Carl Karlweis
Adieu Papa
Carl Karlweis

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Der ungeküßte Kuß.

Eine Neujahrsgeschichte.

Seit einem Jahr war Herr Fidelius Schnittlein wirklicher Aushilfslehrer an der Volksschule zu St. Elisabeth. Pünktlich um zehn Uhr Vormittags und um vier Uhr Nachmittags sahen ihn die Nachbarsleute vor dem Schulthor erscheinen und dort die schlimmen Buben der Vorstadt beim Verlassen des der Wissenschaft geweihten Hauses überwachen. Hier tätschelte er den Flachskopf eines artigen Schülers, dort drohte er einem ausgelassenen Jungen, der nicht »paarweis'« 166 gehen wollte, aber was er auch that, ob er sprach oder schwieg, lächelte oder finster zu blicken versuchte, immer lag eine milde Würde in seinem freundlichen Wesen, immer strahlten seine blauen Augen eine innere Heiterkeit aus, die dem bescheidenen jungen Aushilfslehrer den Anschein einer gewissen Behäbigkeit verlieh. Wer ihn nur flüchtig beobachtete, mußte sich sagen: dieser Mensch ist glücklich! Wer ihn näher kannte, fügte wohl hinzu: Dieser Mensch ist gut!

Zu Denjenigen, die ihn näher kannten, zählte auch Fräulein Lisi, die Nichte und Ziehtochter der reichen »Mehlmesserin« Frau Matzinger, deren Laden sich just dem Schulgebäude gegenüber befand. Woher die jungen Leute einander kannten, wann und wo sie sich zum erstenmale gesehen und gesprochen, ist selbst der sonst so wohlunterrichteten Greißlerin Wondraschka bis 167 auf den heutigen Tag ein ungelöstes und darum quälendes Räthsel geblieben. Herr Fidelius und Fräulein Lisi wußten ja selbst nicht zu sagen, wie das gekommen war. Sie wußten nur, daß sie sich liebten, und daß unser Herrgott ein sehr braver Mann sein mußte, denn er gestattete, daß sie sich täglich zweimal sehen durften, nämlich um zehn Uhr Vormittags und um vier Uhr Nachmittags, um welche Zeit es Lisi im Laden der Tante plötzlich unerträglich heiß fand, weshalb sie die Thür öffnen und ein wenig frische Straßenluft schöpfen mußte. Dann zog drüben Herr Fidelius den Hut, hüben erröthete die blonde Lisi, und der Himmel war blau, auch wenn ihn andere Menschenkinder mit schweren Wolken behängt sahen, und die Sonne schien fröhlich und warm, auch wenn Andere über Dunkelheit und 168 Kälte klagten. Dennoch gab es eine Wolke an diesem Himmel, eine einzige, aber dafür gar gefährliche, gewitterschwere Wolke: die Tante Mehlmesserin. Frau Matzinger war reich und kinderlos, Lisi war ihre Erbin. Wenn sie erfuhr, daß diese ihr Herz an den armen Aushilfslehrer gehängt hatte, dann . . . . nein, der Gedanke war gar nicht auszudenken! Herr Fidelius senkte den Blick vor der mächtigen Frau Tant', wenn er der stattlichen Frau einmal unversehens in den Weg kam, und Lisi wagte kaum zu athmen, wenn die Gefürchtete zufällig in den Laden trat, während ihre Nichte eben – Luft schöpfte. Glücklicherweise schien Frau Matzinger gar nicht zu ahnen, daß ihr »Madl«, wie sie Lisi mit Hinweglassung aller näheren verwandtschaftlichen Bezeichnungen kurzweg nannte, Gefallen finden und erwecken 169 könnte, ohne ihre, der Tante und Ziehmutter Erlaubniß. Die eigene Jugendzeit, die übrigens ein wenig weit hinter ihr lag, hatte ihr keine ähnlichen Gefahren gebracht. Sie war weiland Herrn Matzinger wunschlos zum Altar gefolgt, und hatte ungefähr in derselben Stimmung nach zwanzigjähriger Ehe die Trauerkleider für den Seligen angezogen; da sie überdies auch niemals mit der unpraktischen Welt der Poeten in directe oder indirecte Berührung getreten war, so kannte sie die Liebe weder aus Erfahrung noch vom Hörensagen, ein Zustand reiner Thorheit, der ersichtlich ihr körperliches Gedeihen gefördert hatte. Frau Matzinger rühmte sich einer Leibesfülle, welche das von Künstlern und Aesthetikern sonst so geschätzte Ebenmaß in ein nicht minder seltenes Gleichmaß umsetzte: sie war ebenso breit als hoch.

170 Fehlte es nun dem Liebespaar auch an dem rechten Muth zu einem offenen Geständniß, so zeigte sich Lisi als richtige Evatochter doch schlau genug, der Tante manchen Vortheil, manches Zugeständniß abzuschmeicheln, von dessen weittragender Bedeutung die in den kleinen Ränken der Liebe unbewanderte Frau keine Ahnung hatte. So auch am ersten Sylvestertag. Liebesleute sind Revolutionäre und haben wie diese ihre eigene Zeitrechnung. Am Sylvestertag des Jahres I ihrer Liebe also hatte die kleine Lisi einen geradezu großartigen Einfall. Sie schwätzte so lange auf die Tante los, bis diese endlich einwilligte, mit ihrem Madl ins Theater zu gehen. Als Frau Matzinger, welche ihren Laden einer verläßlichen Nachbarin anvertraut hatte, in später Nachmittagsstunde pustend und schnaubend mit ihrer 171 Nichte im Warteraum des Burgtheaters erschien – dorthin hatte die arglistige Lisi ihre Tante geschleppt – war sie nicht wenig überrascht, dort den freundlichen Aushilfslehrer zu finden, der »ganz zufällig« gleichfalls den Entschluß gefaßt hatte, sich den Abschied des Jahres durch einen Kunstgenuß zu versüßen. Die Ueberraschung der Mehlmesserin verwandelte sich bald in Freude, denn Herr Fidelius war in der schweren Stunde des Einlasses, die nun folgte, von wahrhaft rührender Aufmerksamkeit für die umfangreiche Dame, welche nur in seitlicher Stellung den Schlangenweg der Eisengitter zu durchwandern vermochte und ohne die ausgiebige Nachhilfe des Lehrers wohl niemals die vierte Galerie und dort den Platz erreicht hätte, auf welchen das unter tausend Umständlichkeiten gelöste Billet lautete.

172 Man gab »Romeo und Julia«. Frau Matzinger, welche in den ersten Acten für die an eine Bekannte vom Grund erinnernde Amme einiges Interesse verrathen hatte, half sich später über die Längen des »faden Stuck's« mit der Verspeisung des vorsorglich mitgenommenen Mundvorrathes hinweg, und entschlief endlich während einer längeren Predigt des würdigen Pater Lorenzo, der von Kräutern und Gemüsen sprach, welches Thema ihr, der Mehlmesserin, entschieden schlecht gewählt erschien.

Um so lebhafter beschäftigte das Drama die jungen Liebesleute. Bei dem ersten Kusse Romeos und Juliens erröthete Fräulein Lisi bis an die Haarwurzeln und Herr Fidelius blickte unternehmend drein wie ein preußischer Gardelieutenant. Bei der Vermählung des Liebespaares da 173 unten seufzten Beide und blickten ängstlich auf die sanft schlummernde Tante, wobei ihre Hände sich fanden, um sich bis zum Schlusse nimmer zu lassen. Das junge Paar sprach kein Wort, es hatte von der Liebestragödie nur die Liebe erfaßt und sich gar wenig um die Tragödie gekümmert; nun schritt es im Dunkel der Nacht wortlos, traumverloren die Straßen dahin, bis man das Hausthor erreichte. Frau Matzinger zog an der Glocke und trat, da sie durch das Fenster der Frau Wondraschka noch Licht erspähte, neugierig näher, um durch einen Spalt ins Innere der Greißlerstube zu gucken. Im Hause näherten sich die schlürfenden Schritte des Hausmeisters. »Adje!« sagte Lisi leise und seufzte.

»Adieu!« erwiderte Fidelius gleichfalls seufzend. Es war tiefdunkel um sie 174 her, die Tante hatte ihnen den breiten Rücken zugewendet . . . . da überkam es den Aushilfslehrer wie Tollkühnheit. Er streckte die Arme aus, umschlang das zitternd abwehrende Mädchen und zog es mächtig an sich. Schon neigten sich seine Lippen über die ihren, die nur mehr schwach widerstrebten – da knarrte innen der Schlüssel im Schloß, die Tante drehte sich um, und das Pärchen taumelte auseinander. Lisi huschte die Treppen empor und mußte oben eine geraume Weile warten, bis Frau Matzinger ihr ächzend nachgekeucht kam. Fidelius aber rannte ohne Gruß die Straße hinab, quer über den nächsten Platz, und weiter, weiter . . . . ziellos in die Nacht hinein. Ein paar Vorübergehende, die er in seinem Dauerlauf zur Seite schleuderte, daß sie bis in die Mitte der Fahrstraße flogen, riefen ihm 175 derbe Schimpfworte nach; er beachtete sie nicht. Ihm war, als schnurre ein Räderwerk in ihm, das ablaufen müsse, als treibe eine geheime, ihm selbst unerklärliche Macht ihn unerbittlich vorwärts.

Aus einem Wirthshause drang lustiger Geigenton und das Quicken einer Harmonika in die stille Straße heraus. Fidelius fühlte plötzlich, daß er hungrig und durstig war. Er trat ein und setzte sich an ein leeres Tischchen in der stillsten Ecke des raucherfüllten dunstigen Raumes. Kaum hatte er einen Bissen gegessen und einen Schluck getrunken, als sich auch schon Gesellschaft an seinem Tische einfand. Lachende Mädchen, herausgeputzt und geschminkt, die sich an ihn herandrängten und mit Blicken und Worten nach ihm angelten. Er sah sie der Reihe nach verwundert an, schüttelte den Kopf und verließ 176 eilends das Local, nachdem er seine Zeche berichtigt hatte und dabei tüchtig übers Ohr gehauen war.

Draußen stolperte er weiter. An einer Straßenecke schlug ein jammernder Ton an sein Ohr und als er horchend still stand, trat aus dem schützenden Dunkel einer schmalen Sackgasse eine in Lumpen gehüllte Gestalt auf ihn zu, die ihm ein häßliches, in Fetzen gewickeltes Kind entgegenstreckte und um ein Almosen wimmerte. Für seine Gabe erhielt er außer zahllosen Segenswünschen noch ein paar Brocken einer Elendsgeschichte von Liebe, Glück, Treubruch und Elend zu hören, daß es ihn heiß und kalt überlief, weil ihm bei den ersten Noten dieses widerlichen Gesanges die schöne Julia von der Bühne in den Sinn kam und darauf auch . . . . seine Julia . . . .! Oh, wie er 177 nun lief, um der Bettlerin und ihrer Geschichte zu entfliehen!

Es war schon recht spät geworden, als er endlich vor der rothverhängten Thür einer kleinen Kneipe athemlos innehielt und erschöpft eintrat. Erleichtert seufzte er tief auf, als er das halbleere Local mit einem prüfenden Blick durchmaß und sich wieder in die äußerste Ecke zurückzog, um dort einen Schluck Wein in Ruhe zu trinken, ehe er den Heimweg antrat. Die Gäste waren hier ziemlich still und bescheiden, der Schankbursch schwatzte mit der Cassierin, und der Kellner schlief stehend in steifer Stellung, nur den Kopf an die Wand gelehnt. Die Uhr schlug schnarrend halb zwölf. Fidelius gegenüber wispelte etwas in der anderen Ecke der Stube. Er sah hin und gewahrte ein Pärchen, das dort eng aneinander geschmiegt saß, aus Einem 178 Glase trank, von Einem Teller aß und sich überhaupt so ungenirt benahm, als befände es sich hier allein. Fidelius war höchlich entrüstet über das Benehmen der Beiden, und je länger er sie beobachtete, desto höher stieg sein ernstes Mißfallen. Jetzt machte der Bursche sogar Anstalt, das Mädel in seine Arme zu nehmen und zu küssen! Schon neigten sich seine Lippen über die ihren, die kaum widerstrebten . . . . Da sprang Fidelius auf und lief spornstreichs aus der Stube – diesmal sogar ohne seine Zeche zu bezahlen. Etwas brannte ihm auf den Lippen, das aller Wein der Welt nicht kühlen konnte: es war der ungeküßte Kuß, und ihm war, als könne er weder Ruhe noch Seligkeit finden, ehe dieser Kuß nicht – von den gebannten Lippen herabgeküßt sei. So stürmte er fort. Das alte Jahr, das seinem 179 Ende zuhumpelte, schien mit ihm zu eilen, denn schon schlug es Dreiviertel auf Zwölf von irgend einem Thurm. Und Fidelius war noch so weit von dem Laden der gestrengen Frau Mehlmesser-Tant' entfernt Der Schweiß stand ihm in dicken Perlen auf der Stirn, der Athem drohte zu versagen, die Beine zitterten, er aber nahm die letzte Kraft zusammen und lief . . . . und lief . . . .

In der Küche stand Lisi im leichten Nachtgewand, mit aufgelösten Haaren. In der Linken hielt sie ein Glas und in der Rechten den Bleilöffel. Dabei war ihr Blick unverwandt auf die alte Schwarzwälder Uhr gerichtet, deren Zeiger sich langsam – ach, wie langsam! – der Ziffer XII näherte. Jetzt war er vollends oben, das Schlagwerk hob zu schnarren an, die Kette rasselte nieder, und der erste 180 Bleitropfen träufelte zischend ins Glas. Da polterte es die Treppe herauf, über den Gang, der Thür zu. Diese wurde aufgerissen und – – Lisi stieß einen Schrei aus, der durch das ganze Haus gellte.

Er rüttelte auch Frau Matzinger aus dem süßen Neujahrsnachtschlummer. In Nachthaube und weißer Jacke kam sie herausgestürzt, und das in ihrer Rechten zitternde Nachtlämpchen beleuchtete ein Bild, welches wohl geeignet war, sie in starrstes Erstaunen zu versetzen: Lisi lag in den Armen eines langen Menschen, der auf ihren jugendfrischen Lippen das neue Jahr einküßte.

Selbstverständlich gab es nach dieser Ueberraschung noch manche ernste Auseinandersetzung, manche schwierige Unterhandlung, manche Thräne, manche Bitte – 182 allein Lisi war so unvorsichtig gewesen, die seltsamen Erfolge ihres Bleigießens in der Sylvesternacht gleich am nächsten Morgen der Frau Wondraschka haarklein zu erzählen, und da somit noch am Neujahrstag der ganze Grund von der unseligen Geschichte wußte, blieb der armen übertölpelten Tante wohl nichts übrig, als den Ruf ihrer Nichte dadurch herzustellen, daß sie gute Miene zum bösen Spiel machte und die Liebesleute zusammen gab.

Bei der Hochzeit, die sehr lustig war, sprach der Herr Oberlehrer einen Trinkspruch, in welchem er betonte, daß Pflichttreue die wichtigste und schönste Tugend des Menschen sei.

»Was Du thust, thue mit ganzer Kraft!« rief er pathetisch.

183 Fidelius drückte seinem Bräutchen heimlich die Hand und flüsterte: »Das gilt auch fürs Küssen!« 184

 

 


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