Johann Heinrich Jung-Stilling
Henrich Stillings Jünglings-Jahre / 1
Johann Heinrich Jung-Stilling

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Die Florenburger wurden indessen bös auf Stillingen, weil er, wie sie glaubten, heimlich mit dem Pastor gepflügt hatte. Sie verließen ihn also auch, und wählten einen andern. Herr Stollbein ließ ihnen vor diesmal ihren Willen; sie machten einen neuen Rektor, gaben ihm ein besonderes Haus, und da sie der alten teutschen Schule das Gehalt nicht entziehen konnten und durften, zu einem neuen aber keinen Rat wußten: so beschlossen sie, ihm sechzig Kinder zum Lateinlernen zu verschaffen, und von jedem Kind jährlich vier Reichstaler zu bezahlen. Allein der rechtschaffene Mann hatte das erste Vierteljahr sechzig, hernach vierzig, zu Ende des Jahrs zwanzig, und endlich kaum fünf, so daß er bei aller Müh und Arbeit, endlich im Hunger, Kummer, und Elend starb, und seine Frau und Kinder betteln.

Nach diesem Vorfall gab sich Herr Stollbein in Ruhe, er fing an stille zu werden, und sich um nichts mehr zu bekümmern; er versahe nur bloß seine Amtsgeschäfte, und zwar mit aller Treue. Der Hauptfehler welcher ihn so oft zu törichten Handlungen verleitet hatte, war ein Familienstolz. Seine Frau hatte vornehme Verwandten, und die sahe er gern hoch ans Brett kommen. Auch er selber strebte gern nach Gewalt und Ehre. Dieses ausgenommen war er ein gelehrter und sehr gutherziger Mann; ein Armer kam nie fehl bei ihm, er gab solange er hatte, und half dem Elenden soviel er konnte. Nur dann war er ausgelassen, und unerbittlich, wenn er sahe daß jemand von geringem Stand Miene machte, neben ihm emporzusteigen. Aus dieser Ursache war er auch Johann Stilling immer feind. Dieser war, wie oben gesagt worden, Kommerzien-Präsident des salenschen Landes; und da Stollbein ein großer Liebhaber von Bergwerken war, so ließ er Herrn Stillingen immer merken, daß er ihn gar nicht vor das erkannte was er war; und wenn jener nicht bescheiden genug gewesen wäre, dem alten Mann nachzugeben, so hätte es oft harte Stöße abgesetzt.

Doch zeigt Stollbeins Beispiel, daß Güte des Herzens und Redlichkeit niemalen ungebessert sterben lasse.

Einsmalen war eine allgemeine Gewerken-Rechnung abzulegen, so daß also die vornehmsten Kommerzianten des Landes bei ihrem Präsidenten Stilling zusammenkommen mußten. Herr Pastor Stollbein kam auch, desgleichen Schöffe Keilhof mit noch einigen andern Florenburgern. Herr Stilling ging auf den Pastor zu, nahm ihn an der Hand und führte ihn neben sich an die rechte Seite, und ließ ihn da sitzen. Der Prediger war die ganze Zeit über aus der Maßen freundlich. Nach dem Mittagessen fing er an:

»Meine Herren und Freunde! Ich bin alt, und ich fühle daß meine Kräfte mit Gewalt abnehmen, es ist das letzte Mal daß ich bei Ihnen bin, ich werde nicht wieder herkommen. Ist nun jemand unter Ihnen, der mir noch nicht vergeben hat, wo ich ihn beleidiget habe, den bitt ich jetzt von Herzen um Versöhnung.« Alle Anwesende sahen sich an, und schwiegen. Herr Stilling konnte das unmöglich ausstehen. »Herr Pastor!« sagte er: »das bricht mir mein Herz! – Wir sind Menschen und fehlen alle, ich hab Ihnen unendlich viel zu danken, Sie haben mir die Grundwahrheiten unserer Religion beigebracht, und vielleicht hab ich Ihnen oft Anlaß zur Ärgernis gegeben, ich bin also der erste, der Sie von Grund seiner Seelen um Verzeihung bittet, wo er Sie beleidiget hat.« Der Pastor wurde so gerührt, daß ihm die Tränen die Wangen herunterliefen, er stund auf, umarmte Stillingen, und sagte: »Ich hab Sie oft beleidigt. Ich bedaure es, und wir sind Brüder.« »Nein«, sagte Stilling, »Sie sind mein Vater! geben Sie mir Ihren Segen!« Stollbein hielt ihn noch fest in den Armen, und sagte: »Sie sind gesegnet, Sie und Ihre ganze Familie, und das um des Mannes willen, der so oft mein Stolz und meine Freude war.«

Dieser Auftritt war so unerwartet und so rührend, daß die mehresten Anwesende, Tränen in Menge vergossen, Stilling und Stollbein aber am mehresten.

Nun stund der Prediger auf, ging herab zu Schöffe Keilhof und den übrigen Florenburgern, lächelte und sagte: »Sollen wir denn auch an diesem Rechnungstage, unsre Rechnung zusammen abmachen?« Keilhof antwortete: »Wir sind Ihnen nicht böse!« – »Ja!« versetzte Herr Stollbein: »davon ist hier die Rede nicht. Ich bitte Euch alle feierlich um Vergebung, wo ich Euch beleidigt habe!« – »Wir vergeben Ihnen gerne«, erwiderte Keilhof, »aber das müßten Sie auf der Kanzel tun.«

Stollbein fühlte sein ganzes Feuer wieder, doch schwieg er still, und setzte sich neben Stilling hin. Dieser aber wurde so voller Eifer, daß er im Gesicht glühte. »Herr Schöffe!« fing er an: »Sie sind nicht wert, daß Ihnen Gott Ihre Sünden vergibt, solange Sie so denken. Der Herr Pastor ist frei, und hat seine volle Pflicht erfüllt. Christus gebeut Liebe und Versöhnlichkeit. Er wird Euch Euren Starrsinn auf den Kopf vergelten.«

Herr Stollbein schloß diese rührende Szene mit den Worten. »Auch das soll geschehen, ich will meine ganze Gemeinde öffentlich auf der Kanzel um Vergebung bitten, und ihnen weissagen, daß einer nach mir kommen wird, der ihnen eintränken wird, was sie an mir verschuldet haben.« Beides ist auch in seiner ganzen Fülle geschehen.

Kurz nach diesem Vorfall starb Herr Stollbein im Frieden, und wurde zu Florenburg in die Kirche bei seiner Gattin begraben. In seinem Leben wurde er gehaßt, und nach seinem Tode beweint, geehrt und geliebt. Wenigstens Heinrich Stilling hält ihn lebenslang in ehrwürdigem Andenken.

Stilling war nur noch bis Ostern bei dem Schöffen Keilhof, allein er merkte, daß ihn ein jeder sauer ansah, er wurde also auch dieses Lebens müde.

Nun überlegte er einsmalen des Morgens auf dem Bett seine Umstände; zu seinem Vater zurückzukehren, war ihm ein erschrecklicher Gedanke; denn die viele Feldarbeit hätte ihn auf die Länge zu Boden gedrückt, dazu gab ihm sein Vater nur Speise und Trank; denn was er allenfalls mehr verdiente, das rechnete ihm derselbe auf den Vorschuß, den er ihm in vorigen Jahren getan hatte, wenn er mit dem Schullohn nicht auskommen konnte; er durfte also noch nicht an Kleider denken, und diese waren doch binnen Jahrsfrist ganz unbrauchbar. Bei andern Meistern zu arbeiten, war ihm ebenfalls schwer, und er sahe sich auch damit nicht zu retten, denn ein halber Gulden Wochenlohn, trug ihm in einem ganzen Jahr nicht so viel ein, als nur die allernotwendigsten Kleider erforderten. Er wurde halb rasend, fuhr aus dem Bett, und rief: »Allmächtiger Gott! was soll ich denn machen?« – In dem Augenblick war es ihm, als wenn ihm in die Seele gesprochen wurde: »Geh aus deinem Vaterland, von deiner Freundschaft, und aus deines Vaters Haus, in ein Land das ich dir zeigen will!« Er fühlte sich tief beruhiget, und er beschloß alsofort, in die Fremde zu gehen.

Dieses geschah dienstags vor Ostern. Denselbigen Tag besuchte ihn sein Vater. Der gute Mann hatte wiederum seines Sohnes Schicksal vernommen, und deswegen kam er nach Florenburg. Beide setzten sich zusammen auf ein einsames Zimmer, und nun fing Wilhelm an:

»Heinrich! ich komme zu dir, mit dir Rat zu pflegen; ich seh nunmehro klar ein, daß du unschuldig gewesen bist. Gott hat dich gewiß zum Schulhalten nicht bestimmt, das Handwerk verstehst du; aber du bist in solchen Umständen, wo es dir die Notdurft nicht verschaffen kann; und bei mir zu sein, ist auch für dich nicht, du scheust mein Haus, und das ist auch kein Wunder; ich bin nicht imstande, dir das Nötige zu verschaffen, wenn du nicht die Arbeit verrichten kannst, die ich zu tun habe, es wird mir selber sauer, Frau und Kinder zu ernähren. Was meinst du, hast du wohl nachgedacht, was du tun willst?«

»Vater! darüber hab ich lange Jahre nachgedacht; aber erst diesen Morgen ist mir klarworden, was ich tun soll; ich muß in die Fremde ziehen, und sehen, was Gott mit mir vorhat.«

»Wir sind also einerlei Meinung, mein Sohn! Wenn wir der Sache vernünftig nachdenken, so finden wir, daß deine Führung von Anfang dahin gezielt hat, dich aus deinem Vaterland zu treiben, und was kannst du hier erwarten? Dein Oheim hat selber Kinder, und die wird er erst suchen anzubringen, eh' er dir hilft, indessen gehen deine Jahre um. Aber – du – wenn ich deine ersten Jahre – und die Freude bedenke, die ich an dir haben wollte – und du bist nun fort – so ist's um Stillings Freude geschehen! Das Ebenbild des ehrlichen Alten.« – Hier konnte er nicht mehr reden, er hielt beide Hände vor die Augen, krümmte sich ineinander und weinte laut.

Diese Szene war Stilling unausstehlich, er wurde ohnmächtig. Als er wieder zu sich selber kam, stund sein Vater auf, drückte ihm die Hand, und sagte: »Heinrich! nimm von niemand Abschied, geh, wann dir der himmlische Vater winkt! Die heiligen Engel werden dich begleiten wo du hingehst, schreib mir oft wie es dir geht!« Nun eilte er zur Tür hinaus.

Stilling ermannte sich, faßte Mut, und empfahl sich Gott; er fühlte, daß er von allen Freunden ganz los war. Nichts hing ihm weiter an, sondern er erwartete mit Verlangen den zweiten Ostertag, welchen er zu seiner Abreise bestimmt hatte; er sagte niemand in der Welt etwas von seinem Vorhaben, besuchte auch niemand, sondern blieb zu Haus.

Doch konnte er nicht unterlassen, noch einmal zu guter Letzt auf den Kirchhof zu gehen. Er tat's nicht gern am Tage, deswegen ging er des Abends vor Ostern beim Licht des vollen Monds hin, und besuchte Vater Stillings und Dortchens Grab, setzte sich auf jedes eine kleine Weile, und weinte stille Tränen. Seine Empfindungen waren unaussprechlich. Er fühlte so etwas in sich, das sprach: ›Wenn diese beide noch lebten, so ging es dir weit anders in der Welt.‹ Er nahm endlich ordentlich Abschied von beiden Gräbern, und von den ehrwürdigen Gebeinen, die darinnen verwesten, und ging fort.

Den folgenden Ostermontag morgen, Anno 1762, welches der zwölfte April war, rechnete er mit dem Schöffen Keilhof ab. Er bekam noch etwas über vier Reichstaler. Dieses Geld nahm er zu sich, ging auf die Kammer, tat seine drei zerlappte Hemden, das vierte hatte er an, ein paar alte Strümpfe, eine Schlafkappe, seine Scher' und Fingerhut in einen Reisesack, zog darauf seine Kleider an, die aus ein paar mittelmäßig guten Schuhen, schwarzen wollenen Strümpfen, ledernen Hosen, schwarzen tuchenen Westen, einem ziemlich guten braunen Rock von schlechtem Tuch, und einem großen Hut nach der damaligen Mode, bestunden. Nun kämmte er sein fadenrechtes braunes Haar, nahm seinen langen dornenen Stock in die Hand, und wanderte auf Salen zu, wo er sich einen Reisepaß besorgte, und zu einem Tor herausging, das gegen Nordwesten siehet. Er geriet auf eine Landstraße; ohne zu wissen wohin sie führte, folgte er derselben, und sie brachte ihn am Abend in einen Flecken, welcher an der Grenze des salenschen Landes liegt.

Hier kehrte er in einem Wirtshaus ein, und schrieb einen Brief an seinen Vater nach Leindorf, in welchem er zärtlich Abschied von ihm nahm, und ihm versprach, sobald er sich irgendwo niederlassen würde, alles umständlich zu schreiben. Unter den Biergästen, welche des Abends in diesem Hause trunken, waren verschiedene Fuhrleute, eine Art Menschen, bei denen man sich am allerbesten nach den Wegen erkundigen kann. Stilling fragte sie: wohin diese Landstraße führe? Sie sagten: »Nach Schönenthal.« Nun hatte er in seinem Leben viel von dieser weitberühmten Handelsstadt gehöret; er beschloß also dahin zu reisen, ließ sich deswegen die Örter an dieser Landstraße, und ihre Entfernung voneinander sagen, dieses alles zeichnete er in seine Schreibtafel auf, und legte sich ruhig schlafen.

Des andern Morgens nachdem er Kaffee getrunken, und ein Frühstück genommen hatte, empfahl er sich Gott, und setzte seinen Stab weiter; es war aber so nebelig, daß er kaum einige Schritte vor sich hin sehen konnte; da er nun auf eine große Heide kam, wo viele Wege nebeneinander hergingen, so folgte er immer demjenigen, welcher ihm am gebahntesten schien. Als sich nun zwischen zehn und eilf Uhr der Nebel verteilte, und die Sonne durchbrach; so fand er, daß sein Weg gegen Morgen ging. Er erschrak herzlich, wanderte noch ein wenig fort, bis auf eine Anhöhe, da sah er nun den Flecken wieder nahe vor sich, in welchem er über Nacht geschlafen hatte. Er kehrte wieder um; und da nun der Himmel heiter war, so fand er die große Heerstraße, die ihn binnen einer Stunde auf eine große Höhe führte.

Hier setzte er sich auf einen grünen Rasen, und schaute gegen Südosten. Da sah er nun in der Ferne das alte Geisenberger Schloß, den Giller, den Höchsten-Hügel und andere gewohnte Gegenden mehr. Ein tiefer Seufzer stieg ihm in der Brust auf, Tränen flossen ihm die Wangen herunter, er zog seine Tafel heraus und schrieb:

Noch einmal blickt mein mattes Auge,
        Nach diesen frohen Bergen hin.
Oh! wenn ich die Gefilde schaue,
        Die jene Himmelskönigin
    Mir oft mit kühlen Schatten malte,
    Und lauter Wonne um mich strahlte;

So fühl ich, wie in süßen Träumen,
        Die reinste Lüfte um mich wehn,
Als wenn ich unter Edens Bäumen
        Seh Vater Adam bei mir stehn,
    Als wenn ich Lebenswasser trünke,
    Am Bach in süße Ohnmacht sünke.

Dann weckt mich ein Gedanke wieder,
        So wie der stärkste Donnerknall
Sich wälzt vom hohen Giller nieder,
        Und Blitze zücken überall,
    Die Hindin starrt, und fährt zusammen,
    Sie blinzelt in den lichten Flammen.

Dann sinkt mein Geist zur schwarzen Höhle,
        Schaut über sich und um sich her,
Dann kommt kein Licht in meine Seele,
        Dann schimmert mir kein Sternlein mehr,
    Dann ruf ich, daß die Felsen hallen,
    Und tausend Echo widerschallen.

Doch endlich glänzt ein schwacher Schimmer,
        Der Menschenvater winket mir,
Und seh ich euch ihr Berge nimmer,
        So blüht im Segen für und für!
    Bis euch der letzte Blitz zertrümmert,
    Und ihr wie Gold im Ofen schimmert.

Und dann will ich auf euren Höhen,
        Dann wann ihr einst verneuert seid,
Umher nach Vater Stilling sehen,
        Mich freuen wo sich Dortchen freut,
    Dann will ich dort in euren Hainen,
    In weißen Kleidern auch erscheinen.

Wohlan! ich wende meine Blicke
        Nach unbekannten Bergen hin,
Und schaue nicht nach euch zurücke,
        Bis daß ich einst vollendet bin.
    Erbarmer! leite mich im Segen,
    Auf diesen unbekannten Wegen!

Nun stund Stilling auf, trocknete seine Tränen ab, nahm seinen Stab in die Hand, den Reisesack auf den Rücken, und wanderte über die Höhe ins Tal hinunter.


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