Carl Karlweis
Adieu Papa
Carl Karlweis

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Adieu Papa!

Vom Thurm der Paulanerkirche schlägt es acht Uhr. Aus einem der langweiligen Häuser, die das regelmäßige Viereck des stillen Mozartplatzes bilden, tritt ein kleiner alter Herr und schlägt gemessenen Schrittes den Weg zur Elisabethbrücke ein. Die Milchmeierin, die vor ihrer Ladenthür steht und mit der Hofrathsköchin vom ersten Stock den neuesten Straßenklatsch verhandelt – der Drechsler, der an dem Fenster seiner Werkstatt lehnt und behaglich seine Morgenpfeife raucht – der Bäcker, der 8 Tapezierer, der Kohlenhändler und der Messerschmied – alle kennen ihn, alle grüßen ihn. Und er kennt alle und dankt allen würdevoll und gemessen, wie es sich für einen Mann in höherer Lebensstellung ziemt. Denn der kleine alte Herr ist Beamter, kaiserlicher obendrein.

Johann Nepomuk Kienberger
k. k. Lottogefällsoberamtsofficial

steht in zierlicher Schrift an seiner Wohnungsthür, rechts oben im dritten Stock, neben dem Schneider Resniczek, gegenüber der Rechnungsrathswitwe Zimmerl. Dort wohnt er seit siebzehn Jahren. Und seit siebzehn Jahren tritt er täglich, sowie der achte Schlag vom Paulanerthurm verhallt, aus dem Hausthor – nicht eine Viertelminute später, noch früher. Und die Nachbarn wissen alle, daß, wenn er jetzt 9 bis an die Ecke gekommen ist, er dort einen Augenblick stehen bleiben wird – genau zwischen dem rothen Fauteuil und dem grünen Stockerl, die dort seit Menschengedenken das Auslagefenster des Tapezierers schmücken – und nach seiner Wohnung emporblicken wird. Und ebenso bestimmt wissen alle, daß dort oben, beim fünften Fenster von links, der Blondkopf seiner Tochter, der Rosl, erscheinen wird, um dem Vater einen Abschiedsgruß zuzuwinken, ein fröhliches Nicken und eine Kußhand: Adieu Papa!

Rosl ist der Liebling des Hauses, der Gasse, des ganzen Viertels. Das ist aber auch ein Schatz von einem Mädel. Jeden lacht sie freundlich an mit ihren treuen Vergißmeinnichtaugen, dem rosigen appetitlichen Goscherl, aus dem die kleinen weißen Zähne leuchten, und dem neckischen Grüberl 10 in den Milch- und Blutwangen. Und jeder freut sich, wenn er sie sieht – Frau Zimmerl etwa ausgenommen, deren längst überständige Tochter, die lange Serafine, keine Vergißmeinnichtaugen hat, sondern graugrüne, von denen eines noch dazu »unserm Kaiser aus'n Land schaut«.

Rosl's Mutter ist früh gestorben. Der Vater hat das kleine Geschöpf aufgezogen – der Vater und Lisi, der Haustrampel, eine große knochige Person mit Armen wie ein Athlet, immer hochgerötheten, fast violetten Wangen und einem sonderbar eckigen Kopf – »wie ein Cigarrenkistl«, pflegt die Hausmeisterin vom Fünferhaus zu sagen, die Jedem gerne ein kleines Klampfl anhängt.

Lisi hat die junge Mutter sterben gesehen. Das gibt ihren Erzählungen im Hause eine gewisse angenehm gruselige 11 Weihe – auch wenn sie von der Zeit spricht, die nachher folgte: den ersten Kinderjahren Rosl's. Und von dieser spricht sie gern. . . . . »Ja, ich hab' was durchg'macht mit die Zwei, mit'n Kind und mit'n Vatern! Wir haben's natürlich mit'n Flaschl aufg'zogen, die Rosl. In der Nacht, wenn's schreiert worden is, hat's wohl er umg'tragen, immer er, und hat's eing'sungen und aufg'wickelt und – – no, alles halt, was so ein kleiner Pamperletsch braucht auf der Welt! In der Fruh nachher, wenn er ins Amt hat müssen, hat er mir's übergeben und mir dabei jed'smal eine ganze Vorlesung g'halten, wie man ein Kind behandeln muß – er mir! Wo's doch bei mir ein bißl sicherer aufg'hoben war, möcht' man glauben, als bei so ein' z'nichtigen Manderl! Und aus'n Amt z'haus und hat schon's Kind wieder g'habt 12 und nimmer ausg'lassen. Eine Geduld hat zu dem g'hört, sag' ich Ihnen! Mit vier Jahr hat die Rosl den Scharlach 'kriegt. Das war eine Zeit! Acht Täg und acht Nächt is er damals nicht aus die Kleider kommen, immer is er bei ihrem Kinderbett'l g'sessen, hat ihr die Medicin geben und die Eisumschläg' g'macht, wie's der Doctor verschrieben hat. Ich seh's noch wie heut, wie's dag'legen is, das Armitschkerl, in sein' Fieber! Der Professor is kommen und hat'n Kopf g'schüttelt, . . . fünfundzwanzig Gulden hat er dafür kriegt! . . . Die kleine arme Seel' aber hat mit die Patscherln g'winkt, wie sie's g'wöhnt war, wenn der Vater in der Fruh ins Amt gangen is, hat die Augen verdreht und g'wispelt:

›Adieu, Papa!‹

Wie ich das damals ausg'halten hab' begreif' ich heut noch nicht! 's Jahr drauf 13 is sie mir in Heiligenstadt, wo wir im Sommer am Land waren, gar in' Ziehbrunnen neing'fallen! Ich hab' g'rad nur zwei Wort' mit der Hausfrau g'redt – wirklich nur zwei Wort'! – 's Kind rennt derweil ihr'n Künigl nach, der ihr auskommen is . . . . auf einmal hör' ich einen Schrei, schau hin, und seh schon nix mehr von ihr! Denken S' Ihnen, so was! Der Herr kommt aus der Stadt z'haus, sieht uns alle verzweifelt beim Brunn' stehen und hinunterschaun auf das unglückliche Kind – eins, zwei . . . . siehst es nit, hast es nit g'sehn, laßt er sich an der Stangen hinunter. Die bricht wurz ab, und er hängt Ihnen drei Stund' unten überm Wasser: in einer Hand 's Kind, mit der andern an ein' Stein ang'krampelt – bis sie 'n mit Strick' heraufg'zogen haben! . . . . Ja, ich hab was durchg'macht mit die Zwei!«

14 Wovon Lisi so berichtete, das waren aber nur die großen Ereignisse, die Hauptschlachten in dem Feldzuge, den Herr Kienberger um Leben und Gedeihen seines Kindes geführt hatte. Von den kleinen, täglich sich wiederholenden, allmählich die Kräfte aufreibenden Gefechten und Scharmützeln berichtete die vierschrötige Hauschronik nichts. Wie er die kleine Rosl gewartet und gepflegt hatte, Tag um Tag, leiblich und geistig. Wie er mit jeder Minute gegeizt hatte, die ihm sein Amt freiließ, um sie dem Kinde zu widmen – und nur diesem. Wie er es unterrichtet, seinen Sinn für das Gute und Schöne zu wecken gesucht, ihm Märchen erzählt hatte, bis es in seinem Arm entschlief – und wie er sich geplagt und gerackert hatte, um dem allmählich heranwachsenden Mädchen ab und zu eine kleine Freude bereiten zu 15 können, überflüssige und doch so heiß ersehnte, mit so fröhlichem Händeklatschen empfangene Nichtigkeiten: heute eine Blume, morgen ein buntes Band . . . . ein paar neue Schlittschuhe . . . . ein kokettes Eiskäppchen. So ein junges Geschöpf will doch auch sein Vergnügen haben – nicht wahr? Und der Staat sieht das nicht ein, bezahlt kaum genug, um das Leben dürftig zu fristen! Da setzt man sich eben über eine schlecht gelohnte Ziffernarbeit, bei der Einem die Augen übergehen und langsam schwach und schwächer werden . . . . und der Rücken sich krümmt. Aber am Morgen lacht Einem das frische rosige Gesichtel des Kindes vergnügt entgegen – und man ist belohnt genug! Und wenn sie des Nachmittags aufs Eis geht, die Schlittschuhe am Arm – echte Halifax, bitte, sieben Gulden das Paar! – und die 16 Sealskinkappe schief auf den blonden Locken – wie theuer die erst war! – . . . . ah, das ist ein Anblick, der Einem den entbehrten Schlaf tausendfach vergilt und die schwachen Augen und das Ergrauen der Haare vergessen macht. Wie schön ist sie . . . . und wie glücklich! Sie flattert davon – in der Thür noch ein Gruß, ein Winken, ein selig ungeduldiges:

»Adieu, Papa!«

Und hinaus aus der engen, stillen Wohnung ins laute Leben, ins Vergnügen – – dahin geflogen über die glatte Bahn, gelacht, gescherzt, getollt! Was sie beim Nachhausekommen aber auch alles zu erzählen weiß – die Kappe achtlos in die Ecke geschleudert, einen Arm noch in der Jacke, an der sie im hastigen Sprechen zerrt – athemlos, die köstliche Winterfrische auf den erhitzten Wangen, 17 die volle kindlich frohe Lust in den glänzenden Augen . . . .

Schön war's . . . . schön . . . . o, so schön! Den »Rückschwung« hat sie gelernt und den »doppelten Achter«! Gleich hat sie's können – nicht wahr, Lisi? Und ein Costümefest wird sein auf dem Eis . . . . überall hängen schon die Plakate, blau und gelb und roth . . . . wo man hinkommt, muß man sie sehen – nicht wahr, Lisi? Und der freundliche junge Mann mit dem schwarzen Schnurrbart, der immer schon da ist, wenn sie kommt, und sie so oft führt – wie er gebeten hat: sie soll doch auch kommen – nicht wahr, Lisi? Und so ein hübsches Costüme hat er ihr angerathen! Als Julia! Er geht als Romeo. Und so freuen möcht' er sich, wenn sie käm' . . . . so glücklich wär' er . . . . nicht wahr – – nein, das hat die Lisi nicht hören können, 18 das hat er ihr ja allein gesagt . . . . drüben bei der Musik!

Wie ihr die Worte über die Lippen sprudeln! Der Vater schiebt die Arbeit zurück und hört ihr mit stillem Lächeln zu. Liebkosend streichen seine Finger ihr die feuchten Locken aus der Stirn.

». . . . Als Julia? Aus dem Burgtheaterstück?«

»Natürlich! . . . . Und die Lisi und ich haben am Weg schon alles ausgemacht. Das violette Kleid nehm' ich . . . . das von Weihnachten, weißt Du, Papatscherl? Die Taille muß freilich ein bißl geändert werden . . . . und die Schoß auch – in der Gartenlaube ist ein Bild, nach dem machen wir's. Nur so ein Tascherl mußt Du mir kaufen . . . . und für den Kopf so was schief herüber aus Sammet . . . . und – ah, Du wirst spitzen, 19 wie gut mir das stehen wird, Papatscherl . . . .!«

Herr Kienberger denkt an seine schwindsüchtige Brieftasche. Der Zweiundzwanzigste! Noch so lang bis zum Ersten! Aber die blauen Augen haften so erwartungsvoll an seinen Lippen! Wer da nein sagen kann! Es wird sich schon machen lassen – ein Vorschuß oder so was . . . .

Und er nickt lächelnd. Du hängt sie auch schon an seinem Halse.

»Siehst Du, Lisi, daß ich darf?! O, Papatschi! Papatschi . . . .!«

Und in die Hände geklatscht und durch das Zimmer getanzt – – –

Der Tag des Costümefestes ist gekommen. Rosl steht vor dem Spiegel und spricht immerzu, aufgeregt, mit beredten Fingern, ein flatterndes Lächeln auf dem glühenden Gesicht – bald ängstlich, bald 20 erwartungsvoll. Ob er dort sein wird? Wie er aussehen wird? . . . . Dort ist er gewiß! Und hübsch wird er gewiß aussehen . . . . mit seinem schwarzen Schnurrbart und den glänzenden Augen, mit denen er einen so ansieht, so – –

»Ich weiß nicht, Lisi . . . . Du red'st ja gar nicht von ihm! Dir gefallt er am End' gar nicht?«

O ja! Er gefällt der Lisi schon. Sie muß nur noch eine Schleife fester nähen, dann zieht sie den Faden aus, beißt ihn ab und sagt: »Er ist ein schöner Mann, da gibt's nix! Sag, ich hab's g'sagt!«

Das Eintreten des Vaters unterbricht die interessante Unterhaltung über den Herrn mit dem schwarzen Schnurrbart, seit Wochen das tägliche, unerschöpfliche Gesprächsthema der beiden.

21 Der Vater kann zum Fest nicht mitgehen – er hat so viel Arbeit übernehmen müssen. Der Vorschuß will hereingebracht werden . . . . und der Zins, der böse, steht auch vor der Thür. Davon spricht Papa Kienberger freilich nicht. Wozu auch dem Kinde das bißchen Freude vergällen!

. . . . Stunden verrinnen. Der Vater sitzt über seine Ziffernarbeit gebeugt und denkt, während er rechnet und rechnet, immer wieder an seine schöne, glückstrahlende Tochter. Wie die sich jetzt unterhält! Sonnig gleitet es über seine früh gealterten Züge. Sein Kind! Sein Schatz! Sein Alles! . . . . Wie hat der griesgrämige Amtsvorstand letzthin gesagt: Wenn man nur wüßt', zu was man sich ärgert und abplagt, so ein ganzes dummes Leben lang!?

Ja, der Amtsvorstand weiß das freilich nicht. Der hat keine Rosl zu Hause, 22 die ihm gehört, ihm allein! Für die zu sorgen allein schon eine Freude ist, ein Glück! Das einzige, wahre Glück.

Und schier vergnügt arbeitet Herr Kienberger muthig weiter. Vierzehn und acht sind zweiundzwanzig, und – –

». . . . Papa!«

»Ah, Rosl! Bist Du schon da? Schau, schau . . . . richtig, schon halber Eins! Na, das war aber eine ausgiebige Unterhaltung! . . . . Du hast Dich doch unterhalten?«

». . . . Ja . . . . o ja . . . .!«

Wie sonderbar sich das anhört. Die Stimme klingt so fremd, als ob's gar nicht der Rosl ihre wär'! Nicht so hell wie sonst . . . . so – – Er sieht sein Kind an. Haben sie ihm das vertauscht? Das Gesichtel ist wohl dasselbe, und das Köpferl ist's mit dem Sprühregen von seinen 23 Blondhärchen um Stirn und Schläfe. Aber die Augen – ja, die sind verändert, ganz verändert. Wie die ihn ansehen! Und wie ihr jetzt das Blut in die Wangen schießt!

». . . . Rosl!?«

Da wirft sie sich ihm an die Brust, verbirgt ihr Gesicht in den Händen und erzählt ihm eine confuse Geschichte von einem Felix, der einen schwarzen Schnurrbart hat, Ingenieur ist . . . . und so lieb . . . . und gut . . . . und der alle anderen Leute weggestoßen hat, damit nur sie einen guten Platz hat . . . . und der morgen kommen wird, um . . . .

». . . . Um was?«

»Um mit Dir zu reden!«

»Mit mir? Was will er denn von mir?«

». . . . Mich! . . . . Heiraten will er mich!«

24 Der Vater steht da, als ob sich der Fußboden vor ihm aufgethan hätte.

»Heiraten? Dich?! Das Kind?!«

»Aber, Papa – – im Mai werd ich achtzehn!«

»Achtzehn –Du? . . . . Ja, ja . . . . aber das ist ja alles Unsinn! Das ist ja nicht – – – Lisi! Was ist denn vorgefallen? Lisi!«

Ja, die weiß auch nur, was ihr Rosl auf dem Heimweg, abgerissen, im tollen Durcheinander erzählt hat.

». . . . Mein Gott, auf dem Eislaufplatz sind mehr Leut' – da hab ich sie nicht immer im Aug' behalten können!«

Und aus Rosl ist nichts Vernünftiges heraus zu bekommen. Sie hat ja dem Papa ohnedies alles gesagt: Ingenieur ist er und Felix heißt er und einen schwarzen Schnurrbart hat er! Was will man denn 25 noch mehr von ihm wissen? Felix ist doch ein sehr schöner Name – nicht?

Der Vater sieht sie nur immer so an. Sein Kind – was haben sie mit dem gemacht? Ganz fremd ist es ihm geworden in den paar Stunden – ganz fremd!

Am andern Tag kommt er wirklich, der Felix mit dem schwarzen Schnurrbart. Und eine Stunde später geht es im Hause von Mund zu Mund: die Kienberger-Rosl ist Braut! Der Bräutigam ist ein eleganter Herr, jung, reich und hübsch . . . . hat eine große Fabrik in Rußland, und war in Geschäften hier, wo er Rosl auf dem Eis kennen gelernt und sich Knall und Fall so sterblich in sie verliebt hat, daß er sie vom Fleck weg heiratet – ohne Mitgift und Aussteuer . . . . »wie sie geht und steht!« . . . .

So ein Glück!

26 »Na, man kann ihr's gönnen!« erklärt die Milchmeierin wohlwollend.

»Es wird schon sein Hakerl haben!« meint die Hausmeisterin vom Fünferhaus. »Ins Russische ließ ich meine Tochter schon überhaupt nicht!«

Frau Zimmerl läßt sich in keine Erörterungen ein. Aber sie nimmt fortan, wenn sie ihre Wohnung verläßt, die Haltung einer gekränkten Königin an, und ihre lange Tochter storcht hinterdrein, wüthende Blicke schießend – einen von links nach rechts, den andern von rechts nach links.

»Das unreife Ding!« sagen sie daheim verächtlich, wenn sie von Rosl sprechen.

Lisi ist zum Orakel des Hauses avancirt. Röther und viereckiger als je, versammelt sie eine aufhorchende Gemeinde um sich, wo sie sich blicken läßt, und 27 beantwortet gnädig die unerschöpflichen Fragen, die auf sie einstürmen.

». . . . Ob die Rosl glücklich ist? No, wär' nicht aus! Das is ja wie vom Himmel gekommen! So ein Mann! Und wie der verliebt ist! Seit er nach Rußland zurück is, um dort alles für die junge Frau herzurichten, kommt täglich ein Brief von ihm – täglich, bitte! Und aus Rußland! Hat wer einen Begriff, wie weit das ist?«

Nein, niemand hat einen Begriff. Nur Pepi, der Sohn der Milchmeierin, erklärt bestimmt, daß man »mit'n Nordbahnhof« hinfährt.

»Und die Postpacket – alle Wochen wenigstens eines!« fährt Lisi triumphirend fort. »Mit Sacherln drin . . . . Sacherln! Na, da kann man überhaupt nicht reden. Ring' und Uhren und Braceletten, und ein 28 Muff . . . . und eine Bora . . . . und einen ganzen Zobelpelz . . . .! Der Mann hat Geld wie Heu! In Rußland, mein Gott, da haben sie's halt! Ich bitt' Sie, da wachst ja doch der russische Thee!«

Die Hausleute stehen mit offenem Mund.

So ein Glück! – Nur Eines begreifen sie nicht: Herr Kienberger sieht gar nicht so glücklich aus, wie man es von einem Vater erwarten sollte, der seine Tochter so großartig »anbringt«. Nach wie vor verläßt er mit dem letzten Schlag der achten Morgenstunde das Haus und schlägt den Weg nach dem Amt ein. Nach wie vor dankt er den Grüßenden gemessen und leutselig, nach wie vor bleibt er beim Auslagefenster des Tapezierers stehen, genau zwischen dem rothen Fauteuil und dem grünen Stockerl, und sieht zu dem Fenster 29 auf, an dem Rosl ihm sonst den Abschiedsgruß zugenickt hat. Aber dazu hat die jetzt doch keine Zeit.

No ja, das muß doch jeder einsehen. Eine Braut! Die hat andere Sachen im Kopf, als ihren alten Vater, der unten steht und auf ihr »Adieu, Papa!« wartet. Wird auch so ins Amt gehen können . . . .! O ja, das kann er gewiß. Aber, wenn er weiter geht, knickt er zusammen, so daß der kleine alte Herr noch kleiner erscheint . . . und schleicht an den Häusern hin, wie einer, der eine schwere Last trägt . . . . einen tiefen Kummer . . . .

Alle bemerken es: die Leute im Hause und auf der Straße, die Collegen im Amt – sogar Lisi schüttelt manchmal bedenklich den Kopf, wenn sie den Herrn die Treppe heraufschleichen sieht, mühselig Stufe um Stufe erklimmend, das Haupt 30 gesenkt, die Züge schlaff – oft eine Thräne in den Augen, die er freilich hastig trocknet, ehe er seine Wohnung betritt. Denn Rosl darf ja nichts merken. Und sie merkt auch nichts. Sie allein nicht. Sie würde es auch nicht begreifen. Was bekümmert ihn denn? Daß sie einen Mann bekommt? Und einen guten, lieben, schönen obendrein? – Nach Rußland muß sie freilich mit ihm – aber darauf freut sie sich ja! Die Trennung vom Vater wird sie gewiß schmerzen . . . . selbstverständlich! Aber diese Trennung ist ja die Pforte, durch die sie zum Glück eingeht. Das müßte den Vater doch eigentlich freuen!

Das Alter macht eben eigensüchtig! denkt sie, wenn sie überhaupt einmal in einer verlorenen Minute dieser Nebensache gedenkt. Und dann ist sie gütig und nachsichtsvoll mit dem alten »Papatschi«, 31 umarmt ihn, plaudert mit ihm . . . . kindlich heitern Unsinn, wie einst.

Auch er versucht dann den Ton von einst wieder zu finden. »Siehst Du, Roserl,« sagt er und zieht sie zu sich auf den Schoß nieder – »siehst Du, Roserl, Du wirst jetzt bald fortgehen . . . . weit . . . . weit . . . . und Dein alter Vater wird allein zurückbleiben . . . . ganz allein . . . . als ein rechter einsamer Spatz . . . .!«

Seine Stimme zittert. Bei dem »einsamen Spatz« hat er lustig auflachen wollen, aber es klingt kläglich – wie ein vergewaltigtes Schluchzen . . . .

Rosl umarmt und küßt ihn. Plötzlich dämmert es in ihr auf: eine Ahnung des Unglückes, das da so dicht, Herz an Herz, neben ihrem Glück wohnt. Sie fühlt es, freilich ohne es zu verstehen. Aber der arme Vater thut ihr doch aufrichtig leid.

32 »Papatscherl . . . . liebes, armes Papatscherl . . . . ich hab Dich ja so lieb . . . . und ich werd' immer an Dich denken, und – –«

Sie schmiegt sich in überquellender Zärtlichkeit an ihn und streichelt seine eingefallenen Wangen. Wie froh und leicht ihm mit einmal wird! Alles ist vergessen, Vergangenheit und Zukunft sind versunken, nur der Augenblick, dieser schöne Augenblick lebt und leuchtet . . . .

Beide schweigen – ganz still wird es im Zimmer.

Da klopft draußen jemand an die Wohnungsthür. Lisi öffnet und stößt einen Schrei aus – – eine tiefe Stimme spricht leise dazwischen – –

Rosl springt auf, horcht mit vorgeneigtem Kopf, ihre Augen weiten sich, ihr Athem jagt, ein Zittern überrieselt sie . . . .

33 »Felix!«

Und ihm entgegen, und ihm in die weitgeöffneten Arme gestürzt und Kuß um Kuß getauscht unter seligem Stammeln: »Du! . . . . Du! . . . .«

Der Vater steht daneben, verwirrt, betäubt, erbittert.

»Rosl!« ruft er. »Rosl!«

Sie hört ihn gar nicht. »Er« ist ja da – er, den sie liebt, dem sie sich fortan zu eigen gibt mit Leib und Seele. Ein Gefühl des Zornes, der Scham, der tollsten Eifersucht überkommt den Vater. Dafür hat er sie großgezogen, dafür sein Leben hingeopfert, Tag um Tag, Stunde um Stunde, wie Einer sich langsam verblutet! . . . . Dafür! Und nun, da er die Zeit gekommen glaubte, für all die Liebe, die er so verschwenderisch gesäet, ein wenig Glück zu ernten . . . . nur ein ganz kleines, 34 bescheidenes, stilles Glück – nun kommt eines Tages irgend ein fremder Mann daher, der nur zu rufen braucht, nur die Arme zu öffnen, und sie fliegt ihm zu und hat keinen Vater mehr, kein Heim . . . .

. . . . Die Ceremonie in der Kirche ist vorüber, das kleine Hochzeitsdiner in Felix' Hotel auch. Rosl vertauscht daheim das Brautkleid mit dem schmucken Reisecostüm, das Felix besorgt hat. Alles ist geordnet, die Koffer sind auf den Wagen gepackt, der unten wartet, das ganze Haus ist auf den Beinen, um von Rosl Abschied zu nehmen. Frau Zimmerl hat einen Krampfhustenanfall, und ihre Tochter schielt, wie noch nie.

Unter feierlichem Vorantritt Lisi's, die Handtasche, Hutschachtel und Plaidsack mit der Würde eines Trauerpferdes 35 trägt, verläßt das junge Paar Arm in Arm die Wohnung. Hinterdrein schlürft der Vater. Nur bis an die Treppe. Weiter tragen ihn die zitternden Beine nicht.

Rosl weint hier und küßt den Alten.

»Papatscherl – liebes, gutes Papatscherl! Sei nur ganz ruhig. Ich geh ja nicht aus der Welt! . . . . Und in Rußland ist's gar nicht so kalt, wie die Leute hier glauben – nicht wahr, Lixl? . . . . Und dann hab ich ja den schönen warmen Pelz . . . . und die Waggons sind auch geheizt – nicht wahr, Lixl? . . . . Und jeden Tag schreib ich Dir . . . . und – –«

Eine lange Umarmung. Die Nachbarinnen stehen in bescheidener Entfernung auf dem Gang und schneuzen sich vor Rührung.

36 Endlich mahnt der junge Ehemann leise zum Aufbruch: »Wir versäumen den Zug, Rosl!«

Es ist vorüber. Sie trocknet die letzte Thräne und lächelt wieder. Durch das Gangfenster fällt ein Sonnenstrahl schräg auf ihren lieblichen Blondkopf.

Nun steigen sie die Treppe hinab. Der Vater lehnt sich über die eiserne Balustrade und folgt ihnen mit den Blicken. Rosl schmiegt sich an den Arm des Gatten, der sich zärtlich zu ihr nieder neigt und ihr etwas ins Ohr flüstert. Erröthend lacht sie.

Alles das beobachtet der Vater, und seine Lippen zittern.

Da sieht sie empor: »Schau – der Papa steht noch oben!«

Und mit glänzenden, glückstrahlenden Augen, fest und vertrauend auf den 37 Gatten gestützt, winkt sie fröhlich hinauf, als ob es auf eine kleine lustige Spazierfahrt ginge:

»Adieu, Papa!«

 

 


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