnisse. Nur dies eine, um zu verstehen, um nicht zu sagen, ich klage an, sondern um zu verstehen:

Ein Weihnachtsabend! Ich war zehn Jahre alt. Welches Kind kennt nicht die Sehnsucht eines Weihnachtsabends? Die Herrlichkeit des strahlenden Baumes? Damals zitterte ich dieser Stunde entgegen! Meine Mutter, die ich so unsagbar liebte, wenn ich auch in der mir anerzogenen Furcht nie die Zärtlichkeit laut werden lassen konnte, die doch in meinem Herzen lebte, lag krank im Bett. An diesem Tage nun war ein Freund von mir nach mehrmonatlicher Abwesenheit wiedergekommen. Was war nun begreiflicher, als daß ich halb in der Freude, ihn wiederzusehen, halb in dem Sehnsuchtsverlangen, zu ihm von meinen Hoffnungen zu sprechen, ihn aufsuchte, um ihn wiederzusehen! Als ich dann heimkam von diesem Besuche, es war der Abend, den wir zum Andenken an die Erlösung unserer Sünden feierten, da stand der Vater vor mir und ich bekam Schläge mit einem Stock, der unter der Wucht der Hiebe zerbrach. Weil ich den Freund besucht hatte, ohne um Erlaubnis zu fragen! Nur deshalb! Das war meine Weihnachtsfeier! Und als ich dann weinend, mit tränenden Augen im Bett lag, in der Nacht, die mir nichts von meinen Träumen und Hoffnungen gebracht hatte, da betete ich mein Nachtgebet, und ich verstand kaum die Worte: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben – – –

Die Zeiten vergingen, aber mir brachten sie keinen Wechsel. Die Furcht und die Angst lebten in mir, und ich lernte die Lüge; das war mein Heil. Wenn ich etwas tat, keine großen Sünden, keine Verbrechen, dann log ich: ich log! Weshalb nicht? Hätte ich die Schuld zugestanden, so hätte ich damit die Strafe – und welche! – nicht vermieden; log ich aber, so war doch eine Hoffnung, daß meine Lüge nicht zutage kam und ich war der Strafe entkommen. Weshalb sollte ich dann nicht lügen? Dann kam jener Tag!

Ich war groß geworden; aber ich fürchtete den Vater noch ebenso sehr, wie ich ihn als Kind gefürchtet hatte. Was hätte ich in dieser Angst, in dieser Furcht nicht getan? Ein Blick aus seinen Augen, und ich wagte nichts mehr zu sagen. Er konnte nicht verzeihen! Er konnte nicht! Was ich als Kind getan hatte, das war auch noch meine Schuld, als ich die Tat schon längst vergessen!

Ich war sechzehn Jahre alt und studierte an einer Lateinschule. Eine Torheit beging ich, die nicht ich, sondern tausend und zehntausend andere ebenfalls begangen haben; da jagte er mich an einem Wintermorgen auf die Straße! Einer Torheit wegen! Und wenn es auch eine Sünde war, und wenn ich ein Verbrechen begangen hätte, das hätte nicht sein dürfen.

Auf der Straße, einer Torheit wegen! Bei einem Freunde hatte ich mir Kleider verschafft; denn ich wagte mich nicht mehr zurück, wo ich auf kein Verzeihen hoffen durfte.

Wie aber sollte ich mir mein Brot verdienen, da ich doch nichts gelernt hatte, das mir hätte praktischen Nutzen bringen können. Ein Jahr der Not und des Elends folgte; kümmerlich fristete ich mich weiter, ich hungerte Tage hindurch und lebte nur von einem Stück Brot.

Durch Abschriften verdiente ich hier einige Pfennige und dort einige, zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Und in den Nächten, wenn die undurchdringliche Finsternis in den Straßen lag, dann stand ich oftmals vor dem Hause der Eltern, und mein Sehnen weilte bei der Mutter, die vielleicht zur gleichen Stunde an ihr Kind dachte. Mit welcher Freude würde sie mich aufgenommen haben; denn ich hatte nichts getan, das man nicht hätte verzeihen können. Aber der Vater!

Dieser Gedanke trieb mich fort, trieb mich wieder hinaus in das Leben, in dem ich zu Grunde gehen mußte. Ich fühlte das. Ich hatte Furcht vor diesem mitleidlosen Leben, das kein Erbarmen kennt, das zertritt und vernichtet, was nicht stark genug ist. Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben. – –

Ich hatte nie wieder das Beten gelernt! Niemand hatte mir vergeben! Darüber sollte ich zu Grunde gehen.

Der Hunger trieb mich immer näher dem Abgrunde zu, aus dem es kein Erretten gab. Immer näher zum Abgrund. Ich gesellte mich zu den bleichen Verbrechern, auf deren Antlitz gleichfalls die Not ihre unauslöschlichen Züge ausgeprägt hatte. Bei den bleichen Verbrechern, den Opfern des Elends und der Verzweiflung, suchte ich Zuflucht; diese hatten zuerst Erbarmen mit mir, weil die anderen kein Erbarmen hatten, bei diesen fand ich Mitleid und Vergeben, wo ich sonst keines finden konnte.

Und ich fühlte immer mehr, daß ich jenen gehören müsse. Vergebens noch waren meine letzten Versuche! Niemand wollte den Burschen haben, in dessen Gesicht das Elend ausgeprägt war, das so viele Aehnlichkeit mit dem Laster hat. Laster und Elend, die Maske ist die gleiche.

Nun tauchen sie auf, die Erinnerungen an all die dunklen Existenzen! Vorher auch starb mir das Teuerste, das Einzige, das mich noch aufrecht erhalten hatte. Die Mutter! Tot! Nun gab es keine Rettung mehr. Als man ihren Leib der Erde übergab, da folgte ich wie ein Verfehmter, aus der Ferne, stets versteckt, dem Trauerzug. Und ich lauschte hin und horchte dem letzten Gebete an ihrem Grabe – – –

– wie auch wir vergeben.

Da floh ich schaudernd davon. Das Annenviertel mit seinen Kaschemmen und Budiken war meine Zuflucht. Mit den Genossen, die gleich mir vom Elend zum Verbrechen getrieben worden waren, hatte ich mich angefreundet und sollte nun bei der ersten Tat helfen.

In die Geschäftsräume eines Hauses an der Alexanderstraße sollte eingebrochen werden; alles war schon ausgekundschaftet, wo die Kasse stand, wo das Warenlager war, auf welche Art das Eindringen am ehesten möglich war und von welcher Seite eine Gefahr drohen konnte.

Mittels eines von dem Baldowerer verschafften Schlüssels kamen drei Gesellen, ich war darunter, in den Hausflur. Der »Dicke« und der »lange Anton« sollten brechen, während ich im ersten Stock des Hauses, wo die Privatwohnung der Geschäftsbesitzer war, Schmiere stehen mußte, um den Rückzug zu decken, falls eine Störung käme. An der Tür zur Privatwohnung wurde zunächst eine Holzschraube geräuschlos angelegt, die ein Oeffnen der Tür von innen heraus unmöglich machte, so daß wir von dieser Seite her nichts zu fürchten hatten. Während ich nun Schmiere stand, war das erste, was ich von unten her hörte, ein Knacken; das war das Absprengen der Niete des Schlosses, das eine schwere Eisenstange quer über die Tür zum Geschäftslokal hielt. Dann hörte ich das leise Auffallen der Eisenstange auf dem Boden, nun folgte eine lange Pause. Es ist mir unmöglich zu sagen, wie sehr ich litt. Das erste Verbrechen war es.

Es war nun bekannt, daß noch eine schwere Doppeltür gesprengt werden mußte, das nur durch Absprengen der Schloßriegel mit der stählernen Brechstange möglich war. Ich lauschte; von unten herauf drang ein gleiches andauerndes Knattern; es war dies das Lockern der Tür.

Dann folgte ein Krachen, das dröhnend in dem nachtstillen Hausflur widerhallte.

Ich war durch den Lärm so erschrocken, daß mir die Knie wankten. Jetzt mußte alles verloren sein, war mein erster Gedanke, und ich rannte die Treppe hinunter; da sah ich die beiden Genossen lauschend stehen. Ich eilte an ihnen vorbei, in meinem Schrecken, und hörte nicht, was sie mir leise zuzischelten. Ich rannte davon, fort, weit fort vom Orte der Tat.

Später dann erfuhr ich, daß niemand durch dieses Aufsprengen der Tür aufgewacht war, und die beiden Genossen den Einbruch ohne mich vollendet hatten, wobei sie eine große Beute mitbrachten. Ich erhielt davon einen Anteil, aber es lachten alle über mich, und es wollte mich niemand mehr mitnehmen.

Selbst zum Verbrechen konnte man mich nicht brauchen!

Bald war der Anteil an der Tat, bei der ich nichts getan hatte, bei der ich geflohen war, verbraucht, und die Not zeigte wieder ihr höhnendes Gesicht. Schon war ich auf der Bahn des Verbrechens und ging nun wieder zu dem »langen Anton«. Aber ich war zu ungeschickt, mich wollte man nicht mehr haben.

Da versuchte ich das Betteln. An der ersten Tür wies man mich ab, die zweite Tür schlug man vor meiner Nase zu, und ich hörte ein wütendes Schelten. Da hatte ich auch dazu den Mut verloren, und ich wagte mich vor keine dritte Tür.

Auch hatte ich kein Obdach; meine letzte Vermieterin hatte mich auf die Straße gesetzt; denn ich hatte ja nichts, womit ich die Miete hätte zahlen können. Ein neues Quartier konnte ich endlich finden! Aber der Hunger! Wenn ich zur Mittagsstunde durch die Straßen zog, und dann alle die fröhlichen Gesichter sah, die vorwärts eilten, um das Mittagessen nicht zu versäumen, wenn ich durch die Fenster in die Restaurants hineinsah, in denen für mehrere Mark ein Diner verzehrt wurde, da glühten wohl meine Augen, da lernte ich den Haß der Hungernden und Besitzlosen.

Ich kann nicht berichten, wie ich sank, wie in mir das Tier obsiegte. Frech mußte ich sein, als mir der »Dicke« aus Mitleid eine Mark schenkte; bei diesem suchte ich Mitleid.

Und da saß ich in der Schildkröte und sah, wie der Wirt mehrere Hundertmarkscheine in die Tasche steckte. Wenn ich diese gehabt hätte! Dieses Verlangen steigerte sich zu wildem Begehren. Und ich blieb sitzen, ich konnte nicht fort.

Das Geld! Wenn das Geld mir gehört hätte! Ich hatte ja das Messer bei mir. Dieses hatte mir der »lange Anton« gekauft, ehe ich den ersten Schritt auf der Bahn des Lasters tat. Zum Einbruchsdieb hatte ich zu wenig Mut, zum Betteln hatte ich ebensowenig Geschick, aber zum –

Damals dachte ich nicht an dieses Wort; ich dachte nur an das Geld! Wenn das Geld mein gewesen wäre. Und ich blieb und wartete, wartete, bis – – – Stunde um Stunde verstrich, Mitternacht war vorüber.

Die Gäste der Schildkröte hatten sich alle schon entfernt, alle, um ihren Geschäften nachzugehen. Mein Geschäft!

Der letzte Gast war fort. Nur ich allein und der Wirt. Er forderte mich auf zum Gehen.

Dann lauerte ich ihm auf in der dunklen, menschenleeren Straße; in eine finstere Nische gedrückt lauerte ich und lauschte ich, während meine Hand das Messer umklammert hielt. Dann näherten sich Schritte; immer näher. Ein Schatten kroch über den Boden hin, dann die Gestalt. Er war es!

Vergib uns, wie auch wir vergeben – – –. Niemand! Hatte einer nur Mitleid für mich! Und ich sprang auf ihn, und der blitzende Strahl drang in die Brust, aus der das heiße Blut herausquoll.

»Hilfe!« Ein einziger Schrei, und er stürzte zu Boden hin. Das Messer warf ich von mir. »Hilfe, Hilfe!« Ein Röcheln! Da war es vorbei! Aus seinen Taschen riß ich das Geld heraus und floh wie ein gehetztes Wild. Ich floh die ganze Nacht durch die Winkelchen und Gäßchen und immerfort hörte ich in meinen Ohren gellend den Schrei um Hilfe.

Das Messer war verloren, aber in meiner Faust war das Geld. In Schweiß gebadet, kam ich am frühen Morgen des nächsten Tages auf mein Zimmer. Im Spiegel sah ich mich an, ob nicht der Mord auf der Stirne stand, ob nicht das Blut dieser Nacht an mir klebte. Nichts! Nur das Geld!

Sicherlich hatte man den Toten schon gefunden. Und das Messer! Jetzt erst kam die Ernüchterung, die Reue, das Bewußtsein; jetzt erst begriff ich die fürchterliche Tat, und ich zitterte bei dem geringsten Geräusch, zitterte bei dem Laut einer fremden Stimme, bebte, wenn die Glocke auf dem Korridor schellte. Ich wagte mich nicht mehr aus dem Zimmer heraus; denn ich sah in allen Ecken die drohende Gefahr der Entdeckung lauern.

Der Lohn der Bluttat lag vor mir auf dem Tische. Und ich hatte Dünger – Hunger. Ich selbst konnte nicht fort. Da gab ich meiner Mietsfrau zwanzig Mark; sie sollte die Miete davon abrechnen und mir Essen bringen.

Ich wagte mich nicht aus dem Hause. In schlafloser Nacht wälzte ich mich im Bett – –. Dann hatte man mich verhaftet. Zur Sühne! Vergib uns unsere Schuld!

Gustav Wetzel, der noch nicht achtzehn Jahre alt war, wurde zu der höchst zulässigen Strafe von fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt.

Blechkopf war natürlich noch am Tage der Festnahme Wetzels in Freiheit gesetzt worden, während der »lange Anton« und der »Dicke« wegen des Einbruchsdiebstahls, von dem Wetzel in seinem Geständnisse berichtet, die verdiente Strafe erhielten.

Gustav Wetzel führte sich im Zuchthause musterhaft; er lernte dabei die Gärtnerarbeit, und durfte bereits nach Ablauf von fünf Jahren unbeaufsichtigt im Garten tätig sein. Er wollte nicht fliehen; denn die Freiheit, das Leben draußen konnte ihm nichts geben. Das Leben war ihm verleidet worden.

Sein Vater hatte nie nach seinem Sohne gefragt, da er kein Vergeben kannte.

Gustav Wetzel aber wurde oft beobachtet, wie er in stillen Nächten weinte, wie er vielleicht litt im Erinnern an seine furchtbare Tat und im Gedanken an seine tote Mutter.

Als dann nach Ablauf von fünfzehn Jahren seine Strafzeit zu Ende war, da war er ein alter Mann geworden, trotz seiner dreiunddreißig Jahre. Er war müde. Und er bat, man möchte ihn im Zuchthause behalten, da er sich fürchte vor dem Leben, da er wiederum untergehen würde.

Dieser Wunsch wurde ihm erfüllt, und niemand würde in dem stillen Arbeiter, der den Garten versah, der die Blumen liebevoll pflegte, die Gartenfrüchte anbaute, den Mörder Gustav Wetzel gesucht haben; er hatte ja kein Verlangen und keine Wünsche mehr.

Möchte er für seine Tat, für sein schweres Verbrechen, die Vergebung gefunden haben, die er geringer Vergehen wegen damals nicht gefunden hatte, als er noch hätte gerettet werden können.

Damit schließen die Aufzeichnungen des Detektivs Langholm, der hier die Geschichte eines Verbrechers nach dem Wortlaute der eigenen Geständnisse gegeben hat, um dem Leser nicht nur die Tat und deren Entdeckung zu erzählen, sondern um für die Täter selbst ein seelisches Interesse zu erwecken, um nicht allein die Sühne und Strafe begreifen zu machen, sondern auch das Vergehen und Verstehen.

Das war zunächst die Absicht des Detektivs.

Verständnis zu erwecken! Sollte ihm das gelungen sein, in dem Verbrecher nicht immer den Verbrecher allein, sondern auch den Menschen zu fühlen, der nicht durch eigene Schuld, sondern durch das Verhängnis auf die Bahn des Lasters gestoßen wurde, so hat er seine Aufgabe erreicht. Mitleid und Verständnis! Diese zwei Worte sind auf dem Gebiete der Kriminalistik von ungeahnter Bedeutung geworden, da wir ganz anders urteilen werden, wie dies der Franzose schon längst erkannt hat, der dies in dem bedeutsamen Sprichworte zum Ausdrucke bringt:

Alles verstehen, heißt alles verzeihen!

Möchten wir dies nie vergessen; denn damit ist vielleicht das bedeutsame Mittel gekennzeichnet, dem Verbrechen erfolgreich entgegenzutreten.

 

Ende.


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