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(Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten ......)

 

1. Gedächtnis.

Es ist kein Zweifel, daß der Durchschnittsmensch unserer Tage ein größeres Wissen besitzt als die Generationen vor ihm. Dabei soll man nicht prüfen, ob er von diesem Wissen immer einen weisen oder auch nur verständigen Gebrauch macht. Aber ihm kommt dabei zugute, daß die Technik ihn mit ungewöhnlich vielen Hilfsmitteln versieht, um sein Wissen jederzeit aufzufrischen und damit sogar ein verstärktes Erinnerungsvermögen zu erzeugen. Ob es die Grammophon-Platte ist, auf der wir schnell noch einmal Benjamin Gigli kontrollieren können, oder ob es die Momentaufnahme ist, die genau beweist, daß Jonny im Jahre 1904 nicht bei dem Ausflug nach Wolfratshausen zugegen war.

Ich unterliege von Zeit zu Zeit erfolgreich der Versuchung, unter alten Papieren und Photos zu kramen; aber das Resultat ist bemerkenswert. Von mal zu mal nehme ich eine der Photo heraus, sehe sie an, erinnere vielleicht auch genau die Umstände unter denen sie gemacht wurde ... und zerreiße sie. Das Motiv? Sie sind unnötig geworden, sowohl als Objekt der Betrachtung wie als Gegenstand der Erinnerung. Unnötig? In welchem Sinne? Sie sind wie die tausend und ein Gegenstände, die früher unseren Hausrat belebten, und wenn wir älter und einfacher und schlichter und anspruchsloser werden, brauchen wir sie nicht mehr. Nicht nur, daß wir ohne sie sehr gut auskommen können; sie haben auch für den inneren Hausrat keine Bedeutung mehr und haben sie wohl nie gehabt. Wenn wir aufmerksam die vielen Mosaik-Steinchen prüfen, aus denen unsere innere Gestalt sich aufbaut, dann gewahren wir, daß viele von ihnen ihre ursprüngliche, ihre originale Farbe aufgegeben haben. Sie sind mit anderen, die ihnen ähnlich oder gleich sind, zu einem einheitlichen Hintergrund der Farbe zusammengelaufen. Viele winzige Steinchen sind zu einem neuen Stein im Mosaik zusammengeschmolzen. Freilich: in diesem Mosaik der Seele gibt es keine ganz einfachen und ganz eindeutigen Farben. Es sind alles Mischungen, und selbst noch die Fläche, die ungebrochen eins erscheint, hat kleine Stellen, von denen das einfallende Licht wie von keiner anderen Stelle sonst irisierend (und oft auch irritierend) zurückgeworfen wird.

Um es an einem Beispiel zu belegen: – da existierte ein altes Schulbild, schon stark vergilbt und leicht verknittert. Am deutlichsten war der Hintergrund: die Kirche, an die unsere Schule angelehnt war. Es war von der Kirche jener Ausschnitt, der auch ohne photographische Krücke als Detail in meinem Gedächtnis geblieben ist: eine Pforte, über der ein roher Stein-Relief angebracht war. Er stellte den heiligen Martin dar. Ich hatte bald herausgefunden, daß er Linkshänder war, weil er das Schwert in der linken Hand hielt. Und der drohend erhobene rechte Vorderhuf des Pferdes ließ es mir verständlich erscheinen, daß der nackte Arme ganz klein, kaum erkennbar, vorsichtig unten am Rande des Reliefs kauerte.

Vor diesem Relief also hatten an die hundert Kinder – die zwei untersten Klassen der Schule – Aufstellung genommen, Buben und Mädel bunt gemischt. Es war eine Ansammlung ausdrucksloser undifferenzierter Gesichter und kurz geschorener Schädel. Nicht ein Gesicht mehr ist mir vertraut oder bekannt, und ich kann nicht einmal mehr sagen, ob dieser oder jener von ihnen sich später unter den wenigen Menschen befand, mit denen ich wirklich in Freundschaft verbunden war. Dagegen weiß ich – ohne sie identifizieren zu können, – daß zwei von ihnen nur als komische Lichtreflexe auf einer uniformen Farbfläche wieder in meine Erinnerung reflektiert worden sind. Der eine war ein kleiner zarter Bursche, der immer mit besonderer Vorsicht die Stiegen hinunterging, wenn wir in den Pausen auf den freien Platz vor der Kirche stürmten. (Einen Schulhof gab es da nicht.) Ich fragte ihn einmal, warum er so langsam gehe. Er antwortete mit ernster Stimme und unerhört deutlicher Aussprache: – „Ich habe Rheumatismus.“ Das hat mir damals ungeheuer imponiert und ich glaube, daß von diesem ersten tiefen Eindruck meine Vorliebe für wohlklingende Fremdwörter stammt.

Der andere Licht-Reflex schoß viele Jahre später mit einer spontanen Komik auf. Ich hatte in amtlicher Eigenschaft im Zuchthaus zu Wilhelmshaven mit einem Strafgefangenen zu sprechen. Als die Unterredung beendet war und ich in Begleitung des Inspektors die Haupttreppe hinunterging, kam gerade ein Trupp von Insassen von ihrem morgendlichen Spaziergang im Hof zurück. Plötzlich sehe ich vor mir ein Gesicht, das ich kenne, und das zu den hundert dummen Kinderköpfen gehörte, die auf jener Photographie starren. Aber jener war noch schneller im Erkennen als ich. Er legte mir überwältigt beide Hände auf die Schultern und rief erfreut: – „Mensch! Daß Du auch hier bist! Das habe ich garnicht gewußt!“ Ich brachte nicht den Mut auf, ihn zu enttäuschen und sagte ihm: – „Ich werde heute schon entlassen.“ Er nickte sympathisch mit dem Kopfe. „Ich habe noch achtzehn Monate. Also laß es Dir draußen gut gehen!“ – Ich habe es versucht, obgleich es mir sehr oft nicht gelungen ist.

So gab es noch sehr viele Photographien, die ebenfalls ihr Ende in jenem metaphysischen Gerät fanden, das ich für eine unerläßliche Voraussetzung jeder schriftstellerischen Tätigkeit halte: im Papierkorb. Sie waren mit keiner Jugenderinnerung verknüpft, weder einer wesentlichen noch einer gelegentlichen; sie trugen eindeutig den Stempel des Überflüssigen, des Unnötigen. Da war ein Bild, unter Mißachtung aller photographischen Regeln aufgenommen, das Möven im Flug über ein Schiff im Mittelmeer zeigte. Es war an den Schattenumrissen ganz deutlich zu sehen, daß es Möven sein sollten. Aber welches Schiff und welche Reise es war, weiß ich nicht mehr. Und warum habe ich überhaupt die Aufnahme gemacht? Ich glaube, das ganze war – nicht nur photographisch – einfach eine Fehlleistung. Denn imgrunde hasse ich Möven, die hinter Passagierdampfern daherfliegen und den Küchenabfall vom Wasser auflesen. Ich liebe die Möven, wie ich sie zum ersten Mal zur Kenntnis genommen habe, irgendwo an der Küste der Nordsee, wenn die Flut abläuft und wenn man sich mit der Gebärde des Abenteurers, und doch von einer verstohlenen Angst heimlich angeweht, auf das Watt hinausbegibt, um Krebse zu fangen, oder eine seltene Muschel zu finden, oder mit dem dreieckigen Netz in den stehengebliebenen Wasserlachen Krabben zu fangen. Das sind auch die Stunden, auf die die Möven warten, um auf Jagd zu gehen und die unlautere Konkurrenz des Menschen laut zu beschreien. Da gehören sie in das Gesamtbild hinein, in das große Bild des Meeres, das mir so tief im Blute steckt – oder sollte ich sagen: in der Seele? – daß ich noch heute nirgends produktiv arbeiten kann, wo ich nicht das Meer sehe. In welcher Weltgegend ich auch gehaust habe: das Meer war immer vom Fenster aus zu sehen.

So war also die Möven-Photographie offenbar ein untauglicher und deplazierter Versuch, eine Jugenderinnerung zu repetieren oder zu duplizieren. Man soll eben nie versuchen, Duplikate zu schaffen, nicht einmal in den Dingen, die uns so unerhört schmackhaft schienen, als wir noch Kinder waren. Wie oft bin ich solchen Erinnerungen des Gaumens in meinen späteren Jahren nachgegangen, besonders in den Zeiten, in denen ich die Kochkunst als ein eminentes Gegengewicht gegen allzu viel abstraktes Tun entdeckt hatte. Aber es waren immer Enttäuschungen. Geschmacks-Sensationen sind eben einseitig wie die erste Liebe. Auf jeder weiteren ruht unweigerlich der Schatten des Grabsteins, über dem man die erste eingesargt hat. –

Aber solche Weisheit der Erkenntnis hat man nur, wenn man älter wird, oder aber wenn man noch nicht einmal angefangen hat, den Begriff des Alters zu verstehen; das heißt also: in der Kindheit. Kindheit ist weise nicht aus Wissen, sondern aus dem Instinkt, aus der unbewußten Notwehr gegen Schmerz und Enttäuschung. Erst später, wenn wir unsere seelische Tragkraft zu überschätzen beginnen, werden wir bedenkenlos und nennen es fälschlich wagemutig. Aber der größere Mut liegt nicht in der Repetition, sondern im Verzicht. Ich will auch das an einem Beispiel klarstellen.

Kinder, die an einem Fluß und dazu noch in der Nähe des Meeres aufwachsen, haben eine ganz natürliche Beziehung zu allem, was auf dem Wasser treibt oder gleitet. Das erste Spielzeug, das sie sich selber anfertigen, ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein Schiff, und zwar ein Segelschiff. Es besteht in den Anfängen zumeist aus einem an den Enden abgestumpften Brett, in dessen Mitte man einen kleinen Holzstab einbohrt und an dem man ein dreieckiges Stück Papier als Segel anbringt. In einer ruhigen Bucht, im Schutz von Weidensträuchern, kann man es mit einem langen Stock dirigieren und auf weite Reisen schicken. Aber mit den Jahren wird die Phantasie komplizierter, der Ehrgeiz größer und die technische Begabung bedeutender. In den ruhigen Wohnvierteln der Neustadt (die eigentlich eine unmoderne alte Stadt war) leben viele ehemalige Seefahrer, von denen man die Kunst lernen kann, kleine Schiffsmodelle in höchster Vollendung zu bauen, vor allem alte Karavellen, an denen Forscher der Kulturgeschichte sich erbauen können. Aber ich hatte damals für Kulturgeschichte noch kein Interesse. Ich verstand noch nicht – wie ich es heute verstehe – daß Kulturgeschichte – ehrlich gesehen, ehrlich geschrieben – der einzige Weg ist, das große, beklemmende Drama zu beschwören, das den ewigen Aufschwung und den ewigen Niedersturz des Menschen darstellt. Mein Interesse und meine staunende Bewunderung galt jenen bunt bemalten Zweimastern, die im vollen Schmuck ihrer entfalteten Segel daherfahren und zwar – und da war das große Wunder – in einer Flasche! Ich habe eines Tages den Trick gelernt, wie man das Schiff in die Flasche hineinpraktiziert. Aber ich gebe ihn nicht weiter. Es hat keinen Sinn, einer Jugend, die den tiefen romantischen Reiz des Spielens verlernt hat, Dinge zu vermitteln, für die sie in ihrer technischen Überzüchtung wohl kaum Verwendung hat.

Aber – um nicht nur sentimental sondern auch ehrlich zu sein – ich verspürte selbst eine große Neigung zur Technik, und als ich es für an der Zeit hielt, mir selber ein Schiff zu bauen, war ich sofort entschlossen, nicht ein Segelschiff, sondern einen Dampfer zu bauen. Wie immer, wenn man sich auf etwas neues konzentriert, die Winke und Andeutungen plötzlich von allen Seiten angestürmt kommen, so wurde auch hier meiner noch ungeformten Absicht der Weg gewiesen durch einen Fund. In dem Schuppen, der einem alten Steuermann gehörte, fand ich ein dunkles Stück Holz von irgend einem tropischen Baume. Es hatte sichtbar die Form eines großen Passagierdampfers. Alles, was zu tun blieb, war, das Innere auszuhöhlen und eine Maschine hineinzusetzen, es mit den richtigen Deckaufbauten zu versehen – und es auf Reisen zu schicken.

Das Aushöhlen des Rumpfes machte mich für mehrere Wochen zu einem braven, seßhaften Knaben und ich vermute sogar, daß ich in jener Zeit verhältnismäßig selten wegen ungebührlichen Betragens in das Klassenbuch eingetragen wurde. Die Deckaufbauten waren ziemlich einfach, wenn man den simplen Linien der modernen Dampfer folgte. Das große Problem begann bei der Maschine. Der erste Impuls war natürlich, die kleine Dampfmaschine zu benutzen, die jeder respektable Knabe damals hatte. Aber die meinige hatte einen stehenden Kessel, und das Schwungrad lag folglich viel zu hoch. Auch war die Feuersgefahr nicht zu unterschätzen, die eine Spiritus-Flamme mit sich brachte. Aber der Mann, auf den ich mich in technischen Dingen blindlings verließ, der ehemalige Matrose Claus, wußte eine Lösung: – das Werk einer alten Weckuhr mit starker Sprungfeder einbauen. Ein genialer Gedanke! Aber woher eine alte Weckuhr nehmen, deren Feder stark und nicht vor Alter gebrochen war? Claus zuckte die Achseln. Aber zugleich lenkte er meine Aufmerksamkeit auf eine betagte Weckuhr, die in der Küche neben der großen braunen Kaffeebüchse stand. „Aber sie wird ja noch benutzt!“ wandte ich ein. Er zuckte nochmals die Achseln und sagte mit fast prophetischer Stimme: „Sie kann ja mal runterfallen ...“ Damit lastete auf mir für lange Tage ein dunkles Problem: wie veranlaßt man eine noch im Gebrauch befindliche Weckuhr, „mal runterzufallen“? Kindliche Gebete erwiesen sich als vollkommen wirkungslos. Unversehens mit der Schulter gegen die Borte zu stoßen, wäre schön gewesen, wäre ich nicht damals ein kleiner rundlicher Bursche gewesen, der noch nicht einmal auf Zehenspitzen stehend mit dem Kopf hätte daran stoßen können. Aber wie gesagt: um einen tiefenseelischen Wunsch sammeln sich, von der himmlischen Vorsehung geleitet, die Möglichkeiten. Man muß nur jung genug sein, ihnen ohne Hemmung nachzugehen. Eines nachmittags war ich im Begriff, das Haus zu verlassen, mit einem langen Bambusrohr bewaffnet. Ich wollte nicht etwa angeln gehen. Es war lediglich für diesen Nachmittag auf dem Wagenplatz neben der Mühle die große Entscheidungsschlacht zwischen unserer Straße und der Meyer-Straße angesetzt worden. Diese Schlacht sollte endgültig darüber entscheiden, wer das Recht auf Benutzung des Wagenplatzes und der alten Festungswälle hatte, die dahinter lagen. Als Waffe hatte man sich auf Angelstöcke geeinigt. (Notabene: daß wir siegten, beruhte auf der Kriegslist, unsere Schulkappen dick mit Zeitungspapier auszustopfen und sie mit Bindfäden unter dem Kinn zu befestigen.)

Aber ehe ich zu dieser wirklich erhebenden Schlacht auszog, schlug der Blitz des genialen Einfalls mit voller Stärke in mein Gehirn. Ich stürmte in die Küche. Meine Mutter stand neben dem großen weißlackierten Schrank. „Kann ich ein Butterbrot bekommen?“ rief ich und in der gleichen Sekunde stieß das lange Bambusrohr gegen den Wecker. Glas und Metall schepperte auf den großen Steinplatten. „Wie ein Wilder!“ schrie meine Mutter auf. Mein Herz jubelte. Unter gemurmelten Entschuldigungen holte ich die Schaufel und den Handbesen und kehrte die Trümmer zusammen. Aber auf dem Wege zum Hof riß ich schnell das Uhrwerk heraus, versteckte es in meinem Zimmer und entfernte mich durch die rückwärtige Pforte.

Tagelang lebte ich in der Unruhe, es könne jemand auf die Idee kommen, den Wecker reparieren zu lassen. Aber er sank in Vergessenheit. Ich holte ihn aus dem Versteck und brachte ihn zu Claus in den Stall. Der zwinkerte mit den Augen, aber sagte nichts. Noch am gleichen Abend war das Gehwerk eingebaut. Wenn man die Feder abschnurren ließ, drehte sich der Propeller mit rasender Geschwindigkeit. In einem alten Wassertank wurden die ersten Versuche gemacht. Sie gelangen überraschend gut. Die Kunst der Navigation bestand darin, das Steuerruder so zu stellen, daß das Schiff einen Kreis beschrieb und somit an den Ausgangspunkt zurückkehrte.

Ich war mir bewußt, ein Kunstwerk vollbracht zu haben. Schon die Prozession von Spielgefährten, die mich zum Flußufer hinunter begleitete, gab mir ein unendliches Gefühl von Stolz und Befriedigung. Aber es war noch mehr dabei: ich liebte diesen Dampfer wirklich. Er war nicht nur mein Eigentum; er war unter meinen Händen entstanden, Stück für Stück, und er war ganz ausgefüllt und angefüllt mit Phantasien von Reisen in unbekannte Teile der Erde. Ich hatte oft genug im Hafen gestanden und Schiffe ankommen sehen und wenn auch die stolzen großen Viermaster immer seltener wurden, und wenn auch die Dampfer sich bis auf die Größe wenig von einander unterschieden, verrieten sie doch das Geheimnis und die Romantik ihres Herkommens durch die Besatzung, die auf dem Verdeck auftauchte: Kulis, Malayen, Chinesen, Japaner, Mulatten, Neger, Inder. Ein erregender Anblick! Aber die Erregung erreichte erst ihren Zenith, wenn sie an Land gegangen waren und ihre Heuer bis auf den letzten Pfennig vertrunken hatten. Denn dann rückten sie mit ihrer Reserve heraus, mit den Schätzen, die sie aus ihrer Heimat zum Verkauf mitgebracht hatten: – Papageien, kleine Affen, einen bunten Sarong, eine geschnitzte Kugel aus Elfenbein, eine Schlangenhaut, einen chinesischen Holzschnitt, und zuweilen auch nur eine Kokosnuß oder eine Banane. Ach, eine Stunde so auf Schiffstauen an der Pier sitzen und zuschauen war mehr als hundert Märchenbücher zu lesen!

Ich hatte in meinen Dampfer mehr Reisen in diese Länder des Wunderbaren hineingeträumt als mein Leben mir bis heute gegönnt hat. Die kleine Bucht oberhalb der neuen Brücke war der Hafen, von dem aus ich mein Schiff zur Reise auf den Ozean sandte. Meine Kameraden hatten Zweifel, ob es fahren würde. Wie kann auch ein Schiff fahren, das so viel schöner ist als alle anderen, die bislang die Meere dieser kleinen Bucht befahren hatten! Aber es fuhr, allen Zweifeln zum Trotz. Es beschrieb einen großen Bogen und kam zu mir zurück. Ich zog das Uhrwerk wieder auf, und es fuhr die zweite Reise und kam wieder heim. Es ging fast eine Stunde so. Ich wurde kühner und verstellte das Ruder, sodaß mein Schiff einen größeren Bogen beschrieb, fast mitten in den Fluß hinein. Es war ein Spiel mit dem Schicksal. Aber das Schicksal meinte es gut mit mir. Das Schiff kam zurück, wenn auch mit letzter Kraft. Ich schickte es noch einmal auf die Reise. Aber da ... in der Mitte des Kreises, fast in der Mitte des Flusses trieb ein Stück Holz daher. Es stieß gegen mein Schiff, gerade gegen das Ruder, und bog es zur Seite. Und mit der letzten Kraft, die in ihm war, und gehorsam der neuen Richtung, die das Ruder ihm gegeben hatte, fuhr es mit der Strömung den Fluß hinunter, stolz und mit wehenden Fahnen, den Fluß hinunter, zum Meere zu ... und verschwand. Ich glaube, daß das Mitleid meiner Kameraden echt war. Sie versuchten, mich zu trösten. Aber ich zuckte nur gelassen die Achseln und sagte: „Ich werde mir ein neues machen. Das da war nur ein Versuch.“

Es war eine Lüge. Ich habe mir nie wieder ein Schiff gebaut. Aber lieber hätte ich mir die Zunge abgebissen, als meine Kameraden auch nur ahnen zu lassen, wie hier eine Welt von Träumen unter dem Schmerz eines unendlichen Verlustes zusammenbrach. Es gibt keinen Verlust, der so groß ist wie der, den man zum ersten Mal in seinem Leben als einen Verlust wirklich erlebt. Nachher, als ich wieder zuhause war, habe ich lange geweint. Claus wollte mir ein neues Schiff bauen. Aber ich war damals weiser als später, als ich ohne Not Abfall fressende Möven photographierte. Ich habe sein Angebot abgelehnt. Ich hatte den Mut zum Verzicht. –

Solche Geschehnisse, die die Lebensjahre überdauern und von keiner Schicht neuer Eindrücke und von keiner Last neuer Erinnerungen überdeckt und ausgelöscht werden können, brauchen natürlich keine photographische Krücke. Der optische Eindruck ist in der Seele eingebrannt. Aber es gibt andere Vorgänge aus unseren abgelaufenen Tagen, bei denen uns ein Photo sehr gute Dienste leistet. Die Örtlichkeit ist eindeutig bezeichnet, die Gesichter, selbst die Kleidung, nicht zu leugnen und alles legt treues Zeugnis ab dafür, was da einmal war und wie es war. Und doch sind es gerade diese Photos, unter denen meine unrastigen Finger die größte Verheerung angerichtet haben. Damit geschah etwas, was viele Menschen jeden Tag tun, nur daß sie zumeist nicht den Mut aufbringen, es sich einzugestehen, oder vielleicht nicht die Fähigkeit haben, den Vorgang als das zu erkennen, was er ist. Ich meine damit natürlich nicht, daß sie in natura Photos zerreißen, sondern daß sie photographische Aufnahmen, die ihre Seele einmal gemacht hat, zerstören. Wie viele Dinge geschehen uns im Leben – sei es, daß wir sie selber uns und anderen antun, sei es, daß wir ihr Geschehen zulassen, – von denen wir später brennend gern möchten, sie seien nicht geschehen, oder wir hätten sie nicht getan, oder sie wären anders verlaufen. Zuweilen sind es ganz kleine Geschehnisse, so wie wenn man sich von einem Kaktus einen winzig kleinen Stachel in den Finger sticht. Man stirbt nicht daran. Aber solche Stacheln setzen sich mit einer fast satanischen Bewußtheit immer an die Stelle des Fingers, die man hundertmal am Tage berührt. Und jedesmal tut es weh. Wir versuchen, den Stachel mit dem Daumennagel herauszudrücken, ihn mit den Vorderzähnen herauszubeißen, mit einer nicht zu rostigen Stecknadel herauszupolken. Wir könnten es auch der Natur überlassen, ihn allmählich unschädlich zu machen. Aber die Seele hat eine andere Natur als der Körper. Die Stiche gehen tiefer, und sie tun jedesmal weh, wenn unsere Erinnerung sie berührt. Da helfen keine Stecknadeln. Da gibt es nur eine Hilfe: die Dinge wegdenken, und wenn sie sich nicht wegdenken lassen – was meistens nur sehr unaufmerksame Menschen können – dann muß man sie umdenken.

Es läßt sich darüber streiten, ob das einfach eine innere Lüge ist oder ein corrigez la fortune, oder aber ob es ein Akt der seelischen Notwehr ist. Denn wenn man diese kleinen Stacheln einmal genau unter der Lupe betrachtet, sind sie sich im Wesen fast alle gleich: es sind die kleinen Situationen, in denen wir versagt haben, denen wir uns nicht gewachsen zeigten, in denen wir eine Niederlage erlitten haben, in der wir nicht unseren Mann gestanden haben. Ja, wären es große, entscheidende Dinge, dann könnten sie einen wichtigen Platz im seelischen Haushalt einnehmen: große Warnungstafeln auf der Landstraße von gestern zu sein, eine mahnende Stimme, die uns zur rechten Zeit anruft. Aber so sind es nur kleine, peinliche Wertminderungen. Und wer mag mit ihnen ständig leben? Und indem wir diese peinliche Momentaufnahme in den Papierkorb werfen, machen wir alle Erinnerung – die Grundlage der Autobiographie – zu dem, was sie in Wirklichkeit ist: ein Mosaik, in dem wir Steinchen auswechseln und gegen eine andere Farbe vertauschen, bis wir vor unserem eigenen Bilde einigermaßen bestehen können.


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