Adam Karrillon
Im Lande unserer Urenkel
Adam Karrillon

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Erstes Kapitel

Von Hamburg bis zur Ambasbai

Ein Schneider auf dem Hamburger Rödingsmarkt hatte in einer einzigen Nacht einen schon stark angegrauten Bauerndoktor in einen flotten Schiffsarzt verwandelt. Die Mittel, mit denen dies Wunder zuwege gebracht wurde, waren einfach genug. Ein halbes Dutzend vergoldeter Knöpfe an den Rock, rotgelbe Litzen an die Ärmel und zwei messingene Blutegel rechts und links vom Rockkragen, und die Transsubstantiation war geschehen.

An einem Freitag morgen fuhr ich derartig zugestutzt auf der »Eleonore« die Elbe hinunter, um Cuxhaven herum und in die Nordsee hinein. Da der erste Reisetag ein gebotener Fasttag war, so fügte ich mich dem Gesetz der Mutter Kirche um so bereitwilliger, als auch mein Magen in einer Anwandlung von Frömmigkeit jede Nahrungsaufnahme verweigerte. Am Samstag ging's schon etwas besser. Der Appetit nach Heringssalat hatte sich eingestellt und konnte befriedigt werden. Am Sonntag war alles wieder all right und alle Unarten der »Eleonore«, ihr Stampfen, Rollen und Schlingern störten nicht mehr die Gleichgewichtslage meines Gemütslebens. Gegen Abend lagen wir vor den Kreidefelsen von Dover. – Während das Auge über die Schroffen hinirrt und den alten König Lear sucht, wie er die Leiche seiner holden Cordelia bejammert, bringt der 4 Tender »Vita« die Post und einige neue Passagiere an unsern Dampfer heran. Dann geht's los mit dem Bugspriet in einen scharfen Ostwind hinein, der von der französischen Küste herüberbläst.

Während wir den Ärmelkanal überqueren, wird im Speisesalon das Abendessen serviert. So kommt es, daß die französische Küste schon voll entwickelt vor uns liegt, als wir wieder auf das Promenadedeck heraustreten. Doch eben erst die großen Umrisse des Festlandes sind zu erkennen, während die Details hinter den Schatten des hereinbrechenden Abends sich verstecken. Schon wachen vereinzelte Leuchtfeuer auf und werfen ihr warnendes Licht den Schiffen zu. Größer und geschlossener wird nach und nach die Perlenschnur der Lichter längs der Küste hin. Dicht gedrängte, feuerige Flecken, die in ihrer Totalität an einen durchbrennenden Kohlenmeiler erinnern, bezeichnen die Wohnsitze der Menschen, Dörfer, kleine Städtchen, Badeplätze. Südostwärts, gerade über das Bugspriet hinweg, wird das Gefunkel der Flammen immer lebhafter und lebhafter. Der Heiligenschein der Straßenlaternen wird erkennbar. Einer reiht sich neben den andern zu einer langen Allee von Monstranzen. Über ihnen die rotglühenden Fenster breiter Festsäle, die tausend matten Punkte aus der Petroleumlampe armer Leute und wie eine bleiche Geisterhand von Zeit zu Zeit über den ganzen Feuerzauber hinfahrend das Drehlicht aus dem Leuchtturm von Boulogne. Blinzelnd, bald hell erstrahlend, bald wieder 5 erblassend kommt die Dreifaltigkeit einer weißen, grünen und roten Laterne auf uns zugeschwommen. Eben biegen wir um die stark umbrandete Spitze des langen Piers herum und fahren langsam in das stille Wasser des Hafens hinein. Gleich werden wir ganz still liegen oder ein Schiff in den Grund bohren. Das farbige Laternendreieck hat uns nämlich schon beinah erreicht. Es ist der Tender von Boulogne, der uns Passagiere und Ladung bringt. Er hat an Steuerbord der »Eleonore« festgemacht und schiebt die Laufplanke zu uns herauf. Eigentlich ist es schon keine Planke mehr, sondern die reine Hühnerleiter. Vierschrötige Kerle mit gekrümmten Rücken und nackten Füßen klettern an ihren Sprossen herauf und werfen aufs Verdeck Säcke, die durch den nimmersatten Schlund der Luke rasch im Bauche des Schiffes verschwinden. Fässer werden heraufgerollt, Kisten hereingeworfen und erleiden das gleiche Schicksal unter dem wenig musikalischen Geknatter und Gerassel der Kranenkette.

So, nun sind wir fertig. Die »Eleonore« dreht, und abermals geht's um den Pier und seinen Leuchtturm herum, dessen Scheinwerfer uns die Hafenausfahrt taghell beleuchtet. Wir kommen mit jeder Sekunde tiefer und tiefer in den Ärmelkanal hinein. Bald sind wir in der Mitte zwischen England und Frankreich, die beide sich die denkbarste Mühe geben, unserem schwimmenden Hause den rechten Weg zu weisen. Alle Augenblicke streicht das Feuer eines Leuchtturmes wie ein breiter, 6 weißer Nebelstreif gespenstig über Schornstein und Masten hin. Feuerbojen puffen auf und warnen vor gesunkenen Schiffen und Untiefen. Ruhige Lichter rufen uns mit verschiedenen Farben zu: Hier sind Klippen, denen ein kluger Kiel aus dem Wege geht!

Aber während wir vorher rings von Feuersignalen umzirkelt waren, hat sich nun nach vorn der leuchtende Kreis geöffnet. Der schwarzblaue Nachthimmel mit seinen Sternenpünktchen drängt sich in die Lücke hinein. Schauen wir noch einmal, bevor die Nacht uns umarmt, hinter uns zurück. Frankreich und England sind aneinandergelötet. Die Lötstelle ist ein blinkender Streifen von flüssigem Gold und darüber steht groß und gewaltig, wie das Auge Gottes selber, der volle Mond.

Als der Weltenschöpfer am siebenten Tage sein Werk betrachtete, war er mit sich zufrieden und er konnte es sein, denn es war ja auch nicht schlecht für die damalige Zeit. Wenn er aber heute manchmal durch den Riß seiner Wolkengardinen zu uns herunterguckt, wird er zu sich selber sagen müssen: »Die Schwerenöter von Menschenkindern haben doch noch mancherlei daran zu verbessern gewußt. Ich werde dem Lumpenpack um seines Fleißes willen für viele seiner Unarten die Absolution nicht vorenthalten können.«

Als ich spät zu Bette ging, hatte ich eine große Freude darüber, daß nun fünf Tage folgen würden, an denen man rein gar nichts anderes tun konnte, als sich der stillen Beschaulichkeit hingeben. Wasser 7 ringsum und darüber der Himmel. Keine Landpartie mehr, keine Radtour, kein Kegelschieben und Fußballtreten. Wenn da die verstimmten Nerven nicht zur Ruhe kommen, dann hilft ihnen auch kein Sanatorium mehr mit den übermenschlichsten Verpflegungssätzen. Dem Schlafe wollte ich mich in die Arme werfen, dem Balsam kranker Herzen, und es kam mir der vertrackte Gedanke, ob es denn nicht besser wäre, wenn die auf je vierundzwanzig Stunden verzettelte Ruhezeit überhaupt auf eine bestimmte Periode des Jahres zusammengelegt würde. Wie wäre es, wenn man wie der Siebenschläfer im November sich zusammenringelte, um erst in der Pfingstoktave zu erwachen? Hunderttausend Ehen würden in einem solchen Falle weniger geschlossen, und es gäbe zweimal hunderttausend Glückliche mehr auf der Welt. Schlachten blieben ungeschlagen, und der Hosenrock könnte es sich noch einmal überlegen, ob er kommen will oder nicht.

Am nächsten Morgen dachte ich noch genau so, wie ich am Abend vorher gedacht hatte, und da ich keinen Hunger verspürte, hatte ich auch keinen plausiblen Grund, weshalb ich hätte aufstehen sollen. Ich kehrte das Gesicht der Wand zu und duselte weiter. Eine Stunde später spürte ich ein Jucken und Stechen um das Kinn herum und merkte daran, daß ich lange nicht mehr rasiert worden war. Da ich keinen Modernisteneid geschworen hatte auf meine gestrigen Glaubenssätze, so zog ich mich an und ging nach dem Laden des Schiffsbarbiers Schneidig.

8 In dem kleinen Raume prangten zwischen Puderdosen und Mandelseife einige Rosensträuße, während der Schiffskoch farb- und duftlos, aber dafür um so umfangreicher sich auf dem schwarzen Ledersofa rekelte.

»Ihr Befinden, Herr Schneidig?«

»Läßt nichts zu wünschen übrig. Ein gutes Gewissen mit guten Erfolgen gepaart. Wollen der Herr Doktor sich durch diese Rosen überzeugen lassen, daß ich eine gefeierte Persönlichkeit bin.«

»Sie haben wohl Geburtstag heute?«

»Keineswegs, die Blumen stammen noch von Hamburg her und sind für mich und jedermann, dem ein 9 Herz in Liebe schlägt, geweiht durch die Abschiedstränen meiner Bräute.«

»Ihrer Bräute; darf man ungefähr wissen, wieviel Sie von der Warensorte auf Lager haben?«

»Beliebten der Herr Doktor nicht zu bemerken, daß am Donnerstag abend, als das Schiff noch am Petersenkai lag, vier Damen an Bord waren? Eben diese viere sind mir verlobt, keine weniger, keine mehr.«

»Mein guter Herr Schneidig, da wird's über kurz oder lang ein großes Sterben geben. Am Tage, wo Sie sich definitiv für eine einzige entscheiden müssen, werden drei mit ihrer Jungfernschaft ins Jenseits abreisen.«

»Kann ich bedauern, aber nicht ändern. Ein Mann, dessen Name bis zum Tschadsee hinauf an den Lagerfeuern der Schwarzen genannt wird, ist natürlich viel umworben. Diejenigen, die in Europa die Monogamie eingeführt haben, mögen sich Gewissensbisse machen über den Tod der Verschmähten. Ich wasche meine Hände in Unschuld und Seifenschaum.«

»O du Ausgeburt der Hölle,« ließ der Schiffskoch sich vom Kanapee herüber hören, »Beelzebub hätte aus dir drei Teufel machen können, und es wäre noch genug Zeug übrig geblieben zu einem Lappenteppich. Was der Windhund nur an sich haben mag, daß die Weiber hinter seinem Skelett herlaufen?«

»Seklett, mein Rollschinken, mein Wickelbraten, meine Runkelrübe, Seklett mußt du sagen, wenn du in die 10 Lage kommst, das Wort noch einmal gebrauchen zu müssen. Aber besser für dich und dein Renommee wäre es schon, wenn du die Stumme von Porterico spieltest. Sobald du nur den Mund aufmachst, merkt man, daß du ein Proletarier bist und Rollkanaster kaust.«

»O du Gloriaseidener, du Sonntags-Gentleman, du mit deinen Phrasen, die so leer sind wie ein Dudelsack, du – du –« stieß der Koch heraus und kam nicht weiter, weil ein Hustenanfall Kurzschluß in den Strom seiner Beredsamkeit gebracht hatte.

Ungerührt von all den Vorwürfen seines Freundes ließ der Bartkünstler ruhig sein Messer über den Streichriemen gleiten und im Gefühle sozialer Überlegenheit unerschüttert sagte er mit Seelenruhe: »Sie müssen nicht auf ihn hören, Doktor. Er ist nicht von unserer Sorte. Ist kein homo sabinz. Sein Vater war ein Kirchendiener, seine Mutter eine geborene Haß-den-Teufel. Eigentlich hätte er ein Klingelbeutel werden sollen, ist aber mißlungen und eine Blutwurst geworden. Zum Beweise der Wahrheit empfehle ich Ihnen die Lektüre seines Steckbriefes.«

Da ich die Auseinandersetzung der Freunde zu beenden gedachte, so legte ich dem Barbier die Frage vor: Zu welcher Zeit wir wohl in Las Palmas auf den Kanarischen Inseln ankommen würden?

»Am nächsten Samstag um 8 Uhr 17 Minuten vormittags,« war die kurze mit apodiktischer Bestimmtheit ausgesprochene Behauptung.

11 »Und woher nehmen Sie, Herr Schneidig, diese genaue Kenntnis der Ankunftszeit?«

»Nichts Einfacheres als das, verehrter Doktor. Sie brauchen nur das Metazentrum mit eilf zu multiplizieren und dann die Kubikwurzel daraus zu ziehen, so wissen Sie, wie der Hase läuft und unser Schiff fährt.«

»O du Rosenkranz der Verlogenheit,« platzte der Schiffskoch los. »Eine Perle neben der andern, aber keine echt. Seine Worte haben nicht mehr Wert, als das Rappeln der Erbsen im Blechtopf. Paßt auf, ob er nicht mehr Ausreden hat, als der Pudel Haare am Schwanz, wenn sich's am Samstag herausstellt, daß seine Prophezeiung nicht stimmt.«

»Es kann ja selbstverständlich Gründe geben«, fuhr der Barbier in kalter Ruhe fort, »die dem Schiff das Einhalten der Fahrzeit unmöglich machen, z. B. ein heftiger Gegenwind, oder ein Defekt der Maschine, oder auch der Umstand, daß der Schiffszimmermann von Pferden träumt, oder der Oberkoch von Weibern. Dann freilich kann auch die Weisheit der Logarithmentafel versagen. Versteht Er mich, Herr Kochlöffel?« wandte er sich mit geringschätzigem Lächeln seinem Gegner zu.

Jetzt hielt's der Schiffskoch auf seinem Sitze nicht mehr aus. Er sprang verärgert auf und eilte nach der Küche, während ich mich nach einer Viertelstunde wohlrasiert wieder schlafen legte, als eben die Insel Quessant für das bewaffnete Auge in Sicht kam.

Am nächsten Tage schlief ich, bis mir die Rippen 12 weh taten, und setzte mich dann in die Schiffsapotheke, die kaum größer war wie ein rechtschaffener Beichtstuhl. Obwohl ich die Türe nach dem Puppdeck hinaus weit offen stehen ließ, so kam doch lange Zeit niemand, der von mir absolviert sein wollte. Aus Langeweile durchstöberte ich die Papiere der Schreibschublade und fand ein Heft mit vielem weißen Papier und der Aufschrift: »Journal des Schiffsarztes.«

»Was wirst du da hineinschreiben,« dachte ich mir, als sich ein Matrose meldete und über Herzdrücken klagte.

»Kommt Ihr Leiden von unglücklicher Liebe?« fragte ich als erfahrener Praktikus, der vorwegnimmt, was zu beweisen wäre.

»Es ist schon möglich.«

»Und wer hat das Unglück verschuldet, Sie oder sie?«

»Das Mädchen, und sie, sie allein hat mich vom Lande fort aufs Meer getrieben,« sagte er mit weinerlicher Stimme.

»Ihnen kann geholfen werden,« tröstete ich den Betrübten. »Kommen Sie morgen und holen Sie das Rezept.« Er ging und ich fing an in weicher Balladenstimmung ins Journal zu schreiben:

Vor Zeiten kannt' ich eine,
Der ich zu eigen bin.
Stolz ragt ihr Schloß am Rheine;
Noch stolzer ragt ihr Sinn.

Umgrünt von Efeuranken
An dem bemoosten Stein 13
Zu hoch für mein Verlangen,
Da hing ihr Kämmerlein.

Doch ob ich auch die Laute
Vor ihrem Fenster schlug,
Kein Fittich, der die Traute
In meine Arme trug.

Da packt' ich meine Habe
In einen Ranzen ein
Und zog am Wanderstabe
Weit in die Welt hinein.

Leb' wohl auf deinem Steine
Du hehre Maid am Rhein!
Wenn du's nicht bist, kann's eine
Der vielen andern sein.

Ich hatte gerade noch Zeit, das Blatt umzuwenden, so daß das Heft wieder in seiner weißen Jungfräulichkeit vor mir lag, als der Kapitän draußen vorüber wollte.

»Können Sie mir sagen, verehrter Vorgesetzter,« so rief ich dem Alten zu, »was ich etwa alles in dieses Buch hineinschreiben soll?«

Der Graukopf trat einen Schritt näher, legte bedächtig den rechten Zeigefinger an die Stirn und sagte dann: »Pro primo, sollen Sie keine Unwahrheit hineinschreiben und pro secundo auch keine Wahrheit. Passen Sie auf, ich werde Ihnen eine Äsopische Fabel erzählen, und Sie werden sich die Nutzanwendung dazu dann selber machen. Und er begann:

»Ein Kapitän und ein Steuermann, die einander 14 nicht ausstehen konnten, lavierten einst mit ihrem Fünfmaster vor der Küste von Yukatan. Sie wechselten täglich im Kommando ab, und so war es selbstverständlich, daß das Logbuch heute von dem einen und morgen von dem andern geführt wurde.

Da fiel es dem Kapitän eines schönen Tages ein, in das Heft hineinzuschreiben: ›Gestern war der Steuermann voll.‹

Dieser Vermerk brachte den edlen Lenker des Schiffes am nächsten Tage natürlich in Harnisch und er stellte seinen Vorgesetzten zur Rede.

›Ist das nötig, daß dies da drinnen steht?‹ war seine entrüstete Frage.

›Ist diese Notiz vielleicht nicht wahr?‹ lautete die ruhige Gegenfrage.

›Wahr ist sie schon, aber warum braucht sie im Journal zu stehen?‹

›Wenn die Tatsache wahr ist, warum soll sie dann nicht schriftlich festgelegt sein?‹ sagte der Kapitän, ließ seinen Steuermann stehen und ging seines Weges.

Am nächsten Tage fand der Alte zu seinem Erstaunen in dem Logbuch die Notiz: ›Heute war der Kapitän nüchtern.‹ Er geriet in Wut und befahl den Steuermann zu sich heran.

›Sag',‹ so fuhr er über ihn her, ›was hat das hier zu stehen?‹

›Ja ist das vielleicht nicht wahr?‹ fragte gelassen der Verfasser der Bemerkung.

15 ›Unwahr ist es nicht,‹ schnaubte der Kapitän, ›aber wozu braucht das hier zu stehen?‹

›Warum soll das nicht da stehen, wenn es wahr ist,‹ bemerkte der Steuermann trocken, ließ den Kapitän stehen und ging seiner Wege.«

Nach dem Anhören dieser Parabel saß ich nachdenklich in meinem Beichtstuhl. Der Alte war fort und hatte mich der Grübelei überlassen, die zu dem Analogieschluß kam: Am besten ist es, du schreibst gar nichts in das Journal. So riß ich denn die Liebesballade wieder aus dem Hefte heraus und ging hinaus, um mir mit dem Glase das Kap Finisterre anzusehen, das soeben ostwärts aus dem Wasser stieg.

Somit waren wir also über die gefürchtete Biskayasee herüber, ohne daß dieses übelbeleumundete Wasser uns seine Launen hätte fühlen lassen. Keine Spur von Seegang. Glatt wie eine Glasplatte lag das Meer da und der kleinste Heringsjüngling, der einen Luftsprung riskierte, entging nicht unserer Beobachtung.

Am nächsten Tage war es womöglich noch stiller um uns herum, kein Lüftchen regte sich. Schlapp hingen die Wimpeln von den Masten nieder, die nicht wagten einen Schatten zu werfen, weil die brennende Sonne drohend über unserem Haupte stand. Ich holte mir aus der Schiffsbibliothek ein Buch, legte mich auf das Sofa meiner Kabine und versuchte zu lesen. Doch die Sonne glitzerte in Millionen Reflexen vom Meere herauf und mir taten die Augen weh. Da schloß ich sie 16 ganz und lauschte mit dem Ohre der monotonen Weise, die das Kielwasser sang. Leiser und sanfter wurde die Melodie und näherte sich mehr und mehr dem Quellenmurmeln unter Schwarzwaldtannen. Das klare Bild meiner augenblicklichen Situation erblaßte, wurde von Vergangenem überfirnißt, und es kam mir vor, als ob ich auf weichem Moos im Waldesschatten läge.

Da mit einem Male erreicht mich das klägliche Bimmeln einer Glocke, und sofort erwacht die Vorstellung: Es brennt. Indem ich aufspringe, höre ich draußen ein wirres Durcheinanderlaufen von allerlei Schuhwerk und den, wenn auch unterdrückten, so doch deutlich vernehmbaren Ruf: »Feuer!« Bald wird es lauter und deutlicher, das schrecklichste Wort, das auf einem Schiff gehört werden kann: »Feuer!« Und es wiederholt sich: »Feuer, Feuer!« ruft einer dem andern zu, während die unerträgliche Schiffsglocke mit metallener Zunge in einem fort bimmelt: »Es brennt, es brennt.«

Als ich aus der Kabine trete, werde ich fast über den Haufen gerannt von Menschen, die alle aus dem Achterschiff nach Mittschiff laufen. Frauen bücken sich und heben vom Boden in Eile einiges auf, als ob sie damit fortlaufen wollten, dorthinüber, hinter die Linie des Horizontes, von wo aus gesehen das brennende Schiff nicht mehr ein Scheiterhaufen der Selbstverbrennung war, sondern eher schon ein mit Grausen versetzter Nervenkitzel.

Ich weiß zunächst nicht, was ich in dem Wirrwarr 17 tun soll. Ich bleibe unentschlossen und unfähig, etwas zu beginnen, stehen und meine Augen suchen die Flamme, die an unserem Schiffe leckt, oder suchen wenigstens deren schwarze Mißgeburt, den Rauch, zu erspähen. Von beiden bemerke ich keine Spur. Und doch müssen sie irgendwo sein. Wozu wäre denn sonst das Gerenne der ganzen Schiffsbemannung und die Unruhe der Passagiere? Vielleicht wühlt die gefräßige Glut in den Eingeweiden der »Eleonore«? Oder sie frißt sich vom Brückendeck durch das Sparrenwerk nieder, verwandelt den Laderaum in einen Kessel voll siedenden Metalls, bis endlich – wenn wir lange nicht mehr leben – die Außenwände bersten, die Wasser eindringen und den ganzen feurigen Klumpen mit sich niederreißen auf den Grund des Meeres. –

Das waren so die Gedanken, die mit der eleganten Geschwindigkeit von Forellenbrut durch das Ventrikularwasser meines Gehirnes hin und herschossen.

In diesem Augenblick werden wassergeschwollene Schläuche übers Deck geschleppt. Sie heben den Schlangenleib mit der Messingkrone und spritzen fauchend schäumende Wasserstrahlen aufs Brückendeck hinauf. Die Winden knarren und holen Wasser aus der See herauf. Die Copulakette dreht sich und zwingt die nächste Pumpe mitzuarbeiten. Gott sei Dank, man nimmt den Kampf mit dem entfesselten Elemente auf. Alles schafft und regt sich und wer nicht zugreift, nimmt wenigstens den Mund gehörig voll und kommandiert.

18 »Herauf, du schwarzes Schwein!« schreit Herr Schneidig vom Brückendeck herunter einen Bantuneger an. »Aber auch Sie, Herr Doktor, dürfen nicht müßig dastehen mit den Händen in den Hosentaschen. Wissen Sie nicht, daß Ihr Platz bei dem Rettungsboote Numero drei ist?«

So schnell ich nur vermochte, kletterte ich hinter dem Schwarzen her eine Feuerleiter hinauf und kam auf die Brücke. Welch seltsamer Anblick! Wie kämpfende Säbelklingen kreuzten sich die Wasserstrahlen in der Luft und mitten drinnen in der sprudelnden Herrlichkeit stand einem Triton gleich mit lächelndem Antlitz der Kapitän.

»Kommen Sie endlich,« rief er mir zu, »gerade noch zeitig genug, um beobachten zu können, wie das Schiff untergeht. Dort bei Boot Numero drei steht Ihre Mannschaft. Wir nehmen an, daß Sie Ihre Kranken schon verstaut haben und nun passen Sie auf:

»Boote klar; Achtung; schwingt aus!« Zwanzig Schultern legten sich an die Seite des kleinen Schiffchens, das schon in den Strängen schwebte, und drückten es über den Rand des Brückendecks hinaus. Die Davits drehten sich und das Boot hätte an den Flaschenzügen zu dem Meeresspiegel niedergleiten und fliehend sein Heil auf den Wellen suchen können, wenn es nötig gewesen wäre.

Doch es war nicht nötig. Das Ganze war ja nur ein Deckmanöver gewesen, das die Mannschaft an 19 Disziplin gewöhnen und sie lehren sollte, was ein jeder im Ernstfalle zu tun hätte.

Die Boote wurden wieder hereingeholt und vom Schiffszimmermann mit Holz unterschlagen. Die Mannschaft verlor sich wieder, jeder nach der Beschäftigung zurück, von der ihn die Feuerglocke abgerufen hatte.

Nur ich allein stand noch mit klopfenden Pulsen naß und triefend auf der Brücke.

»Schrecken ausgestanden?« neckte der Kapitän. »Na, schadet nichts. Gehen Sie ruhig hinunter, ziehen Sie sich um und dann schlafen Sie weiter.«

Ich befolgte die Weisung des Alten bis auf das Schlafen. Wer von einer solchen Geschichte gar nichts weiß und sie dann plötzlich in dramatischer Lebendigkeit selbst erlebt, der kann schon einen guten Herzbeutel brauchen, wenn ihm das viel geplagte Symbol der Liebe und der Tapferkeit nicht in die Hosen rutschen soll.

Noch ein anderer Umstand war es übrigens, der mich nicht zum Schlafen kommen ließ. An der Backbordseite des Schiffes trieben sich nämlich mehrere Haie herum. Ich glaube fast, die Kerle hatten gleich mir das Läuten der Feuerglocke ernst genommen und waren gekommen, um sich wieder einmal gründlich herauszufüttern. Wie sie nach jedem schwimmenden Fetzen schnappend sich so auf den Rücken warfen und den gelbweißen Schild ihres Bauches zeigten, kamen sie mir ungemein ekelerregend vor und das ärmste Grab an der schlechtesten Stelle unseres Erdbodens erschien mir wie eine prunkende 20 Fürstengruft gegenüber der Bestattung in einem solchen Haifischbauche.

Die gräßlichen Meereshyänen blieben übrigens lange unsere Begleiter. Erst die Nacht entfernte sie oder ließ sie wenigstens für unser Auge verschwinden.

Die Sonne eines neuen Tages kam, ohne uns etwas anderes zu bringen als Hitze, Himmel und Wasser, Dinge, an denen wir ohnedies schon mehr hatten als genug. Feil waren uns alle diese drei Sachen, am billigsten hätten wir übrigens die Hitze abgegeben. Wenn man sich einmal eine Zeitlang so um den dreißigsten Breitengrad herumbewegt hat, dann hat der kalte Gedanke an eine Verbannung nach Lappland oder an die Behringstraße vieles von seinen Schrecken verloren.

Während des gewohnten Morgenwaschgeschäftes drang der Möwenschrei in meine Kammer. Nun ist das Land in der Nähe! jubelte es in mir auf, und ich stürzte aufs Promenadendeck. Ein leichter Nebel umgeisterte den Horizont und verhüllte die Ferne. Aber in der Nähe war's klar und lebendig geworden. Sturmschwalben saßen in den Raaen und Spieren, Möwen ließen sich von den Wellen ans Schiff herantragen und bettelten mit heiserer Stimme um einen Brocken Frühstücksemmel. Das Diebsgesindel kleiner Habichte fiel blitzschnell aus den Lüften nieder, und wehe dem Fischlein, das sich aus der sicheren Tiefe an die sonnige Oberfläche gewagt hatte. Die Monotonie der Wasserwüste war verschwunden. Um uns herum wurde wieder geraubt, 21 gemordet und gelebt. Sogar die fliegenden Fische waren an der Arbeit, um nach Mücken zu schnappen.

Vor uns im Süden traten schärfere Konturen aus dem Nebel heraus und demaskierten sich als Berge. Wege und Häusergruppen kamen an den sonnenbestrahlten Lehnen zum Vorschein, und wie der gleißende Sonnenschein tiefer und tiefer sank, so übergoldete er am Fuß des Höhenzuges eine Stadt von ansehnlicher Größe. Las Palmas war's mit dem Farbenschiller grüner, gelber, himmelblauer und rosa gestrichener Häuser und mit dem schwarzen Massiv seines gewaltigen Domes. Politisch gehört die Insel Gran Canaria zu Spanien, geographisch zu Afrika. Seine Hauptstadt aber sieht, von weitem betrachtet so aus, als ob sie von einem der oberitalienischen Seen hier herüber getragen worden wäre.

Unsere »Eleonore« nimmt ihren Kurs nicht direkt 22 auf die Stadt zu, sondern umfährt ein Vorgebirge und läßt den Anker in einer stillen Bucht fallen, die nordwärts von Las Palmas in ein sandiges Terrain einschneidet. Im Nu sind wir von Barken umringt und schreiende Gondolieri suchen uns vom Fallreep herunter in den Schatten ihrer überdachten Gondeln hineinzulocken. Mich zieht einer am Hosenbein und ich falle glücklicherweise auf einen Haufen Rosenkohl, der im Kielraum lag. Ich stehe auf und habe mich eben, ohne Schaden genommen zu haben, auf einer der Querbänke seßhaft gemacht, als mir eine spindeldürre Missionarsfrau auf den Schoß fliegt. Ich bin natürlich galant genug, dies als eine Gnade des Himmels zu preisen, obwohl mich die Kniee schmerzten, als ob ich in einem Platzregen von abgenagten Kotelettknochen gesessen hätte. Da sah die Dame mich mit einem ihrer liebsten Blicke an, und ich merkte, daß eine heilende Kraft von ihr ausging. Ich aber rückte doch etwas ab von ihren verknöcherten Reizen und gab dem Gondoliere ein Frankstück, damit er von der »Eleonore« abstoße und uns ans Land brächte.

Mit wenig Ruderschlägen waren wir an die starke Quadermauer des Kais gebracht und ans Land gestiegen, das von spanischen Hidalgos wimmelte, die man aber kaum beachtete. Wahre Übermenschen aus dem Berberstamme des gegenüberliegenden Afrikas fesselten unsere Aufmerksamkeit. Imponierende, königliche Erscheinungen in weißen, faltenreichen Gewändern, den bunten Turban auf den scharfgemeißelten Köpfen schritten 23 sie voll edlen Selbstbewußtseins dahin, die geborenen Fürsten. Was so von europäischem Rassengemengsel um ihre Beine herumwimmelte, das war nur wie das verkrüppelte Unterholz eines Eichenwaldes und verwachsen und genierlich wie dieses.

Ein rotznäsiger Nachkomme irgendeines Caballeros hatte mich am Rock gepackt und rief mir mit weinerlicher Stimme zu: »Du Medico giff mi en Pennig.«

Ein anderer schlug Räder vor mir her und schrie aus vollem Halse: »Viva la republica alemana!« Diesem Fortschrittler gab ich zwanzig Pfennige und den guten Rat, daß er mit seinen Proklamationen etwas vorsichtiger werden müsse, vor allem dann, wenn ihn das Geschick einmal auf die Berliner Friedrichstraße verschlagen sollte. Er schien mich verstanden zu haben, denn er fuhr mit seinem Finger bedeutungsvoll um den Hals und machte ein gottserbärmliches Gesicht, so wie einer, dem man eben von Rechts wegen eine hänferne Krawatte angelegt hat.

Als wir das ehrenvolle Komitat der Herren Gassenbuben und Tagediebe abgeschüttelt hatten, kamen wir auf unserem Wege vom Hafen nach der Stadt auf ein vollkommen steriles Terrain. Goldgelber Wüstensand vom Winde gewellt und wieder geglättet liegt blinkend wie ein Atlasstreifen vor unsern Blicken. Magere, vom ewigen Oststurm schief gestellte Palmen und schwarze Zelte, vor denen die Dromedare wiederkäuend liegen, zaubern auf Goldgrund ein Stück 24 Nomadenleben, wie es naiver und reizvoller in keinem Kinderbilderbuche getroffen werden kann.

Es fällt uns schwer, von diesem Genrebildchen scheiden zu müssen, allein wir haben nur drei Stunden Zeit und wollen uns doch auch die Stadt ansehen. Da kommt ein Dampftram wie gerufen daher. Wir geben seinem Gubernatore Zeichen und er bringt den Karren zum Stehen. Aber wie wir in den Wagen hineinsehen, überrieselt uns ein gelinder Todesschauer. Ali Baba und die siebenzig Räuber saßen da auf den Bänken, kauten Tabak und spuckten den Boden voll. Nein, dann doch lieber zu Fuß, so ausgefahren der Weg auch sein mochte. – Nichts, wie ins Freie! war die Devise. Wir kamen zuerst an Vorstadthäusern vorbei und beobachteten manche Vertreterin des schönen Geschlechtes, die ihre abgezirkelten Reize einladend vor sich auf die Fensterbank gelegt hatte. Sie waren rassig und glutäugig, aber ungewaschen und ungekämmt. Und dann das Kratzen hinter den Ohren und in dem blauschwarzen Dickicht der Haare da drinnen – – –

Nein, nur weiter und weiter . . . Es muß schöner kommen, wenn es uns gefallen soll . . . Nach und nach wird das Pflaster besser, sogar gut. Die Häuser verlieren das Ruinenhafte. Sie werden sauber und sehen mit ihren herabgelassenen Jalousien stellenweise sogar feudal aus. Nicht lange und wir stehen im Zentrum der Stadt auf dem etwas ansteigenden Marktplatz und haben im Westen das Rathaus, im Süden die schwarze 25 Fassade des Domes vor uns. Wir betreten den letzteren und befinden uns im kühlen Schatten einer gotischen Hallenkirche. Aber wie merkwürdig! Die Säule löst sich oben nicht auf in ein Astwerk von Gewölberippen, sondern seltsamerweise in Palmblätter. Aber wie sollte es auch anders sein! Der Baumeister, der diesen, dem Süden fremden Stil hierher verpflanzte, hatte gewiß noch keinen deutschen Buchenwald gesehen. Seiner Vorstellung lag die Palme näher und so konstruierte er sie in die Gewölbe und Stichkappen hinein, wenn die Geschichte auch aussieht, wie ein jüdisches Gartenhaus am Laubhüttenfest.

Zwei Mönche in spiegeligen Soutanen kamen und wollten mir den Domschatz zeigen. Aber da ihre Gesichter gegen das Vorhandensein des siebenten Gebotes zu protestieren schienen und den Gedanken nahe legten, es könnten ihre Inhaber gleich den frommen Brüdern in Tschenstochow sogar den lieben Gott bestehlen, so wehrte ich die Zudringlichen ab und machte, daß ich ins Freie kam.

Nicht weit von dem Dome ist die Markthalle, auch ein Gotteshaus und vollgepfropft mit des Schöpfers herrlichsten Gaben, die uns von seiner Güte reden, weicher und eindringlicher, als ich dies von irgendeiner Kanzel jemals gehört habe. Auch der Wein von Gran Canaria singt das Lob des Herrn. Wir tranken ihn in einer kleinen Hafenschenke und kamen mit Feuer in den Adern und Liedern auf der Zunge auf dem Deck der »Eleonore« 26 an, als die Sirene eben den Mund spitzte, um der Insel einen Abschiedsgruß zu pfeifen.

Wer die Kanarischen Inseln nur aus dem Atlas kennt, der mag wohl denken, daß man mit einem beherzten Hammelsprung von einer auf die andere kommen könnte. Dem ist aber nicht so. Unsere »Eleonore« hatte Las Palmas um 12 Uhr verlassen und es war 4 Uhr, als der Peak von Teneriffa mit seinem weißen Tonsurkäppchen in Sicht kam. Er ist ein gewaltiger Bergriese. Breit hingelagert senkt er seine Lehnen nieder wie Arme, die das Meer in seinen Felsenschoß fassen sollen. Die Wolken hat er stellenweise wie ein zartes Vlies um seine Schultern geschlagen. Im übrigen aber ist er grauschwarz und verschmäht die Farbe. Er will nur durch seine Masse wirken. Sein Anblick drückt die Menschenseele nieder und macht sie für Ammenmärchen empfänglich.

»In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut.
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut.«

Wir umfahren die Brandung am Fuße des Berges und, wie wir näher an die Insel herankommen, steigen kleinere Schroffen vor unseren Augen auf und verdecken den Riesen. Zacken fügt sich an Zacken zu einer zerrissenen Mauer, und hier und da erkennt man auf den Felsen die Trümmer einer verfallenen Seeräuberburg, die wie das böse Gewissen verstorbener Jahrhunderte kummervoll auf das Meer hinausguckt und in tiefe Täler hinunter, 27 durch die vordem der geängstigte Kaufmann seine gefahrvollen Wege zog.

Bis jetzt ist alles an dem Landschaftsbilde noch wild und Furcht erweckend. Teneriffa sieht aus wie eine Mißgeburt, die sich unter gewaltigen Wehen aus dem Mutterschoß der Erde losgerungen hat, um Kinder zu erschrecken und alte Weiber.

Aber bald wird es anders. Der Dampfer hat seinen Kiel ein wenig seitwärts gewendet, und nun schauen wir in ein sanft ansteigendes Gelände, wie in eine grün emaillierte Muschel hinein. Weiche Matten von Wegen durchzogen. Prächtige Baumbestände heben sich wie Reliefarbeiten aus dem Rasen heraus, und überall sind an den Straßen hin weiße Würfel verstreut, die Wohnungen der Menschen. Nach unten zu, im Grunde der Muschel, da sammeln sich die Häuser zu einer Stadt. Kirchtürme steigen über die Dächer empor. Schlösser und Klöster mit offenen Hallen blicken aus Lorbeer- und Tamariskenhainen hernieder auf das Leben der Straßen und Plätze und auf den Wald der Schiffsmaste, die mit ihren bunten Wimpeln hinter den Pieren am Hafen liegen. Und das Ganze, was sich da farbenfroh vor unseren Blicken entschleiert, ist »Heiligkreuz«, »Santa Cruz«, die Hauptstadt der Insel Teneriffa.

Die »Eleonore« liegt still, vom Lande nicht weiter als einen Büchsenschuß entfernt. Wir sehen alles, was drüben am Kai vor sich geht. Wir erkennen die Mischlinge von Guanchen, Normannen und Spaniern, 28 wie sie voller Grandezza mit dem Zylinder auf dem Kopfe ahnenstolz auf kleinen Eseln reiten und doch absteigen und eine Essiggurke mausen, die einem Marktweibe aus dem Korbe gefallen ist. Ja, ja, die Zeiten Ferdinands und Isabellas sind vorüber. Der Hidalgo handelt heute mit Rohrstühlen, Madeiraspitzen und Apfelsinen.

Unser Schiff ist umschwärmt von den Nachen solcher schwimmender Handelshäuser. Ihre Firmeninhaber schreien zu uns herauf, wir zu ihnen hinunter und doch versteht keiner vom andern mehr, als was die Finger auszudrücken vermögen. Fünf Pesetas, neun Pesetas. Ist man einig geworden, so wirft man das Geld in den Nachen hinein und läßt ihm eine Schnur nachfolgen. Im Nu verbindet ein Knoten den Käufer mit seinem Besitz und nun braucht man nur noch zu ziehen, um bald darauf zu erkennen, daß Fürstendank und Ehrlichkeit seltene Dinge sind.

Ich kaufe nichts, sondern lasse unermüdlich meine Blicke über die von der Abendsonne beleuchtete Stadt hinschweifen. Da entdecke ich denn neben offenen Glockenstühlen ein seltsames Gestell, dessen Sinn und Zweck mir zunächst ein Rätsel ist, bis der Kapitän meinem mangelnden Verständnis zu Hilfe kommt und mir erklärt, daß es Aufnahmestationen der drahtlosen Telegraphie sind. Na, dann fahre mutig darauf los, »Eleonore,« in die dunkle Nacht hinein, dem schwarzen Erdteil zu. Deine Zunge kann über tausend Meilen der 29 Wasserwüste hinweg mit dem Lande sprechen und dein letzter Seufzer im Falle der Not wird an das Ohr der Menschen dringen. Und so fuhr denn das Schiff auch los. Die Ladung war eingenommen und die Nacht war da.

Sie war freundlich, diese Nacht, und brachte uns ein Schiff der Wörmannlinie, das sich durch Abbrennen von blauem, weißem und grünem Licht zu erkennen gab; und der nächste Morgen war auch freundlich und brachte uns einen Sonntag. Auch wer kein geborenes Sonntagskind ist, sieht doch an diesem Tage mehr als an anderen. So bemerkte ich heute deutlicher als seither den Glaubenshaß, der die heiligen Sendboten der verschiedenen Religionen gegeneinander erfüllte. Warum auch nicht? Sie hatten in frommen Morgenandachten ihre Überzeugung von der eigenen Vortrefflichkeit gestärkt und mehr wie sonst mußte ihnen heute der Widerpart klein und verächtlich vorkommen.

Strenger als sonst wohl schied sich heute der Soldat von dem Zivilisten, der Oberbeamte von dem Unterbeamten. Sie hatten ja dem Tag des Herrn zuliebe ihre Uniformen angelegt, und kamen mit ihren Tressen und Orden an die Tafel. Der Himmel schenke dem eine starke Seele, der von beiden Zierden nichts an sich hat, damit er die Blicke der Geringschätzung erträgt, die aus Bruderaugen auf ihn niederprasseln.

Und nun kommt auch noch der Reichtum und macht sich breit. Damen, denen ihre Mittel es gestatten, sich 30 in Madeiraspitzen zu kleiden, tun es heute ganz gewiß, um ihre Mitschwestern zu ärgern. Andere prunken sogar mit der Goldplombe ihrer Zähne und reißen den Rachen auf, daß man denkt, die Küste von Guinea sei wahrhaftig schon zu uns gekommen.

Damit nun auch gar nichts fehle von dem, was das Germanentum zu Hause zersplittert und seine Schlagkraft lähmt, klingen auch noch in kleinen Mißtönen die Stammesunterschiede durch zwischen Nord und Süd, Ost und West.

»Ist das immer so auf der Ausreise?« fragte ich den Kapitän.

»Nein, es ist meistens noch schlimmer,« sagte er trocken, und las von der Logleine herunter, wie viele Seemeilen wir von gestern auf heute gemacht hatten.

In den nun folgenden Tagen breitete sich, untermischt mit grellem Sonnenschein, eine tötliche Langeweile über unser Schiff. Diejenigen, deren Daseinszweck in Essen und Trinken nicht restlos aufging, zählten die falschen Zähne im Munde ihrer Mitschwestern oder kritisierten die Krawattenmuster, mit denen die Herren der Schöpfung zu Tische kamen. Von der Welt wußten wir nichts weiter, als daß auf der Steuerbordseite Südamerika lag und an Backbord Afrika. Dem letzteren rückten wir so nahe auf den Leib, daß eines Nachts von der Brücke aus das Leuchtfeuer der Kap Verdeschen Inseln gesichtet wurde.

Ich saß meistens schon vor Tage bei offener Tür in 31 meiner Apotheke und sah zu, wie die Morgensonne ostwärts aus dem Meere aufstieg. Da war dann alles noch so ruhig um mich her, und stille Träume kamen und senkten sich im Halbschlummer in die Seele ein. Plötzlich störte mich ein ungewohntes Geräusch. Es war ein Rauschen, Zischen und Toben, als ob irgendwo ein Wehr gebrochen wäre und die gefesselten Wasser frei ließe, daß sie vernichtend ihre Straße ziehen konnten. Ich sah erschrocken auf und bemerkte draußen den Schiffszimmermann, der mit verschlungenen Beinen auf der Reling saß und die Außenwand der »Eleonore« mit einem Schlauch abspritzte.

»Was machen Sie, mein Verehrter,« rief ich dem Manne zu, »wollen Sie etwa das Meer zum Überlaufen bringen?«

»Keineswegs!« war die rasche Entgegnung, »aber da hinter uns kommt eben noch ein Dampfer nach, und damit der man nicht zu knapp Wasser hat, darum muß ich etwas zugießen.«

Diese Erklärung war so treuherzig herausgekommen, daß ich mich verblüffen ließ und mit dem Fernglas bewaffnet aus der Apotheke trat, um das Ereignis zu beaugenscheinigen.

Nun aber wollte sich der Schelm von einem Zimmermann über meine Leichtgläubigkeit schier zu Tode lachen. Die Tränen liefen ihm die Backen herunter, und es dauerte lange, bis er ein Wort zur Aufrichtung meiner Niedergeschlagenheit sagen konnte. Nachdem er sich mit einem 32 blaugewürfelten Handwerkertaschentuch die Backen abgetrocknet und gehörig gehustet hatte, gewann er die Herrschaft über seine Lachmuskeln allmählich wieder und suchte mich für seinen Spott durch eine kleine Aufmerksamkeit zu entschädigen.

»Damit Sie nun doch das Glas nicht vergeblich vor die Augen gesetzt haben,« so hub er stoßweise zu sprechen an, »so will ich Ihnen etwas zeigen, was nur wenig Sterblichen zu sehen vergönnt ist. Beobachten Sie genau die Wellen unseres Kielwassers und Sie werden, zu kleinen Gruppen vereinigt, ein Gebilde finden, das wie treibender Seifenschaum aussieht. Das sind Quallen, die genau die Form eines Nachens annehmen, ein Segel aufspannen und so, – Gott weiß aus welchem Grunde, – aus den südlichen Meeren nordwärts getrieben kommen. Sie sind sehr, sehr selten, und es gibt ergraute Seeleute genug, die sie nicht ein einziges Mal geschaut haben. Nun sind diese Meereszigeuner gerade heute morgen da, wie es scheint, Ihnen zum Gefallen, die niedlichen, kleinen Dinger, die wir Seeleute die Escuadra de España, die spanische Kriegsflotte nennen.«

Zuerst traute ich dem verschmitzten Gesicht meines Gegenüber nur halb, dann aber nahm ich, weil ich von dem Nährvater des Nazareners her weiß, daß Zimmermänner gutmütige Kerle sind, doch den Operngucker auf die Nase und spähte nach einem so wunderlichen Fahrzeug aus. Nicht lange und ich hatte eines derselben 33 im Gesichtsfelde gefangen. In der Tat die sonderbarste Tiergestalt, die man sich denken kann. Ein kleiner, etwa fingerlanger Kahn, über dem ein mattrosa gefärbtes Gaffelsegel sich im Winde bläht. Man sucht unwillkürlich nach den Liliputmenschlein, die im Kielraum nebeneinandergeschmiegt sitzen und eine Hochzeitsreise auf dem eigenen Schiffe machen wie amerikanische Übermilliardäre. Nach der Bewunderung kam bei mir das Nachdenken: Sollte nicht vielleicht dieses Gebilde im Urzustande der Menschheit das Schiffsmodell gewesen sein, nach dem der erste Seefahrer sein leichtes Fahrzeug konstruierte, klügelte ich. Wer weiß, vielleicht wäre auch heute noch vieles von dieser Hydromeduse zu lernen, wenn man sie herausnehmen und mit Muße besichtigen könnte. Allein, wer sie schöpft, der hat wie an all' ihren Schwestern aus dem Hause der Cölenteraten nichts vor sich als ein Häufchen zitternder Gallerte. Lange noch sah ich den Zaubergebilden zu, denn es mögen immerhin so viele vorübergetrieben sein, als einst die gefürchtete Armada Philipps II. Galeeren zählte. Dann ward es wieder leer ringsum, und der Widerschein der Sonne auf den Meereswellen blendete mich und machte mich müde. Wohl dem, der beim Antritt einer langen Seereise einen gesunden Schlaf zum Begleiter mitnimmt.

Als ich wieder die Augen öffnete, stand ein Passagier der ersten Kajüte mit der naiven Frage vor mir: »Darf man Sie wecken, wenn man Geld von Ihnen haben will?«

»Hätten Sie mir diese Wahl zwischen ja und nein 34 vor dem Einschlafen gelassen, so hätte ich mich für eines von beiden entscheiden können. Nun aber, wo ich geweckt bin, kann ich Ihnen nur erklären, daß mir durchweg das Nehmen seliger erscheint als das Geben. Im übrigen, wenn Sie mir für billiges Geld einen Ablaß für alle meine Sünden verschaffen, so soll es mir auf eine bescheidene Geldsumme, die sich einstellig zu kleiden weiß, nicht ankommen,« war meine den Bittsteller wenig ermunternde Antwort.

»Hören Sie mir zu und Sie werden für meine Idee gewonnen sein.« So ging die Werbung weiter. »Hinter Conakry liegen die Mellacoriinseln, die dem Jäger eine seltene Jagdbeute liefern. Man findet da den Tiger noch und den Leoparden, abgesehen von den seltensten Exemplaren der Vogelwelt.«

»Und da soll ich mich wohl einem Jagdabenteuer anschließen,« unterbrach ich den Erzähler, »obgleich es viel wahrscheinlicher ist, daß die Viecher mich umbringen, als ich sie? Glauben Sie mir, mein verehrter Versucher! Ich bin dem Himmel einen Engel schuldig. Da aber der Lieferungstermin nicht im Vertrag steht, so möchte ich mich der Erde noch eine Weile erhalten und mein Geld meinem Portemonnaie. Übrigens werden Sie doch wohl auch bemerken, daß mir das Sprechen schwer fällt. Ich weiß nicht, was die Luft gegen mich hat, daß sie sich mir wie ein Grabstein auf die Brust legt.«

»'s ist der Harmattan,« sagte mein Besucher und ging etwas enttäuscht aus meiner Klause.

35 Ja, es war der Harmattan, der mir den Atem raubte, der all meine Nervenfasern mit einer prickelnden Überempfindlichkeit füllte, daß mich die Nähte an meinen Kleidern genierten, der mir einen feinen Sandstaub zwischen die Zähne streute, daß sie knirschten, wenn sie sich berührten. Er weht von Osten herüber und hüllt unser Schiff in einen rotgelben Sandnebel. Er legt sich mit seiner Rostfarbe vor die Sonne und verwandelt ihr weißglühendes Rund in eine trübe Kupferscheibe. Ein Glück ist's, daß dieser trockene Wind, der aus den Wüsten Senegambiens kommt und Sand weit ins Meer hineinträgt, nicht lange anhält. In zwei Stunden schon sind wir von ihm befreit, und der Abend bringt uns ein tobendes aber erfrischendes Gewitter. Der Donner bellt die halbe Nacht lang, und Lump, der Hund des Barbiers, läßt sich nichts gefallen und kläfft dagegen. Dieser Dialog bringt mich um einige Stunden Schlaf.

Strichregen ziehen am nächsten Morgen an uns vorüber. Durch ihr leichtes Straminnetz hindurch erkennt man ein halbes Dutzend grüner Eilande, die wie Smaragde in der türkisblauen See liegen. Bojen schwimmen im Fahrwasser und Signalstangen stehen am Land. Beide weisen sie dem Schiffer den Weg, den er nehmen soll zwischen den Schären hindurch. Mit wohlgefälligem Behagen nehmen wir Reisende diese Zeichen nautischer Vorsicht an der Küste des schwarzen Erdteils hin und wir freuen uns erst recht, als wir vor uns in der Bucht zwei stolze Dampfer verankert liegen 36 sehen. Sie zeigen die Farben der französischen Republik am Fockmast. Die genieren uns aber nicht mehr hier drüben. Das Kleinliche ist von uns gefallen, und eine kosmopolitische Menschheitsidee verdrängt den erweiterten Egoismus der Nationalität. Die »Eleonore« grüßt mit Flaggensignalen und die drüben sind höflich und antworten. So muß es sein und so geschieht's, weil der Kodex internationaler Höflichkeit es so verlangt.

Ein Kanonenschuß bellt weit in die Bucht hinein und zeigt an, daß wir Anker geworfen haben und die Post abgeben und nehmen wollen. Bald kommen Boote mit schwarzer Bemannung von Conakry herübergerudert. Sie bringen den Hafenarzt und noch eine oder die andere offizielle Persönlichkeit. Die Herren sind tadellos in weißen Zwilch gekleidet und mit Rücksicht auf diesen Stoff und diese Farbe wird man es verzeihlich finden, daß sie bei den häufigen kleinen Regenböen sich nicht genieren einen Schirm über ihre uniformierte Persönlichkeit aufzuspannen. Wenn man aber sieht, daß die splitternackten Eingebornen das gleiche tun, so vermag man dafür keinen anderen Grund aufzufinden, als den Nachahmungstrieb, der sich aller Wahrscheinlichkeit nach von dem Affen herüber auf sie vererbt haben muß.

Die Geschäfte unseres Schiffes waren bei einem Glase Pilsener Bieres in der Kapitänskammer bald abgewickelt. Wir Passagiere warfen noch einen sehnsüchtigen Blick auf den Gouverneurspalast von Conakry hinüber und auf die roten Ziegeldächer der europäischen Ansiedelung, 37 dann ging's wieder auf die See hinaus. Unsere Vormittagsvisite am schwarzen Kontinent war kurz gewesen und hatte uns wenig des Interessanten gebracht. Um so größere Überraschungen erwarteten viele von dem Nachmittag, der den großzügig angelegten, vielbesprochenen Jagdausflug im Programm stehen hatte.

Die Mellacoriinseln waren in Sicht, oder vielmehr das, was in Sicht war, wurde dafür ausgegeben. Viele der Jäger, die bis an die Zähne herauf bewaffnet auf dem Verdeck standen, sahen unter den Flintenschüssen ihrer Einbildung bereits Tiger stürzen, Leoparden verbluten und Krokodile die Schwänze ringeln. Das Jagdfieber lief wie ein Schüttelfrost über diese verwegenen Männer und kühlte sie derartig ab, daß sie an der Bar einen Schnaps nach dem andern trinken mußten, um wenigstens ein paar Blutstropfen in den Ohren und im Gesichte zu behalten. Mit dem »Morituri te salutant« auf den Lippen standen sie wie Gladiatoren da und ihre Blicke forderten Hochachtung und Bewunderung.

In diesem Moment kam ich mir wie ein echter Feigling vor und voller Selbstanklagen fing ich an, zu bedauern, daß ich nicht wenigstens meinen Pflasterkasten über die Schulter gehängt und mich der Expedition als Samariter angeschlossen hatte.

Allein es war zu spät. Schon hing die fauchende Barkasse wie ein feuerspeiender Drache gefesselt von den Ladebäumen aufs Verdeck nieder. Zu ihr hinauf führte eine Leiter, und auf deren unterster Sprosse standen schon 38 zwei schwere Reiterstiefel, die zum mindesten allem dem, was kreucht, ein nahes Verderben geschworen hatten. Anderes Schuhwerk und was damit bekleidet war, drängte heran. Es wurde um die Beine des ersten Stiefelträgers ein ganzer Menschenhaufe. Man drängte sich, man schob. Man wollte hinauf auf das Schifflein, dann hinunter in die Flut und dann hinein ins prickelnde Behagen des gefährlichen Abenteuers. Abschiedsworte waren gewechselt, Händedrücke waren ausgetauscht. Fehlte denn nun immer noch etwas? Ja, es schien so, aber wer mochte erraten, was dieses Etwas war. Da fing die Schiffskapelle an zu spielen:

»Ich schieß den Hirsch im wilden Wald.«

Und nun wußten alle, daß es an dem Abschiedskantus gefehlt hatte, und mauerstürzende Männerstimmen gingen verwegen ins Zeug und wurden erst wieder weicher und molliger, als die Stelle kam:

»Und dennoch hab' ich harter Mann die Liebe auch gefühlt.«

Wahre Regenschauer von Zärtlichkeit fielen in diesem Augenblick von der Leiter herunter auf die paar 39 Missionarsfrauen, die beglückt dastanden und wie Schulmädchen die frommen Augen niederschlugen. Am Schlusse des Liedes gab's kein Halten mehr. Die Leiter war zum Brechen überlastet, und die Barkasse füllte sich mit Argonauten, die vom Mellacoristrand das goldene Vlies holen wollten. Es war sogar eine Amazone darunter, wohlverstaut zwischen Männerbeinen.

Zuschauer und Akteure des Dramas, kurzum jeder Mann und jedes Weib erwartet, daß nun die Ladebäume sich drehen und die Barkasse über die Reling herausheben werden. Doch es kam anders.

Als ob jedes Verständnis für die Tragik des Augenblickes aus ihr herausgeschüttelt worden wäre, fing plötzlich die Schiffskapelle an zu intonieren: »Du bist verrückt, mein Kind.«

Alles staunte und schwieg verwundert. Nur von der Brücke herüber zischte eine glänzende Wasserschlange mitten zwischen Jason und seine Heldenschar hinein, eine unbeschreibliche Verwirrung heraufbeschwörend. In wahnsinniger Eile suchte jeder dem feuchten Verhängnis zu entfliehen und bald hing die Außenwand der Barkasse voller Menschen, wie die Dachtraufe im Dezember voller Eiszapfen. Jeder wollte zuersr an Deck der »Eleonore« springen und der Nässe und dem zischenden Dampf entfliehen, den die heimtückische Barkasse aus allen Fugen ihres Leibes heraus von sich stieß.

Indessen noch hatten die Schrecken ihr Ende nicht erreicht. Aus der Luke des Achterschiffes arbeitete sich 40 mit gefährlichen Pranken eine gewaltige Tigerkatze und neben ihr ein Mittelding zwischen einem Pudel und einem Stachelschwein, das mit dem Eifer eines Spitzhundes eiferte und bellte. Beim ersten Anblick des Getiers – als man noch nicht wußte, daß in dem Tigerfell Herr Schneidig, der Barbier, und in dem Stachelschwein Lump, der Schiffshund, steckten – konnte man wahrhaftig denken, daß für manchen das Ende aller Dinge gekommen sei, und es gab auch manchen, der sich vorsichtig zurückzog, um vor dem Sterben Reue und Leid zu erwecken. Dann aber setzte, als der fromme Betrug offenbar wurde, ein gewaltiges Lachen ein, an dem nur die zunächst noch nicht teilnahmen, die allen Ernstes an das Zustandekommen einer derartigen Jagdpartie geglaubt hatten. Doch allmählich legten auch diese Enttäuschten die Verdrossenheit ab, als man ihnen beibrachte, daß es sich bei der ganzen Veranstaltung nur um einen Scherz handelte, den ältere Afrikareisende sich mit den Grünlingen erlauben, während das Schiffskommando bei dem Unfug ein Auge zudrückt.

Ein mächtiges Biergelage versöhnte zuletzt einige immer noch grollende Gemüter und beschloß den bis zur Mitternacht verlängerten Tag.

Ein starkes Jucken an den Händen weckte mich am nächsten Morgen. Wie ich meine Haut betrachte, ist sie wie mit einem seinen gerösteten Grieß übersät. Da mir die Erscheinung neu und unbekannt war, so wandte ich mich an seine Allwissenheit, den Schiffsbarbier 41 Schneidig. »Sie haben den roten Hund, der kommt vom Seewasser. Sie werden das Baden unterlassen und ein paar Eßlöffel voll Rizinusöl nehmen,« ordinierte er und fuhr dann auf das geographische Gebiet überspringend fort: »Das, was Sie da drüben an Backbord sehen, ist Kap Mount, ein isolierter Gebirgsstock, und gehört schon zum Negerstaat Liberia. Die schwarzen Hunde, die sich Republikaner nennen, haben einen Präsidenten, ein Kriegsschiff und einen Haufen Schulden. In zwei Stunden liegen wir vor ihrer Hauptstadt Monrovia. Fünf pommerische Landwehrmänner, die im Parademarsche durch ihre Straßen gingen, würden ganze Häuserreihen zum Einfallen bringen. 's ist ein lumpiges, lausiges Pack, die Bewohner dieses Sodomas, und so frech sind sie, daß vorzeiten einer der Kerle es wagte, mich, den Barbier von der ›Eleonore‹, einen Wörmann-Nigger zu heißen. Den Hirnkasten wollte ich dem Schlingel einschlagen, brachte es aber selbst mit Hilfe eines Bügeleisens nicht fertig, denn diese Negerschädel sind das einzig Unzerstörbare an der ganzen gebrechlichen Republik.«

Während Herr Schneidig den Dampf seines Ärgers in der Art abpfeifen ließ, waren wir dem Kap Mesurado nahe gekommen, ließen es zur Rechten liegen und fuhren in eine Bucht hinein. Ich war auf die Brücke hinaufgestiegen, um einen weiteren Überblick zu gewinnen und stand neben dem Kapitän, der mit vielem Eifer die Seekarte studierte.

»Daß doch die Heuschrecken den ganzen liberianischen Staat von der Erde wegfressen möchten,« polterte der 42 Alte los. »Denken Sie, dies Gesindel erneuert jemals ein Seezeichen, wenn es von irgendeinem Naturereignis weggeräumt wurde? Fällt ihnen gar nicht ein, und der Kapitän, der mit seinem Schiffe kommt, muß einen feinen Instinkt haben, wenn er sich zwischen den Klippen, die hier ein paar fußtief unter dem Wasser liegen, ungeschrammt hindurcharbeiten will.«

Ich sah mir die Karte an und begriff sofort, warum die »Eleonore« gar so langsame Fahrt machte und plötzlich den Anker fallen ließ, um stillzuliegen. Kaum hatte übrigens ein Kanonenschuß dem Lande die Kunde gebracht, daß wir da seien, als es auf der Marina von Monrovia lebendig wurde. Hunderte von kleinen Booten lösten sich vom Lande los und kamen in Eile an die »Eleonore« herangeschwommen. Es war, als ob ein Millionenpreis für den zu erringen wäre, der zuerst mit seinem Schiffe vor dem Fallreep ankam. Und nun kletterten die schwarzen Demokraten aus Monrovia wie Maikäfer übereinander hinweg, all die nackten ölglänzenden Gestalten, um so schnell wie möglich auf Deck der »Eleonore« zu kommen. Wo eine Kette von einem Ladebaum oder ein Schiffstau niederpendelte, da hingen ein paar Kerle daran wie die Affen an den Lianen und suchten in Klimmzügen das Deck zu erreichen. Von allen Richtungen her floß schwarzes Menschenfleisch wie dicke Tinte über die Brustwehr auf's Verdeck herunter. Es war ein verworrenes Losstürmen, als ob Seeräuber einen Kauffarteifahrer geentert hätten.

43 »Was geht da vor?« wandte ich mich an den Kapitän.

»Wir müssen hier frische Mannschaft anzuheuern suchen. Wo immer wir von jetzt ab das Land anlaufen wollen, müssen wir wegen des Tiefgangs der ›Eleonore‹ vor der Barre haltmachen. Wissen Sie, wie eine solche Barre sich gebildet haben mag?«

»Eine schwache Ahnung davon habe ich vielleicht,« war meine Antwort.

»Sie sind noch keiner von den sieben Weltweisen, selbst wenn Sie es wissen, denn es ist wohl die einfachste Sache von der Welt. Wie alt mag wohl unsere Erde sein? Einerlei, wir brauchen ihren Geburtsschein nicht. Die andere Frage interessiert uns mehr. Wann ist sie so warm geworden, daß sie die überlagernde Eisschicht zu schmelzen vermochte? Nun, von diesem Momente ab bildeten sich Wasserläufe, die den größeren Reservoirs zuströmten. Und was die eilenden Wildwasser an weggeschwemmtem Humus mit sich führten, lagerten sie vor ihrer Mündung ab. So sind im Laufe der Jahrmillionen Länder entstanden, wo früher Wasser war. Andere Sandhaufen sind noch nicht zur Ruhe gekommen. Sie werden vom Seegang hin und her geworfen und sind der Spielball der Gezeiten. So ändert dann mit dem wandernden Sand das Fahrwasser vor den Küsten seinen Charakter und macht die Schiffahrt zum gefährlichsten aller Handwerke. Aber es versperrt ein solcher Riegel auch der Kultur den Weg. Einzig nur die 44 Küstenentwicklung des schwarzen Erdteils ist es, was Afrika so lange in den Banden der Barbarei hielt.«

»Was Sie da sagen, Kapitän, klingt alles so selbstverständlich,« unterbrach ich den Erzähler.

»Nicht wahr?« fuhr er fort, »aber hören Sie weiter! Wo der Himmel ein Gift wachsen ließ, da blüht das Gegengift gleich nebendran. Um die Barre zu überwinden, hat Gott die Kruneger geschaffen. Sie leben so an der Pfeffer-, Gold- und Elfenbeinküste hin ewig am Rande des Meeres und sind deshalb die besten Seeleute der Welt geworden. Sie waren immer freie Leute, und selbst die verschlagenen Portugiesen hüteten sich, ihnen ein Abhängigkeitsverhältnis zuzumuten, weil sie dieselben bei ihren Sklavenjagden brauchten. Die Kruneger waren es, die das ›schwarze Menschenfleisch‹ über die Barre in die Dreimaster schafften, daß es dann in den Städten des La Plata und des Rio grande den Markt zierte und den Käufer anlockte. Sie waren's, die dem Handel mit »schwarzem Elfenbein« die Rentabilität sicherten und einen Teil seiner Gefahren nahmen. Wer Gold gräbt, kann dem Nachbar sein Kupferbergwerk gönnen. Kurzum, die Portugiesen wurden reich, die Kruneger wohlhabend und vor allen Dingen: Sie blieben freie Männer.«

»Ein im Seewesen vielgefragter Artikel, mußten sie bald auch ihre Schutzmarke haben, die sie kenntlich machte und die vor allem für sie das ›Mitgefangen, Mitgehangen‹ ausschloß. Sie tätowierten sich einen blauen 45 Tannenzapfen über der Nasenwurzel in die Stirn. Dieses Kunstwerk ist als Musterschutz ins Handelsregister eingetragen, und jeder Kapitän, der für den Leichterdienst Schiffsbemannung braucht, sieht nach dieser Marke, obwohl auch diese – wie heutzutage alles in der Welt – gefälscht und nachgemacht wird. Aber nun lassen Sie uns hinuntergehen, Doktor. Wir müssen uns die Ware ansehen. Was nicht gesund ist, wird ans Land zurückgeschickt; hier setzt für uns beide der Dienst ein.«

Die Musterung war bald vorüber. Schatte und Bullenkalb wurden angestrichen wohl aus dem gleichen Grund, weshalb sie Falstaff aussuchte, und Schimmelig und Schwächlich abgewiesen, und die »Eleonore« dampfte aus der Bucht von Monrovia hinaus.

Langsam versanken die Häuser der liberianischen Metropole hinterm Horizont und langsam auch das Kap Mesurado mit seinen Palmenbäumen, die nachdenklich in der Abendbrise ihre Häupter hin und her wiegten. Zur Linken begleitet uns ein stark bewaldetes Flachland, bis die Nacht ihren Vorhang vor die Perspektive zieht.

Mit dem Einzug der Kruneger ist unserer armen »Eleonore« die Ruhe genommen. Wie Ungeziefer sitzen die Schwarzen auf ihr herum. Einige rutschen über die Bohlen des Verdeckes und reiben ihr mit Bimssteinen die Haut ab, andere schlagen Nägel in ihren Körper oder frisieren sie mit Drahtbesen und Wurzelbürsten. Einen erquicklichen Morgenschlummer gibt es für niemanden mehr, und doch hätte man so prächtig 46 die Zeit dazu, denn zu sehen ist nichts, und die paar Haifische, die zuweilen auftauchen und uns begleiten, sind uns schon eine so gewohnte Erscheinung geworden, wie die Gerichtsvollzieher den Leinewebern.

Fischerboote, die vor uns mit den Wellen kämpfen, signalisieren die nahe Gegenwart des Landes. Nicht lange, und wir sind abermals in einer Bucht, deren Fahrwasser Gefahren ahnen läßt, denn es tobt aufgeregt über verborgenen Klippen, und nur unter fortwährendem Loten arbeiten wir uns über seine Kämme vorwärts. Doch der Kapitän ist heute ruhiger wie gestern. Er hat einen festen Punkt, nach dem er seinen Kurs einrichten kann. Am nördlichen Ufer hängt nämlich über einer weißen Brandung und vor der grünen Folie eines Palmenwaldes das Wrack eines gestrandeten Dampfers. Er war ein Engländer, in gesunden Tagen unternehmend und waghalsig wie eine junge Ziege. Und so blieb der unvorsichtige Wildfang, der keine Gefahr achtete, im Jahre 1879 auf einer Klippe des südlichen Ufers hängen. Aus eigener Kraft loszukommen, war ihm unmöglich. Er war der Gnade Gottes anheimgegeben und den Strandräubern. Auf fremde Hilfe war nicht zu rechnen, denn der Dampferverkehr war damals vor dem Negerfreistaat noch äußerst gering. Und doch – es ging wider Erwarten günstig. Es kam nämlich am gleichen Tage noch ein Argentinier, der den Engländer wieder abschleppte. Nun war die Freude auf beiden Schiffen natürlich groß. Es floß der Champagner und 47 steigerte die Fröhlichkeit zur Sorglosigkeit. Und als in der Nacht nun ein Sturm erwachte, da hatte der Argentinier alle Mühe, sich aus der Bucht hinauszuarbeiten, der Engländer aber hing am nächsten Morgen, statt am Südufer, am Nordufer auf einem Felsen und da hängt er noch. Er hat den Rumpf etwas auf die Seite geneigt, und in jedem Augenblick schäumt die Brandung in seinen aufgerissenen Bauch hinein. Sein Schornstein und seine Masten stehen schief, aber noch stehen sie, und tun ein Werk der Nächstenliebe, indem sie jedes Fahrzeug warnen, das sich dem gefährlichen Strande nähert.

Wir liegen kaum länger als zwei Stunden vor der Stadt still, dann dreht sich die Schraube wieder und drückt uns zurück in die offene See und in eine trostlose Einsamkeit hinein.

Es ging nun schon stark in die dritte Woche, seitdem wir zwischen Himmel und Wasser schwebten und mein Bedarf an beidem war ziemlich gedeckt. Und doch, wir hatten in den nächsten Tagen noch mehrere Plätze anzulaufen, bevor wir etwas zur Ruhe kamen: Secondi, Accra und Lome. Immer seltener wurden die Passagiere der ersten und zweiten Kajüte, immer häufiger die Deckpassagiere. Missionare mit und ohne Frauen verließen uns. Kaufleute gingen an Land, um bei Fidor und Huber oder einer anderen Handelsfirma für ihr Sitzfleisch einen Kontorstuhl zu erobern. Goldgräber und Guanostecher rissen sich von dem kühlen Cocktail der Schiffsbar 48 los, um künftighin ihren Durst mit Palmwein oder Durrabier zu stillen. Interessant war es, das Wie zu beobachten, unter dem die Mitglieder der einzelnen Nationen den Abschied von ihrer schwimmenden Wohnung bewerkstelligten.

Der Engländer steckte sich eine Zigarette an, nahm den Tennisschläger untern Arm und ging mit aufgekrempelten Hosen die Stufen des Fallreeps hinunter.

Der Italiener trug die Spitzhacke über die Schulter gehängt und auf dem Buckel eine Ziehharmonika. Sein Tritt in den hohen Absatzstiefeln war leicht, aber ohne Sicherheit. Auch seine Hand brauchte am Geländer der Treppe eine Führung.

Der Deutsche erschien im Überzieher und breiten Filzhut. Seine Hände waren mit Kisten und Schachteln gefüllt, und wenn ein Windstoß kam, so war er in Verlegenheit, was er opfern sollte, die Schätze seiner Hände, oder die Zierde seines bedächtigen Hauptes. Das »Civis Romanus sum« ist unseren Landsleuten, den andern aber auch noch nicht so deutlich auf die Stirn geschrieben, wie unserem Bruder von jenseits des Kanals.

Was an Bord kam, war nur noch schwarze Ware, aber immerhin schon nicht mehr ganz im Urzustande der angeborenen Wildheit. Der Mörtelbrei einer europäischen Kultur war den einzelnen Individuen schon wie mit einer Maurerkelle an den Leib geworfen. Der hatte einen zerbeulten Zylinder auf dem Kopf, jener eine knallrote Halsbinde vom Gurgelknopf niederhängen, und 49 ein dritter kam sich bedeutungsvoll wie ein Gigerl vor, weil sein riesiger Brustkorb in einer abgetragenen Weste steckte. Alles, was von den Rippenbogen abwärts nach dem Mittelpunkt der Erde zielte, glaubte man in dekorativer Beziehung einfach vernachlässigen zu können.

Anders war es bei den Mammis. Bei ihnen beginnt die Bekleidungskunst an den Füßen, und steigt langsam nach oben. Grellfarbene Pantoffeln und über ihnen von einem Lendengürtel in reichem Faltenwurfe niederhängend meist ein blau schwarz gestreiftes Baumwollgewebe, das sich an jener Stelle, wo die europäische Modedame den Cul de Paris trägt, scheinbar grundlos zu einer ungeheuren Kuppel wölbt. Scheinbar grundlos, und doch verdankt diese preiswerteste aller Tournüren ihr Dasein einem der realsten Bedürfnisse des Menschengeschlechtes. Steht mir bei, ihr neun Musen, die ihr den Parnaß bewohnt, daß ich der prüden Menschheit schonend beibringe, was das kluge Negerweib züchtig da zu bergen weiß, wo der Rücken anfängt unaussprechlich zu werden. In Versen sei's gesagt und zarten Reimen, damit nicht einer kommt und meiner Feder das Gefühl für Schicklichkeit abspricht, während sie der Wahrheit dient:

Unter Mammis Nankingmieder,
Dort, wo es den Buckel macht,
Vor Beginn der Hinterglieder
Pranget das Geschirr der Nacht.

50 Diese Entdeckung, die mir wahrscheinlich in Frankreich die Palmen der Akademie einbringen würde, will ich den deutschen Vereinen für Säuglingsfürsorge unentgeltlich überlassen, wenn man mir verzeiht, was ich des weiteren an dem Negerweibe noch zu rühmen habe. Nach oben zu wird sie nämlich immer bedürfnisloser. Selten, daß ein Zipfel des Baumwollstoffes noch bis zum Schlüsselbein hinaufsteigt und rückwärts schauend über die Schulter hinweg Ausguck hält. Von solcher Ausnahme abgesehen herrscht eine verblüffende Offenherzigkeit. Das ganze Milchgeschäft steht zu jedermanns Einsicht offen, und das Negerbaby findet sicher wie in einer American Bar seine Mahlzeit, ohne daß es nötig hätte, einen Coupon zu lösen. Organisiert euch doch, ihr armen Kinder der reichen Europäer! Kommt zusammen und schreit so lange, bis euch die Gesetzesfabrikanten hören und eure Mütter ins Gefängnis stecken, wenn sie euch aus Gefallsucht vorenthalten, was euer Recht ist. Aber ich weiß es schon, ihr werdet es nicht tun, schon demjenigen zum Gefallen, der das vierte Gebot gemacht hat. Nun so bleibt denn alles beim alten bis zu dem Zeitpunkt, wo unsere Väter wieder Männer werden und zeigen, daß sie es sind, die den Haushalt beherrschen. Von dort ab werden dann unsere Weiber auch wieder Mütter werden.

Herr Wolf, der erste Maschinist ging eben an mir vorüber und sagte: »Wissen Sie auch, daß wir seit zwei Stunden bereits an der deutschen Küste hinfahren?«

51 Ich sah mir das Flachland an Backbordseite des Schiffes an und erwiderte: »Wie hätte ich dies merken sollen, da die Tochter mit der Mutter Germania doch nur eine sehr entfernte Ähnlichkeit hat?«

»Gedulden Sie sich noch ein wenig. Gegen 4 Uhr werden wir vor Lome liegen, der Hauptstadt von Togo, dann werden Sie in den Zügen der Tochter die Mutter kennen,« lachte Herr Wolf und ging seines Weges.

Näher und näher kamen wir ans Land heran. Klarer und immer klarer enthüllten sich uns die Konturen einer deutschen Kleinstadt. Zwei Kirchen überragten ein ziemlich ausgedehntes Häusermeer. Das eine dieser Gotteshäuser mitsamt seinem Campanile tritt schlicht und einfach auf, das andere sticht mit zwei scharfen Turmspitzen brutal in den Himmel hinein und fordert mit einem Übergangsstil vom Romanischen zum Gotischen unsere Aufmerksamkeit. Da haben wir's also. Die scharfen Gegensätze zwischen Protestantismus und Katholizismus sind glücklich nach Afrika exportiert, und der Wilde hat Gelegenheit, von zwei Ansichten wie von zwei Kattunmustern auszusuchen, was ihm gefällt. Offen gestanden, mir wollen sie aus Gründen der Religion beide in Afrika nicht gefallen. Eines schickt sich nicht für alle. Da wo die Lotosblüte ihren verträumten Liebeszauber entfaltet, kann ich mir die Askese des Christentums nicht hindenken. Unter grünen Palmen mag ich mir die lichtscheuen Gewölbe des romanischen Baustiles nicht vorstellen und, wenn wir einen schwarzen 52 Weltenlenker mit aufgeworfenen Negerlippen ablehnen, so dürften wir dem Rassenempfinden der Schwarzen keinen weißen Herrgott zumuten. Laßt uns die Schlauheit der Jesuiten bewundern, die auf die neuen japanischen Altäre eine mandeläugige Gottesmutter zu stellen verstanden. Seien wir gerecht und lassen wir aus Gründen der Ästhetik im Palmenschatten die Moscheen stehen. Wenn der Weltenschöpfer den Morgenruf des Muezzin vom Minarett hört: »Das Gebet ist besser denn der Schlaf,« so wird er daran nicht minder seine Freude haben als an dem Aveläuten christlicher Glockentürme.

Neben den Kirchen machen der Gouvernementspalast, die Regierungsgebäude und weiter landeinwärts gelegen ein großes Spital einen äußerst großzügigen, imposanten Eindruck. Man hört den Pfiff einer Lokomotive und sieht, wie klumpige Rauchwolken sich nordwärts wälzen. Das ist die Bahn nach Missahöh. Noch ist der Schienenstrang nicht allzulang. Doch der Anfang ist gemacht. Glückauf zu deiner Reise, rußgeschwärzte Lokomotive! Dein Ruf ist die Posaune, nicht des jüngsten Tages, sondern der jüngsten Tage, die einen Teil der schlummernden Menschheit zur Auferstehung weckt.

Man hatte von der »Eleonore« die Barkasse niedergelassen, und sie dampfte hurtig dem Landungsstege zu. Dieser selbst ist eine lange eiserne Brückenanlage, die in luftiger Höhe über die kochende Brandung hinweggebaut ist. Wer auf dem Stege wandelt, sieht in den 53 brodelnden Gischt der schäumenden Wogen nieder, freut sich ihres wechselvollen Spieles und ist doch sicher vor ihrer Heimtücke. Denn selten und nur bei starkem Südwind vermag der Strudel seinen Geifer in kleinen Spritzwellen auf die Brücke hinaufzuschleudern. So schön ein solches Wandeln über den Wassern auch ist, der Steg hat noch einen Hauptberuf. Dieser besteht darin, Personen und Sachen den Verkehr von den Seeschiffen nach dem Lande hin und umgekehrt auch bei stürmischem Wetter zu ermöglichen. Deshalb ist – vom Lande aus gesehen – hinter der Brandung auf der Brücke ein Kran konstruiert, der eine Art Fahrstuhl an langen Tauen nach dem Meeresspiegel niedergleiten läßt. Man schwebt eine Zeitlang zwischen Himmel und Wasser und sinkt unten in eine Schute hinein, die einen dann nach dem Dampfer bringt. Auf diese Weise waren uns einige Passagiere nebst der Post zugeführt worden, und nun konnte das Schiff den Anker wieder heben, um loszufahren ins glitzernde Abendgold hinein.

»Schönes Werk dieser Steg da drüben,« wandte sich der erste Maschinist an mich, während ich gaffend an der Reling lehnte.

»Gewiß und auch wohl kostbar, Herr Wolf,« war meine Antwort.

»Gleichwohl rentabel. Bevor die Brücke stand, mußte alle Fracht in Schuten über die Brandung geschafft werden, – und was ging da nicht alles unter, trotzdem drüben am Lande ein schwarzer Hexenmeister 54 stand und die empörten Wogen mit Zaubersprüchen zu zähmen suchte. Ja, wer die beschwören könnte, ob Neger oder Kaukasier, er wäre ein gemachter Mann.«

»Beschwören könnte? Ich kann's Herr Wolf, Sie auch, ob aber die Fluten unsern Zaubersprüchen folgen und sich beruhigen, das ist eine andere Frage.«

»Wer an Wunder glaubt, der sieht auch Wunder, Herr Doktor. Der heilige Januarius hat es schon fertig gebracht, daß die Lavaströme des Vesuvs zum Stehen kamen, und die schwarzen Magier haben mit ihren Sprüchen den Seesturm gebändigt. Wer seine Formeln nur zur rechten Zeit herzusagen weiß, der wird die Gaffer zum Maulaufreißen bringen. Das Wunder ist an keinen Ort und keine Zeit und keine Religion gebunden. Solange es Menschen gibt, die an das post hoc, ergo propter glauben, wird es existieren und der Vernunft einen blauen Dunst vormachen.«

»Ganz Ihrer Ansicht, mein Verehrtester,« sagte ich und fuhr fort, um die Unterhaltung auf einen anderen Gegenstand zu lenken: »Werden Sie heute nacht wieder Holzpfeifen schnitzeln?«

»Was soll ich anders treiben? Sie wissen ja, daß ich nicht schlafen kann. Bis morgen früh ist solch ein Nasenwärmer für Sie fertig, wenn Sie darauf reflektieren.«

»Ich wäre Ihnen dankbar, und damit einstweilen Gott befohlen,« schloß ich die Unterhaltung und ging zur Nachtruhe in meine Kammer.

Wir waren nun dem Schutzgebiete Kamerun so 55 nahe gerückt, daß wir nur noch Lagos in Nigeria anzulaufen hatten. Ich freute mich darauf, diese Stadt kennen zu lernen. Doch wir hatten den ganzen Tag über mit widerwärtigem Seegang zu tun und mußten vom Lande weit abhalten. So war es Nacht geworden, als wir in der Bucht von Biafra vor der Barre des Oagbo Anker warfen. Der Wind heulte um die Masten und Schornsteine. Das Meer wälzte kämmende Wogen heran und warf sie klatschend wider die Steuerbordseite der »Eleonore«. Im Lichtkreis des Schiffes sah man die schäumende Flut und hier und da den glatten Schlangenleib riesengroßer Haie. Die Ferne aber war durch schwarze Nacht von uns abgeschieden.

Der Kapitän hatte Signale nach dem Land gegeben, daß er einige Passagiere abzusetzen hätte. Die Leute standen fröstelnd zwischen ihren Habseligkeiten auf Deck und schauten nordwärts, ob sich nicht die Lichter eines Tenders zeigen würden. Lange sah man nichts. »Sie werden es bei dem Wetter nicht wagen, über die Barre zu gehen,« sagte der Alte, »und so werden wir die Auswanderer mitnehmen in die Bucht von Viktoria. Sie treffen dort wohl bald einen andern Dampfer, der sie wieder zurückbringt.«

So war's geplant, und wir warteten schon darauf, daß das Signal zum Ankerheben gegeben werde, als sich im Norden Lichter zeigten.

»Sie wagen's also doch,« rang es sich wie ein schwerer Seufzer aus der Brust des Alten los. und 56 damit war er stumm geworden. Er hatte das Glas vor den Augen und sah dem gefährlichen Spiele zu, das die Wogen mit dem Tender trieben. Wie Bälle von der Hand eines Jongleurs wurden die Signallichter in die Luft geworfen, um im nächsten Augenblicke schon in schwarze Nacht herunterzufallen. Werden sie wieder zum Vorschein kommen? – – Ja, sie tauchen auf, werfen sehnsuchtsvoll ihren Farbenschein zur »Eleonore« herüber und werden sogar größer. Sie kommen näher. Schon sind sie so nah, daß man sie mit einem gut gezielten Steinwurf auslöschen könnte. Dann gibt es plötzlich ein dumpfes »Schrumm«. Die »Eleonore« bebt. Die Wellen haben die zwei Schiffe widereinandergeschleudert. Nun rasch die Cardele auf Deck des Tenders geworfen und die Trosse nachgezogen. Es muß – es wird – es ist gelungen. Beide Schiffe sind verbunden. Der Ladebaum hebt Gepäck und Passagiere hinüber, und der Tender kann wieder losmachen.

Als er von uns abfuhr und die Reisenden ihr letztes Lebewohl herüberriefen, machte der Kapitän ein kummervolles Gesicht und sagte zu mir gewendet: »Die sind heute nacht dem Himmel näher, als dem Zuchthaus, auch wenn sie die größten Spitzbuben sein sollten. Wer die Barre von Lagos kennt, der geht ihr schon bei Tage aus dem Weg und um so mehr noch bei Nacht.«

Drei Wochen später hatte auch ich die Barre von Lagos kennen gelernt und der geneigte Leser wird später erfahren, wie ich von ihr denke. 57

 


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