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Ausreise

So will ich über 'n Erdball zieh'n.
Genießen froh und schauen,
Und, was mir Schönes ward verlieh'n,
Den Blättern hier vertrauen.

Cilli.

Ich bin das einzige Kind meiner Mutter und habe es immer behaupten hören – von der Stimmenmehrheit meiner Verwandten in jedem Fall –, daß diese Beschränkung auf ein Exemplar als unzweifelhafter Segen aufgefaßt werden müsse. Ueberdies bin ich, und das soll ein Grund weiterer Belastung sein, auch Schriftstellerin. Einige Jahre hindurch hatte ich sogar den Sprachenwahnsinn, das heißt, ich versuchte meinen jugendlichen Weltschmerz durch das Eindringen in fremde Sprachen zu ertränken, und obschon dieser Zweck nicht erfüllt wurde, blieb mir ein beträchtliches Wissen, das mich glauben ließ, ich könnte nötigenfalls überall auf der Welt mein Brot verdienen. Um mich für eine etwaige Reise in fremde Erdteile weiter auszurüsten, lernte ich so viel malen, daß ich Blumen richtig wiederzugeben vermochte. Als nun gar meine Skizzen, Gedichte usw. in allerlei Blättern Aufnahme fanden und ich im Sommer 1919 meinen ersten Roman verkauft hatte, erkrankte ich an jenem heimtückischen Uebel »der geschwollene Kopf« genannt, entwickelte Anzeichen von Größenwahn, sah mich schon als modernen Columbus eine neue Welt entdecken und traf ernstliche Vorbereitungen zur Eroberungsfahrt.

Es war eine ungemein stürmische Zeit, zu der Leute ohne Entzündung der Einbildungsnerven wohl zu Hause geblieben wären. Die Nachkriegswehen waren schlimmer als der Krieg selbst, doch war ich mir ihrer Schwere damals noch nicht bewußt geworden. Nachdem ich den Kriegsanfang in Feindesland – in London – mitgemacht, ein Jahr in Norwegen, eins in Schweden zugebracht hatte, durch das verbündete Deutschland nach Oesterreich zurückgekehrt war und hier die ganze Kriegsnot an mir vorbeirollen gesehen, war ich fast ohne Wissen und Wollen Staatsbürgerin eines fremden Staates geworden.

Man war damals epidemisch vom Geldfieberwahn befallen; man kaufte und verkaufte Valuten; der Börsenbericht war mein Lesestoff, die Lira, der Dollar, das Pfund mein Traum. Als ich endlich reisefertig war, bestand mein Gesamtvermögen, durch Sprachunterricht erworben, aus hundertdreißig Dollars und neunhundertfünfzig Mark, so wenig ergaben mehr als zehntausend, damals im Sturz begriffene österreichische Kronen! Die Lira war plötzlich so hoch gestiegen, daß mein geblendetes Auge sie nicht mehr wahrnahm. Die Mark dagegen wurde fast unsichtbar, ehe ich recht in die Fremde gekommen. So verblieben einzig die Dollars.

Ebenso schwer war es, ein Visum zu erhalten. Indien wies ab, Aegypten war streng geschlossen, Holland verlangte für die Kolonien Goldwährung zur Einreise; nur Japan visierte anstandslos. Ich vertraute blindlings auf mein Wissen, trieb kühn ins Unsichere hinaus – ganz wie ein ahnungsloses Kind in ein leckes Boot klettert. Ich dachte mir die Welt wie Europa …

Am 24. November 1919 nahm ich Abschied. Eigentlich wollte ich es nicht. Am Ende war es leichter, sich vom Strom der Gewohnheit tragen zu lassen; aber etwas in mir drängte: Es muß sein. Was mich da zwang, war nicht Abenteuerlust; es war der Ruf einer gestellten, unabweisbaren Aufgabe. Seither habe ich stets an eine Vorbestimmung geglaubt.

Im Speisezimmer meines Vaterhauses (ein uralter Bau, teilweise an die einstige Ringmauer angebaut und auf Römerboden stehend) brannte die Hängelampe. Ich nahm Abschied von meiner bejahrten Mutter, wohl auf immer. Ich weinte nicht. In feierlichen Augenblicken stehe ich darüber. Echtes Leid ist wie ein trockener Blitz, gefährlicher als das folgende Unwetter mit Regen.

Maukerl, mein Hund, gab mir die Pfoten, beide unzählige Male. Bei ihm hätte ich weinen können. Er saß so komisch da und wackelte mit den Pfoten wie eine Windmühle mit den Flügeln, ganz ohne Ahnung, daß wir auseinanderglitten. Später würde er suchen und suchen und endlich vergessen. Es war wie das Sinnbild alles Seins.

Der Bahnsteig war finster, der überfüllte Zug jammerte in die Halle. Ein feiner Regen, der schon halb Schnee war, durchfröstelte mich. Ich stand auf dem Trittbrett, meine Freunde umringten mich. Ich hob die geliebte Erika ins Netz und winkte noch einmal.

Knarrend fuhr der finstere Zug aus der finsteren Halle.

Lichter gab es nur die mitgebrachten. Im Aschenbecher steckte die Kerze eines Mitreisenden. Das gegenseitige Mißtrauen des Nachkriegs lastete auf uns allen. Mein Fuß ruhte schwer auf meinem Koffer, dem einzigen, den ich mitgenommen; mein Auge hing an der Schreibmaschine. Ein Schlafenwollen wäre auch ganz zwecklos gewesen, denn jede Viertelstunde steckte eine verhüllte Gestalt den Kopf zur Türe herein und befahl kurz: »Papiere!«

Aber sobald sie »Japan« als Reiseziel gelesen, gaben sie den Paß wortlos zurück, denn jeder dachte wohl gleich: »Da fährt ein Narr, der besser außer Land bleibt«, und ich hatte Frieden.

In Steinbrück mußte ich aussteigen und bis drei Uhr morgens warten. Niemand hatte eine Ahnung, wann der Orient-Expreß durchfahren würde. Man lauerte auf ihn zusammengepfercht im rauchigen Wartezimmer. Als wir endlich im dunklen Zug dahinsausten, sah ich auf die schneeigen Flächen hinaus. Wie flehende Arme streckten die kahlen Bäume die Aeste nach mir aus, und der Mond grinste aus brechendem Gewölk. In Laibach mußte man neuerdings umsteigen, und ein freundlicher Amerikaner, der selig war, den Staub des angekränkelten Europa von den Füßen zu schütteln, zog mich in sein Abteil. Ich spielte Dolmetsch an der Grenze, was den Zollbeamten indessen nicht hinderte, meinen Koffer – dessen Schlüssel im Abschiednehmen von meiner Freundin wohl abgezogen, doch nicht mir eingehändigt worden war – mit seinem Säbel aufzubrechen. Diese Verletzung verwand mein treuer Kleiderbehälter nie ganz.

Als es zu tagen begann, glitt der Expreß von Obcina talwärts. Das Meer war silbergrau voll silbergrauer Segel. Alles war so unheimlich still, daß mich ein unerklärliches Grauen beschlich. Nichts als das sich verdichtende Grau und das dumpfe Rollen des Zuges. Ich stand auf der Schwelle meiner lorbeerreichen Columbuszukunft und blieb kühl.

Allerdings – ich war durchfroren, und es drehte sich der leere Magen. So besiegt der Körper die unsterbliche Seele …

siehe Bildunterschrift

Alma M. Karlin

Triest.

Das war der erste Prüfstein meines Mutes und meiner Geduld.

Ich wohnte bei zwei alten Tanten und schlief im Zimmer einer langsam Dahinsterbenden. Durch meine Zukunftsträume zog ihr Seufzen und Stöhnen, und der einsetzende Verwesungsgeruch verfolgte mich Tag und Nacht. Die zunehmende Kälte draußen, die endlose, herzbrechende Suche nach Schiffen – entweder fuhren sie nicht, wohin ich wollte, oder sie verlangten Goldwährung als Bezahlung –, die Furcht, das mühsam verdiente Geld schon in Europa zu verbrauchen, trübten die entfliehenden Tage. Ich stand unten am Strand, starrte auf die weißblauen Wasser, die kreisenden Möwen, das rotglutende Karstgefels bei Sonnenuntergang, das tiefrote Spätherbstlaub in geschützten Winkeln und versuchte, den sinkenden Mut hochzuschrauben.

Einmal klagte ich einem alten Seebären mein Leid, und er sagte:

»Gehen Sie getrost, wer so viele Sprachen spricht, trägt ein Vermögen mit sich herum!«

Das mochte ganz wahr gewesen sein, aber woran wir beide nicht dachten, war, daß nicht jede Bank einen derartigen Wechsel honoriert. Mein Vermögen glich nicht selten dem vergrabenen Golde eines Geizhalses …

Auf wiederholtes Anraten entschied ich mich zur Reise über Südamerika, denn wenn alle Wege nach Rom führten, so brachten wohl auch alle mich einmal nach Japan. Der kürzeste Weg war es nicht, aber allem Anscheine nach der einzig offene.

All' das kam so: Gerade als ich eines Abends entmutigt heimkehrte und mehr als ein Italiener mir zuraunte, daß er mich begleiten wolle, erfuhr ich, daß ein leer nach Japan zurückkehrendes Schiff mich um dreißig Pfund Sterling mitnehmen würde. Meine Begeisterung war ohne Ende. Die noch nicht Sterbende meiner Tanten, die weise war und nie etwas direkt verbat, bemerkte beim Abendbrot:

»Sobald du Triest einmal verlassen hast, esse ich keine Fische mehr.«

»Warum denn nicht?« forschte ich erstaunt.

»Weil ich nicht Menschenfresser werden will, denn bist du einmal allein auf dem Scotland Maru, so werden dich die Japaner mißbrauchen und dich hierauf ins Meer werfen. Die verschiedenen Fische werden sich an deinen Resten gütlich tun und …« sie zuckte vielsagend die Achseln.

Ich sagte nichts. Ich betrachtete das Schiff, die fremde Mannschaft, das eigentümliche Treiben – und zögerte. Wie vielen Leiden und Gefahren wäre ich entgangen, wenn … aber nutzlos ist es, zu klagen. Wer erhängt werden soll, der ertrinkt nicht, ist ein wahres Sprichwort. Ich sammelte daher Visum auf Visum für Südamerika. Das von Chile kostete 30 Lire, also 240 Kronen! Dafür hatte ich das Recht, Chile von Ende zu Ende abzutrappeln. Und dann … aber warum vorgreifen? Ich wurde ärmer, je reicher mein Paß wurde.

Alle Schiffe fuhren direkt nach Argentinien, und diese Regierung verlangte ein Menge Zeugnisse: daß man nie seinen Lebensunterhalt mit Betteln verdient; daß man nie vorbestraft gewesen; daß man nicht erblich belastet und besonders, daß man gesunden Geistes war. Diesen letzten Punkt hatte man in meiner Vaterstadt und noch mehr im engeren Familienkreise immer angezweifelt, und daher führte mich meine Tante lieber zu einem italienischen Arzt, der mich mit einem einzigen Blick aus halbem Auge streifte und mir den gesunden Geist bescheinigte. Es gibt noch vertrauensselige Menschen!

Zur schnelleren Erledigung übergab ich die Angelegenheit meiner eigenen Staatsvertretung. Wir sprachen nur französisch miteinander, und später hätte ich am liebsten tätlich gesprochen, denn die Papiere, die in acht Tagen bei der Gesandtschaft eintrafen, wurden meiner Tante nach täglichen Mahnbesuchen etwa acht Wochen später (als ich schon auf hoher See war) ausgehändigt.

Nach fünf Wochen fuhr ich nach Genua. Dort mußte ich das Gewünschte finden.

Hinter mir verschwanden die rostbraunen, mit einer leichten Salzkruste bedeckten Hohlziegel, die jedes Dach verschönen, der kahle Karst, die düsteren Zypressen, die schirmkronigen Pinien, verschwand auch das letzte Stücklein Heimat.

 

Venedig.

Um Narren zu finden, braucht man oft nur in den Zug zu steigen. Mir gegenüber auf der harten Bank der Dritten, – mir war es damals noch neu, in der Dritten zu fahren –, saß ein Mechaniker, der immer wieder den Kopf wie eine erschreckte Schildkröte vorschießen ließ, um irgend eine Bucht besser zu erkennen. Jedesmal rollte er da begeistert die Augen und rief:

»Ach, da habe ich einmal ein Mädchen geküßt.«

Und es gab da Buchten ohne Ende. Fürwahr, die Zahl kußlustiger Jungfrauen mußte im Küstenland eine erschreckende sein. Als wir durch einen Tunnel kamen, rückte ich vorsorglich vom Fenster ab. Ich bin nie ein Freund von Massenartikeln gewesen.

Neben dem Kußmenschen saß eine hübsche Brünette, die sich mit ihren ungepflegten Dienstbotenhänden Duftwasser auf Haar, Jacke, Buseneingang und so weiter goß. Ich hätte ihr gern sagen mögen: »Schönste, ziehen Sie Handschuhe an und machen Sie den Mund zu, sonst hilft auch der süße Duft Ihnen nicht zur Verwandlung.« Gute Ratschläge sind indessen moderndes Laub, und ich behielt mein Weisheitslaub für mich. Wenn das nur alle täten!

In Venedig half mir eine nette Lehrerin, meinen Koffer in die Garderobe tragen; dann wanderte ich durch die stillen, winterlichen Straßen, stand einsam vor dem San Marco und blinzelte in die trüben, nebelumkreisten Lichter.

Venedig ist der Ort der Liebenden. Man kann nicht überfahren werden, selbst wenn man sich in erster Begeisterung gegenseitig fast totstarrt; man ißt gut, wenn man auch in glücklicher Unwissenheit verbleibt, wovon man im Grunde satt geworden; schöne Geschäfte blenden Auge und Geldbeutel, und in einer Gondel zu sitzen, muß herrlich sein – zu zweien. Besonders, wenn es kalt ist und der Mann einen warmen Mantel hat. Mein Jäckchen war dünn und ich allein, daher empfand ich von den Kanälen nicht die Poesie, sondern einzig den Gestank. Schon einmal zuvor war ich in Venedig gewesen – in meiner arg verschneiten Mädchenfrühlingszeit – und da hatte der sommerliche Glanz rundumher mich nur trauriger gemacht. An diesem Wintertag, als künftiger Columbus, war ich einfach schwermütig. Meiner Ansicht nach gehört zu Venedig eben die Hochzeitsreise …

Sonst kann man überall auf Erden ebensogut allein leben.

 

Genua.

Ich schlief im ungeheizten Abteil, und mir gegenüber auf der harten Bank stöhnte ein Matrose. Die Einsteigenden brummten. Die Aussteigenden ließen die Türe offen; der Wind heulte.

Endlich wichen die Schatten, ließen den Reif auf den pappelbestreuten Wiesen erkennen, und als die Sonne aufging, lagen die schneegekrönten Alpen in rosigem Schimmer vor mir. Wie eine Erinnerung schwanden sie in der Ferne, goldig, unklar und weit, weit weg. Dagegen schoben sich in nacktem Braun die Apenninen heran. Kurzes, gelbgrünes Gras deckte einzelne Abhänge, und dicht an der Bahnstrecke standen Zypressen.

Um zehn Uhr früh erreichten wir Genua. Der Matrose fluchte – damals war das noch nicht gesetzlich verboten – und ich schleppte keuchend Koffer und Erika zur Aufbewahrung; wanderte in die Stadt hinein, als ob ich keine Sorgen und schon ein Zimmer hätte; bewunderte die Palmen am Strand, die Orangen in voller Blüte, die herrlichen Paläste und die zweirädrigen Wagen, die einen käfigartigen Ueberbau aus Weidengeflecht hatten. Ein Kinderleichenzug glitt an mir vorüber – die Pferde weiß behängt, eins hinter dem anderen gehend, die Augen mit einem Riesenscheuleder verdeckt, das wie eine schwarze Scheibe wirkte; der Leichenwagen wie ein Thronsessel, ebenfalls weiß. Dahinter Klageweiber, und rund um uns die starke Sonne des Südens und das unbegrenzte tiefblaue Meer.

Genua ist sehr groß und wirkt bei aller Schönheit dennoch tot. Warum? Vielleicht weil die flachen Dächer grau und farblos scheinen, die Apenninen mattbraungelb sind, die Grabstätten und Befestigungswerke als öder Stein hervortreten und langsam in der Nähe des versandeten Flusses enden. Zypressen und Palmen scheinen in einen bräunlichen Dunst gehüllt, und das traurige, langgezogene Pfeifen der ein- und ausfahrenden Dampfer, das unaufhörliche, mächtige Anschlagen der Brandung kummerschwängerte mich. Aus ihm klang es wie Warnung oder Trauer …

Viel zu spät begann ich meine Zimmersuche. Erst in größeren, dann in kleineren Hotels; gegen Sonnenuntergang schon in ganz kleinen; endlich in verdächtigen Schlupfwinkeln in engen Winkelgäßchen. Um neun Uhr abends landete ich mit wundgeriebenen Füßen bei der Polizei und bat den Inspektor, mich gefälligst einzusperren. Besser war's, eine Nacht im Kerker als draußen auf der Straße zu verbringen. Zu meinem Bedauern fand er mich des Einsperrens nicht würdig, sondern gab mir eine Anweisung auf eine Bettstelle in einem Unterkunftshaus. Eine andere Obdachlose begleitete mich dahin. Der mir bestimmte Platz war in einem finsteren Raum, auf Hadern, auf dem Fußboden, unter zwölf Männern. Ich verzichtete.

Zum Schluß kaufte ich eine Fahrkarte und verbrachte die Nacht im Wartesaal dritter Klasse, dem einzigen, der offen blieb.

Dichter Qualm erfüllte die Luft; hinten, beim Büfett, staute sich der Nachkriegsabschaum: Wegläufer, Landstreicher, Obdachlose; auf den Bänken lag kreuz und quer heimkehrendes Militär, einige arme Weiber kauerten auf Kisten und Koffern, und ein Betrunkener grölte verschlafen. Ein Hund winselte. Ich fand noch das Schwanzende einer Bank, und da ich klein bin, rollte ich mich – die Handtasche unter, den neuen Seidenhut auf mir, die Schuhe in nächster Nähe – so gut als tunlich zusammen. Als ich aus kurzem, qualvollem Schlaf mit fiebernden Wangen erwachte, waren mein schöner Reisehut und die Obdachlose weg. Sic transit …

Um sechs Uhr früh begann ich einen Brief zu schreiben und warf den Plaid über die Tasche neben mir. Die ganze Nacht hatte ich Kopf an Kopf mit einem Davonläufer geschlafen. Nun regte er sich.

Einige Minuten später betraten einige Schutzleute den Saal und fragten, wem eine Tasche gestohlen worden sei. Ich sah nicht einmal nach, so sicher war ich der meinen. Da fragten mich die Leute persönlich, und ich sagte stolz:

»Oh nein! Sie liegt hier unter dem Plaid!« und ich schlug ihn zurück. Die Tasche war weg!

In Pantoffeln, hutlos, verschlafen, wankte ich bis zur Polizeiabteilung. Einem Zuschauer war das Davonschleichen des Mannes aufgefallen, und er hatte ihn angehalten. Nun saß der Mann, der meinen Kopf gleichsam zur Stütze verwendet hatte, auf der Anklagebank und zitterte ärger als ich vor Kälte und Aufregung. Der Schutzmann stand dicht neben mir und begann jeden Satz mit dem feierlichen » Questa miserabile …«

Natürlich zerschmolz ich mehr und mehr in Selbstbeklagen.

Nach einer halben Stunde war ich um viele gute Lehren, um meinen Paß und eine Klosteranschrift reicher. Man stellte mir vor, daß künftige Columbusse und gegenwärtige Schriftstellerinnen nicht in einen Wartesaal gehörten und man auch nicht die Welt umsegelte, wenn man nicht besser aufpassen konnte. Dann vertauschte ich meine Pantoffel mit meinen unterdessen polizeilich bewachten Schuhen, drückte ein blaues Seidenmützchen auf den zerzausten Bubikopf (ich ging in der Hinsicht nämlich der Mode voran) und trat – weiser und trauriger – vor das Bahnhofsgebäude.

Vor mir erhob sich das prächtige Columbusdenkmal. Der Entdecker zeigt mit der Hand nach unten, und seine Züge sind schmerzdurchfurcht. Es kam mir zum erstenmal klar zum Bewußtsein, daß – abgesehen von der Tatsache der allzu wohlbekannten Erdkugel heutzutage – allerlei dazu gehörte, allein ins Ungewisse hineinzufahren. Ich stand lange vor dem Denkmal, ließ diese Weisheit in mich hineinsickern und merkte mit Befriedigung, gemischt mit Wehmut, daß die Krankheit des »geschwollenen Kopfes« Anzeichen von Besserung verriet.

Dann begab ich mich in das Asyl für junge Mädchen und stellte mich reumütig unter den Schutz der Schwestern.

 

Im Kloster von Genua.

Für mich war es eine neue Welt, keine sonderlich angenehme, aber eine lehrreiche. Die Preise waren so niedrig, daß man dafür weder etwas verlangen, noch viel bieten konnte, und die unter dem Schutze des Klosters stehenden Mädchen waren durchweg Köchinnen, Stuben- oder bessere Kindermädchen, auch Verkäuferinnen, die sich nach irgend einer Arbeit umsahen. Ein einziger großer Schlafraum im dritten Stock faßte uns alle – damals vierzehn an der Zahl – und zwischen den Betten gab es weder Vorhang noch Nachtkasten. Man brauchte nur die Hand auszustrecken, um die Nachbarin zu berühren. Graue Wolldecken, schwer, ohne Wärme, verliehen ungenügenden Schutz gegen die Winternächte, aber vierzehn atmende Stück Menschheit bei geschlossenem Fenster verwandelten die Luft in behagliche, wenn auch ungesunde Stallwärme und ich, die ich das vom Fenster entfernteste Bett hatte, ließ mich von den dreizehn anderen wie einst das Jesukindlein in der Krippe wärmend anhauchen.

Viele andere Erinnerungen knüpfen sich an diesen Schlafsaal, aus dem ich mich so sehr fortwünschte, und nach dessen Sicherheit ich mich so oft zurücksehnte. Abends durften wir erst nach dem Abendgebet, bei dem wir auf den Stühlen, der Lehne zugekehrt, knieten und lateinisch beteten, hinaufgehen, und nachdem die Abendschwester den Rundgang gemacht hatte, hieß es schweigen. Damals erfuhr ich auch, warum man sagt, »jemandem einen Floh ins Ohr setzen«. Mitten in einer Nacht erwachten wir durch das Gebrüll einer Stubengefährtin, der dies passiert war. Sie sprang fast so wild wie der Floh in ihrem Ohr, schlug mit dem Kopf um sich und heulte wie wahnsinnig vor Furcht, daß ihr das liebe Tier durchs Trommelfell ins Gehirn gleiten könnte. Wir versuchten allerhand, was Floh und Flohbehälter nur wilder machten. Wir zerflossen vor Mitleid und Lachen, bis endlich jemand der Gedanke kam, ein zur Schlinge gedrehtes Haar in den Gehörgang zu schieben. Der Floh ergriff den Rettungsanker und fuhr auf dem Haar ins Freie …

Ich weiß nicht, wie es kam, aber plötzlich wurde ich zur Traumdeuterin. Kaum schlug jemand die Augen auf, so hieß es:

»Letztes Bett, mir träumte von einem Turm, oder einer Gans, oder …«, und sofort entrollte ich die Ereignisse der Zukunft. Aus diesem Grunde durfte ich am längsten im Bett liegen. Mein kurzes Haar war überdies am schnellsten gemacht und mein Bett so geschickt benützt, daß ein paar Rucke an der Wolldecke dem ganzen den Anstrich von Ordnung und Aufgebettetsein verliehen. Etwas von Grund auf ordentlich zu machen, ist eine jener Tugenden, die ich erst viel später, sozusagen als »Columbus« erwarb. Das Leben erzieht, und Weltumseglungen erziehen doppelt.

Der Eßtisch stand in der Küche, ungedeckt, mit dicken Tasten besät. Eine Mischung, die unter dem Namen Kaffee ging, und ein Eckchen Brot wartete auf jede von uns, und sobald wir gegessen hatten, mußten wir uns die Schale selbst waschen. Wer dies versäumte, wurde von einem kleinen Waisenmädchen zu dieser Pflicht von oben herabgerufen.

Tagsüber saß ich im allgemeinen Arbeitssaal, wo abwechselnd gestickt, genäht, geplaudert und gebetet wurde, und schrieb. In gewisser Hinsicht nahm ich eine Sonderstellung ein und durfte ausgehen. Um sieben Uhr abends mußten alle Küchlein aus der sündigen Welt fort und im Klosterfrieden sein, denn Klosterfrieden war's, ob wir unten in der Halle arbeiteten, während die kalte Wintersonne Palmen und Orangenbäume streifte, oder die Glocken der nahen Annunziata gleichsam ins Schlafzimmer läuteten.

Während ich krampfhaft nach Schiffen Ausschau hielt, von einer Navigazione zur anderen irrte und mir mit gemischten Gefühlen die herumstreifenden Matrosen näher ansah, lernte ich allmählich ganz Genua kennen, ärgerte mich über die Hausnummern, von denen jeder Bau drei oder vier hat, unter denen man natürlich nie die richtige errät; durchwanderte die verschiedenen Gäßchen – die berüchtigten Vicos – deren Namen immer etwas andeuten, was sie nur sarkastisch genommen sind. So gibt es das Gäßchen der Hoffnung, eine kleine, dunkle, winkelige Quergasse, in die hinab die nasse Wäsche an alten Seilen hängt, wohl so benannt, weil er, der dieses Winkelwerk besucht, am besten tut, jede Hoffnung vor dem Eintritt zu verankern; das Gäßchen des Erbarmens, weil man dessen bedarf, wenn man sich hineinwagt; das Gäßchen des weißen Kreuzes, das schmutziger als alle anderen ist; das Jesugäßchen, aus dem einen, ohne Dolch und Revolver in der Hand, sicher nur der liebe Herrgott erretten kann; das Gäßchen der Schutzengel, das wie die Einfahrt zur Hölle wirkt; das Gäßchen der Märtyrer; das Gäßchen der Ungewißheit, weil es fraglich bleibt, ob man je am anderen Ende wieder auftauchen wird, und so weiter. In allen diesen Vicos kann man Ueberraschungen großer Art – einen Stich im Rücken – oder kleinerer Art, ein faules Ei auf den Kopf, einen Eimer schmutzigen Wassers, Unrat oder ähnliches erhalten. Wie Leute in solchen Rattennestern wohnen können, ist mir immer ein Rätsel geblieben.

Es ist nicht meine Absicht, den Friedhof zu beschreiben, der tausendmal überbeschrieben wurde; er liegt an dem Abhang eines Berges, den die Säulengänge gleichsam emporstreben. Ein feiner Regen und das Gelbbraun der Berge, das nasse Grün der Zypressen machten den Anblick nicht tröstender. Die Grabdenkmäler sind großartig, rührten mich indessen nicht im mindesten. Wo das Ewige beginnt, soll Persönliches hinweg. Eine trauernde Witwe steht da in Marmor und klopft verzweifelt an die Grabtüre, den Schleier verhüllend über alle Reize geworfen, das Gebetbuch in den Händen, und dann erfährt man, daß der zweite Gemahl schon einige der Denkmalskosten großmütig mitbezahlt hat; da steht der Herr Bürgermeister mit Riesenbauch und Uhrkette, ein Schmunzeln auf den Lippen und scheint noch im Tode zu sagen: »Herr Petrus, Hut ab, denn ich bin der Bürgermeister von Genua!«

Unten im Tal, wie die entfliehende Zeit, rollt die Terrenta.

So oft ich unten am Meer saß und in die Brandung starrte, wurde mir das Herz schwer. Durch den aufzischenden Sprühregen der mächtigen Brandung sah ich alles wie durch Tränen und undurchdringlicher denn je war die Zukunft. Lief ich am Ende einem Irrlicht nach, wie jemand es auf freiem Meer zu Zeiten tut? Oder war ich berufen?

Wie die Brandung an den Klippen, zerschellten die Hindernisse an meinem noch ungebrochenen Willen.

Die Zeit war schwer. Alle Linien hatten sich als unmöglich erwiesen: da reichte mein Geld nicht aus, dort verlangte man besondere Papiere. Argentinien wollte niemand aus slawischen Ländern einlassen, weil alle als Bolschewisten angesehen wurden; die meisten englischen Kolonien waren noch geschlossen. So blieb mir ein einziges Schiff, das an der Westküste Amerikas bis nach Chile fuhr. Ich hatte so viel von den Altertümern der Inkas gelesen, daß ich unterwegs aussteigen und sie näher bewundern wollte. Auch ersparte ich beim Aussteigen (was ahnen wir Europäer von derartigen Entfernungen?) einige hundert Lire. Ich kaufte die Fahrkarte nach Mollendo, dem letzten Hafen von Peru. Niemand sagte »Nein«, nicht einmal der Konsul. Meine späteren Erfahrungen lehrten mich, daß die besten Länder immer die waren, die das Visum schwer gaben.

Das Geld vertröpfelte seit vielen Wochen. Dabei war ich so hungrig, daß mir vor Begehren Tränen in den Augen standen, so oft ich unter den Porticos die ausgestellten Kuchen, das gute Wurstzeug, die fertigen Gerichte sah und, schlimmer, sie gar roch. Im Kloster aß man täglich Maccaroni in Wasser, und so groß der Teller wirkte, so fettlos war diese Ministra, denn zwei Stunden später fühlte ich menschenfresserische Anwandlungen. Eines Tages ging ich in solch einem Zustand die Treppe hinab, und, o Wunder! eine Buttersemmel saß wie für mich mitten auf der Treppe. Ich dankte allen Heiligen für den Fund und verschlang sie heißhungrig.

Plötzlich steigerte sich das Leben, das bis dahin nur unangenehm gewesen, zu jäher Tragik. Eines Abends schlief im Bett neben mir ein junges Dingelchen – ein liebes, rundgesichtiges, vom Leben noch unmodelliertes Menschenkind – und hustete ein wenig; am folgenden Abend gingen wir beide, von Schwester L. geschickt, vor dem Rosenkranz zu Bett (eine sehr bedeutende Gnade!) und als es wieder Morgen wurde und die Glocken der Nunziata über die blühenden Orangenbäume hinweg in das Klosterzimmer riefen, trug man meine Bettnachbarin ins Hospital, wo sie nach wenigen Stunden starb. Ich fieberte am folgenden Abend, und die Nachtschwester brachte selbst Tee und mehr Decken. Ich glaubte schon, den berühmtesten Kirchhof der Welt bevölkern zu dürfen, als das Fieber wich und ich die Fahrkarte abholte. Der Faschingsdienstag verlief ungewöhnlich still, doch waren wir einmal wirklich satt, dann kam der Aschermittwoch, und dann hieß es in der Tat:

»Morgen fährt der Bologna!«

Ich schnürte fieberhaft mein Bündel und verbrachte den letzten Abend aus dem Ponte Monumentale, von wo aus man die herrliche Via XX. Settembre übersah, in der eine endlose Reihe heller Lampen aufflammte, von wo aus man in die Gärten alter Paläste, in die Tiefen von dämmerigen Höfen, in das schlichte Heim vieler kleiner Beamter durch vorhanglose Fenster zu spähen vermochte, – und dahinter, wie ein tiefblauer, unbegrenzter Schatten, spannte sich das Meer, das da lockte und versprach. Die Wolken, in Rot getaucht, schossen als vielförmige Ungeheuer an mir vorbei und die Apenninen waren wie blutüberrieselt. Unten brauste das Leben, wie ich es kannte. Das war Europa. In drei Jahren wollte ich heimkehren, weisheit- und ruhmbeladen …

Die Sonne sank und ich eilte heimwärts durch die Via Balbi, in der zwei Wagen kaum aneinander vorbei konnten, und immer noch träumte ich. Ich träumte noch weiter in der alten Kirche, die unser Arbeitszimmer war, denn alle sahen in mir schon etwas von dem, was werden sollte. Goldene Träume, die Wolken glichen, und wie sie zerrannen.

 

Vor der Ausfahrt.

Die Oberin des Klosters begleitete mich zur Abfahrtshalle.

Um drei Uhr standen wir Zwischendeckopfer schon hinter der Schranke. Jenseits derselben standen der Zollbeamte, der Arzt, der Polizeiinspektor, der Agent der Gesellschaft und andere Machthabende, an denen das Opfer der Reihe nach vorbei sollte. Es war dicht nach dem Zusammenbruch, und wer da in die Welt hinausfuhr, mußte es tun, daher gehörten die Menschen, die hier ängstlich ihre Habseligkeiten bewachten, fast durchweg einer besseren Klasse an, als man sie sonst in der Dritten findet. Einige Reichsdeutsche hasteten an mir vorüber. Ein dunkelfarbiger Mann schleppte einen Holzkoffer wie eine Arche Noah.

Nach einer Weile segnete mich die Oberin und verließ mich. Langsam, meine Erika bewachend, schob ich mich näher, und um fünf Uhr ging auch ich vom Zollbeamten zum Arzt und von ihm zum Polizeiinspektor, zum Agenten, zu wer weiß noch wem. Endlich packte ein Matrose mein Gepäck, und ich betrat den »Bologna«.

Es war ein Riesenschiff der Navigazione Transatlantica Italiana und weil ich einmal, irgendwo, Ansichten einer dritten Klasse gesehen hatte, bildete ich mir ein, alles zu wissen, – ich, die ich nur die erste Klasse und die nicht zu genau kannte! Als ich daher fünf Minuten später in einem unterirdischen Raum stand, in dem drei Betten übereinanderlagen, und überdies Bett an Bett grenzte, fielen meine Kinnbacken bis auf die Brust. Das war gut, denn sonst wären sie vielleicht bis zu den Zehen gefallen, als ich erblickte, daß die Betten nichts als eine Matratze, eine dunkelgraue Wolldecke und den Schwimmgürtel als Kopfkissen hatten.

Auf den obersten Betten lagen Araberinnen in ihren weiten Röcken, schwere Ringe an Fingern und in den Ohren, Halsketten aus Gold und dabei zerlumpte Schuhe, mit denen sie oben im Takt zu den Zungen trommelten. So zu schnattern wie diese Leute verstehen höchstens noch die Gänse.

Seufzend schob ich meinen Koffer unter das mir angewiesene Bett und legte meine Erika zu mir unter die Wolldecke; hierauf stieg ich die Treppe mit einem eigenen Gefühl in Nase, Mund und Herzen wieder empor.

Die Glücklichen von der Ersten und Zweiten starrten auf uns Zwischendecker mit dem Uebermut der Besitzenden – oder wenigstens schien es mir so. Ich drückte mich mit einem unangenehmen Schamgefühl hinter die hohen Pfeiler und die bauchigen Rauchfänge, bis mich meine Tischgesellschaft einfing.

Dabei lernte ich weitere Bolognafreuden kennen. Sechs und sechs Reisende wurden wie Schlachtkälber zusammengebunden und erhielten zusammen einen Sack, der selbst damals nicht weiß war. Darin verborgen ruhten zwei Blechschüsseln, sechs Blechlöffel und Gabeln und sechs Teller. Eine Schöpfkelle und sechs Blechgläser vollendeten die Ausstattung; Messer wurden uns nicht anvertraut, und nicht einmal Tische oder Sitze gab es. Einige meiner Gefährten fanden Kisten oder Fässer, ich aber schwang mich auf den äußersten Decktaupfeiler und saß von da ab lesend, schreibend, essend auf diesem lehnenlosen Sitz, meinen Teller wie ein Taschenkünstler je nach der Schiffsbewegung schwingend und immer mit dem ungebrochenen, doch allerdings etwas verrosteten Columbusgefühl.

Der Häuptling jeder Gruppe mußte in die Schiffsküche gehen und die Speisen holen; er mußte auch das heiße Wasser zum Abwaschen verschaffen, und jeder Teilnehmer wusch einmal ab. Ob ich so chronisch unfähig aussah, oder die anderen Mitleid hatten, erfuhr ich nie. Gott segne sie jedenfalls, denn nie verlangte man etwas von mir. Ich aß, und die anderen besorgten den Rest.

Gegen neun Uhr waren alle Leute an Bord gekommen, der »Bologna« zuckte in seinen Gliedern, der erste dichte Rauch stieg auf; langsam wurden die Taue losgelassen. Ich stand an der Reeling und blickte auf Genua zurück. Die Lichter ergossen sich wie ein Sternschnuppenfall über die Abhänge der Apenninen und von Zeit zu Zeit fiel ein einzelner Regentropfen auf meine Wange nieder. Das Meer seufzte, das Schiff blies den Abschiedsgruß, eine Frau schluchzte. Widerwillig, aber unaufhaltsam glitt der Amerikadampfer weiter und weiter in das offene Meer hinaus.

Ich stand abseits von den übrigen und starrte auf die verschwindenden Lichter. Ob ich richtig gewählt hatte oder nicht – nun gab es kein Zurück! Was immer vor mir lag, mußte überwunden werden. Lieber auf dem Schilde als ohne ihn!

Dann überkam mich Rührung, und ich flüsterte die Abschiedsworte des Weisen Li Tai Pe, die ich in der Biblioteca civica gelernt hatte:

» Levai la faccia al chiaro astro lucente
E a quel lume di luna volsi in mente,
Popoli e terre che veder dovró.
Indi al sulo chinati i stanchi rai,
Al mio paese tacito pensai
Ed agli amici cho piu non rivedró.
«

Der Regen nahm zu; der Mond, so viel von ihm überhaupt sichtbar gewesen, verschwand gänzlich. Ein Windstoß trieb den »Bologna«, ließ ihn jäh fallen … Das genügte. In wenigen Sekunden war das Deck rein.

Der Geruch von unten war widrig, doch was half das einem künftigen Columbus zur Abschreckung? Meinen Mut auf- und meine Nase zuschraubend, stieg ich in die Tiefen, von denen man ebenfalls hätte schreiben können:

» Lasciate ogni speranza voi ch'entrate«

 

Auf hoher See.

Meine fünfunddreißig Mitopfer stöhnten nach Noten. Das hätte ich ihnen noch vergeben, denn das Schiff rollte, und ich mußte mir allerlei Reden halten, um nicht mitzustöhnen; daß sie aber die abendlichen Maccaroni alle an meinem Gesicht vorbei auf den Boden anrichteten (denn Brechschüsseln fehlten), schien mir eine strafwerte Taktlosigkeit. Wenn man etwas im Magen hat, so behält man es drinnen. Niemand, nicht einmal eine Schiffsgesellschaft, fordert Rückgabe.

Meine unrosige Laune wurde indessen noch unrosiger durch den Umstand, daß ein nasses, unfertiges Menschenkind halb auf meinem Bett lag. Es kam nämlich auf zwei Erwachsene je ein Kind und von dem Kinde natürlich zur Hälfte Nässe und Gestank. Ich umwickelte meine Erika und rollte in den grauen Nachtstunden das Kind immer mit dem nassen Teil der Mutter zu. Das hätte ich billiger ohne Columbusehrgeiz haben können. Billiger und, wie ich mir einbildete, besser.

Der gelbe Niagara von oben, der mit seinen Nebenfällen auf dem Boden bald zum See wurde, die feuchte Duftwelle hinter mir, das Liegen auf leintuchgroßem Bett und das Gekratztwerden von einer rauhen, grauen Wolldecke wurde bald durch zwei neue Plagen ergänzt: die halbtoten Araberinnen jammerten laut, und ihre Wanzen – zu unseren im Verhältnis eines Mammuts zum Elefanten – kletterten an den Bettstangen nieder und versuchten mein Blut. Ich brauche daher nicht erst zu betonen, daß ich etwas ernüchtert aufstand.

Es ist nie meine Art gewesen, nutzlos zu klagen. Wer klagt, macht sich verhaßt, aber ich sagte nach dem Frühstück, nachdem ich den Schiffskaffee gekostet und »einmal und nie wieder« geschworen hatte, zum Capitano d'arme, der wie ein Blaubart aussah, doch ein goldenes Herz hatte:

»Geben Sie mich lieber in ein oberes Bett, Capitano! Ich behalte, was ich gegessen, selbst diesen Kaffee, obschon mir in der Hinsicht nichts am Behalten liegt. Es wird den Niagarastrom aus der Höhe vermindern.«

Da legte er mich obenauf in die Nachbarkabine. Da lag ich zwischen einem weiblichen Walroß und einer Hochzeitsreisenden, beide sehr nett in ihrer Art. Das Walroß fuhr nach Chile, die junge Braut nach den entlegenen Galapagosinseln, unweit von Ecuador.

Der Waschraum war offen, man konnte sich nie entkleiden; die Männer gingen daran vorüber, die Frauen wuschen ihre Kinderwäsche in den Blechbehältern, die Matrosen starrten im Vorbeigehen hinein. Das Grausigste war ein gewisser Ort. Er hatte eine Vorwand, doch keine Tür, schwamm chronisch über, roch nach allem, nur nach Erträglichem nicht, und Kinder wie Erwachsene belustigten sich damit, heitere Bordvorkommnisse an der Wand in brauner Plastik darzustellen. Wer eintreten wollte, ließ im günstigsten Falle ein warnendes Grunzen hören. Unweit von dieser Klause nahmen wir unsere Mahlzeiten ein.

Ich fand das Reisen nach fremden Weltteilen anders als erwartet.

Ich saß auf dem Taupfeiler. An mir vorüber glitt die wunderschöne Küste Frankreichs mit ihren stillen, lieblichen Buchten und den steilabfallenden Klippen. Ueberall auf der Welt fährt man entweder an flachen Ufern oder an Klippen vorüber, und dennoch sind nicht zwei Klippen sich völlig gleich. Diese Klippen waren weiß wie Bilder aus dem Märchenland, halb vom Sonnenlicht vergoldet, halb in einen weichen silbernen Nebel gehüllt, der den Zauber erhöhte, weil man dahinter mehr wähnte, als tatsächlich vorhanden war. Manchmal schwamm eine Insel wie ein Schwan auf dem blauen Wasser, manchmal ragte ein Klippengefüge wie ein Wunderschloß in die See hinein und immer umwob diese Gebilde etwas entzückend märchenartig Fernes.

 

Marseille.

Vor uns lag das Schloß If. Ich mußte an den Grafen von Monte Christo denken und träumte mich in die unterirdischen Gänge hinein. Abweisend, stolz, von einer vornehmen Weiche, die man nicht vermuten würde, liegt das Schloß auf der schroffen Insel dicht vor der Einfahrt, und dahinter, leicht umdunstet, breitet sich die Stadt aus – völlig anders als Genua, farbloser, ohne südlichen Zauber bis auf die Neger und die Spahis, die den Hafen bevölkern. Auf dem Hügel liegt Notre Dame de la Garde und unten dehnt sich die Joliette. Man wähnt sich in Afrika, so bunt ist das Getriebe. Etwas seelisch Ungesundes durchzieht die Stadt; nüchtern stehen kahle Bäume zwischen grauen Bauten.

Das war für mich als deutsche Schriftstellerin ein streng verbotenes Gebiet, aber was man nicht weiß, macht bekanntlich nicht heiß und mein SHS-Paß verlieh mir eine unschuldige Farbe. Es wurde mitgeteilt, daß jeder, der da wollte, ans Land durfte. Im nächsten Augenblick schon waren meine unwürdigen Füße auf meines politischen Feindes nicht einwandfreiem Pflaster, ich streifte Araber im Burnus, Neger, Ueberseesoldaten, Japaner, Chinesen und gar viele Franzosen, die noch siegestrunken einherschritten. Die Frauen auf dem Markt und in den Geschäften waren nett. Sie klagten genau wie die Besiegten um gefallene Söhne und gefallenes Geld.

Vor den Kaffeehäusern war das Treiben am lebhaftesten. Da saßen unter etwas frostgebissenen Oleandern die verschiedenen Zecher der verschiedensten Farben und Länder, tranken Absinth oder schwarzen Kaffee, erzählten sich die wichtigsten Nichtigkeiten des Alltags, die alle Menschen, wie Wasser einen Schwamm, erfüllen und hatten im Herzen, hinter dem Seelenvorhang, das Leid hochgestapelt, doch nur in älteren Frauengesichtern merkte man den Abglanz davon.

Am Abend saß ich auf dem »Bologna«, spähte hinaus auf den Golf von Lyon und verspeiste das einfache Nachtmahl – Reissuppe mit Kartoffelsauce und Fleischstückchen – auf dem Taupfeiler sitzend. Man gab uns dieses Henkersmahl zwei Stunden früher, denn sobald wir ausfuhren, würden die Frauen nicht mehr lachen, sondern Niagara spielen; ich aber würde steif auf dem Rücken liegen wie ein toter Fisch und an meine künftigen Lorbeerreiser denken. Warum sich fürchten? Alles hat ein Ende und nur die Wurst zwei.

Neben mir auf dem ungewaschenen Deck kauerte die arme italienische Auswanderin, die immer seekrank war, ob wir standen oder fuhren, und die drei Kinder, eins neben sich, eins an der eingetrockneten Brust und eins unterwegs hatte …

 

Barcelona.

Wenn man sich der Küste nähert, sieht man den Hügel Montjuich zur Rechten, in dessen Festung der unglückliche Ferrier erschossen wurde. Auch Barcelona liegt wie Marseille und Genua zu Füßen ansteigender Hügel oder Berge, dennoch sind die Städte grundverschieden voneinander: Genua ist prunkvoll, südlich, warm; Marseille ein bewegter Hafen, kühl, dunstvoll, farblos, ohne Palmenschmuck; Barcelona ist ernster als Genua, fremdartiger, von herber Südlichkeit. Um aufrichtig zu sein, bei allem Verkehr etwas verschlafen.

Die Amerikadampfer landen vor dem sogenannten Seebahnhof, der von Soldaten bewacht wird und den niemand ohne Paß verlassen darf. Als ich mich dem Ausgang näherte, klappten mehrere Wesen männlichen Geschlechts stramm vor mir zusammen, indem sie einen seltsamen Laut ausstießen, daß ich ganz bestürzt zurückfuhr. Da winkte einer wie ein Großherzog bei einem Hoffest, und hieß mich, indem er mir in Worten Hände und Füße küßte, mutig durchgehen. Da man bei uns in Oesterreich höchstens die Hände küßt, war ich vom Fußkuß besonders ergriffen …

Durch eine lange Palmenallee gelangte man zum prachtvollen Zollamt und zur Christoph-Columbus-Statue – einer hohen Säule, an deren äußerster Spitze der Entdecker mit ausgestreckter Hand nach Westen zeigt, und aus deren Sockel man schöne Reliefbilder aus dem Leben jener Zeit sehen konnte. Rund um das Denkmal kauern Löwen mit so hochmütigen Gesichtern, als hätten sie selbst Amerika entdeckt.

Im Gegensatz zu den Gäßchen Genuas fand ich die Straßen Barcelonas ausfallend weit, zu beiden Seiten mit baumbegrenzten Fußsteigen, am schönsten gegen das Stadtviertel Garcia zu. In der engeren Altstadt verschönten blumenverzierte Balkons die Häuser und hier sah ich zum erstenmal die hohen Buden, in denen ein Mann wie auf einem Thronsessel saß, ein Gesicht machte, wie Ferdinand, als er Columbus empfing, und sich – die Stiefel putzen ließ! Der Diener kauerte demütig zu Füßen, und das nächste Opfer wartete geduldig auf dem Nachbarthronsessel.

Als ob ich ins Mittelalter gefallen, schienen mir die winzigen Buden, in denen der Briefschreiber seines Amtes waltete und eben einem andalusischen Bauern einen Brief zusammenstellte. Daraus schloß ich, daß es in Spanien noch viele des Schreibens unkundige Leute geben mußte.

In der Domkirche ruhen die Gebeine der heiligen Eulalia, doch da ich keine Mantilla hatte und ein Kirchenbesuch ohne solch ein schwarzes Umhangtuch verboten ist, konnte ich der Heiligen nicht einmal meine Aufwartung machen.

In den Auslagen der Geschäfte fielen mir besonders die bunten Castañetas oder Handtrommeln auf, die sämtlich Bilder aus Stiergefechten trugen, und als nachmittags ein solches Gefecht stattfand, beobachtete ich die schönen Spanierinnen, die mit der vorgeschriebenen Haltung, das bunte Tuch umgeworfen, Blumen in der Hand und am Busen (dort keine leere Bezeichnung!) den Fächer kampfbereit (man kann damit alles ausdrücken, was das Herz bewegt) und die Augen zur Liebe eingestellt der Arena zuschritten. Selbst dem Schauspiel beiwohnen wollte ich nicht.

Zuletzt fragte ich einen Dienstmann nach einem Briefkasten; denn ich bemerkte nirgends diese nützliche Vorrichtung. Da zeigte er mir die Elektrische und hinten ein Kästchen. Ich stürzte darauf los und sah den Brief verschwinden, gerade als der Wagen den Abschiedsruck machte.

Andere Länder, andere Sitten.

Auf des Apostels Rappen erreichte ich den Hafen. Erspart ist so viel, wie verdient.

 

Gibraltar.

Das Schiff und der Magen hoben und senkten sich fortwährend. Ein durchdringender Regen fegte über das Schiff hin. Tagsüber darf man nicht unten in der Kabine sein. Ich drückte mich in eine offengelassene Nische. Mein Husten wurde zum Bellen. Ein Haifisch hielt Ausschau, aber nicht nach mir. Mir fehlen die ersehnten Rundungen. Eine Schildkröte schwamm mit dem Bauch nach oben – ein hilfloser Zustand; die Wellen des Schiffs warfen sie zurück in die richtige Lage. Hinter uns her kamen kreischend die Möwen. In der Ferne schimmerte die Sierra Nevada, hinter der angeblich die Wiege des spanischen Volkes zu suchen ist, – das schöne, fruchtbare Andalusien.

Am Abend ächzt das Tauwerk. Wie Rauch aus Wotans Pfeife ziehen Schatten über den Mond und lassen sein Licht nur durch schwarzgraue Schleier auf das nächtliche Meer fallen. Schiffe nähern sich, läuten warnend die Glocke, pfeifen. Wir antworten, und jedes verschwindet in entgegengesetzter Richtung. So gleiten Menschenseelen aneinander vorüber.

Noch vor Sonnenaufgang fuhren wir auf Gibraltar zu, und als das Licht des bewölkten Tages endlich auf die beruhigten Fluten fiel, lag der steile Fels, der jäh ins Meer abfällt und als Riesenopferstein dienen könnte, der aber als Löwe gilt, dicht vor uns. Wie verschreckt lagen die kleinen, blendend weißen Häuser zu Füßen des schwarzgrauen Wächters, und meilenweit über das Meer verstreut trieben Fischerboote, Barken aller Art, fremde Handels- und Kriegsschiffe. In weiter Ferne, unendlich grün, unendlich sonnegebadet und still, zeigte sich schon die afrikanische Küste. Die Bauten waren auffallend langgestreckt, blendend weiß, niedrig; die Fenster glichen schmalen, schwarzen Einschnitten, die Dächer schimmerten rötlich und beinahe flach. Etwas Stilles, Trauriges hielt die Landschaft in ihrem Bann.

Ans Land darf man nicht. Gibraltar war selbst in Friedenszeiten geheiligter Boden, den nur politisch Auserwählte betreten durften, doch entschädigten mich die Händler für diesen bitteren Freiheitsverlust. Sie brachten Datteln frisch von den Palmen, Nüsse, Zitronen, Apfelsinen und Feigen. Zuerst flog immer eine Schnur auf Deck, an der ein Bastkörbchen hochgezogen wurde; hierauf wurde das Geld hinabgeleiert, und endlich zog man den Einkauf nach oben.

Neben uns ankerte ein Kohlenschiff. Eine Dampfbarkasse schleppte zwei Leichter im Tau, und sofort sprangen hundert schwarze Arbeiter wie Affen aufs Schiff und balgten sich um die Schaufeln, füllten Körbe, leerten sie in die Leichter, schrien, tobten, überkugelten sich, arbeiteten wie die Wilden, aber machten den Kohlenhaufen schwinden, als ob ein Riese ihn angebissen hätte. Die Möwen umkreisten unser Schiff, warfen sich kreischend auf die Fluten und schlugen mit den schwarzen Flügeln. Dunkle Wolken löschten alles Licht aus.

Leb' wohl, Europa!

 

An der Küste Afrikas.

Es dämmerte schon.

Feine Nebel verhinderten bald jeden Ausblick. Das Schiff rollte grauenhaft. Man sah die Rauchfänge eines nahen Schiffes verschwinden und hochschießen. Frauen schrien, Kinder heulten, von den Tischen sausten die Schüsseln und von den Tellern der Essenden die Speisen. Glücklicherweise gab es Stockfisch an jenem Abend, und den warfen wir sowieso immer ins Meer hinab. Warum den armen Fisch nach oben bringen? Im gekochten Zustand macht ihm der Aufenthalt in seinem Reich doch keinen Spaß mehr! Und wer mag Stockfisch? Niemand, den ich in meinem Leben kennen gelernt habe.

Als uns die Küste Europas zum letzten Mal mit ihrem Leuchtturm zugeblinzelt hatte, empfing uns Neptun mit Donner und Blitz und wusch das Deck vom Staube der alten Welt rein, doch am folgenden Morgen schimmerte das Meer tiefblau und Delphine umspielten das Schiff. Sie treiben immer in Schulen und schlagen ganz komische Purzelbäume. Die Matrosen behaupten, daß sie einen Ertrinkenden dem Lande zustoßen, wenn es nicht allzu weit weg liegt.

Allmählich waren mir meine Mitreisenden vertrauter geworden. Ein netter Gipsarbeiter, der seine Figürchen früher nach Deutschland getragen hatte, wanderte mit seinem zwölfjährigen Jungen nach Venezuela aus. Der neapolitanische Haarschneider mit seiner Lockenmähne wollte nun Indianerköpfe enthaaren, und ein berühmter Zuckerbäcker ging nach Riobamba in Ecuador, wo man schon nach seinen Zuckerkipfeln lechzte. Er kannte das Land von Arica bis Caracas, und seine Weisheit riß ich auf alle mögliche Weise ans Tageslicht. Bedeutend vornehmer, sehr stolz auf sein Wissen, war der kleine Advokat, der nach Bolivien zu seinem Bruder reiste und der seinen Kren zu jeder Weisheitswurst der übrigen gab. Die junge Hochzeitsreisende drehte sich jeden Abend die Locken, es mochte Seegang sein oder nicht, und ihr Mann brachte ihr, wie alle anderen gehorsamen Gatten, früh am Morgen Kaffee und Brötchen. Wenn ich am kranken Walroß nicht leicht vorbeikletterte, weil es dem Meergott ein Opfer brachte, schleppte der Gatte einer anderen meine Brötchen herbei. Nun hatte ich doch zu essen ohne weitere Verpflichtungen. Die Gattinnen mußten für diese kleinen Liebesdienste später schmutzige Hemden und Hosen waschen.

Das Leben gibt uns fortwährend Bilder mit Sprüchen, aus denen wir, wenn wir nicht so auraversponnen wären, gar tiefe, uns helfende Weisheit schöpfen könnten; doch wir verstehen nur zu schauen, selten zu lesen. In meiner ersten Kabine, bei den Araberinnen, lag auch die Frau eines echten Peruaners. Anstatt nach den Bäumen des Landes, den Altertümern der Inkas und den Sitten der hohen Anden zu forschen, hätte ich gut daran getan, mir dieses peruanische Exemplar im Licht der Warnung und nicht der Belustigung anzuschauen, dann wäre ich wohl an den Altertümern der Inkas vorbeigefahren. So aber bewunderte ich europäisches Erzgänslein die rotbraune Hautfarbe, die schwermütigen Augen im länglichen Gesicht, die seltsamen Redewendungen und nannte ihn den interessantesten Fahrgast.

Seine Gattin von Gottes Gnaden sprach drei Sprachen – deutsch, kroatisch und italienisch und alle drei gleich schlecht. Sie klammerte sich als Landsmännin an mich, und so erfuhr ich, daß sie in einer Seemannskneipe die braune Herrlichkeit entdeckt und ihm ihr jungfräuliches Herz, das schon stark im Schuß war, geschenkt hatte. Alles was sie besessen – es war nicht viel – hatte sie ihm gegeben, und er hatte sie dafür zum Altar und von da weg aufs Schiff geführt. Man hatte ihm nämlich nahegelegt, in seine ferne Heimat zurückzukehren, und die junge Braut (aber alte Frau) befriedigte nun ihre Reisesehnsucht und wanderte mit aus. Sie hatten keine Koffer (große Erleichterung) und nur zwei Kleider: Eins am Leibe und eins noch in Packpapier.

Jede Nacht stieg er – obschon es nach zehn Uhr verboten war – in die Kabine hinab und verprügelte sie im Bett, bis sie gelb und blau war und fürchterlich schrie. Eines Tages fragte ich sie nach dem Grunde dieser ehelichen Massage, und da erklärte sie, daß ihm der Schiffskäse, den er für leichte Hilfeleistungen erhalten habe, schade. Warum? Weil er das Blut zu sehr erhitze. Er prügelte sie, weil sie nicht auf's Deck wollte, um seine Liebeslust zu befriedigen. Nachdem derartige Sachen, selbst wenn das Deck leer gewesen wäre, streng untersagt und die Geschlechter wie mit einem feurigen Schwert getrennt waren, durfte er ihr die keusche Zurückhaltung nicht übelnehmen. Bei ihrem Aussehen und Alter schien uns das Vorgehen des Rotbraunen an tiefsten Wahnsinn grenzend. Ich lachte, anstatt mir zu sagen: »Das sind die Nachkommen der Kinder der Sonne! Mach' einen weiten Bogen um sie!«

Einige Reichsdeutsche befanden sich ebenfalls an Bord. Nun denke ich allzeit, daß nicht nur ich als verrückter Columbus ins Blaue gefahren, sondern weisere und bessere Leute als ich. Da wanderte ein Hamburger Kaufmann aus, der erst unterwegs Spanisch lernte, der nicht ein Wort über Tropenhygiene wußte und der den Koffer, in dem er und seine Frau die Wäsche verpackt hatten, ins Schiffsinnerste gesteckt hatte, so daß sie drei Wochen lang weder Kleid noch Wäsche wechseln konnten. Höchst unpraktische, sonst aber reizende Menschen. Die arme Frau war immer seekrank, und ich rief ihr – da sie nur deutsch verstand – aus meiner Betthöhe Trost zu. Ihr Gatte war meist grüner als sie, nur Martin, der Junge, tollte unbekümmert.

Außer ihnen wanderte ein junger Hamburger nach Valparaiso und ein dänischer Botaniker nach Columbien aus. Er war mit dem Tropenleben schon vertraut und wurde allmählich mein Berater. Wir bildeten in einer Ecke die deutsche Gruppe. Ich war die einzige Reisende, die alle Gruppen besuchte, weil ich die Sprachen verstand, und erst später wußte ich so ganz, wie sehr mich alle Leute verwöhnt und verhätschelt hatten. Vom neapolitanischen Haarschneider, der mit seinen Locken das Deck fegte und dessen Vetter Koch in der Ersten war, erhielt ich Leckerbissen, von anderen Nüsse, vom Infermiere Obst, vom Bäcker Brötchen, von meinen Tischgenossen Bedienung und von allen Liebe, deshalb ist mir der »Bologna« bei allem Grauen in so schöner Erinnerung geblieben. So reizend wie auf diesem italienischen Schiff war man nirgends mehr gegen mich …

Damals saß ich auf dem Taupfeiler, die Welt zu Füßen, den Mut ungestutzt, den Willen ungebrochen, zukunftsblind.

 

Santa Cruz de Teneriffa.

Langgezogene Bergketten aus rotbraunem Gestein, gar seltsam zerklüftet, vom moosgrünen Unterholz und vom Hellgrün der riesigen Euphorbien unterbrochen, die mit ihren Blattbüscheln die Abhänge in festen Gruppen bedecken. In der Bucht, eingebettet zwischen Hügeln, liegt die kleine Stadt Santa Cruz, halb im spanischen, halb im maurischen Stil erbaut und irgendwie schon von der Hitze und der Schwermut Afrikas angehaucht. Der gute »Bologna« blieb weit draußen liegen und eine Dampfbarkasse holte uns an Land.

Ich durchstreifte allein die gewundenen Gassen. Man beobachtet besser, wenn man unabhängig vorgeht. Die meisten Reisenden besuchen nur Gasthäuser und Markthallen. Während ich dahinpendelte, ärgerte ich mich über die gelbbraunen Teneriffer, die auf ihren Eseln ritten, unbekümmert um die Frau, die einige Schritte hinterdrein die Lasten trug. Immer trugen die Männer lose Schlappschuhe aus braunem Leder, immer hatten die Frauen über ein weites Tuch noch einen Strohhut auf; immer trabten sie gehorsam hinter dem Ehegatten her.

Die Häuser hatten oft vorspringende Erker und Balkone; die schläfrigen Geschäfte standen weit offen, warteten auf Kunden wie Frösche auf Fliegen – mit offenem Maul. Die Gassen gegen die Hügel zu waren stark gewunden, fast torlos, bläulich oder lila gestrichen, bestanden fast nur aus Mauern, über die sich hie und da ein prachtvolles, tiefviolettes Blütengewirr warf. Das war meine erste Erfahrung von der prächtigen Bougainvillia.

Dann – als ich über mehrere Erhebungen geklettert war, stand ich im Vorstadtgebiet und betrachtete zum erstenmal eine Bananenpflanzung. Die Blätter waren voll und dicht, doch vom Winde stark zerzaust, und die Riesenfrucht ließ mich andächtig stehen bleiben. Das war der Vorgeschmack der Tropen.

In den Gärten waren unsere kümmerlichen Zierpflanzen zu starken Sträuchern geworden; der Pfefferstrauch mit seinen gefiederten Blättern und mattbraunroten Beeren nickte über ein Drahtgitter hinweg, und Rosen glühten in den Höfen maurischer Leute, die das Tor nach einem Augenblick neidisch schlossen. Solche Häuser waren nach der Straße zu fensterlos und wirkten geheimnisvoll und abweisend.

Im reißenden Bach tummelten sich die Kinder und schrien laut um Kupfermünzen; splitternackt liefen sie hinter mir drein. Ich schenkte einem ein österreichisches Zweihellerstück. Wenn keinen anderen, so hatte es Sammelwerk.

Jenseits der Stadt wohnen die Leute wie Höhlenbewohner. Die Vorderwand des Hauses ist aus Ziegeln oder Steinen, das Dach und die Hinterwand der Fels selbst. Winzige Fensterchen gestatten einen geringen Ausblick. Gekocht wird meist jenseits der Straße auf einem Holzkohlenherd.

Diese Frauen mit ihrem schmalkrempigen, komisch nach unten gebogenen Strohhut über dem Tuch, die Männer in einem Gewand, das ein pensioniertes Nachthemd zu sein schien, die nackte Menschenbrut unter den breitkronigen Drachenblutbäumen – das alles bezauberte mich derart, daß ich Zeit und Ort vergaß, bis ich den dreimaligen Schrei des »Bologna« vernahm und mich nicht nur fern vom Schiff, sondern selbst fern vom Landungsplatz der rettenden Dampfbarkasse befand. Und von hier an landete die olle Kiste nirgends vor Amerika!

So gelaufen bin ich in meinem ganzen Leben nicht. Blauviolett vor Aufregung sauste ich dem Hafen zu, fiel dem Beamten in die Arme, stöhnte: »Boot – Bologna« und fand nur ein Lächeln.

»Das Schiff fährt erst um sechs!« tröstete er meine pustende, schweißtriefende Wenigkeit, »es hat nur um die weitere Ladung gepfiffen!«

Das lehrte mich, in Zukunft immer darauf zu achten, welche Abfahrtstunde vorn auf der schwarzen Schiffstafel stand. Vor dieser Zeit darf der Dampfer nämlich nicht abfahren.

Indessen hatten wir noch ein Abenteuer in Santa Cruz. Wir hatten in einem der Häfen sehr viel Schwefel geladen, und den Männern des Zwischendecks war das Rauchen streng verboten worden; wie es geschehen, vermochte niemand zu sagen, aber plötzlich stand der eine Leichter, der voll von Schwefelsäcken war und eben landwärts geschickt werden sollte, in Flammen. Auf unserem Deck lag eine Menge noch auszuschiffenden Schwefels. Himmel, wie der alte Kasten jammerpfiff! Der Leichter stieß indessen noch rechtzeitig ab, und der Dampfer war gerettet.

Den ganzen Tag hindurch hatten bei allem Sonnenschein die Wolken eine graue Krone um den berühmten Pik von Teneriffa gebildet und ich fürchtete schon, ihn nie kennen zu lernen – da, als wir eben von der Insel wegdampften, wich die Wolkenlast, und im vollen Mondlicht, in seiner schneeigen Weiße und spitz wie ein Zuckerhut lag der Berg vor uns. Man sieht ihn auf dreißig Seemeilen Entfernung.

In der leuchtenden Nacht ahnte man Las Palmas und andere der Kanarischen Inseln, dann hielten wir genau die Richtung ein, die im Jahre 1492 der arme Kolumbus genommen haben soll, und wie damals war der Wind stets genau hinter uns und trieb uns einer neuen Welt entgegen. Zehn Tage lang würden wir nun fahren, ohne jemals anderes zu sehen als Himmel und Wasser.

Erst hinter Teneriffa begriff ich, daß ich der Heimat auf, weiß Gott wie lange, den Rücken gekehrt hatte.

 

Der Sturm im Atlantik.

Das Meer hatte einen sonderbar violettblauen Ton. Das Schiff rollte unmerklich. Ich saß im geborgten Deckstuhl, weg vom Taupfeiler, und stellte philosophische Betrachtungen über meine Mitmenschen an. Daß ich sie nicht zu Papier brachte, war dem Umstand zuzuschreiben, daß es eben zwei geschlagen hatte. Wohl erfolgte die Fütterung der Zwischendecker schon um zehn Uhr vormittags, aber die vornehmere Zweite hatte sich eben erst satt gegessen, und viele Reisende lagen im Deckstuhl und schliefen, die Augen zu, den Mund offen, leise, bekannte Sägewerksgeräusche ausstoßend. Ihr Anblick bestärkte mich im Entschluß, nie coram publico einzuschlafen. Es ist nicht der Augenblick, in dem unser Geist oder unser Liebreiz (wenn wir solche Sachen besitzen!) am klarsten ans Tageslicht treten.

Mitten in diese Gedanken hinein brach ein tosendes Geräusch; ohne Warnung schlug eine wahre Riesenwelle seitlich über das Deck, und das kalte Salzwasser schlug den Schläfern in den offenen Mund. Sie erwachten gurgelnd, spuckend, sich windend. Während ich mich noch unwürdiger Schadenfreude hingab, ereilte mich die gerechte Strafe. Eine zweite, viel höhere Welle brach über uns herein, ergriff meinen Deckstuhl und trieb mich samt ihm zur Reeling. Eine feste Hand erhaschte mich am Arm, sonst wäre ich im Atlantik verschwunden und dieses Buch nie geschrieben worden. Dem jungen Martin war es fast ebenso ergangen, und zu aller Seekrankheit kam bei Frau O. nun noch die Seelenangst um das Kind. Sie wurde ohnmächtig und man schleppte sie in den Speisesaal der Zweiten, denn ein Kreuzen des Decks war unmöglich geworden. Mich riß mein Retter ebenfalls hinein, und als ich bemerkte, wie alle Frauen sich weinend oder schreiend an die Brust eines Mannes warfen, um da ungestört ohnmächtig werden zu können, überlegte auch ich mir, an wessen Brust ich mich werfen sollte, erinnerte mich indessen an den Umstand, daß sich meine Tasche mit Geld und Paß auch mit an einen Busen werfen würde, wenn ich erst in Ohnmacht lag, und daher hielt ich mich lieber am Treppengeländer fest und rief meine Columbusträume wach.

Die Wellen gingen immer höher, das Schiff hatte den Veitstanz. Ein dicker Mann versuchte den Abstieg, verlor das Gleichgewicht, stolperte nieder und erhaschte im Fall meinen Arm. Ihr Götter! Das wirkte besser als zehn Riechsalzflaschen, denn der Schmerz raubte mir die Sprache. Als ich den dicken Mann verloren und die Zunge wiedergefunden hatte, rief man mich zum deutschen Ehepaar, das grün wie ein verblaßter Papagei war und mich ununterbrochen fragte:

»Wird das Schiff untergehen?«

Das wußte ich allerdings nicht besser als die anderen, beteuerte indessen mit einer Sicherheit, als wäre ich Kapitän, daß solche Stürme so alltäglich wie Läuse in einem Polenpelz seien, und redete der armen Frau so gut zu, daß sie sich beruhigte und ich das Kranksein vergaß.

Als es gegen fünf Uhr ein wenig ruhiger wurde und uns Matrosen zurück zur Dritten führten, schenkte mir Enrique, der Kellner, einen großen Apfel zum Zeichen seiner Anerkennung.

Zwei Tage und zwei Nächte dauerte der Sturm, und derart rollte der arme Dampfer, daß nichts gekocht werden konnte. Man brachte mir trockenes Brot und Käse oder Fisch. Mein Körper war wie gerädert, umsomehr als ich meiner heißgeliebten Erika halber nie die Beine ausstrecken durfte, sondern entweder zum lateinischen S werden mußte oder die Füße wie Opferstöcke nach oben streckte, sobald ich mich auf dem Bauch zurechtgebettet hatte.

Das Walroß riet mir immer, mich gegen die Bettseiten zu stemmen. Da ich aber nicht über die nötige Fülle verfügte, wurde ich gerollt, bis mir Hören und Sehen vergingen. Seither habe ich für den Herrn Atlantik nichts übrig gehabt.

Am dritten Tage drehte sich die junge Galapagosfahrerin wieder die Löckchen, und ich kletterte am Walroß vorbei hinab und ins Freie. Der Bäcker schenkte mir ein Extrabrötchen, und der dicke Koch lachte.

Selbst der Advokat bot mir seinen Deckstuhl an; einzig der Peruaner mit den schwermütigen Augen verprügelte seine Frau ärger als zuvor, denn nun aß er Käse nach und litt an stürmischeren Liebeswellen …

Auf Deck spannte man das Zeltdach; alle erschienen auf einmal in lichten Gewändern, und ehe man es wußte, wurde der Teer in den Fugen der Deckplanken weich.

Man näherte sich den Tropen.

Abends bildete sich ein Kreis um mich – allzeit von Männern, denn für die bekinderten Frauen hatte ich wenig Interesse – und da verspeisten wir die Zuckersachen des Vetters vom Neapolitaner, der ausgestreckt zu meinen Füßen lag und Liebeslieder sang; da erzählten die Leute von früheren Fahrten, von erlebten Gefahren, von Hoffnungen für die Zukunft. Durch das Takelwerk spähte der Mond und die Sterne flimmerten. Das Meer lispelte und raunte, jemand spielte auf einer Ziehharmonika, und man war der Heimat so nahe und doch so fern. Wir alle wollten eine neue Zukunft aufbauen, und nun weiß ich, daß sie alle zu mir aufschauten und mich hätschelten, weil ich so schwach und so klein, so blind und so mutig gewesen. Erst nach vielen Monaten erfuhr ich, wie tief sie mich beklagten – und dennoch sprach von allen diesen Männern nicht einer ein Warnungswort …

Der große Bär stand nicht länger im Westen, sondern im Norden und sank tiefer und tiefer. Andere, neue Sternbilder traten in den Vordergrund.

Und Tag auf Tag sahen wir nichts als Himmel und Wasser, bis endlich am zehnten Abend Vögel das Schiff umkreisten und Hölzer dem Schiff entgegentrieben.

Da jubelten wir wie einst Kolumbus, denn nun wußten wir: Vor uns liegt Land.

Ganz feierlich war es mir zu Mute, als ich mich zur Ruhe legte.


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