Adam Karrillon
Im Lande unserer Urenkel
Adam Karrillon

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Zweites Kapitel

Ambasbai und Kamerunberg

Am nächsten Tage, als wir das Kap Formosa umfuhren, war wieder einmal nichts zu sehen als Himmel und Wasser und die blanke Sonnenscheibe, die unbarmherzig ihre silbernen Pfeile auf uns niederschoß. Wie war da doch der matte Schatten, den der mächtige Schornstein des Dampfers über das Brückendeck hinwarf, ein vielgesuchter Aufenthalt! In seiner Kühle lag augenblicklich gerade die Kapitänslaube, in der wir unsern Kaffee getrunken hatten. Unser Magen war befriedigt, deshalb konnten wir neidlos zusehen, wie sich die Fliegen über den zuckerigen Rest in den Untertassen hermachten.

»Sind das noch blinde Passagiere, die ohne ein Billett gelöst zu haben mitfahren und die Dividenden der Firma Wörmann drücken?« fragte ich den Kapitän, »oder sind es bereits Kamerunmücken, deren Tätigkeit die Träume unserer Kolonialsekretäre stört?«

»Kolonialmücken, heidnische Ureinwohner,« sagte der Alte, indem er eine der gefräßigsten mit seinem Zigarrenstummel zerdrückte. »Sehen Sie nicht, wie wenig sie noch an die Unduldsamkeit des Christentums gewöhnt sind? Sie bleiben sitzen und lassen sich ruhig töten. Der Bekenner des Islam, der alles duldet, weil Allah groß ist und will, daß auch die Viehcher leben, stört sie 60 nicht in ihrer Zudringlichkeit. Nur der Christ mißgönnt ihnen ihr Auskommen und schlägt sie tot. Das ist der Grund, weshalb die Biester unsere Missionare nicht leiden können. Sie rächen sich, impfen ihnen das Fieber ein und haben schon manchem das Lebenslicht ausgeblasen. Übrigens Sie werden dies Geflügel ja noch kennen lernen. Morgen laufen wir in die Ambasbai ein. Sie können dann vier Tage an Land gehen.«

So angenehm mir diese Nachricht in den Ohren klang, so glaubte ich mit meinem schiffsärztlichen Berufseifer etwas schauspielern zu sollen, indem ich die halblaute Entgegnung riskierte: »Aber, wenn dann gerade in meiner Abwesenheit irgendein Unfall vorkäme?«

Ich bin heute fest überzeugt, daß der Kapitän meine Frage gar nicht gehört hat, aber er beantwortete sie doch. Offenbar weil es außer mir noch andere Heuchler gibt und weil vor mir schon andere Schiffsärzte an der gleichen Stelle das gleiche gesagt haben.

»Passagiere haben wir von Viktoria ab keine mehr, und wenn irgendeiner unserer Bemannung verunglücken sollte, nun dann haben wir an der Batangaküste mehr als ein Spital, dem wir ihn übergeben können. Außerdem vergessen Sie nicht, daß uns ja Ihre rechte Hand, der Barbier bleibt. Ich sage Ihnen unter vier Augen, der Mann freut sich riesig auf den Augenblick, wo Sie weggehen und der Stab des Äskulap in seine Finger gegeben ist. Da kommt er sich vor, wie das Instrument des Herrn, wie eine Geißel Gottes, die dann zwischen 61 dem Schwarzwild unserer Schiffsbemannung herumsaust. Das müßten Sie sehen, wie er die zu behandeln weiß.«

Bei diesen Worten sah der Alte über die Reling hinunter auf das Puppdeck, wo ein Haufen Schwarzer vor der Apotheke stand.

»Gleich wird es vier Uhr glasen,« sagte er, sich rückwärts wendend, »da hätte ja Ihre Sprechstunde zu beginnen. Ich will doch einen Schiffsjungen hinunterschicken und dem Barbier sagen lassen: Sie seien hier oben festgehalten, er möchte vertretungsweise Ihren Stuhl neben dem Arzneischrank ausfüllen. Sie werden dann morgen mit leichterem Gewissen ans Land gehen, wenn Sie gesehen haben, wer Ihre Funktionen übernimmt.«

Ein Schiffsjunge kletterte geschwind wie ein Affe mit dem Auftrag in den Schiffsrumpf hinunter, und es dauerte dann auch nicht lange, und der Barbier bog um die hintere Luke herum und steuerte auf die Apotheke zu. Seine Füße steckten in kanariengelben Schuhen, seine Beine in etwas dunklerem Kakistoff, während ein Wollhemd gnädig überdeckte, was zwischen dem Gürtel und dem Gurgelknopf noch übrig war. Im Gesichte aber lagerte ein kraftvolles Selbstbewußtsein, das seltsam abstach gegen die ergebene Demut, wie man sie im Antlitz germanischer Kassenärzte von der Maas bis an die Memel beobachten kann. Das erste, was er denn nun auch seinen Patienten verordnete und sofort verabfolgte, waren eine Anzahl Fußtritte, vor denen sich schleunigst jene Spulwürmer der Krankenkassen zurückzogen, die aus ihrem 62 Leiden irgendeinen Vorteil an Geld oder Kost zu erschwindeln suchten. Das in so praktischer Weise verminderte Krankenmaterial wurde dann in summarischer Weise mit Rizinusöl gefüttert. Heinrich Heine sagt einmal: »Vor Gott und dem Rizinusöl gibt es kein Ansehen der Person« und wollte damit andeuten, daß es nirgends bleibt, beim Reichen so wenig wie beim Armen. Das war allerdings zur Zeit, wo das schnarchende Deutschland noch keine Kolonien hatte. Wer heute Herrn Schneidig fragen wollte, würde erfahren, daß Heine von der Sache nichts verstand und daß ein Negermagen das Rizinusöl sorgfältiger aufhebt und behält als mancher Kassenschrank die Tausendmarkscheine.

Wir hatten seither der Tätigkeit des Barbiers ruhig zugesehen, bis der Kapitän anfing aufgeregt zu werden. »Nun wird's Zeit, daß wir uns zurückziehen,« sagte er. »Jetzt ist er mit der inneren Medizin fertig. In dem Augenblick, wo er mit der Chirurgie anfängt, wird es für die Nasen gefährlich und es riechen die Spanier in Fernando Po da drüben unseren Dampfer.«

In der Tat – ein intensiver Jodoformgeruch stieg vom Puppdeck zu uns herauf nach der Brücke. Wir gingen ihm aus dem Wege und saßen bald wieder in der Kapitänslaube einander gegenüber. »Sie werden nun zugeben, daß wir auch ohne Sie kunstgerecht sterben können,« sagte der Alte mit Schmunzeln, »also gehen Sie nur morgen an Land. In vier Tagen, wenn wir 63 von Plantation und Kribi zurückkommen, nehmen wir Sie in der Ambasbai wieder an Bord.«

Ich freute mich wie ein Kind, daß sich nun alles so nach meinen Wünschen gefügt hatte. Ich sollte in den nächsten Tagen sehen, was von unsern Enkeln kaum noch einer sehen wird, ein Land in seinem Urzustand, wo Baum und Strauch nach ihrem Willen wachsen, wo der Wildbach ungebändigt über Klippen rauscht und keine andere Brücke trägt als allenfalls einen vom Sturm gefällten Urwaldriesen, auf dessen glatter Rinde der Leopard von einem Ufer zum andern wechselt. Ich sollte auf Pfaden wandeln, die der schwarze Fuß des Eingeborenen mit seinen gelben Sohlen bearbeitet und glättet wie der Töpfer seinen Ton, und dann wieder sollte ich in Schneisen hinein, die von plumpen Elefantenbeinen ins dichte Unterholz getreten waren. Ich sollte ganz an den Anfang des menschenmöglichen Kulturpfades gewissermaßen an die Außenseite der Paradiesesmauer gesetzt werden, wo Adam und Eva frierend stehen und an ungekochten Weißrüben ihren Hunger stillen – – – und dies morgen schon, morgen in aller Herrgottsfrühe. All dem, was nun nach wenig Stunden schon Neues und doch Uraltes an mich herantreten müßte, wollte ich einen ausgeruhten, aufnahmefähigen Geist entgegenbringen. Ich verabschiedete mich deshalb zeitig von meinem liebenswürdigen Kapitän und ging zur Ruhe in meine Kammer.

Ich schlief nicht schlecht, obwohl in meine Träume 64 herein all die Kulissen geschoben wurden, die nach der Lektüre von Lederstrumpf und Robinson Crusoe aus meinen Kindertagen als alte Theaterrequisiten in meinem Gehirn aufgespeichert waren. Der Medizinmann stand im Wigwam, während ein auf Steine gestellter Kessel sich von den Flammen lecken ließ; schlief zwischen Tigerfellen und hörte dem Knuspern der Beutelratte zu, die sich an den Häuten ein leckeres Mahl holte.

Aber von letzterem Bild war nun schon nicht mehr alles geträumt. Ich saß auf in meinem Bette, hatte mit den Händen den Moskitobay meines Vorhanges zurückgeschlagen, die elektrische Birne zum Glühen gebracht und suchte nun mit hellen ausgeruhten Augen nach dem nagenden Störenfried in meinem Zimmerchen herum. Letzteres war klein und übersichtlich genug, und dennoch: Nirgends konnte ich den Nager entdecken. Da sprang ich mit beiden Füßen aus dem Bett und streckte den Kopf durch den blanken Messingrahmen des Bullenauges hinaus aufs Promenadendeck. Draußen saß einer mit dem Rücken an meine Kabinenwand gelehnt in der frischen Morgenbrise und schabte an einer kleinen Holzpfeife. Da hatte ich ja nun das gefräßige Raubtier.

»Sie sind's, Herr Wolf,« so rief ich dem Pfeifenfabrikanten zu. »Nicht wahr, Sie können wieder einmal nicht schlafen? Schlingert ein Rad an Ihrer Maschine unten, oder quietscht eine Kolbenstange in der Büchse und macht Sie zum Nachtwandler?«

»Alles in Ordnung,« beantwortete Herr Wolf, der 65 besorgte Maschinenwärter, meine Frage, »nur das mit dem Schlafen nicht. Sehen Sie, ich habe ein weiches Bett, und doch will sich der Schlaf nicht darauf niederlassen. Er zieht es vor, sich neben den Handwerksburschen zu legen, der im Chausseegraben nächtigt. Wehe dem Krösus, dem der Schlaf fehlt. Mit allen seinen Millionen kann er sich keine einzige so köstliche Nacht kaufen, wie sie der Stromer gratis hat, der im Stroh der Futtergänge kampiert. Wie beneide ich Sie um Ihren gesunden Schlaf. Daß ich's Ihnen nur eingestehe: Seit einer Stunde sitze ich hier und höre neidvoll Ihrem Schnarchen zu. Doch nun lassen Sie es hoffentlich genug sein. Tauchen Sie nur eilig in die Kleider unter. Der Tag kommt. Schon rötet sich über den Konturen des Kamerunberges der Himmel.«

Der Tag kommt, und der Kamerunberg ist schon da. Mehr brauchte es nicht, um mich zur Eile zu spornen. So schnell fährt kein versöhntes Schwert in seine Scheide wie ich in meine Kleider fuhr. Nach zwei Minuten bereits stand ich neben Herrn Wolf auf der Brücke droben und ließ mich von ihm belehren: »Das, was Sie hier an Steuerbordseite sehen, ist Fernando Po, und hier an Backbord und geradeaus über dem Bugspriet da liegt der Kamerunberg, und an seinem Fuße liegt die Ambasbai, in die wir nun so allmählich hineinkommen.«

Gott sei Dank, daß Herr Wolf nach dieser Erklärung schwieg. Mein Geist konnte jetzt unmöglich zwei 66 Herren dienen, dem Auge und auch noch dem Ohre. Gebannt von der gigantischen Landschaft stand ich sprachlos da wie Bankos Geist beim Nachtmahle zu Fores. Ja. das ist ein Berg, dieser Kamerunberg, der einem Respekt einflößen kann. Mit dunkler, urwaldbedeckter Breitseite steigt er schwarz und finster aus dem Meere auf. Da ist nichts, was der kyklopischen Wildheit seines Antlitzes irgendeine freundliche Schminke auflegen könnte. Nirgends ein Fleckchen Kulturland, nirgends der schneeige Schimmer eines Landhauses, nirgends das bunte Farbendurcheinander eines Städtchens oder einer Dorfstraße. In einen schwarzen, dichten Urwaldmantel ist der ganze Koloß gehüllt bis hinauf zur Vegetationsgrenze, wo das kahle Bergeshaupt, vom Frühschein übergoldet, in etwas wenigstens die düstere Furcht mildert, die sich beim Anblick dieses ungeschlachten Riesen herzbeklemmend um unsere Seele schlingt. Man fühlt es, hier ist der Mensch noch gar nichts. Nur vom Hunger geführt, wie das Ungeziefer sich im Hammelpelz herumtreibt, irrt der schwarze Bewohner dieser schwarzen Berge nackt zwischen allgewaltigen Urwaldstämmen hin, ein Schmarotzer wie die Schafzecke und der Hundefloh.

Während meines Meditierens war die Sonne höher gestiegen. Die Südseite des Berges trat in bessere Beleuchtung. Auch war der Dampfer dem Ungetüm näher auf den Leib gerückt. Jetzt verflachte der massige Totaleindruck, und die Details kamen zum Vorschein. Man unterschied als Grenze zwischen Wasser und Festland 67 eine weiße Krause, Dünung zum Teil und Dünensand. Auf letzterem lagen lange schmale Kanus, die primitivsten Fahrzeuge, die es gibt, noch simpler, noch kunstloser als Noahs Arche, herausgearbeitet aus den Stämmen des Kabokbaumes. Und aus dieser embryonalen Schiffsbauzelle ist die Majestät der Riesendampfer herausgewachsen, die heute das Weltmeer nach allen Richtungen pflügen und denen die Unterdrücker bringen, die über ein tierisches Instinktleben bis dato nicht hinauszukommen vermochten. Der Geist ist's, der über die Materie herrschen soll. Darin und darin allein liegt die Absolution für alle Sünden gegen das siebente Gebot, die sich von Kolonialwirtschaft so wenig trennen lassen wie Eitelkeit vom Weib und Durst vom Trunkenbold. Wir tun damit den Eingeborenen fremder Länder nichts anderes, als was uns selber widerfuhr, als wir Germanen noch rückständig waren, und die römische Erobererfaust in unserem Nacken dulden mußten. Platz ist es, was zunächst der Kulturträger braucht für die eigene Wohnstätte, und so werden wohl bald auch die armseligen Hütten verschwinden, die hinter der Dünung aus dem Urwalddunkel geängstigt zu uns herüberlugen und jetzt in der Morgenfrühe einen leichten kräuselnden Rauch über das Blätterdach des Waldes hinsenden.

Längst sind wir nun dem Gebirgsmassiv so nahe gerückt, daß wir's in seiner imponierenden Totalität nicht mehr zu überschauen vermögen. Was Einheit schien, fängt an, sich zu teilen. Viele kleinere Gipfel drängen 68 sich vor und wollen beachtet sein. Schluchten haben sich aufgetan und reißen mit stürzenden Gebirgswassern den geschlossenen Waldmantel auseinander. Ja, das Meer selber greift mit verlangender Hand ins Land herein und hält mehrere stark bewaldete Gesteinsbrocken mit nassem Arme umschlungen. Das sind die Räuberinseln, die eine wenig rühmliche Vergangenheit haben. Auf ihnen hatten sich die portugiesischen Sklavenjäger festgesetzt, und von ihnen aus machten sie ihre Beutezüge ins Innere Kameruns, um schwarze Arbeitskräfte für den südamerikanischen Farmer zu fangen.

In eleganter Linie nimmt unser Schiff seinen Kurs um diese Inseln herum, und nun liegt vor uns fast kreisrund die glatte, blaue Flut der Ambasbai. In unserem Rücken haben sich die Eilande vorgeschoben wie ein Riegel. Wir sind in einem Trichter gefangen, in einem Binnenwasser, das ich dem Eibsee vergleichen möchte. Aber wie reizvoll sind die Wände dieses 69 Trichters! Zwar ist es immer noch der ernste Hochwald, der dem Bilde seinen Charakter gibt. Allein in das wilde Geäste hinauf ist die Liane gestiegen, und rotblühende Girlanden hängen von allen Zweigen nieder. Der Tulpenbaum umsäumt die Waldesränder, und ungezählte Palmenwipfel schaukeln ihre nachdenklichen Häupter in der sanften Morgenbrise. Wie nun das Auge von den Bergeswipfeln niedergleitet, trifft es auf einen glänzend weißen Punkt, wie von einem Malerpinsel hineingestupft in das satte Grün der Landschaft. Das ist mit ihrem Kirchlein und ihren Nebengebäuden die katholische Mission, die von dominierender Höhe fast wie ein Feenschloß herniederschaut auf den runden Spiegel der Ambasbai. Man muß es Mönchen und Nonnen lassen, sie haben durch die ganze Welt hin ihre Niederlassungen so zu legen gewußt, daß ihr Auge und ihr Magen nicht zu kurz kamen.

Doch auch das Laienelement in der europäischen Gesellschaft hat hier zuzugreifen verstanden. Das Bezirksamtsgebäude von Viktoria blickt von einem isolierten Hügel herunter nicht minder stolz wie das Kasino in Monte Carlo. Überhaupt diese deutsche Ansiedelung an der Ambasbai macht den Eindruck eines hochkomfortablen Badeortes und scheint förmlich nach einer Spielbank zu schreien. Welche Promenadenwege für Pariser Toiletten, welche lauschige Winkel für verliebte Paare, und wie vielfach die Gelegenheit sich umzubringen für unglückliche Spieler. Da ist Wasser, um sich zu ersäufen, Felsen, 70 um sich herunterzustürzen, solide Äste, um sich dran aufzuhängen, und zu alledem wächst hier noch die Belladonna und das Schierlingskraut in mächtigen Stauden.

Gerade wie ich diese vielseitigen Selbstmordgelegenheiten nach der Art deutscher Gründlichkeit einteilen und klassifizieren will, da fällt auch noch ein Schuß. Also noch eine weitere Linie ins Schema der Todesursachen hinein, so dachte ich mir. Doch dieser Schuß war weniger bös gemeint. Er kam aus unserer Alarmkanone von der vorderen Back her. Er weckte die Schläfer in Viktoria drüben, und sein Echo drang in die grünen Schluchten des Gebirges hinein und verkündete dem deutschen Kakaobauer, daß die »Eleonore« Anker geworfen hat und daß es heute abend an Bord Gelegenheit gibt, – für die Damen, ihre Roben aus Madeiraspitzen prunken zu lassen, und für die Herren, Pilsner Bier gut gekühlt vom Faß zu trinken. Die Ankunft eines Dampfers ist für die Beamten- und Farmerwelt da draußen immer ein Fest. Der Wasseromnibus bringt papierene Nachricht aus der Heimat mit, deutsches Sauerkraut und westfälischen Schinken. Wer will es den guten Ansiedlern verdenken, wenn sie an Bord kommen und mit ihren Nasen am Mastbaum den Harzgeruch der Schwarzwaldfichte suchen? Wenn sie Heimatlieder in die Palmenhaine hinaussingen, wenn sie einen aus Heimatgerste und -hopfen geborenen deutschen Rausch heimschleppen, oder wenn sie schlimmstenfalles sogar ihr Kinn im Aschenbecher des Rauchsalons über Nacht bleiben lassen?

71 Bis alle diese bunten Wahrscheinlichkeiten Tatsachen geworden wären, konnte ich übrigens nicht warten. Schon lag die Barkasse schnaufend an der untersten Stufe des Fallreeps, und auf der obersten stand ich mit gelben Gamaschen an den Unterschenkeln, den Rucksack auf dem Buckel und einen weißen Tropenhelm zwischen den Ohren. »God damm,« sagte der Kapitän, »haben Sie auch den Revolver in der Hosen- und eine Wurst in der Rocktasche? Man kann nie wissen, was vorkommt.«

»All right,« entgegnete ich, lief über das Fallreep hinunter, und die Barkasse raderte los. Zehn Minuten später stand ich am Strande von Kamerun mutterseelenallein, mir selbst überlassen. Das erste, was jeder ehrliche Deutsche in der Einsamkeit tut, ist, daß er ein Wirtshaus aufsucht. Doch mit diesem löblichen Streben kam ich hier zu keinem Ziel. Viktoria hat nämlich bis jetzt neben drei Missionsanstalten, einem Bezirksamt, einem Post- und Telegraphenamt und vielen anderen Ämtern und Faktoreien leider noch keine Wirtschaft. Ich würde diese traurige Tatsache, über die sich höchstens einer vom Orden der Guttempler freuen könnte, hier nicht niederschreiben, wenn sie nicht felsenfest bestätigt worden wäre von einem, der mit einer studierten Backe an mir vorüberschritt. Der junge Mann sah im übrigen blaß aus, so daß die akademische Runenschrift in seinem Gesichte nur um so deutlicher hervortrat. Den hat die Malaria gebleicht, dachte ich für mich und schritt dem Akklimatisationsgarten zu, auf den mich der wortkarge 72 Landsmann aufmerksam gemacht hatte. Mein Weg führte über eine Brücke, unter deren Joch ein wunderklarer Wildbach – die Lympe – dem nahen Meere zuströmte. Da der ganze Kamerunblock aus schwarzem vulkanischen Gestein besteht, so war auch das Flußbett so schwarz wie ein Bahrtuch, von dem die kristallene Klarheit des Wassers sich nur um so deutlicher und überraschender abhob. Man konnte sich nur Forellen hineindenken in die kühle Silberflut. Doch ich sah nirgends ein Lebewesen im sprudelnden Naß, obwohl das Wasser in Gumpen und Tümpeln bis in große Tiefen hinunter klar und durchsichtig ist. Gleich über der Brücke beginnt ein prachtvoll gepflegter Kiesweg, der in den kurzgeschnittenen Rasen wie ein gelbes Seidenband hineingelegt ist. Riesenhafte Kabokbäume, die letzten Reste des zurückgedrängten Urwaldes steigen aus der saftgrünen Fläche heraus und bieten das gewaltige Blätterhaupt den Stürmen zum Kampfe dar, sicher und selbstbewußt, denn meterweit vom Stamme entfernt haben sie zur Verankerung ihres Riesenleibes die breiten Streben hinausgetrieben. So wurzeln sie hier, den Jahrtausenden trotzend, mit breitem Grundriß wie gotische Dome. Und unter ungeschlachten Riesen, da wimmeln die Zwerge der Pflanzenwelt. Da wächst die Orange im wilden Buschwerk, die Granate an allen Hecken, und zwischendrinnen hängt wieder der Kaffeebohnenstrauch seine roten Beeren dem Beschauer vor die Nase, so daß diese von einem lockenden Mokkaduft umfächelt wird. In Gruppen 73 von zehn bis zwölf Exemplaren stehen die Dattelpalmen zusammen, heben das Filigran ihres Blattwerkes in die Ätherbläue des Himmels hinein und lassen an schwanken Gerten die Last ihrer Früchte niederhängen, so daß es aussieht, als ob da oben eine Rakete geplatzt wäre. Drohend, fast lebensgefährlich hängt aus dem Astwerk anderer Stämme die Alligatorbirne und die Kokosnuß in der Größe von kleinen Kegelkugeln hernieder. »Wehe, wenn sie losgelassen.« Ich möchte den Menschenschädel sehen, der eine solche Karambolage aushielte. Zu dem allem denke man sich noch die weitgespannten, blütenüberladenen Festons, die tausenderlei Arten von Schlingpflanzen von Stamm zu Stamm hinüberschlagen, man denke an alles, was da blühend und duftend am Boden hinkriecht und aus borkigen Rinden herausfällt, und man belebe dieses Meisterstück der Flora noch mit sprudelnden Wassern, mit gaukelnden Schmetterlingen und Papageientauben, die farbenschillernd die blaue Luft durchschneiden, so wird man sagen müssen: Hier ist ein Stück des Himmels auf die Erde heruntergefallen, hier ist in der Tat das Paradies. Ja und damit an dem Vergleiche gar nichts fehle, so laufen sogar, wenn man sich das bißchen Lavar-Lavar um die Lenden wegdenkt, nackte Menschen da herum. Ganz so müßig, wie Adam und Eva waren, sind sie übrigens nicht. Sie haben Körbe auf dem Kopf, und die sind gefüllt mit den roten, gelben und grünvioletten Früchten des Kakaobaumes. Still und wortlos laufen diese schwarzen Gesellen mit den 74 ockergelben Fußsohlen immer einer hinter dem andern in die Tiefe des Gartens hinein. Errötend folge ich den Spuren dieser Paradiesbewohner, errötend, sage ich, denn der Rassenduft, den sie ausströmten, konnte einem wahrhaftig den letzten Blutstropfen vom Herzen weg in die Ohren treiben. So komme ich mit dem Sacktuch vor der Nase an einem niederen Wirtschaftsgebäude an, vor dem die Kakaofrüchte in großen Haufen aufgeschichtet liegen. Schwarze Arbeiter stehen in Massen da herum und warten auf die Befehle eines mageren Europäers in weißem Tropenanzug. Das Gesicht des jungen Mannes war von dem Rand eines Korkhelmes überschattet, wodurch die eingefallenen Augenhöhlen noch tiefer erschienen, als sie vielleicht waren. Die Wangen hingen schlaff und gelbweiß von den Jochbogen herunter, und das ganze Gesicht schien das melancholische Spiegelbild eines schweren inneren Siechtums zu sein. »Da hätten wir die Schlange in dem Paradies unserer Kamerunkolonie,« dachte ich für mich, »Malaria natürlich.«

Ob dieser hier von ihr gezeichnete Mann wohl den Strand der Nordsee noch einmal sehen wird? Hätt' ich ihm doch den Wind von Cuxhaven mitbringen können oder besser noch den, der zwecklos am Brocken die Bäume schüttelt. Doch das alles hatte ich ja nicht. Das einzige, was ich dem kranken Landsmann anbieten konnte, waren einige Worte seiner Muttersprache: »Eine gute Ernte heuer?« fragte ich, indem ich auf die Kakaohaufen deutete.

75 »Zuviel Braunfäule,« antwortete der Angeredete kurz, ließ mich stehen und ging müden Schrittes in ein Magazin hinein, das mit dem gleichgültigsten Kistengerümpel ganz gefüllt war.

Da hatte ich nun zwei Germanen hier am Saume Afrikas getroffen, von denen keiner die Tatsache, daß nun auch ich »da herüber« sei, besonders hoch einzuschätzen schien. Das ärgerte mich fast, denn vor mir selber hatte ich allerlei Respekt, schon deshalb, weil es immerhin etwas Courage voraussetzt, eine so weite Reise zu machen, wenn auch die Dinge an Ort und Stelle besehen viel weniger gefährlich erscheinen, als sie sich aus der Ferne ausnehmen. Aber ich war nun einmal verstimmt, kehrte dem Paradies den Rücken und wandte meine Schritte dem Meeresufer zu. Ein schöner Weg, der außer dem Saumpfad auch noch die Geleise einer Schmalspurbahn trug, führte der Steilküste entlang. Jäh abstürzende Felswände, aus deren Schründen und Klippen unzählige Arten von Farnen und Orchideen niederhingen, begleiteten mich zur Rechten, während zur Linken das in den Uferkieseln kräuselnde Meer sein Schlummerliedchen sang. »Hier kannst du ein wenig ruhen und träumen,« sagte ich zu meiner Seele, und ich fand einen abgestürzten Felsblock, der sich für mich äußerst bequem in den breiten Schatten eines Mangobaumes gelagert hatte. Schillernde kleine Eidechsen, die den Ruhesitz vor mir okkupiert hatten, wichen der höheren Gewalt und verschwanden züngelnd im Durcheinander von 76 Flechten und Moos, das überall die Hänge überkleidete. Da saß ich nun und blickte in die Ambasbai hinaus, die sonnenbeglänzt wie das Auge des Weltengeistes zu mir herüberschaute, rein, klar und gesund bis auf einen kleinen Strich, der wie eine Kornrade störend auf der Pupille hing.

Das kleine Ding war unsere »Eleonore«, und wie sie so nichtssagend vor mir lag, kam mir der Duft ihrer Speisekammer in den Sinn, und ich erinnerte mich, daß ich aus ihren Schränken noch eine Wurst besaß, die mir plötzlich ansehnlicher erschien als das Schiff, das sie von Hamburg hierher getragen hatte. Ich holte das Kunstwerk eines Gothaer Wurstathleten aus meinem Rucksack hervor und fing an zu essen, nach recht primitiver Manier, Wurst und Brot in der linken, das Messer in der rechten Hand. Wie ich mich mit wahrem Entdeckereifer in den Inhalt der Wursthaut verliere, biegt oben eine weiße Gestalt um die Felsenecke und kommt, von einem weißen Sonnenschirm überspannt, langsam auf mich zu. Ein Europäer ist es sicherlich, sagte ich mir, wenn's gar ein Deutscher wäre, so sollte das mich freuen. Ich hatte zu meinem Aufstieg auf den Kamerunberg noch allerlei nötig und konnte den Rat eines landeskundigen Deutschen recht gut brauchen. Ich nahm nun die weiße Gestalt in die Gläser meines Fernstechers und konstatierte, daß es dem Schnitt seines Gewandes nach ein Ordensbruder sein müsse. Wenn's nur nicht gerade ein Trappist ist – die bekanntlich nichts reden dürfen – so wirst du 77 in irgendeiner der europäischen Sprachen einige gute Ratschläge aus ihm herausholen, so ermutigte ich mich selber und sah immer wieder mit dem Glase nach dem wandelnden Heiligenbilde hin, das betend näher kam. Trotz des Auf- und Niederschwankens des Schirmdaches entdeckte ich dann einen gewaltigen viereckigen Alemannenschädel, dem eine spitze Zinkennase neugierlich über breite Lippen niedersah. Gewiß ein Kinzigtäler, jubelte es in mir auf, den die Heimat nicht ernähren konnte, weil seine Hakennase die Schnitz vom nationalen Gebäck des Apfelkuchens herunterstieß. Ach, wenn dem doch so sein möchte! Der Mann käme mir so gelegen wie die Nacht dem Hochzeiter, wie dem Strandräuber der Schiffbruch.

Während ich solches dachte, war derselbige Ordensmann so nahe gekommen, daß ich die Details an ihm ohne Glas gut unterscheiden konnte. Der im Habit war ein kräftiges Knochengestell, ein Arbeitstier, aber aufs Gewicht verkäuflich hätte kein Metzger viel für ihn gegeben. Er war hundsmager, und auch ihm flatterte die Haut fahl und gelb wie ein Tüllvorhänglein vor den Zähnen.

Als der Betende auf gleicher Höhe mit mir angekommen war, hob er die Augen aus dem Gebetbuch heraus und sagte freundlich: »Grüß' Gott auch, Landsmann, habt Ihr eine gute Überfahrt gehabt? Ihr seid noch nicht lange hier im Lande; Euch blühen noch so frische Backen zwischen den Ohren. Wollte Gott, daß Ihr sie behalten möchtet.«

78 »Ihr seid eines guten Herzens Vater und habt gewiß auch einen guten Rat für mich. Haltet nicht zurück damit, und ich will ein Vaterunser für Euch beten, daß Euer Leib, bevor ihn die Erde aufnimmt, noch einmal ins Kinzigtal kommt.«

Der Mann strich sich mit den mageren Händen über die hohlen Wangen, lächelte ein wenig und sagte dann: »Ihr meint es gut mit mir, drum will ich Euch sagen, was ich für Euer Wohl für zuträglich halte. Schön ist es hier, nicht wahr, mein Freund? Aber ungesund. Fühlt Ihr nicht die feuchte, warme Treibhausluft, die hier aus dem Boden steigt? Seht, sie ist die wollüstig-weiche Überzuckerung des Malariagiftes, das wir stündlich einatmen, bis es uns die Milz verdorben und das Blut verwässert hat, daß wir schließlich aussehen wie ein Weihnachtsstullen, mehlig und bleich, bevor ihn der Bäcker in den Ofen schießt. Macht, daß Ihr fortkommt aus dieser Gegend. Steigt nach Buea hinauf. Dort findet Ihr ein erträgliches Klima und alle unsere Regierungsbeamten. O, die Leute wußten gut für sich zu sorgen. Sie thronen da oben im kühlen Olymp, wir aber schmoren hier in einer glutheißen Hölle.«

»Vierzig Grad Celsius im Schatten schätze ich, guter Pater,« fuhr ich fort. »Euer Rat ist mein Programm. Nun tut mir den Gefallen und sagt mir, auf welche Weise ich da hinaufkomme. Ich war in meinem Leben nie ein Arbeitsfanatiker, und wenn ich die Erdbeeren im Klee haben kann, so hol' ich sie nicht aus den Nesseln.«

79 »Wenn Ihr einigermaßen Glück habt,« erwiderte der Gottesmann, »so könnt Ihr den Aufstieg heute noch bequem genug bewerkstelligen. Gehet nur hier auf den Schienen weiter, bis Ihr in das Getriebe einer Kakaorösterei hinein kommt. Das Maschinenhaus dort ist zugleich auch unser Bahnhof. So um die Mittagszeit – das heißt bei uns hier, die wir mit den Minuten nicht rechnen – so zwischen neun und drei Uhr geht das Kakaobähnchen nach Zoppot hinauf. Die Lokomotive kann außer einem Güterwagen noch eine Sitzgelegenheit für vier Personen schleppen. Ihr hockt in einer Art Schlittengestell einen halben Meter über dem Boden und habt über Euch ein weißes Leinendach zum Schutz gegen die Sonnenstrahlen. Geht und sichert Euch immerhin zeitig eine Fahrkarte. An Tagen, die uns einen deutschen Dampfer bringen, ist es schon vorgekommen, daß fünf und mehr Menschen gleichzeitig befördert sein wollten.«

»Ihre Transportmittel hier, guter Pater, scheinen noch von den Leistungen der württembergischen Lokalbahnen übertrumpft zu werden,« bemerkte ich verlegen. »Ich bin gegen Unfälle zwar leidlich versichert, aber immerhin möchte ich, wenn's sein kann, doch lieber eines natürlichen Todes sterben. Könnt Ihr mir sagen, ob ich gegen Dammrutsche und Brückeneinstürze einigermaßen gesichert bin?«

»Das Reisen, in welcher Art es auch geschehen mag, bringt hier natürlich mehr Gefahren als in Europa. 80 Gleichwohl kann ich Ihnen in Aussicht stellen, daß die Waldbähnchen, vorausgesetzt, daß kein Baum über den Bahnkörper gefallen ist . . .«

»Oder kein Elefantenkalb zwischen den Schienen steht,« erlaubte ich mir zu bemerken.

»Ist auch nicht ganz auszuschließen,« sagte der Pater und fuhr fort: »Sie in vier bis fünf Stunden nach Zoppot bringen wird. Aber gehen Sie, es wird Zeit. Schon steht die Sonne hoch. Sie schleppen bei der Hitze noch ein Bündel auf dem Buckel Ihres Leibes mit und eine Todsünde auf dem Buckel Ihrer Seele, weil Sie heute eine Wurst an einem Quatemberfasttag verspeist haben. Diese letztere Last wenigstens kann ich durch meine Absolution von Ihnen nehmen, Ihren Rucksack aber müssen Sie weiterschleppen.«

So sprach der Gottesmann und machte das Zeichen des Kreuzes über mich in die Luft, um dann seine unterbrochene Andacht wieder aufzunehmen, indem er nach der Richtung, aus der ich hergekommen war, weiterging.

Es fiel mir nicht leicht, mich aus dem Schatten des Mangobaumes loszureißen und in die heiße Tropensonne hineinzuwandern. Jedes Kleidungsstück am Körper wurde mir bald zur Qual, und ich beneidete die nackten Eingeborenen, die mir ab und zu begegneten, um die paradiesische Einrichtung ihrer fehlenden Kleider. Halbgeröstet kam ich endlich in der Kakaodarre an und erfragte bei einem Manne, der eine Art Werkmeister zu sein schien, den Billettschalter. Man führte mich nach einem öden 81 Raume, dem ein am Fensterkreuz hängender Kalender, ein Falzbein und ein Lineal, die auf einem Tische lagen, ein büromäßiges Aussehen zu geben versuchten. Gegen einen ziemlich. hohen Fahrpreis händigte man mir einen Zettel aus und versicherte mir, daß Punkt ein Uhr ein Zug nach Soppo abfahren würde. Eine Stunde Wartezeit auf einem Bahnhof ist in Europa lang, in Afrika aber gar nichts, zumal dann, wenn man Gelegenheit hat, die fernliegendsten Dinge zu sehen. Ich setze mich in einen Schuppen und sehe zu, wie die Schwarzen die braunen Kakaobohnen herumtragen, die hier auf einer Art Malzdarre geröstet werden. Transmissionen geigen, Räder schnurren und kleine Wagen laufen auf Schienen hin und her. Alles wie bei uns in den industriellen Betrieben. Nur daß es hier Bakwirineger waren, die das Räderwerk in Betrieb setzten und die komplizierten Maschinen bedienten. Also kann man sie zur Arbeit erziehen, dachte ich bei mir. Dann haben sie auch eine Zukunft. Dann werden sie von uns das Bierbrauen lernen, werden trinken und Tarock spielen wie wir, und in fünfzig Jahren, wenn unsere Urenkel Hosen tragen, wird am ganzen Strande der Ambasbai hin ein Kaffeehaus neben dem andern stehen.

In meinen Träumereien sah ich schon, wie ganze Schiffsladungen von Bauspekulanten an einem mächtigen Wellenbrecher gelöscht wurden, als ein Negerknabe mir auf die Schulter klopfte und in besorgtem Tone die Kunde radbrechte: »Massa, der Eisenbahn buff, buff,« 82 und indem er mit seinen nackten Füßen einen Trommelwirbel zu schlagen anfing, suchte er mir mimisch beizubringen, daß der Zug am Abfahren sei. Aber es kann doch noch nicht ein Uhr sein, dachte ich bei mir und holte meinen Chronometer hervor. Es war fünf Minuten nach zwei. Dieses Städtebauen hatte meine Zeit verschlungen, wodurch ich übrigens trotz des Sprichworts nicht ärmer wurde, da bei mir Zeit und Geld noch zwei recht verschiedene Dinge sind.

Unter einem Kameruner Kakaozug hatte ich mir nach dem Bericht des Missionars nicht allzuviel vorgestellt. Was ich aber in Wirklichkeit vorfand, war eigentlich nur ein Kinderspielzeug. Lokomotive und Anhängsel wären in einen rechtschaffenen Möbelwagen bequem hineingegangen. Die Lokomotive, nicht viel größer als eine Baßgeige, schleppte ein Güterwägelchen hinter sich her und noch ein Ding, das aussah, wie eine japanische Sänfte. Die verblüffende Maschinerie kam auf schmaler Spur wie ein Enterich dahergewackelt, machte aber ein Gerassel, als wenn die Konstantinopeler Löschmannschaft zu einem Großfeuer ausrückt. Das ganze putzige Fuhrwerk sah aus, als ob man es mit einem Fußtritt aus dem Geleise werfen könnte, und wirkte für das Auge des Europäers entschieden komisch. Unter Lachen stiegen wir zu vieren in die kleine Sänfte hinein, ließen uns nieder und griffen von unseren Sitzen aus mit den Händen auf den Bahnkörper, um Kakaoschalen aufzuheben, die wir uns einander neckend ins Gesicht warfen.

83 Das Betriebspersonal, bestehend aus zwei nackten Eingeborenen, war toleranter als die Schaffner im Bonn-Godesberger Lokalverkehr, nahm an dem groben Unfug weiter keinen Anstand, stieg auf die Lokomotive, über deren Miniatur-Schornstein die beiden schwarzen Kerle bequem hinweggucken konnten. Wir fuhren los. Ein dichter Rauch legte sich barmherzig um die Lenden der beiden Zugführer, so daß die Lavar-Lavarfetzen und was sie eigentlich bedecken sollten, unseren Blicken gnädigst entzogen waren. Man sah von diesen Ebenbildern Gottes nur noch das geölte Rückenfell und das schwarze Kraushaar ihrer Kokosnußköpfe. Im übrigen ist es unbestreitbar, daß eine Negerhaut für Heizer und Lokomotivführer eine äußerst praktische und dauerhafte Livree darstellt. Welche Überschüsse könnten nicht bei den preußischen Staatseisenbahnen erzielt werden, wenn das ganze niedere Betriebspersonal derartig praktisch uniformiert wäre.

Sobald wir einmal im Fahren waren, interessierte uns das Fuhrwerk selber nicht länger mehr. Wir dampften zunächst in etwas sumpfiger Gegend in ein hageldichtes Unterholz hinein, das glatt geschnitten rechts und links der Fahrrichtung wie die Taxusmauern eines alten Schloßparkes dastand. Dieses üppige Unterholz ist etwas, was sich an den Billettpreisen unangenehm bemerkbar macht. Unbezähmbar in seinem wilden Drang nach Wachstum und Ausdehnung, würde es in vierzehn Tagen schon den ganzen Bahnkörper verschlungen haben, wenn nicht das Haumesser des Negers seinen 84 Übergriffen die Grenze steckte. Wenn auch der Tagelohn eines solchen Bahnwärters kaum über zehn Mark im Monat hinausgehen wird, da deren viele sein müssen, so verzehrt doch ihr Beamtengehalt eine nennenswerte Summe.

Man sieht die nackten Männer mit eingezogenen Bäuchen wie Heiligenbilder in grünen Nischen stehen, wenn das Züglein vorbeirattert. Denn wenn die Lokomotive auch nur klein ist, ihr ganz zu trauen, ist nicht ratsam. So drückt sich das Streckenpersonal in die Zweige hinein, und die Monotonie der Heckenwand wird äußerst belebend unterbrochen, zumal da man bequem beobachten kann, wie überall Stechfliegen und Bremsen sich aus dem Gesträuch hervor dem Bakwirimanne sehnsüchtig entgegendrängen.

Indessen waren wir aus dem Buschwalde heraus und zwischen auserlesene Hochstämme hineingekommen. Sie waren die Überlebenden des hingemordeten Urwaldes. Hier hatten Axt und Rodhacke des Pflanzers sich die Wildnis willfährig gemacht. Was von ihr noch stand, diente den selbstsüchtigen Zwecken einer Plantagengesellschaft. Die Kakaopflanze kann den Schatten zeitlebens nicht entbehren. Den eben eingegrabenen Setzling stellt man zwischen lange Reihen breitblättriger Bananen und Erythrinen. Über das erwachsene ertragsfähige Exemplar muß der Urwaldriese seine kühlen Schatten breiten. Dazu hat man ihm das Leben geschenkt. So wächst die braune Bohne in der kürbisgroßen Hülle, 85 wird verarbeitet und findet schließlich ihren Weg als Schokolade zwischen die Zähne europäischer Leckermäuler. Der schwarze Mann aber ist es, der die Bäumchen pflegt, die eine Ernte einholt und die andere vorbereitet. Von allen Seiten kommen die dunklen Ehrenmänner mit vollen Körben nach dem Bahnstrang zugelaufen und schichten den Segen zu Bergen auf. Wenn morgen das Bähnchen zurückgeht, dann nimmt es die Früchte mit an den Strand der Ambasbai, und alles Weitere vollzieht sich dann mit Selbstverständlichkeit.

Während ich so saß und tausend neue Eindrücke mit Bewußtsein sammelte, waren mir einige, ohne daß ich es merkte, beigebracht worden. Mit Bewunderung entdeckte ich nämlich auf dem Rücken meiner beiden Hände linsengroße, hellrote Flecken, die aussahen, als ob sie von der Haut einer Forelle transplantiert wären. Ich hatte an den kleinen Kunstwerken meine stille Freude, bis mein vis-à-vis erschrocken zu mir sagte:

»Wie unvorsichtig! Nun schirme Gott Ihre Nachtruhe. Daß Sie aber auch keine Handschuhe angezogen haben. Einstweilen sind Sie von der Sandfliege geimpft, die Beißerei und die Geschwüre werden in den nächsten Tagen nachgeliefert.«

Da war mir die Freude an meiner schönen Tätowierung allerdings verdorben. Aber ich hatte nicht allzulange Zeit, mich mit der eigenen Persönlichkeit zu beschäftigen, denn neben den Menschen machte sich jetzt die Tierwelt bemerkbar. Kleine schwarze 86 Schweinchen brachen spielend aus dem Gewirre der Schlingpflanzen hervor, die schmalgestellte Buschkuh weidete längs den Wassergräben hin, die nach den Kakaofeldern führten, und geschmeidige Ziegen kletterten über die Wurzeln der Bäume, stellten sich an den Stämmen in die Höhe und naschten an dem, was von oben nach unten hing, weil ihnen das, was von unten nach oben wuchs, nicht mehr gut genug war.

»Ist hier ein Dorf in der Nähe?« fragte ich einen meiner Mitreisenden.

»Gewiß«, war die Antwort, »sehen Sie nicht da unten den Rauch, der hinter dem dichten Verhau aufsteigt? Diese gewachsene Mauer ist der Schutz für solch ein Negerdorf. Jede neue Ansiedelung umsteckt ihre Hütten mit den Zweigen des Kabokbaumes. Diese schlagen Wurzeln, Stämme schießen aus der Erde, und Schlingpflanzen verweben die Bäume zu einer fast undurchdringlichen Palisadenwand. Hinter dieser Schutzwehr leben dann oft ganze Stämme mit allen Haustieren zusammen, in patriarchalischer Unreinlichkeit.«

Man muß schon die Augen eines Lederstrumpfs haben, wenn man solch eine Siedelung hinter Buschwerk und hohem Elefantengras entdecken will, aber ich sah so beharrlich nach der Gegend, wo sich die Wildnis mit sich selber verfilzte, daß ich mir schließlich doch einbilden konnte, ich hätte wenigstens die Umfassungsmauer eines Wigwams mit leibhaftigen Augen gesehen.

Derweilen hielt das Zügle, und nun dachte ich nicht 87 weiter, als daß der Schaffner den Namen des Dorfes ausrufen würde, vor dessen Palisaden wir eben vorbeigefahren waren. Dem war aber nicht so. Wir hielten vielmehr vor einer Brücke, die über eine tiefe Schlucht hinwegführte. Die Schlucht selber sah man nicht. Es war, als ob sie mit Hopfenranken zugeschüttet wäre. Aber man hörte aus dem unentwirrbaren Gemengsel der Schlingpflanzen heraus die donnernde Stimme eines starken Waldbaches, und stromaufwärts sah man einen schäumenden Wasserfall wie einen klaren Silberspiegel über einen grünen Absturz herniederhängen.

Unsere zwei Dunkelmänner hatten ihr Fuhrwerk im Stich gelassen und waren unsichtbar geworden. Ich dachte anfangs, die Kerle machten der Sicherheit halber noch einmal eine Belastungsprobe am Drahtgeflechte der vor uns liegenden Brücke, um zu erfahren, ob sie uns den Gefallen tun und standhaft bleiben wolle, bis wir drüben wären. Das ganze Schirmgestell sah nämlich elend gebrechlich aus. Doch da überschätzte ich das Vorsichtsgefühl dieser Naturkinder. Bis ein Mensch die Folgen einer Tat in seine Erwägungen mit hereinzieht, muß er schon eine ziemlich hohe Stufe der Kulturentwicklung erreicht haben. Solange diese Wilden die Schienen noch liegen sehen, so fahren sie kühn darauf los, auch wenn der ganze Unterbau hinweggeschwemmt wäre. Lieber gleich direkt in den Abgrund hineingestürzt, als daß man sich vorher lang Gedanken macht, wie man allenfalls mit heiler Haut drum herumkommen könne.

88 Als wir niemand mehr sahen, der mit dem Zügle hätte durchgehen können, krochen wir aus unserer Sänfte heraus, um uns die eingeschlafenen Beine wieder munter zu treten. Vielleicht ist es die Furcht vor Schlangen und sonstigen Reptilien, weshalb der Fuß des Europäers in den Tropen nicht gerne auf ein Gelände tritt, das er nicht mit dem Auge kontrollieren kann. Wir hätten bequemer für unsre Hühneraugen den moosigen Waldboden zu unsrer kleinen Wanderung benützen können, aber wir zogen den rauhen, mit Lavabrocken überschütteten Bahndamm vor und kamen an das Widerlager der Brücke. Tief unter uns hing der Pflanzenflor, der den Wildbach überdeckte, aber er war nicht ganz; er hatte zwei Schlitze wie Knopflöcher, und in diesen standen unsere Lokomotivführer und schöpften mit Eimern das kalte Naß aus der raschen Flut. Wir waren nämlich an einer Wasserstelle für unseren eisernen Zugochsen angekommen. Wenn ihm nicht der Atem ganz ausgehen sollte, so mußte er hier getränkt werden. Er schluckte wie ein Nilpferd, und der weiße perlende Schaum lief ihm rechts und links neben der Futterluke herunter. Dafür legte er sich dann aber auch gleich darauf mit voller Energie in die Stränge, und trotz beträchtlicher Steigung kamen wir von jetzt ab an der Südwand des Berges rasch empor. Ja es ging sogar rascher, als mir lieb war. Denn ein prächtiger Sonnenregen hatte eingesetzt und schraffierte den azurblauen Himmel mit glänzenden Diagonalstrichen. Behaglich saß ich unter 89 dem Sonnendach unseres Wagens und genoß mit Wollust das himmlische Vergnügen, das jeder empfindet, der im Trockenen sitzt und zusehen kann, wie die anderen naß werden. Und es gab viel zu gucken, denn die nackten Niggermädchen, die jedenfalls fürchteten, daß sie abschießen könnten, kamen aus der Plantage heraus und liefen dem Bahnstrang entlang ihren Hütten zu. Es waren feingestaltete Körper darunter, die man als Blumenträger auf die Rampe einer feudalen Marmortreppe hätte stellen mögen, wenn nicht das schildförmige Bananenblatt, das sie zum Schutze gegen den Regen in stolzer Haltung über ihren Köpfen trugen, ihnen einen friedlosen, amazonenhaften Anstrich verliehen hätte.

So waren wir, als schon die Sonne sich zum Horizont neigte, vor zwei ungeschlachten Bretterbuden angekommen und mußten aussteigen. Soppo, der Endpunkt der Kakaobahn, war erreicht.

Wer sich an diese Stelle einen Glashimmel denkt, wie ihn der Frankfurter Bahnhof zeigt, der irrt sich. Nicht einmal die geringste Spur eines Perrons ist vorhanden. Es gab weder Gnade noch Barmherzigkeit. Wir mußten mit den Beinen aus dem Wagen heraus und hinein ins kniehohe, nasse Gras. Und doch war unsere glückliche Landung nicht ganz ohne Feierlichkeit. Eine lange Reihe baumstarker Eingeborener stand zu unserem Empfange bereit. Gesichter wie die Orang-Utans und Mäuler, die wie ein Regenbogen vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenniedergang reichten. Bäuche 90 hatten sie wie die Zwiebeldächer einer Rokokokirche, ja mancher hatte auf die Hauptkuppel noch eine Zwergkuppel in Gestalt eines rübendicken Nabelbruches ausgesetzt. Und darunter Beine so mager wie die Ständer einer Rehricke. Wie sie so in längerer Front dastanden, sahen sie aus wie eine Brollkrugsammlung auf einem Paneelbrett. Dabei spielte um ihren Mundwinkel so eine verdächtige Menschenfreundlichkeit, die ungefähr sagen wollte: Lieber würden wir euch fressen, als daß wir euch bedienen. Bedauerlicherweise für sie, waren sie nur zu dem letzteren Zwecke engagiert. Sie waren nämlich die Träger, die unser Gepäck von Soppo nach Buea hinüberschaffen sollten.

Schroffer noch als der Gebrauch der Seife steckt die Verwendung des Rades die Grenze der Kulturregionen ab. Hinter Soppo gibt es nur noch Pfade, von Menschen oder Tieren in den jungfräulichen Leib der Mutter Erde hineingetreten, keine fahrbaren Wege mehr. Was von Kaufmannsgütern befördert werden soll, muß dem Eingeborenen auf die Schulter gepackt werden. – Nun, zu diesem edlen Zwecke waren die oben beschriebenen Prätorianer des Bakwiristammes delegiert worden. Man hatte unser Gepäck aus dem Güterwagen des Zügleins herausgenommen und ins Gras gelegt. Herr Wilske aus Buea, der in der Sänfte von Viktoria mit heraufgekommen war, hatte das Ganze in einzelne Lasten zerlegt und gab nun der Bakwirinobelgarde ein Zeichen, daß sie sich in die aussortierten 91 Lasten teilen möchten. Im Nu war ein wildes Geraufe im Gang. Menschliche Arme und Beine waren mit Rucksäcken und Handkoffern zu einem wirren Knäuel verstrickt, der am Boden hin und her kugelte, bis Herr Wilske mit der Reitpeitsche in den gordischen Knoten hineinschlug. Ein jeder von den schwarzen Tagedieben wollte nämlich das, was er von den Lasten für das Leichteste hielt, für sich heraussuchen, um damit davontänzelnd den gleichen Lohn zu erhaschen wie ein anderer, der unter seiner Bürde gebückt ging wie Atlas unter der Weltkugel. Da ein gütlicher Ausgleich der konkurrierenden Interessen nun nicht mehr zu erwarten war, so teilte Herr Wilske jedem einzelnen Träger selbstherrlich seine Last zu. Einer nach dem anderen beluden die schwarzen Ungetüme ihre Schultern und trabten in kleinen Abständen eine schmutzige Spur entlang, die eher ein Graben als ein Pfad war. Wir Europäer in dem glitschigen Boden stolpernd und fallend langsam hinterher. Unseren Abstand hinter den Bakwirileuten hatten wir, um unsere Geruchsnerven zu schonen, etwas reichlich bemessen. Wer in die Fußstapfen dieser schwitzenden Dickhäuter treten muß, der sollte sich die Innenfläche der Nase auspichen lassen wie ein Bierfaß. Den Düften gegenüber, die hier des Geistes zarter Hülle entströmen, ist der Geruch einer Feldwanze schon das reine Heliotrop.

Der Pfad ging durch den Wald und stieg mählich bergan. Wir hatten die Träger aus den Augen 92 verloren und glaubten unsere Sachen in guter Hut ihres Hetmans. Da mit einem Male hörten wir neben uns im Busch ein erbärmliches Stöhnen und sahen gleichzeitig die himmellange Gestalt eines Trägers neben einer großen Blechkiste liegen. Der Ärmste schlängelte sich wie ein Regenwurm in Krämpfen. In seiner Sucht, eine möglichst leichte Last zu erhaschen, hatte er sich die Akten eines Prozesses aufgeladen, den irgendeine Plantagengesellschaft gegen die Kolonialverwaltung führte. Der Rechtsstreit war erst im Anfange seiner Entwicklung, und schon hatten seine Dokumente einen Menschen zu Boden gedrückt. »Gott schenke allen denen die ewige Seligkeit, die sterben werden, bevor dieser Streitfall ausgetragen sein wird,« so betete ich im eigenen Interesse wie in dem meiner Urenkel mit Inbrunst in das Gold der Abendsonne hinein, die draußen am westlichen Horizont über der Atlantik eine feurig gewölbte Eingangspforte ins bessere Jenseits formte.

Wir waren nämlich über eine Bodenwelle, die vom Kamerunberge herniederläuft, hinübergekommen und hatten 93 einen wunderbaren Ausblick südwestwärts über das Bimbiaflachland hinüber und die Batangaküste hinunter. Ein weiter, faltenreicher Waldesteppich überkleidete das unabsehbare Land, durch dessen Niederungen gigantische Flußläufe sich den Weg nach dem Meere bahnten. Was wir da flimmernd im Abendsonnenglanze vor uns hatten, war das Kamerun-Ästuarium, das nicht weniger als die Wasser von drei gewaltigen Strömen, dem Mungo, Wuri und dem Ouaqua, einem Ableger des Dibambu, in einer Schale sammelt. Was Moses einst von den Moabiterbergen aus gesehen haben kann, ist nichts gegen dieses dem deutschen Unternehmungsgeiste verheißene Land.

Schade, recht schade drum, daß ein Menschenleben kaum so weit reicht, uns eben noch sehen zu lassen, wie die Söhne an die Arbeit gehen. Von dieser Stelle aus möcht' ich ins weite Land hineinblicken zu einer Zeit, wenn die Fäuste unserer Urenkel den Hammer schwingen und die Säge führen. Wie eine schimmernde Vision legt sie sich vor mein Auge hin, drüben die Weltstadt am linken Ufer des breiten Kamerunflusses: Kuppeln und Wolkenkratzer und spitze Türme ragen in die azurene Bläue des tropischen Himmels hinein. Den Strom herauf schleppen Riesendampfer die Kulturerzeugnisse aller Märkte des Erdballs, und hurtige Eisenbahnen tragen sie mit dampfender Eile ins Land hinein und zu Menschen hin, die heute noch die eigenen Kinder fressen.

94 Ich hatte meine Augen geschlossen, weil nichts mich ablenken sollte von der Betrachtung des hoffnungsfreudigen Zukunftsbildes. Als ich sie wieder öffnete, da fiel zur Strafe für meine Schwärmerei der Menschheit ganzer Jammer meine Seele zerreißend über mich her. Drei Bakwirimänner, mit Halsringen an eine lange Kette geschmiedet, arbeiteten an einer Art Kleinpflaster, indem sie die vielleicht lange vor Christi Geburt vom Krater ausgeworfenen Lapilli mosaikartig nebeneinandersetzten. Zweitausend Jahre schon ist der gestorben, der uns das Gesetz gab: »Kindlein, liebet einander!« und heute noch baumelt vom Nacken derer, an die bei diesem Ausspruche auch wohl gedacht worden war, eine Kette nieder!! »Dein Reich komme zu uns,« so hebt sich die Bitte von Millionen Lippen alltäglich zum Himmel empor. Aber noch ist es nicht da. Noch zwingt der Starke den Schwachen unter sein Joch, und die Kultur des Siegers wird dem Besiegten mit bleiernen Kugeln unter die Haut geimpft.

Übrigens ist das Pflaster, das von den Sträflingen hergestellt wird, gut. Wenn nichts anderes zu seinen Gunsten geredet hätte, so wären es die weißen Saffianschuhe einer Tennisschlägerin gewesen, die eben mit weißem, fußfreiem Spitzenröckchen angetänzelt kam. Sie hatte hinter sich das Pförtchen eines Holzzaunes zugeschlagen, der einen reizvollen Garten umschloß. Grüner Rasen, wohlgepflegte Kieswege, Vanille, Kaffee- und Bambusstauden und inmitten all dieser exotischen 95 Herrlichkeiten im breiten Schatten der Dattelpalmen, wie aus einer Nürnberger Spielwarenschachtel ausgepackt, ein entzückendes Landhäuschen mit umlaufender Veranda. Das Ganze lacht einem nur so entgegen, und wenn man sich in diesen Papageienkäfig noch ein Weibchen denkt, wie ein solches eben mit dem Tennisschläger vorbeigetänzelt war, dann möchte man mit Vergnügen ein Kakadumännchen werden, selbst auf die Gefahr hin, daß man seinen heimatlichen Anspruch auf Altersrente einbüßen könnte.

Man muß es übrigens unseren Pionieren hier am Kamerunberge nachsagen: Sie haben in der kurzen Frist, die verflossen ist, seit Gravenreuth im Kampfe gegen den Häuptling Kuba unterliegend fiel, schier Unglaubliches geleistet. Schmuck und sauber wie ein moderner Kurort liegt Buea in einer Schoßfalte des Kamerunberges. Von dominierender Höhe herunter, wie das Auge des Gesetzes, schaut der Gouverneurspalast weithin ins Land hinein. Terrassierte Gärten steigen von dem Hauptgebäude nieder und suchen den Ausgleich zu vermitteln zwischen der höchsten Autorität des Landes und den ausführenden Unterbeamten, deren niedliche Privatwohnungen weithin über die flache Mulde zerstreut liegen. Eine eben in der Pflasterung begriffene Straße sucht in Schlangenwindungen jedes dieser Häuschen auf. Wir folgen ihrem gewundenen Laufe und kommen nach einer Art Marktplatz. Gleich zur Linken haben wir die Wachtstube der Eingeborenen-Truppe. Die Schildwache, die 96 im sanften Abendregen vor ihrem Häuschen stand, hatte noch kaum meine Dienstmütze gesehen, als schon ein schnarrendes »rrrraus!« über das Kameruner Forum hinknarrte. Zehn tadellose Krieger unserer Kolonialtruppe in gelber Khakiuniform, den roten Fes auf dem krausen Wollhaar des Schädels, traten an und präsentierten das Gewehr, wie man es exakter nicht einmal auf dem Tempelhofer Felde sehen kann. Wenn schon diese Ehrenbezeugung einzig nur der Kokarde meiner Mütze gegolten hat, so wuchs doch die Achtung vor meiner, seither so bescheidenen Person, deren bloßes Erscheinen so viele mordbereite Gewehre in Bewegung setzen konnte, in mir fast ins Riesenhafte hinein. Wer es über den Rang eines Steuerzahlers nicht hinausgebracht hat, der ist in Deutschland und auch anderwärts in Europa nicht gewohnt, daß ein uniformierter Arm sich zu anderem Zwecke für ihn regt, als allenfalls um ihn am Kragen zu packen und einzulochen. Ach, noch seh' ich euch vor mir, ihr scheckigen Gesellen von der päpstlichen Palastgarde, wie ihr mich mit Hellebarden und Spießen aus dem vatikanischen Palaste hinausgedrängt habt, als ich gewagt hatte, ohne einen Sack voll Peterspfennigen in das Haus des Vaters der Christenheit einzudringen. Kommt hierher, Ihr Nobili vom Petersplatz, und bekennt, daß Johann Gottlieb Seume recht hat, und daß die Wilden bessere Menschen sind.

Es war Abend geworden, regnete auch immer noch ein wenig, und so empfand ich den Mangel eines 97 Wirtshauses in unserer Kamerunkolonie doppelt schmerzlich. Mindestens fünfzig Häuser von Buea lagen bereits in meinem Rücken, und nirgends noch hatte sich ein Arm gezeigt, der ein rotes Schaf, oder einen grünen Ochsen, oder sonst ein Untier als Zeichen der Schankgerechtigkeit in die Luft hinaushängte. Niemals hätte ich gedacht, daß der Deutsche einige tausend Meilen südwärts von München so rasch degenerieren könne. Für mich war diese an sich selber schon schmerzliche Tatsache um so schlimmer, als ich außer meinen dichterischen Lorbeeren nichts hatte, um mich zuzudecken, wenn ich allenfalls gezwungen war, im Freien zu übernachten. Merkwürdigerweise aber ließ diesmal Apollo seinen Jünger nicht im Stich. Von Viktoria herauf war es bekannt geworden, daß der Verfasser des »Michael Hely«, welches Buch die guten Leute von den Schiffsbibliotheken geliehen und abzuliefern vergessen hatten, nachdem sie es gelesen, unterwegs sei nach dem Kamerunberge. So dauerte es denn nicht lange, und Herr Mühling, ein Gouvernementsbeamter, kam und lud mich ein zu einer Flasche Pfungstädter Bocköl. Ich ließ mir den Trunk aus dem lieben Hessenlande schmecken, indes mein Gastgeber ein kleines Häuschen aus Wellblech, ein sogenanntes Kongohäuschen, für mich einrichtete. Der niedliche Käfig stand auf Pfosten wie eine Pfahlbauhütte und hatte an der vorderen Giebelseite eine kleine Veranda, die man mittelst einer kleinen Treppe ersteigen mußte. Als ich nun da vor der Tür meiner Einsiedelei angekommen war, sandte die 98 sinkende Sonne noch einen breiten, roten Strahl über den Kamerunfluß hin und das Bimbiaflachland. Da lag sie noch einmal vor mir, die grandiose Landschaft, übergoldet vom Abendrot. Palmen nickten träumend vor meinen Augen, das Bambusdickicht rauschte schläfrig, und fremdartige Vögel zwitscherten ihr Schlummerlied. Da wurden auch mir die Augenlider schwer und schwerer. Ich trat in mein Zimmerchen hinein, fand zu meiner Freude einen Stuhl, einen Tisch, ein Fläschchen Sodawasser und ein blütenweißes Feldbett.

Zuweilen bringt die Dichterei
Dem Dichtersmann doch mancherlei,

sagte ich heimlich – so heimlich, daß mich kein Steuerbeamter hören konnte – zu mir selber, warf mich mit den Kleidern auf mein Bett hin und schlief ein, während draußen der Wind in Fächerpalmen und Korallenbäumen rauschte.

Ich kann nicht sehr lange geschlafen haben, da bebte meine Blechhütte unter dem kräftigen Auftakt eines Männerschrittes. Herr Mühling, der liebenswürdige Herr Mühling war gekommen, um mich zu einer Abendmahlzeit abzuholen. Er hat sich mit einem Herrn Barge zusammengetan. Die Beiden halten sich schwarze Dienerschaft, die für sie wäscht und kocht, und so genießen sie in einer schönen Wohnung ihrerseits eine gewisse Häuslichkeit und können sogar für einen Gastfreund noch etwas Gemütlichkeit übrighaben. Die Nacht war 99 sternenklar, als wir uns auf den Weg zu Herrn Barges Hause machten. Doch die Himmelslichter genügten nicht, um alle Pfützen zu beleuchten, die von dem Abendregen her noch in dem fetten Boden standen. So kam's, daß ich nur mit Seiltänzerschritten den Schwerpunkt meines Körpers über der von den Füßen umspannten Fläche balancieren konnte, und ich glaube, ohne Herrn Mühling wäre ich schwerlich mit heilen Knochen den Gefahren ausgewichen, in die ein anderer, wie sich bald herausstellte, hineinfiel. Doch von Mühlings starker Hand geführt, trat ich zuversichtlich in die honigdicke Schmiere hinein, bis mich ein zudringliches Hundegekläff zusammenschauern machte. Die Stimme meines Führers hatte bald den vierbeinigen Kameruner Nachtwächter über die Vertrauenswürdigkeit meiner Person unterrichtet. Der geschwänzte Türhüter kam winselnd und sich entschuldigend näher und mit ihm ein Licht, das seinen einladenden Schimmer alle Augenblicke durch das Dickicht eines hohen Gesträuches durchstechen ließ. Man hatte uns einen schwarzen Küchenjungen mit einer Laterne entgegengeschickt. Nun dauerte es nicht lange mehr, und wir saßen in Herrn Barges freundlichem Zimmer um den Tisch herum und ließen uns von unseren Nasen einstweilen einen schwachen Begriff von dem beibringen, was auf unsere Zungen wartete, als ein Bote ins Zimmer trat und Herrn Barge über das Folgende verständigte: Herr Wilske, den meine Leser ja schon kennen, Herr Wilske mit der Reitpeitsche, war vor seinem Hause ausgeglitten und hatte aller 100 Wahrscheinlichkeit nach das Bein gebrochen. Beide Herren sahen sich zuerst überrascht an und ließen dann leise fragende Blicke zu mir herübergleiten, die ich wohl zu deuten wußte.

»Und könnte ich mich da nicht nützlich machen?« fragte ich mit Ungeduld.

»Wenn Ihnen das nicht zuviel wäre und Sie die große Güte haben wollten?«

»Ja, aber von Herzen gern.« Damit war Rede und Gegenrede geschlossen, und zu dreien waren wir hinter einer Laterne her, um den Verunglückten aufzusuchen. Wir fanden ihn auf sein Feldbett hingestreckt mitten drinnen in einer Ringmauer von Kisten und Koffern, in denen er seine Habe von Europa herübergeschleppt hatte. Erst nachdem eine Bresche in die Gerümpelbarrikade gebrochen war, konnte ich an den Verunglückten herankommen und sein krankes Glied befühlen. Die Diagnose war klar. Es handelte sich um einen Knöchelbruch. Für einen, der nur zwei Beine hat, bedeutet der Bruch des einen eine wochenlange Gefangenschaft.

Ich legte einen Notverband an, versprach am nächsten Morgen wiederzukommen und ging mit meinen Gastgebern zu dem gestörten Abendessen zurück, ohne Appetit und ohne Fröhlichkeit. Das Mitleid mit dem Verunglückten hatte mir beides geraubt. Knochenbrüche sind auch zu Hause keine angenehme Sache, aber so 101 da draußen in einem wilden, kaum niedergerungenen Lande, weitab von den Hilfsmitteln der neueren Heilkunst unbeweglich liegen und mit der Eventualität rechnen müssen, daß man seine Glieder vielleicht zu einer schleunigen Flucht brauchen könnte, das ist ein Gefühl kindlicher Hilfslosigkeit, gegen welches die Männerbrust sich empört auflehnt. Wir gingen gleich nach dem Mahle auseinander, jeder von uns dreien hatte seine eigenen Gedanken, die er nicht von sich legen konnte wie seine Kleider, sondern die mit ihm ins Bett stiegen. Der Regen trommelte außerdem an mein Wellblechhäuschen und so hatte ich zur Schlaflosigkeit einen Grund mehr. Erst lange nach Mitternacht drückte mir die Müdigkeit die Augen zu.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, schien die Sonne durch alle Ritzen herein in meine Stube. Ihre goldenen Speere durchbohrten die Wand an hundert Stellen, stachen auf mein Bett los und trieben mich unnachsichtig aus den Federn. Im Nachthemd eilte ich auf die Veranda hinaus. Schwarze Weiber, die noch dürftiger bekleidet waren als ich, gingen im Gänsemarsch einen Pfad entlang und verloren sich bergabwärts in den Mais- und Ananasfeldern, wo sie ein feuchter, dicker Nebel verschlang. Das ganze weite Land mitsamt den gewaltigen Flußläufen steckte in schwarzgrauem Dunste, der nach oben glatt abschnitt, so glatt, daß es schien, als ob er mit einer Dampfwalze geebnet wäre. Bis zur Schulterhöhe herauf war auch der Kamerunberg in 102 diese dicke Futtergaze hineingewickelt, aber sein gewaltiger kahler Schädel hob sich von der Morgensonne bestrahlt um so heller und klarer von der lachenden Bläue des Firmamentes ab. Man sah jede kleinste Rinne, die von den Meteorwassern in die Felsenstirne gegraben war. Man sah, wie der niedere, dicht verfilzte Pflanzenteppich alle diese Schrunden zu übernarben suchte, ja man war beinahe versucht, die Eidechsen zu zählen, die jedenfalls da oben zu hunderten herumwimmeln. So klar und grell erleuchtet war der Berg. Ich glaube, ich hätte trotz der frischen Brise, die von Zeit zu Zeit mein Nachthemd bauschte, noch stundenlang unbeweglich stehen und nach dem Totenschädel da oben aufschauen können, wenn mich nicht der Gedanke an meinen Kranken in Trab gesetzt hätte.

So zog ich mich denn eilig an und machte mich auf den Weg. Ich fand den Verunglückten in seinem niederen Feldbette umjammert von den herzbeweglichen Klagen einer mageren Katzenmutter. Es half nichts, daß der Verletzte dem Katerweibe schmeichelnd über das weiche Fell fuhr und ihr unter allerlei Kosenamen versicherte, daß ein gebrochenes Bein keine allzuschlimme Sache sei. Immer wieder und wieder ging die rührende Klage von vorne los. Es war, als wenn sich alles Zartgefühl, das sonst wohl in einem Menschenherzen als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, hier ausnahmsweise einmal unter ein Katzenfell zurückgezogen hätte. Das Tier umschnupperte beständig seinen kranken Herrn, 103 krabbelte über ihn weg und zog mir zutraulich den buschigen Schwanz unter der Nase her, als ich den Versuch wagte, mich über das kranke Bein zu neigen und die Decken wegzunehmen. Zu guter Letzt bekam ich die Tragödie satt. Ich griff der Katze hinter den Ohren ins weiche Fell, hob sie hoch und setzte sie ihrem vielbetrauerten Herrn zwischen die Vorderextremitäten hinein, damit er sie festhalte, bis ich mein Werk vollendet hätte.

Darauf entfernte ich zunächst die Reisedecke, die über den Beinen des Kranken lag. Dann hob ich das verletzte Glied, um die Binden des Notverbandes zu lösen. Da gewahrte ich unter dem Oberschenkel einen grauen länglichen Gegenstand, der aussah wie ein Handschuhfinger und ich zog daran. Gerechter Himmel, es kam eine tote junge Mieze zum Vorschein, und nach der einen eine zweite, und nach der zweiten eine dritte. Man hatte den Verletzten mitten in ein Katzenwochenbett hineingelegt, und die unselige Schwere seines Fleisches hatte eine ganze erblühende Generation von Mäusejägern glattgewalzt wie einen Nudelteig. Ach und nun mit einem Male war ja auch der Niobekummer der alten Katzenmutter verständlich. Selbst der Verletzte mußte lachend zugeben, daß man sich über die Ursachen eines Katzenjammers schweren Täuschungen hingeben kann. Die Anhänglichkeit seiner Freundin war für ihn fürderhin kein Dogma mehr. Mit einem kühnen Schwunge beförderte er die buckelige Mieze von seiner Brust herunter. Sie flog so, daß sie nicht weit von den Leichen 104 ihrer Kinder auf die Füße zu stehen kam, und nun begriff sie auch sofort, daß sie den Entschlafenen für ein würdiges Leichenbegängnis zu sorgen habe. Sie langte mit den Zähnen wacker zu, faßte die drei Verblichenen in ihrem Maule zusammen und ging schweigend mit den Toten durch die halbgeöffnete Zimmertür in den Garten hinaus. Auf diesem stillen Gange blieb ihr das Mitleid der Menschen nicht versagt. Sie hatte alle meine Sympathien für sich zurückerobert, zumal da ich an menschlichen Sterbebetten oft bedeutend weniger Selbstbeherrschung beobachtet habe als hier.

Übrigens ging auch bei meinem Patienten das Grauen vor einem solchen Lager weniger tief, als ich mir das gedacht hatte. »Das Nil admirari lernt einer in Afrika gerade so schnell wie das Apfelweintrinken in Sachsenhausen,« sagte er in guter Laune, reinigte seinen Unterschenkel mit seinem Taschentuch und überließ mir denselben »zu weitergefälliger Amtshandlung«, wie man an die Staatsanwälte zu schreiben pflegt.

Nach einer guten halben Stunde war alles so hergerichtet, daß ich mit ruhigem Gewissen den Kranken verlassen konnte, um meinen Robinsonbummel durch diese eigenartige, mir so neue Welt fortzusetzen.

Auf dem Marktplatze sah ich einen Haufen Eingeborener zusammenstehen und steuerte darauf zu. Alle Wetter, es war ein Sammelsurium fragwürdiger Gesichter, von denen selbst das ehrlichste, an das Querholz 105 eines Galgens gehängt, keine Überraschung ausgelöst hätte. Ach und die Roben, in denen diese Würdenträger auf dem Forum paradierten! Wer einem neapolitanischen Dudelsackpfeifer die Lumpen von. Leibe reißt und sich damit ausstaffiert, der ist noch königlich bekleidet gegenüber der Jeunesse dorée, die sich hier zum Kriminalstudium des Gerichtstages eingefunden hatte. Eine Art Holzschuppen, der nach dem Marktplatze zu ein unvermauertes Fachwerk zeigte, bildete das primitive Heiligtum für die Göttin der Gerechtigkeit. Auf einem niederen Podium thronte in weißem Tropenanzuge vor einem polierten Tisch die bärtige Hünengestalt des Stationsleiters Biernatzky. Er hatte an seiner linken Seite als Dolmetscher einen schlanken Eingeborenenjüngling, der nach Art eines deutschen Pfarramtskandidaten in einem langschößigen Gehrock steckte und sogar – ein unerhörter Aufwand! – Schuhe an den Füßen trug. Von diesen beiden bevorrechteten Persönlichkeiten entfernt und an der Backsteinmauer hin verzettelt saßen auf einer Holzbank so Stücker acht bis zehn Laienrichter, denen der Hunger nach Gerechtigkeit mit Tabaksudder vermischt wie Bernsteinperlen in den Mundwinkeln stand. Ihre gestielten Augen musterten abwechselnd den Kreis der Zuhörer vor dem Holzschuppen und die streitenden Parteien, die wie üblich vor dem Altare der Themis auf ihren eigenen Beinen standen.

Was den Augen zugänglich war, hatte ich ohne Mühe erfaßt. Da mich aber vor allem der Gegenstand 106 des Rechtshandels interessierte, so streckte ich meinen Kopf nach Möglichkeit über die Schultern des Eingeborenenpublikums hinweg und legte die Hände hinter meine Ohrmuscheln. In dieser Pose bemerkte mich der Herr Prozeßleiter, den ich am Tage vorher kennen gelernt hatte, und lud mich ein, neben ihm am Richtertische Platz zu nehmen. Nun war mir das Zuhören so bequem gemacht wie dem Bäcker das Mittagsschläfchen. Ich brauchte nur die Ohren offen zu halten, und ich hielt sie offen. Die Verhandlungen waren soweit gediehen, daß der Dolmetscher den verehrlichen Schöffen eben die nach alttestamentlichem Familienrecht schmeckende Geschichte in der Dualasprache auseinandersetzen konnte, so wie er sie eben in deutscher Sprache von Herrn Biernatzky gehört hatte: Ein reicher Mann war gestorben. Sein Nachlaß bestand – abgesehen von etwas Kautabak – aus sieben Frauen, in die sich sieben Söhne restlos teilten, ohne daß sie irgendeinen Notar zu bemühen brauchten. Soweit war alles glatt, und es wäre ohne Prozeß abgegangen, wenn nicht das eine der Weiber vierzehn Tage nach der Teilung aus dem nagelneuen Ehehimmel in den wirklichen Himmel eingegangen wäre. Nun stand einer der Brüder da und hatte keine Frau. Vierzig Ziegen, den ungefähren Preis für eine andere Lebensgefährtin, hatte er auch nicht, und so kam er auf den Einfall, der Heimgegangenen einen Währschaftsfehler anzudichten und zu behaupten, die Brüder hätten ihm gegen ihr besseres Wissen die kranke Person als eine 107 gesunde aufgehängt. So sei er durch betrügerische Vorspiegelung falscher Tatsachen in bedeutenden materiellen Nachteil gekommen, wofür er die Täter unter samtverbindlicher Haftbarkeit verantwortlich mache. Mit anderen Worten: Er hoffte ein Urteil zu erstreiten, dahinlautend, daß jeder der Brüder ihm eine Anzahl Ziegen zur Verfügung stelle, damit er in die Lage käme, sich eine andere Frau zu erwerben. Das der klare Tatbestand, der aber noch etwas kompliziert wurde durch den Umstand, daß ein Nebenkläger auftrat mit der Behauptung: Das verstorbene Weib sei von ihm dem hochseligen Erblasser um die ortsübliche Taxe von vierzig Ziegen verkauft worden. Der Verstorbene sei aber seinen Verpflichtungen nicht in vollem Umfang gerecht geworden. Er habe nämlich nur achtundzwanzig Tiere geliefert, so daß er, der Verkäufer, an dessen Rechtsnachfolgerschaft mit gutem Recht noch zwölf Geißen zu fordern habe.

Während der Dolmetscher diesen Tatbestand in der Dualasprache der Geschworenenbank auseinandersetzte, wandte ich mich dem Herrn Biernatzky mit der Bemerkung zu: »Da habe ich doch ein rechtes Glück gehabt, daß mich gerade heute der Himmel zu einer derartig interessanten Verhandlung in Ihren Gerichtssaal hereingeschneit hat.«

»Das Verdienst des Himmels bei diesem Zufall ist nicht besonders groß,« sagte der Stationsleiter gelassen. »Sie hätten morgen, übermorgen oder in vier Wochen zu irgendeiner Zivilprozeßverhandlung kommen können, 108 immer hätten Sie beobachten müssen, daß der Streit sich um Weiber dreht. Und wie sollte das auch anders sein in einem Lande, wo das Weib den einzigen Besitz des Mannes ausmacht. Alle diese Gentlemen, wie sie hier sitzen, hebt weder ein Viergespann, noch ein Automobil, noch auch ein Logensitz im Theater auf ein höheres soziales Piedestal, sondern nur die Zahl ihrer Weiber. Wer zwölf Frauen hat, ist angesehener als einer, der nur über fünfe gebieten kann, ganz abgesehen von der physischen Arbeit, die durch eine solche Zahl von besseren Haustieren versinnlicht wird. Und dann bedenken Sie doch noch, wie schnell ein solcher Besitz wächst und Zinsen trägt. In vierzehn bis fünfzehn Jahren sind Töchter da, von denen selbst die Kranke und Bucklige einen Verkaufswert von zwanzig bis dreißig Ziegen repräsentiert. Können Sie mir irgendeine europäische Kapitalanlage nennen, die mit gleichem Gewinn arbeitet?«

Soweit war der Erzähler gekommen, als der Dolmetscher ihn mit der Frage unterbrach: »Was soll nun weiter geschehn? Es scheint, daß die Streitfrage den Schöffen genügend klar geworden ist.«

»Sag' ihnen, sie möchten sich nun zu der Sache äußern und einer von ihnen möchte darlegen, was seither in einem derartigen Fall nach ihren Stammesgepflogenheiten Recht und Sitte war.« – »Sie sehen, Herr Doktor,« wandte sich Herr Biernatzky wieder an mich, »daß wir hier mit dem Corpus juris und dem bürgerlichen 109 Gesetzbuch nicht viel anfangen können. Wir müssen den Leuten das Recht nach dem Gefühl zumessen, ungefähr so wie der Hausschlächter die Länge der Wurst nach seinem Daumen bemißt.«

Indessen hatten die himmellangen Kerle auf der Schöffenbank angefangen, sich langsam in die Höhe zu richten. Das ging ruckweise, wie der Zimmermann seinen Meterstab auseinanderzieht. Aber endlich standen sie doch alle mit verlegenen Gesichtern kerzengerade da. Einer stieß dem andern die Fäuste in die nackten Lenden. Es ging zu, wie bei uns an einer Geburtstagsfeier. Keiner wollte der Katz' die Schelle anhängen und die Gelegenheitsrede halten. So herrschte, während die fragenden Blicke des Herrn Prozeßleiters durch den Saal irrten, ein feierliches Schweigen, bis endlich einer dieser Beisitzer das Maul von einem Ohre bis zum anderen aufriß und in nonchalanter Haltung ein getragenes – Ah–ah–ah – über die Köpfe der erlauchten Versammlung hingähnte. Diese explosive Äußerung einer inneren Langweile schien nach der Landessitte das gute Recht dieses dunklen Biedermannes zu sein. Keiner seiner Landsleute entsetzte sich im geringsten darüber. Alle Gesichter der Eingeborenen blieben ledern und kalt. Herr Biernatzky aber geriet in einen heiligen Eifer hinein. »Sag ihm,« so schrie er dem Dolmetscher zu, »wenn das noch einmal vorkommt, so kriegt er eines über den Kopf.«

Der Dolmetscher richtete seine Sache aus. Der 110 Gemaßregelte mochte seine eigenen Gedanken haben über die Empfindlichkeit europäischer Kulturnerven, aber er verriet sie nicht, auch nicht durch das leiseste Mienenspiel. Gleichgiltig glitt sein Auge über die Köpfe der Zuhörer hin, während seine Lippen einen kräftigen Strahl gut vergohrener Tabaksbrühe in den Publikumhaufen hineinpfefferten. Von diesem erneuerten Vorstoß gegen Europens übertünchte Höflichkeit nahm diesmal sogar Herr Biernatzky im Eifer des Geschäftes keine Notiz. Er drängte nur darauf, daß ihm von seiten der Beisitzer irgend eine Äußerung werde, wie sie etwa die heikle Frage nach ihrer Rechtsauffassung entschieden haben möchten. »Wir müssen das Vertrauen der Leute zu gewinnen suchen,« raunte er mir zu.

Nach langem Zerren und Stoßen ließ sich endlich einer der schweigsamen Richter, der durch einen vielgeflickten, germanischen Maurerskittel, dem einige Ventilationslöcher eingebaut waren, als hervorragende Persönlichkeit hervorstach, zu der Erklärung bewegen: »Die Brüder seien anzuhalten, daß sie durch einen angemessenen Beitrag an Geld oder lebendem Vieh ihrem zu kurz gekommenen Bruder eine anderweitige Brautwerbung ermöglichten.«

Damit war nicht nur mein eigenes Rechtsempfinden einverstanden, sondern auch das des Herrn Biernatzky. Den glücklichen Erben wurden nicht nur die Kosten des Verfahrens aufgebürdet, sondern es wurde auch protokollarisch bestimmt, wie groß der Geißenbeitrag sein müsse, den jeder zu leisten habe.

111 DieSache des Nebenklägers wurde auf einen späteren Termin hinausgeschoben und ihm die Auflage gemacht, daß er den Zeugenbeweis für die Richtigkeit seiner Forderung zu erbringen habe. Punktum, und Streusand übers Dokument.

Während der Verhandlung schon und jetzt erst recht waren von Zeit zu Zeit feurige Speere durch das Gesichtsfeld gefahren. Nach großer Stille hob mit einem Male ein trockenes Geknatter an, als wenn Dutzende von Bombenraketen ihr Rottenfeuer aus den Lüften niederfahren ließen. Ein Gewitter war im Anzug, und als ich eben dem Herrn Biernatzky die Hand gereicht hatte und vor die Türe des Gerichtssaales getreten war, fielen schon die ersten schweren Tropfen klatschend auf den schwarzen Lavaboden des Forums nieder und trieben den Haufen Eingeborener in kopfloser Flucht auseinander. Aufgelöste Haare geißelten die Luft, und die ockergelben Fußsohlen wirbelten wie verwehtes Platanenlaub dazwischen hinein. Der Schwarze ist kein Freund von Meteorwasser, gebranntes ist ihm lieber.

Auch mir war in diesem Augenblick des Himmels wohlgemeinte Feuchtigkeit nicht sehr erwünscht. In den Gerichtssaal zurück wollte ich nicht. Nach meinem Wellblechhäuschen hin war es zu weit, und ein Wirtshaus gibt es nicht. Da ließ ich meine Beine wie Windmühlenflügel durch die Lüfte sausen und eilte im Sturmschritt nach dem Hause des Herrn Barge hin. Schon hing der Regen wie eine Perlengardine von der 112 Dachtraufe auf die Veranda nieder, und der Wind schlug die nassen Bambusgerten klatschend wider die Fensterscheiben, als ich mich eben noch so halb durchweicht mit gutem Glück in die dunkle Stube rettete. Mit gutem Glück, muß ich noch einmal betonen, denn was ich seither genossen hatte, war nur das leise Präludium zu dem wahnwitzigen Choral eines Tropengewitters.

Ein dumpfes Rauschen legte sich in die Gehörgänge wie strudelnde Wasser. Außer diesem infernalen Grundton gab es nichts mehr, was auf die Gehirnnerven noch einen Eindruck machte, ausgenommen das zeitweise rasende Gepolter des grollenden Donners und das geile Gekicher niedersausender Blitze, die von dem flammenden Hauptstrahle noch tausende von sprühenden Funken in die rabenschwarze Regenwand hineinwarfen. So wurden auf Bruchteile einer Sekunde hin die mächtigen Urwaldriesen, die noch zerstreut über das Gelände hinstehen, grell beleuchtet. Mit gelbem Griffel scharf umzeichnet sah man durch die Scheiben ihre gigantischen Wipfel im Winde schaukeln, sah den Stamm sich biegen, als ob er seine Wurzeln küssen wolle, und im nächsten Momente schon wieder hatte die höllendicke Finsternis alles restlos verschlungen. Wird der gewaltige Baum noch seine Krone tragen, wenn das Gewitter vorübergezogen sein wird? Werden wir selber noch einmal das Bundeszeichen der Versöhnung, den Regenbogen am Himmel sehen, wenn die entfesselten Elemente wieder angekettet liegen? Wer wird in diesem Augenblicke 113 prophezeien wollen, jetzt wo das Häuschen in seinen Grundfesten zittert und bebt und aufschreit, als ob jeder Zapfen aus seiner Büchse, jeder Kolben aus seinem Lager wolle! Und nun frißt sich unter dem Geseufze des Sparrenwerkes das Mißtrauen in die Seele ein, das Mißtrauen und die bange Frage: Werden diese Wände, dieses Dach dem Angreifer Stand halten, werden sie ein Schutz für uns sein, oder eine neue Gefahr? Wäre es nicht vorsichtiger, wenn man sich hinausstürzte, hinein in die strömende Wasserflut und zwischen das niederfallende Geäst der Bäume, statt sich hier von Dachsparren totdrücken zu lassen?

Ja, wer einem da sagen könnte, welcher Weg zwischen der Scilla und Charybdis zum Ziele der Rettung führt?

Als in diesem Augenblick aufs neue eine handvoll Blitze niederfuhr, vernahm ich hinter mir die Stimme des Herrn Barge und hörte, wie er mit gelassenem Mute sagte: »Nur langsam getan mit dem bissel Erdball, doppelt so wild verzehrt ihn auch noch nicht. Wozu also dies Gepolter?«

»Und dabei können Sie noch scherzen, Herr Barge«, bemerkte ich kleinlaut.

»Ei, warum denn nicht,« war die Antwort. »Solange der Hahn kräht, schluckt er keine Würmer. Und nun geben Sie wohl acht. Ehe noch der Sekundenzeiger dreimal um seinen Anker gelaufen ist, wird der ganze Spuk verflogen sein.«

Und so war es auch. Plötzlich, wie das Gewitter 114 gekommen, war es wieder verschwunden. Der Himmel glänzte wie blaue Emaille. Die Sonne lachte wie eine Schwälmer Bauernbraut auf einem Bilde von Bantzer, und nasse Wege mit triefenden Hecken allein noch blieben die letzten Zeugen des überstandenen Hexensabbats.

Wir waren in den dampfenden Garten gegangen und schritten mit hochgehobenen Schenkeln über die Ananasfrüchte hinweg, die fast so wertlos wie bei uns die Zuckerrüben in reicher Fülle da herumlagen. Da mit einem Male gewahrte ich zwischen den herrlichen Früchten ein handbreites Band, das kupferbraun und voll schillernden Glanzes wie von einer Spule angelockt über die Erde hinlief. Als ich näher herantrat und mit der Stiefelspitze nach dem seltsamen Gebilde hinstocherte, wurde Herr Mühling auf mein Gebahren aufmerksam und rief mir voller Schrecken zu: »Machen Sie ums Himmelswillen, daß Sie einige Meter von dieser gefährlichen Nachbarschaft hinwegkommen! Sie stehen hier vor einer Völkerwanderung, die alles Organische vernichtet, das in ihrem Wege steht. So klein jeder einzelne dieser Räuber sein mag, so gefährlich ist ihre Gesamtheit. Ein wanderndes Termitenvolk ist ein Feind, dem selbst das Flußpferd respektvoll aus dem Wege geht. Wehe dem Tier, das von ihnen schlafend überrascht wird. Im Nu sitzt ihm das ganze Pack im Pelz, und dann beginnt ein Zwicken und Beißen, mit dem sich keine Höllenqual vergleichen läßt. Da sehen Sie nur die furchtbaren Mandibeln, mit denen der Wehrstand dieses Kriegsvolkes ausgerüstet ist.«

115 Ich sah näher hin und erkannte nun, wie der scheinbar homogen gewebte Streifen in ganz regelmäßigen Abständen von Querstrichen, einer Kretontischdecke ähnlich, unterbrochen war. Größere Insekten mit Schilden auf dem Schädel, Soldaten genannt, bildeten den Zettel und hielten mit stolzer Kraft den Einschlag des niederen Volkes in Zucht, das ameisenklein und emsig am Boden hinwuselte. So zogen sie, auf jeden Angriff wohl vorbereitet und geleitet vom Geruchssinn ihrer vorausgeschickten Kundschafter, irgend einer Tier- oder Planzenleiche nach, die das vorüberziehende Gewitter gefällt hatte. Fort waren sie, verschwunden, wie eine Schlange im Gräserdickicht verschlüpft, und nur noch eine weiße, schwertbreite Rinne bezeichnete den Weg, den die Todengräberzunftgenossenschaft eingeschlagen hatte.

Schade, recht schade, daß man in ein fremdes Land aus der alten Heimat nur zwei Augen mitnehmen kann. Kaum, daß man sich von einer Überraschung erholt hat, so ist schon eine andere da, die gesehen sein will. Über unseren Häuptern hinweg rauschte eben der Flügelschlag eines Vogelschwarmes. Herr Mühling ließ den Kopf in den Nacken fallen und richtete die Augen nach dem Firmament, aber nur für den Bruchteil eines Augenblickes. Seine Füße ließen ihm keine Ruhe, sie gerieten in ein zappelndes Delirium hinein und liefen mit ihm davon ins Haus zurück. Nicht lange und er stürmte mit einer Flinte die Verandatreppe herunter: »Wo sind sie hin, wohin sind sie,« rief er mir fiebernd entgegen. 116 Ich deutete auf das dichte Laubwerk eines himmelhohen Kabokbaumes, im stillen die Hoffnung hegend, daß der Blätterwald dicht genug wäre, seine gefiederten Gäste zu schützen. Herr Mühling umkreiste mit spähenden Jägerblicken von allen Seiten den Stamm, ohne die Vögel entdecken zu können. Da mußte das Verhängnis den dreiviertels Takt eines Eingeborenen, den Herr Mühling »Oberförster« nannte, des Weges daherführen. Er war ein kräftiges Knochengestell, aber die eine Gesichtshälfte war durch eine runzliche Brandnarbe gräßlich entstellt, und der rechte Arm hing dürr und verkrüppelt am Rumpfe nieder.

»Ein Blitzschlag hat ihn so zugerichtet,« belehrte mich Herr Mühling. »Er hat ihm das Fleisch von den Wangen gerissen, aber er hat ihm doch seine guten Augen gelassen. Ich versichere Ihnen, der Blick dieses Mannes dringt wie ein Dietrich in jedes Schlüsselloch. Durch die Kleider hindurch zählt er die Flohstiche auf der Haut eines Handwerksburschen.«

»Dann wird das den armen Sturmschwalben da droben zum Verderben werden, wenn er näher kommt?« seufzte ich mit stillem Herzeleid.

»Es sind keine Sturmschwalben, Papageientauben sind's. Gleich werden Sie eine herunterpurzeln sehen, wenn erst der Oberförster da sein wird.«

Diesen halbverbrannten Hampelmann brauchte man übrigens nicht zu rufen. Er hatte schon von weitem gesehen, daß man ihn da brauchen könne, und er kam 117 herangehumpelt, einen Fuß auf dem Boden, einen in der Luft, die Augen in die Baumkrone verloren. Nicht lange und er faßte mit der einen noch beweglichen Hand Herrn Mühling an der Schulter, führte ihn nach einem festen Stand und deutete mit dem Finger in die Höhe.

»Wehe dem armen Tierchen,« dachte ich bei mir. Da krachte schon ein Schuß, und die grüngoldenen Flügel eines Täubchens griffen vergeblich in die Luft, um sich festzuhalten. Sie hatten schon die Kraft verloren. Die Schwere des Körpers zog sie nieder. Da war der Vogel kein Vogel mehr. Ein bißchen Blei hatte ihn aus seinen stolzen Ätherregionen niedergezwungen auf den schmutzigen Boden. Der freie Bürger der Luft war ein Vierfüßler geworden und suchte verängstet mit Beinen und Flügeln dem Menschen zu entfliehen. Doch umsonst. Herr Mühling hatte den sterbenden Luftbewohner aufgehoben. Der grüngelbe, sanfte Taubenkopf lag zwischen seinen Fingern mit schon verschleiertem Todesblick. Der Schnabel mit der scharlachroten Einfassung tat so, als ob er sich noch zur Wehr setzen und beißen wolle. Er hatte die Kraft nicht mehr, auch nur einer Mücke wehe zu tun. Das Leben war im Fliehen begriffen. Bald war es ganz fort, und in der Hand des Schützen lag eine wundervolle Leiche. Wie mir das Herz vorwurfsvoll beim Anblick so großer, nun vernichteter Schönheit schlug. Mir war's, als ob ich das Gewissen der Menschheit vor der Last eines neuen Verbrechens bewahren müsse. Ich rannte auf Herrn 118 Mühling zu, um ihm das Gewehr von der Wange zu reißen, denn er hatte zu einem zweiten Schuß angelegt. Ich kam zu spät. Ein Blitz, ein Knall, und eine zweite Leiche lag neben der ersten. Da ärgerte ich mich über die dummen Vögel. Warum waren sie denn nicht weggeflogen, als sie den ersten Schuß hörten? Herr Mühling gab mir auf diese Frage die Antwort: »Noch sind es kaum 15 Jahre, daß unter diesen Bäumen die Büchse knallt. Die Vogelwelt ist hier noch harmlos. Sie weiß noch nicht, welche Gefahr ihr aus dem Rohre droht. So bleibt, was nicht direkt getroffen ist, ruhig auf dem Aste sitzen und wundert sich, warum der Gefährte rechts oder links zur Erde fällt.«

»Aber dann sind wir Menschen doch um so schlimmer, wenn wir so viel Vertrauen mit Heimtücke lohnen,« sagte ich gereizt. »Ich bitte Sie, verehrter Gastfreund, lassen Sie uns jetzt weiter gehen.«

Herr Mühling lachte ob meiner Sentimentalität und schickte den häßlichen »Oberförster«, der mir nun noch viel häßlicher vorkam, als er an sich schon war, weg. Letzterer kroch schwerfällig und ungeschickt durch einen lebenden Zaun am Wege, während wir beide nach einer Villa in einem blühenden Garten zuschritten.

Die Hausfrau empfing mich mit kordialer Freundlichkeit, gerade so, als ob ich der Lahrer hinkende Bote wäre, der alle Jahre nur einmal kommt und alles, was es in Welt und Kirche Neues gibt, auf die verschneiten Schwarzwaldhöhen hinaufträgt. Sie hatte in mir sofort den 119 »Grünling« gewittert, der aus der teuren Heimat kam und zu sagen wußte, ob das Freiburger Münster noch stand und ob die Mannsvölker vom Klottertäler Wein noch immer das Kniezittern kriegten.

Es dauerte dann nicht lange, und wir saßen auf gehäkelten Kanapeeschonern um den Familientisch herum, und ich gab Kalauer zum Besten, die belacht wurden, obwohl sie so ehrwürdig waren wie das älteste Pfullendörfer Kirschwasser, wenn auch nicht so wohlschmeckend. Derweilen schmorten die Papageientauben in der Pfanne, und als die frühverschiedenen schließlich auf den Tisch kamen, sahen sie so verklärt aus, daß ich mich allmählich über ihren Tod zu trösten anfing. So kam die Mitternacht heran, und als ich endlich in mein Kongohäuschen abschob und anfing, mich langsam zu entkleiden, merkte ich, daß einer mit mir gekommen war, der auf den Namen Spitz hört, obwohl er kein Hund ist, sondern ein Affe.

Die Nacht war mondhell, aber meine Träume waren wüst und dunkel, denn es schien das wilde Heer erwacht zu sein und schien sein Unwesen um den Kamerunberg herum zu treiben. Das war ein ewiges Trommeln, Pfeifen, Tuten und Schreien in der Luft draußen, als wenn die Hölle losgelassen und auf einer Gastspielreise begriffen wäre. Ich hatte mich in meinem Bette aufgerichtet, hatte den Revolver in die Hand genommen und wartete nun auf den ersten, der es wagen sollte, durch Tür oder Fenster bei mir einzubrechen. Mich beherrschte kein anderer Gedanke, als daß die Bakwiristämme sich empört haben 120 möchten und nun über Buea herfielen. Gleich werden sie auch vor deiner Hütte sein, vielleicht liegen die schwarzen Gesellen schon draußen auf der Veranda, dachte ich mir. Nun, dann das Leben so teuer wie möglich verkauft. Den Zeigefinger an den Drücker, so will ich sie erwarten.

Das Geschrei dauerte an, aber es kam nicht näher. Immer das monotone Trommeln. Ja, wenn's denn doch nur einmal losginge, damit die Spannung der Ungewißheit von meinen Nerven genommen wäre, so dachte ich mir und stieß den kleinen Laden meines Häuschens auf. Ich besah mir jeden Strauch, jeden Baum, der im Bereich meines Gesichtsfeldes lag. Ich horchte auf Tritte, auf animale Atemzüge. Nirgends auch nur die Spur eines lebenden Wesens. Der Halbmond stand verblassend am Himmel. Schon kam über die Berge herüber die Morgenröte gekrochen. Die Finsternis wich, das Licht begann seinen Siegeslauf. Da, nun hatte auch das teuflische Heulen, Tuten und Trommeln eine Ende genommen. Jetzt war die Furcht von meinen Nerven heruntergewischt, und die Müdigkeit kam und füllte ihren Platz aus. Ich warf mich auf mein Lager und schlief, schlief in den lichten Morgen hinein, schlief, bis mich jemand an den Schultern packte und schüttelte.

Ich schlug die Augen auf. Herr Mühling stand vor mir. »Ehe Sie noch ›Guten Morgen‹ zu mir sagen, mein verehrter Gastfreund, so erklären Sie mir, was der Höllenlärm dieser Satansnacht zu bedeuten hatte?« rief ich ihm ins Gesicht.

121 »Haben Sie sich aufgeregt?« lächelte Herr Mühling.

»Na und das nicht allzu knapp.«

»Schade, daß ich ihnen diese Unannehmlichkeit nicht erspart habe. Ich hätte daran denken und Sie gestern abend auf das aufmerksam machen sollen, was zu erwarten war, als die Mondsichel an. Himmel stand. Diese Eingeborenen sind noch immer Anbeter des Lichts, und Luna vor allem ist es, der ihre Verehrung gilt. Bei wachsender Mondsichel versammeln sie sich um große Feuer zu Musik und Tanz. Der Palmwein spornt ihre Lebensgeister, und in vertrakten Tänzen beugen sich die nackten Leiber um die flackernden Reisighaufen. Derartige Feste, die vorzeiten wohl auch im germanischen Urwalde gefeiert worden – denn der Anfang aller Religionen war der Sternenkult – heißen hier Jou – Joufeste. Ich zweifle nicht, daß Sie den Störern Ihrer Nachtruhe die Absolution erteilen werden, jetzt, nachdem Sie wissen, daß der greuliche Spektakel eine gottesdienstliche Handlung war,« fügte Herr Mühling mit ironischer Betonung bei.

»Mir soll's auf eine Katzenmusik mehr oder weniger im Leben nicht ankommen, namentlich dann nicht, wenn ich mir durch das geduldige Anhören einer solchen den Himmel verdienen kann,« bemerkte ich und sprang mit der Frage: »Und was treiben wir heute Herr Mühling,« vergnügt aus dem Bett.

»Zu meinem Bedauern kann ich Ihnen am Vormittag keine Gesellschaft leisten. Ich muß nämlich ein Examen 122 abhalten, das mich mindestens bis zwei Uhr festhält. Wenn ich Ihnen aber einen Rat geben darf, dann steigen Sie einmal hinauf zu der Basler Missionsanstalt. Sie werden dort manches sehen, was Ihrer Aufmerksamkeit wert ist.«

Mein treuer Freund verabschiedete sich, und ich zog einsam meine Straße, geführt von dem Gebimmel eines Glöckleins, das von der Höhe des Berges auf mich niederfiel. Hier und da waren einige Eingeborene in den Maisfeldern beschäftigt. Die landeseingesessene Zikade sang ihnen zur Arbeit ihre monotone Weise vor, während wanderlustige Webervögel aus den Palmenwipfeln herunter in einem fort: »Geh zu, geh zu,« schrien. Damit sie nicht ganz umsonst zur Eile trieben, tat ich Ihnen den Gefallen und schritt wacker aus, trotzdem die Sonne so heiß schien, daß sie sicher die Quecksilbersäule eines europäischen Thermometers zum Aus-der-Hautfahren gebracht hätte. Bald sah ich ein kleines primitives Gotteshaus mit Nebengebäuden auf einem Hügel stehen. Daß es in Kamerun schon eine Feldpolizei geben könne, schien mir äußerst unwahrscheinlich, und so nahm ich meinen Weg querfeldein durch den saftgrünen Wiesenteppich nach dem kleinen Kirchlein zu. Oben auf der Kuppe des Bergvorsprunges stand Jemand, der mein Näherkommen mit aufmerksamen Blicken verfolgte. Er sah nicht aus wie einer, der viel Freude erlebt hätte. Über seinem Gesichte lag vielmehr eine durchsichtige Abgezehrtheit, als ob sein Leben aus einer fortlaufenden Reihe von Karwochen bestanden hätte.

123 »Ihn haben die Sorgen weich gemacht oder das Fieber,« dachte ich bei mir selber, als der Mann mit dem blassen Dulderantlitz näher kam und mir – statt mich für meinen Feldfrevel zu strafen – – freundlich die Hand entgegenstreckte.

»Zu gütig von Ihnen,« sagte er mit weicher, kranker Stimme, »daß Sie sich zu uns heraufbemühen. Schade, daß wir Ihnen für Ihre Arbeit so wenig bieten können.«

»Haben Sie nicht die schönste Aussicht vor sich, den Himmel über sich und den Kamerunberg hinter sich? Welcher König könnte mehr bieten als Sie?«

»Ja«, sagte er lächelnd, »und eine erfolgreiche Tätigkeit für sich. Man sollte nicht klagen, wenn uns der Herr Gelegenheit gibt zur Arbeit in seinem Weinberg. Ich nehme an, daß es Sie interessieren wird, zu sehen, was unsere Mission leistet.«

Wir schritten fürbaß dem Missionshause zu. Erst ging es über eine Art offene Veranda, dann in einen geräumigen Schulsaal hinein. Karten der gesamten Erde hingen an den Wänden, und in den Bänken saßen wohl an vierzig stramme Bakwiristudenten, von denen zu meiner Freude nicht ein einziger einen Zwicker trug. Bei meinem Erscheinen fuhren sie in die Höhe und standen in schwarzen Reihen da, wie Notenköpfe in der Partitur. Ein Wink, und sie saßen wieder.

»Wir haben gerade Geographiestunde,« sagte der Missionar. »Wollen Sie nicht die Güte haben und einige Fragen stellen?« Ich ging auf den Vorschlag ein, 124 stellte im Anfang Fragen, die ich zur Not noch selber hätte beantworten können, dann aber wurde ich immer verwegener und interessierte mich für die Namen der Gebirgszüge des australischen Hochplateaus. Auf jede meiner kühnen Fragen kam wie aus einem Automaten heraus eine sauber eingewickelte Antwort. Ob sie allerdings immer richtig war, weiß ich heute noch nicht, stellte aber das Examen ein, als ich merkte, daß ein verdächtiges Schmunzeln über die schwarzen Gesichter dieser Kamerunpennäler hinlief.

»Tuh, tuh, tuh,« rief außerdem der Regenvogel durch die geöffneten Fenster herein.

»Kann man sich auf diesen gefiederten Wetterpropheten verlassen,« fragte ich den Missionar.

»Die Eingeborenen schwören auf sein Urteil in der Wetterkunde. – Sehen Sie nur, wie sie nun nach der Warnung des Vogels aus den Feldern in ihre Hütten eilen.«

»Na, so will auch ich seiner Mahnung folgen und das Examen abbrechen. Aber sagen Sie mir nur noch kurz, mein verehrter Landsmann aus Schwaben, was fangen Sie nun mit all den gelehrten Bengels an?«

»Sie gehen mit sechzehn Jahren ungefähr zu ihren Stämmen zurück und werden ihrerseits die Lehrer ihres Volkes. Einer unterrichtet den andern. So kriecht die Kultur weiter, langsam und doch fruchtspendend wie Erdbeerranken über den Boden hin.«

»Lebt wohl, mein treuer Gärtner. Der Himmel 125 gebe Eurer Arbeit zur rechten Zeit Regen und Sonnenschein und halte die Wirbelstürme des Aufruhrs fern, die all Euer mühsam gestecktes Erbsenreisig durcheinander werfen können.«

»Sie dürfen noch nicht gehen,« sagte der Missionar. »Sie müssen zuerst die Stelle sehen, wo man einen anderen wackeren Pionier der Kultur, den Hauptmann Gravenreuth, verscharrt hatte nach seinem verunglückten Feldzug gegen die tapferen Gebirgsbewohner. Hier war's. Hier hatte man ihm sein Grab geschaufelt, und man hatte ihn beim Rückzug zugedeckt mit einer Maschinenkanone. Als das Glück sich den deutschen Waffen wieder zukehrte, hat man seine Gebeine ausgegraben und unter einem würdigen Denkmal drüben in Duala bestattet. So, nun Sie auch dies gesehen haben, reisen Sie mit Gott, kommen Sie gesund in der Heimat an und grüßen Sie mir die liebe deutsche Erde vieltausendmal!«

Er ging. Ich aber blieb noch ein Weilchen stehen, um ihm nachzusehen, wie er mit seinem mageren abgelebten Körper über den Wiesenteppich hinschwebte. »Vieles, was von deutschem Blut und deutscher Kraft in ihm lebte und schaffte, hat er der afrikanischen Erde schon gegeben,« dachte ich bei mir. »Ich fürchte, den Rest bekommt sie auch noch. Ach, bevor die Kultur hier festen Fuß faßt, wird noch mancher ins Gras beißen von denen, die mit Kreuz und Schwert ausgezogen sind.«

›Mit Kreuz und Schwert!‹ – – Seltsame Dinge, 126 die hier zu einem Kompagniegeschäft vereinigt sind. Eines haßt das andere und muß es schier verabscheuen, und doch sie sind schon manchmal miteinander auf die Handelschaft gegangen und haben gute Geschäfte gemacht. –

In großen Sätzen sprang ich den grünen Hügel hinunter. Ich wollte meinen Gedanken entfliehen, die angefangen hatten, mir ein religiöses Lied zu singen, und dann auch dem Regen, der mit großen verstreuten Tropfen seine nahe Ankunft meldete.

In der Dorfstraße begegnete ich dem Herrn Mühling, der mit Herrn Peters, dem befreiten Prüfungskandidaten, nach den Stunden der Drangsal einen kleinen Erholungsbummel machte. Der Letztere strahlte wie ein Maientag, der einen schönen Sommer heraufziehen sieht. Er hatte bestanden, hatte die Anwartschaft auf einen Materialverwaltersposten und konnte eine Urlaubsreise von drei Monaten nach Deutschland antreten. »Wir fahren zusammen heimwärts – heimwärts –« rief er mir von Weitem zu.

127 »Wie ich mich freue, die lieben Eltern wiederzufinden.«

»Und ich freue mich auf einen guten Reisegefährten, Herr Peters. Die ›Eleonore‹ hat übrigens noch Platz; wollen wir nicht auch Herrn Mühling mitnehmen und Ihren anderen Examinator, Herrn Biernatzky?«

»Noch ist unsere Stunde der Heimkehr nicht gekommen. Noch müssen wir ein paar Jährchen hier aushalten. Wir müssen Euch ziehen sehen, ohne etwas anderes tun zu können, als Euch die Reise zu erleichtern. Ihnen, Herr Doktor, habe ich für morgen früh zwei schwarze Rikchawboys vor Ihr Wellblechhäuschen beordert. Die sollen Sie eine Strecke weit fahren, solange die Beschaffenheit des Weges dies zuläßt. Von da ab allerdings, wo der Weg zum Pfad wird, muß ich Ihr Weiterkommen Ihren eigenen Beinen anvertrauen. Ruhen Sie sich diese Nacht noch recht gut aus. Sie werden Morgen die Entdeckung machen, daß eine achtstündige Wanderung durch den afrikanischen Urwald doch mehr bedeuten will, als eine gleichlange Tour auf den Schwarzwaldhöhen. Damit Sie übrigens nicht in dem Waldesschweigen vergehen, habe ich einen unserer eingeborenen Dolmetscher beauftragt, Sie bis nach Viktoria hinunter zu geleiten. Er ist ein Mensch mit offenen Sinnen, und ich zweifle nicht, daß seine Unterhaltung Ihnen den langen Weg abkürzen wird.«

So war denn der Augenblick gekommen, wo ich mich von Herrn Mühling trennen mußte. Eine innere Stimme 128 sagte mir: »Mache es schnell und kurz.« So reichte ich meinem lieben Gastfreund mit abgewendeten Augen die Hand hin. Er drückte sie heftig, aber er sprach nichts. Dann gingen zwei Gesellen auseinander, die:

»Wenn Ahnungen des Herzens mich nicht äffen,
Hier scheiden, um sich nimmermehr zu treffen.«

In meinem Häuschen angekommen, kroch ich rasch ins Bett und zog die Decke übers Gesicht. Allein, ich konnte den Schlaf nicht finden, weil mir immer zumute war, als wenn ich etwas vergessen hätte. Da mit einem Male wußte ich, was mir fehlte.

Ich hatte von einem bescheidenen Kleinkrämer, der aber den gleichen Namen trägt wie ein stolzes Berliner Handelshaus, einige Hansadolche, Schwerter und Spieße gekauft. Der Firmeninhaber hatte versprochen, mir die Sachen zuschicken zu wollen. Doch sie waren nicht da, und morgen in aller Herrgottsfrühe mußte ich fort. Da gab es denn für mich keinen anderen Ausweg, als aufzustehen und die Sachen selber zu holen. Im Nu war ich in meinen Pantoffeln, und ein weiter Lodenmantel verhüllte schnell und praktisch die Fülle meiner übrigen Reize. So trat ich wie Harun al Raschid vermummt in die stockfinstere Nacht hinaus. Der Weg unter meinen Füßen war feucht und glitschig, und der Wind zerrte boshaft an meiner losen Hülle. Langsam kam ich wie ein wandelndes Parallelogramm der Kräfte schwankend im Hofe des herzoglichen Kaufherrn an. 129 Während ich mich an der Wand eines Nebengebäudes nach einem schwachen Lichtschimmer, der aus dem Wohnhaus blinzelte, weitertastete, hörte ich ein kurzes zorniges Kläffen und fühlte, wie ein weicher haariger Gegenstand mit großer Gewalt wider meine Brust geschleudert wurde. Ich verlor das Gleichgewicht und lag wie Sir John Fallstaff bei Gads Hill, wenn auch nicht so massig, doch gerade so unbehilflich am Boden. Ehe ich mir noch ein Bild machen konnte von dem, was mit mir vorging, hatten sich schon acht, oder sechzehn, oder vierundzwanzig hungrige Mäuler über mich hergemacht, um mich mit Stumpf und Stiel aufzufressen. Von einer Parade und von einem Führen meiner Klinge war bei mir schlechterdings keine Rede. Ich konnte nur mit den Beinen um mich treten und aus voller Kehle um Hilfe schreien. Bald ließen sich Stimmen hören. Laternen kamen schwankend näher. Der Krämer mit seiner Frau und dem ganzen Hausgesinde war zu meiner Rettung herbeigeeilt. Kaffeemühlen, Hand- und Reisigbesen sausten über mich weg und eine Hundspeitsche fuhr pfeifend durch die Luft. Bald griffen hilfreiche Hände zu und richteten mich auf. Nun war die Lage zu übersehen. Die zwei Wolfshunde der Faktorei hatten meine nächtliche Annäherung verdächtig gefunden und hatten sich über mich hergemacht. Der Hundebesitzer prügelte nun vor meinen Augen seine Biester, damit dem Verbrechen nicht die Sühne fehlen möge; und damit ich auf meine Wunden ein Pflaster hätte, sagte er 130 zu mir mit bedauerlichem Achselzucken: »Sie begreifen, daß wir uns hier in dem wilden Lande mit Schoßhunden nicht begnügen können.«

Ich begriff nolens volens, nahm mein Paket und tastete mich zurück zu meinem Nachtquartier. Bald auch lag ich wieder wie vor einer halben Stunde unter meiner Zudecke. Aber ich hatte nun einige brennende Hundebisse am Körper, und dann die zuckenden Stiche von den Sandfliegen auf dem Rücken der Hände!! Wahrhaftig, in dieser Nacht hatte mir des Himmels Gnade reichlich Gelegenheit gegeben, mit Scheuern und Kratzen einen Teil meiner Sünden abzubüßen. Erst gegen Morgen schlief ich ein.

»Poch, poch, poch,« hallte es durch mein Wellblechhäuschen hin, und dazwischen herein wimmerte es schüchtern: »Massa, Massa, der Massa aufstehen.«

Alle Wetter, schon war der Tag da, und meine schwarzen Reiseführer waren gekommen, um mich an die Ambasbai hinunterzubringen. Es war ein Sonntag, und die liebe Sonne lachte freundlich über den brauenden Nebeln hin, die über Schründen und Klüften des Gebirges ihr Wesen trieben, als ich die Tür meines Häuschens hinter mir schloß. Wie ich leise die hölzerne Stufe der Veranda hinabstieg, da schnitt ein scharfes Weh wie Trennungsschmerz mir durch die Seele, und ich merkte, daß ich das Land schier lieb gewonnen hatte.

Doch es war keine Zeit zu langen Meditationen. Im schmalen Pfade hielt die Rikschaw. Ein 131 Bakwirineger war vorn in die Scherendeichsel gespannt zum Ziehen, ein anderer stand hinten zum Schieben bereit, wenn das Terrain es erfordern sollte. Bald saß ich in dem gepolsterten zweiräderigen Karren, und in einem guten Trab sausten die Schwarzen mit mir den Berg hinunter. Der Dolmetscher barfuß nebenher. Die Sache ließ sich reizvoll und sogar poetisch an, und wie so das weiche Gras des Bodens das Geräusch der Räder dämpfte, hatte die ganze Art der Fortbewegung mit der Staffage der Palmen rechts und links der Fahrrichtung etwas geheimnisvoll geisterhaftes. Da wir starkes Gefälle hatten, kamen wir bald aus den sonnenbeschienenen Regionen in den nebeltriefenden Urwald hinein. Da, als wir eben über eine Böschung rutschten, glitt der Neger in der Scheerendeichsel aus und fiel. Die Rikschaw mit mir als Insassen stürzte auf ihn, und zur Bekrönung des Ganzen kollerte der hintere Neger mitsamt dem Dolmetscher auf den Haufen hinauf.

So lagen wir eine Zeitlang lebendes und totes Material ziemlich unordentlich durcheinandergeschachtelt, malerisch in einer breiten grasüberwachsenen Pfütze. Der aufgeweichte Lehmboden hatte uns alle mit Ausnahme der Deichsel vor ernsterem Schaden bewahrt. Diese allerdings war abgebrochen, und der Wagen war fernerhin nicht mehr in der Balance zu halten. Damit hatte das Fahren sein Ende gefunden, und das Laufen mußte seinen Anfang nehmen wie bei Onkel Saufaus, als er sein Fuhrwerk vertrunken hatte. Die beiden 132 Rikchawboys wurden abgelohnt und mochten zusehen, wie sie den Torso von Wagen nach Buea hinaufschleppten. Mein geringes Gepäck nahm der Dolmetscher an sich, und so trabten wir zu zweien in dem sonnendurchschossenen Morgennebel weiter.

Schwarze Schweinchen kamen vor Vergnügen grunzend aus dem dichten Unterholz hervor und sielten sich mit Behagen in den Wegpfützen.

»Sind sie wild?«

»Nein, sie gehören zu einem Dorfe, das da im Busche versteckt liegt.«

Schwarze Männer und Frauen wechselten über den Weg und grüßten meinen Begleiter.

»Sind das Bekannte von Dir, Boy?«

»Ja und mehr noch, sie sind sogar Verwandte. Ich stamme aus ihrem Dorf. Meine Eltern sind tot. Ich kam in die Missionsschule nach Buea. Dort wurde ich erzogen und bekam bei der Taufe, weil ich ein fleißiger Schüler war, den schönen Namen Kartoffel oder in unserer Sprache »Măkābo.« Andere, die nicht lernen wollen, heißen Lichtputzscheer oder Zwickelstrumpf. So straft der weiße Mann die Trägheit mit einem Namen, der schlimmer ist als eine Kette um den Hals.«

»Du wirst eine Zierde der Christenheit sein, mein süßer Kartoffel, wenn Du jetzt schon erkannt hast, daß ein guter Name mehr ist als bloßer Schall,« warf ich dazwischen. »Aber sag', wie stellen sich Deine Stammesgenossen zu Dir. Nehmen sie es nicht übel auf, daß Du 133 in die Dienste des fremden Eindringlings getreten bist?«

»Ich frage nichts darnach, seitdem ich weiß, daß Kenntnisse eine Macht sind. Deutschland war auch ein unterdrücktes Volk – hat uns der Missionar gesagt – da lernte es Kanonen machen und Dampfschiffe bauen, und nun kann es andere Völker unterwerfen oder auch vernichten. Habt Ihr nicht Schulen für Schiffbauer? In eine solche möchte ich gern.«

»So, mein lieber Măkābo, dies alles möchtest Du in Deutschland lernen und dann wieder heimkehren und Deinen Landsleuten zeigen, wie man's macht?«

»Ja,« war die trockene Antwort.

»Und wenn Ihr dann Gewehre hättet und Kanonen und Dampfschiffe, mein guter Kartoffel, was würdet Ihr dann mit denen machen, die jetzt Euere Herren sind? Ich meine, mit den Bleichgesichtern?«

Măkābo erkannte wohl das Verfängliche einer solchen Fragestellung, und er war Diplomat genug, um zu schweigen. »Er könnte der Arminius seines Volkes werden,« mußte ich denken, »und dies Gehölz der Teutoburger Wald. Einen Quintilius Varus, der uns mit Trompetenschall und einem wohlschraffierten afrikanischen Feldzugsplan in die Patsche hineinreiten könnte, haben wir auch schon. Keine Frage, wenn dieser eingeborene Setzkartoffel gedeiht und sich entsprechend vermehrt, dann könnte für importierte Zierpflanzen der Boden etwas zu heiß werden.«

134 Während ich mit diesen Kassandragedanken beschäftigt war, schnitt Măkābo, dem offenbar mein Schweigen peinlich geworden war, frischweg eine andere Frage an.

»Massa, ist es wahr, daß bei Euch in Deutschland die Mädchen nichts kosten? Hier muß man vierzig Ziegen für eine bezahlen, auch wenn sie noch kein ganzes Weib, sondern nur erst so ein halbwüchsiges Mittelding ist, das noch nicht recht zur Frau und noch nicht recht zur Arbeit taugt.«

»Daß bei uns die Mädchen gar so billig wären, mein süßer Kartoffel, das hat nicht durchweg seine Richtigkeit. Ich kenne manch einen, den das ewig Weibliche seine eigene und die Wolle seiner sämtlichen Schafe gekostet hat,« seiltänzelte ich um die Wahrheit herum, um dann im Tone des Biedermannes fortzufahren:

»Im übrigen aber hast Du recht damit, gelehrter Kartoffel, daß bei uns Christen das Weib sozusagen nicht käuflich ist. Im Gegenteil, wenn einer Glück hat, bekommt er vom Schwiegervater das Mädel nachgeworfen und noch einen Haufen Geld dazu.«

Bei diesen Worten schwoll die Kartoffel neben mir an und ging auf, als ob sie abgekocht worden wäre. Ich dachte schon, jetzt wird ihr die Schale zu eng und sie platzt, als sich ihr die Lippen öffneten und die goldenen Worte zum Vorschein kamen: »Deutschland ist ein sehr glückliches Land.«

Da ich dem guten Wilden seinen frommen Glauben nicht rauben wollte, so spielte ich den Gesandtschaftsattaché 135 und schwieg, wie er vorhin geschwiegen hatte, als er Diplomat war. Doch ihm war der Gegenstand der Unterhaltung viel zu interessant, als daß er sich denselben so mir nichts, dir nichts hätte unterschlagen lassen.

»Und wie viele Frauen, Massa, hast denn Du?« forschte er neugierig nach einer sehr kurzen Kunstpause.

»Siehe, Măkābo, ich bin ein Temperenzler und muß mich mit einer begnügen,« sagte ich fromm.

»O dann bist Du ein Maultier, wenn Du die Mädchen umsonst haben kannst und noch Geld dazu, warum nimmst Du Dir nicht viele? Die könnten doch für Dich arbeiten?«

Daß man nach Kamerun gehen muß, um den Stein der Weisen zu finden! Ich hätte dem verständigen Jungen um den Hals fallen und ihn bitten mögen, daß er sich aufmache, um den dickhäutigen Germanen sein neues Evangelium zu verkünden. Wie sagte doch einstens der bescheidene Johannes am Jordan: »Ich hätte nötig, von Dir getauft zu werden, und Du kommst zu mir.« Doch ich hütete mich, dem Wilden beizupflichten. Ich wollte seinen Glauben an die Allweisheit des weißen Mannes nicht erschüttern.

Während wir geredet hatten, war die Sonne nicht müßig gegangen. Sie hatte den Nebel aus dem Walde hinausgejagt und die tausend blühenden Schmarotzer, die von den Urwaldästen niederpendeln, in die richtige Beleuchtung gestellt. Überall sah man Guirlanden niederhängen und sah Ehrenpforten gebaut, als ob der Märchenprinz erwartet würde, der dieses Kamerundornröschen 136 zu neuem Leben wachküssen solle. Ich war der Erwartete jedenfalls nicht, denn vom Glanze eines Bräutigams hatte ich verteufelt wenig an mir. Mein Anzug war vom Sturz aus der Rikchaw über und über mit Schmutz bedeckt. Meine Schuhe waren vom Morgentau durchnäßt. Meine Schultern hingen lahm herunter, und mein Gang war hinkend. Wie mich die Hundebisse schmerzten, namentlich der auf dem Reihen meines rechten Fußes. Jeden ungeschickten Tritt über eine Baumwurzel weg, jedes Ausgleiten auf einem der schwitzenden Lavabrocken mußte ich mit einem Lanzenstich bezahlen, der mir von der großen Zehe bis zur Hüfte heraufdrang. Ach und dann die Treibhaushitze, die mit dem Höhersteigen der Sonne immer erschlaffender, immer lähmender von der feuchten Erde zu mir heraufstieg. Ein Königreich für die elendeste Spessartkneipe und meine sämtlichen Orden für einen Krug Bier, wie deren jeder Münchener Brauknecht im Tage anderthalb Dutzend hinunterschlingt. Eitles Wünschen. Für mich gab es in diesen Stunden kein »Tischlein, deck dich!« sondern nur den harten steinigen Weg und Sonnenbrand an den Stellen, wo Wirbelstürme oder auch die Axt der Eingeborenen den Wald etwas gelichtet hatten. So humpelte ich mit meinen kranken Beinen mühselig hinter meinem Führer her, der in seiner paradiesischen Nacktheit nicht die Hälfte von den Qualen erduldete, die mir einzig nur durch meine Fußbekleidung verursacht wurden. Und doch wagte ich es nicht, die Schuhe von den Füßen 137 zu ziehen. Da krochen alle Augenblicke gepanzerte Tausendfüßler über den Weg, die schwarz aussahen wie die Kautschukhülse eines Thermometers und auch die gleiche Größe hatten. Wehe der Fußsohle, die sich auf die Schuppenkette dieser Unholde verirrt. Lange eiternde Geschwüre sind die Strafe für ein einziges Versehen. Also keine Erholung, auch kein Niedersetzen, immer voran und hinter dem Schwarzen her, der mir mehr wie einmal schon in großer Weite hinter Buschwerk entschwunden war.

Wir kamen durch ein Eingeborenendorf. Verräucherte Hütten aus Bambusrohr bilden eine lange Gasse. Rauch dringt aus allen Fugen des Palmblätterdaches. In den Türöffnungen sieht man auf dünnen Beinen dickbauchige Weiber stehen mit struppigem, ungekämmtem Haar. Magere Kühe, die da zwischen den Hütten grasen, erwecken die Vorstellung, daß es auf Erden irgendwo kühle Milch geben könne. Hah, welch' eine Göttergabe, ein Schluck Milch, in diesem Sonnenbrand! Aber von diesen Scheusalen gereicht, ach und aus welchen Gefäßen wohl! Nein, dann lieber nicht. Nur fort, nur weiter den Berg hinunter und hinter dem Dolmetscher her.

Ein kühler Luftzug dringt zu mir herauf und ein Rauschen, ein frisches lebendiges Rauschen wie von mutwilligen Wassern. Wir gehen am Rande einer Schlucht hin, die in ihrem Schoße den schäumenden Sturzbach gefangen hält. Ach, wenn man nur hinunter 138 könnte, um für einen Augenblick nur, für einen kurzen beseeligenden Augenblick die wunden Füße ins Wasser zu stellen! Da tut der Pfad mir den Gefallen und tritt hinunter an die schäumende Flut. Nun flink und die Schuhe herunter, und hinein in das schwarze kühle Naß. Schon will ich mich niedersetzen, da schlägt etwas mit schwerem Knall wie ein Peitschenstiel auf die dürre Blätterdecke des Waldbodens nieder. Als ich nach der Richtung sehe, aus welcher der Schall kommt, zieht gerade eine Schlange das Ende ihres glatten Körpers unter niedere Farrenkräuter zurück. Also auch hier keine Rast. Über den Bach hinüber, weiter, nur immer weiter. Einmal muß doch auch der Wald ein Ende nehmen. Ich sehe auf die Uhr. Es ist kurz vor zwölf. Also sechs Stunden Laufens hatten wir schon hinter uns und zwei, wohl auch drei und wohl auch mehr lagen noch vor uns. Das ist bei so müden schmerzhaften Beinen eine trübe Perspektive. Doch sie erhellte sich, als wir eben aus buschigem Niederholz in den gewaltigen Dom eines prächtigen Hochwaldes treten. Da ist plötzlich unter die grüne Wolke des Blätterdaches mitten hinein zwischen die weißen Säulen, die seine Wölbung tragen, ein azurblauer Teppich ausgespannt. Nein, es ist die weiche Bläue nicht der Himmel. Sie liegt ja unter uns, so, als ob wir mit einem Satze hineinspringen könnten in die Indigolösung. Da bricht sie aus mir heraus, eine alte Schülerreminiszens aus meinen Gymnasiastentagen, und frohlockend rufe ich mit Xenophons 139 Soldaten aus: Thálatta, Thálatta!! – – Ja, das Meer war da! – – Was da unten wie himmelblaue Sehnsucht lockte, war in der Tat der blanke Spiegel der Ambasbai. Freilich, wir standen noch hoch über ihm und auch noch weit von ihm weg; aber immerhin, meine Augen hatten das Ziel der Wanderung erblickt, meine Beine mochten zusehen, wie sie mich hintragen könnten.

Derweilen hatte der Pfad sich zum wohlgepflegten Fahrwege erweitert. Der Wald war zurückgetreten, und schnurgerade Reihen von Kakaobäumen liefen, soweit das Auge sehen konnte, die Täler hinunter und die Höhen hinauf. »Hier wird Plantagenwirtschaft getrieben, wenn uns das Glück nur halbwegs wohl will, wird uns bald auch ein deutscher Landsmann über den Weg laufen,« berechnete ich, und nicht mit Unrecht. Denn gleich darauf entdeckte mein Falkenauge ein gesatteltes Pferd, das weit da vornen an einen Baum gebunden war. »Vielleicht, daß man Dir gütigst die Erlaubnis gibt, für den Rest des Weges das Pferd zu benützen.« – Diese Hoffnung richtete meinen gesunkenen Mut wieder auf, und die Bewegungen meiner armen Beine nahmen ein schnelleres Tempo an. Doch, o Schrecken! Als ich dem Vierfüßer schon beinahe auf Rufweite nahegekommen war, trat ein Pflanzer in weißem Tropenanzug, den Kopf von einem breitrandigen Panamahut überschattet aus dem Busch, schwang sich in den Sattel und trabte in der Richtung auf Viktoria zu lustig von dannen.

Da war es fast aus mit meiner Kraft. Ich konnte 140 nur mühsam noch einen Fuß vor den anderen bringen, und mein schwarzer Begleiter mußte des öfteren stehen bleiben und mein Nachkommen abwarten.

Endlich, endlich war es erreicht. Von einer letzten Bodenwelle herunter sah man ein Haus, das für europäische Beqeumlichkeits-Ansprüche errichtet sein konnte, und auf der umlaufenden Piassa Menschen, die sich's in Liegestühlen bequem machten.

»Was ist das?« fragte ich meinen Führer, »Spital«, entgegnete er kurz und trocken. »Da habe ich, was ich brauche,« dachte ich mir und klingelte. Aber niemand tat mir auf. Also wandern, immer wieder wandern. Zunächst noch eine mir endlos erscheinende Palmenallee hinunter, dann über eine Brücke, dann einen grünen Hügel hinauf zum Hause der Basler Missionsstation. Schwankend über die Piassa hinüber, hinein in ein schönes luftiges Empfangszimmer. Ich war zum Sterben erschöpft, ließ mich in den ersten besten Stuhl niederfallen und schrie nach Wasser. Man brachte mir Whisky und Sodawasser. Ich trank in vollen Zügen. Dann wurde ich in ein Bad gebracht, abgerieben und in ein sauberes Bett gelegt, das mit Muskitobai sorgsam umsteckt war. Bald darauf sah ich nichts mehr, hörte nichts mehr, interessierte mich für nichts mehr. Afrika, Europa, Asien, Amerika und Australien, Himmel und Hölle waren mir negligeable Größen geworden.

Als ich nach stundenlangem Schlaf gegen Abend 141 erwachte und durch die Gaze meines Vorhangs ins Zimmer guckte, bemerkte ich, wie eine lange Prozession von winzigen weißgelben Ameisen sich über eine Mahlzeit hergemacht hatte, die meine Wirte auf ein niederes Tischchen vor mein Bett gestellt hatten. Zu tausenden tummelten sich die gefräßigen Nascher in den Poren eines Biskuitstückes herum, und in der Rahmschale war ein Ringen und Zappeln, wie es verzweifelter bei Pharaos Durchgang durch das rote Meer auch nicht gewesen sein kann. Ich machte es, wie es dazumal der liebe Herrgott gemacht hat, d. h. ich ließ die Dinge gehen, wie sie mochten, zumal da ich einerseits noch keinen Hunger hatte und andererseits von einem schmerzlichen Rheumatismus geplagt nicht imstande war, auch nur ein Glied zu regen. Gleich drauf überwältigte mich wieder die Müdigkeit. Erst nach einer langen bleischweren Schlummernacht versuchte ich es, am nächsten Morgen den Arm des gütigen Missionares zu fassen und mich nach einem Liegestuhle, der auf der südlichen Veranda stand, hinauszuschleppen. Da lag ich nun mit zerschlagenen Gliedern, als ob ich aus einem Luftballon auf die Erde niedergefallen wäre. Dattelpalmen wiegten die gefiederten Kronen über meinem Haupte. Ein grüner Rasenteppich senkte sich mit sanfter Neigung von der Terrasse nach dem Meere nieder. Bunte Schmetterlinge gaukelten unsicheren Fluges durch die Luft, während ich regungslos dalag und nur meine Augen über die Kobaltbläue des Meeres hinschweiften und am fernen Horizont die 142 »Eleonore« suchten, die heut oder morgen kommen und mich mitnehmen sollte.

Horch, da dringen deutsche Gesangbuchmelodien an mein Ohr. Frau Chapuis war es, die Missionarsfrau, die mit ihren schwarzen Kochstudentinnen am brennenden Herdfeuer fromme Lieder sang. Nicht lange, und die verärgerte Stimme des Herrn Chapuis mischte sich in die seligen Harmonien. Er zankte sich in einer Sprache, von der ich nur wenige Worte verstand, mit einem Bakwirijüngling herum, der einen kleinen Geißbock an einem Stricke mit sich führte.

»'s ist ein unverschämter Bengel,« sagte der Missionar, indem er sich gegen mich wendete: »Für dieses Böcklein möchte er eine Ziege eintauschen und, damit aus dem Handel für die Christenheit noch etwas herausspringt, will er sich nach abgeschlossenem Geschäft taufen lassen.«

»Sie sollten auf seinen Vorschlag eingehen, Herr Chapuis,« erlaubte ich mir zu bemerken, denn ich fing an, wieder Interesse für die Welt zu gewinnen. »Um die Differenz zwischen einem Bock und einer Ziege sind dem Himmel noch wenig Auserwählte erkauft worden. Und dann, wer will denn sagen, zu welchem gottgefälligen Zwecke der Schwarze das Muttertier verwenden wird?«

»Zu welchem Zweck? Dank der Offenherzigkeit dieses Geschäftsmannes ist dieser kein Geheimnis. Er hat ein schwarzes Schmaltier im Handel. Schon hat er dem 143 zukünftigen Schwiegervater drei Dutzend vollwertige Ziegen als Zahlung für die Braut abgeliefert. Aber es müssen deren vierzig Stück sein. Um einen geringeren Kaufpreis ist die Häuptlingstochter nicht zu haben. Der Schelm hat es versucht, vier Böcke unter die Herde zu schmuggeln. Doch der Betrug wurde entdeckt. Nun sucht er die Gutmütigkeit der Europäer auszubeuten. Er wandert mit seinen Böcken von einer Missionsstation zur anderen, und wenn er bei Katholiken oder Protestanten unerfahrene Eiferer findet, so erreicht er seinen Zweck, er kommt zu einer guten Frau, und die Kirche zu einem schlechten Christen.«

Ein Fremder war derweilen auf die Veranda getreten und nahm ohne weiteres Zeremoniell an der Unterhaltung teil, indem er bemerkte: »Sie glauben nicht, wieviel Taufwasser vergeblich aus den Kannen fließt. Ein Glück, daß es nichts kostet. Alle Klingelbeutel der Christenheit würden seinen Preis nicht zusammen betteln können, auch wenn es selbst keinen höheren Preis hätte als Apfelwein.

»Ich verstehe,« sagte ich zu dem hereingeschneiten Redner. »Derartige Menschen füllen die Rubriken der Bekehrtenlisten wie Fallstaffs Rekruten die Festungsgräben. Erst wenn einige Millionen der Avantgarde im Sumpfe des Unverstandes erstickt sind, kann es sein, daß ihre Nachfolger über deren Leichen hinweg trockenen Fußes zum Lichte einer höheren Erkenntnis vordringen werden. Bis es so weit ist, verehrter Herr, werden Sie 144 und ich und neben uns noch mancher andere in Abrahams Schoß ruhen und die Einigung der Menschheit zu einem Schafstall und zu einer Herde aus der Vogelperspektive beobachten.«

Herr Chapuis, der Missionar, schwieg verlegen, zumal da unsere Unterhaltung soeben durch das Gebrüll einer Schiffssirene unterbrochen wurde. »Das ist die ›Eleonore‹, die Sie von uns wegführt,« sagte er endlich aus tiefem Nachdenken heraus. »Gleich wird das Schiff um die Ecke biegen. Man sieht schon seinen Rauch da hinten über die Bäume der Räuberinseln steigen.«

»Dann will ich mich fertig machen, guter Herr Chapuis. Habt Dank für alle Liebe und Pflege, die ich in Eurem Hause gefunden habe. Der Himmel erhalte Euch gesund und gebe Eurer Arbeit Segen und Gedeihen.«

So hinkte ich mit meinen lahmen Gliedern zunächst nach meinem Schlafzimmer, um mein Bündel zu schnüren, und dann den Strand entlang nach der Landungsbrücke, die auf starken Pfählen weit über die plätschernde Dünung hinaus in die blaue Salzflut hineingebaut ist. Zunächst ging es in eine breite Schute hinein, auf deren Außenwänden ein halbes Dutzend schwarzer Ruderknechte saß. Zum Takte einer monotonen Weise legten sie sich mächtig in die Riemen. Das Ebenholz ihrer Rückenhaut spannte sich wie ein Trommelfell und spiegelte die Sonne wider wie Glanzleder. Pfeilschnell schoß das Boot dahin und legte sich geduldig unter das Fallreep der »Eleonore«. 145 Wer jemals den geprellten Sancho Panse abgemalt gesehen hat, wird eine Vorstellung haben von der Eleganz, mit der ich steifbeinig zum Deck des Dampfers hinaufhumpelte, und wird begreifen, daß Kapitän und Schiffsjunge lachten, als sie ihren Medikus in solcher Verfassung heimkommen sahen. 147

 


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