Johann Heinrich Jung-Stilling
Henrich Stillings Jünglings-Jahre / 1
Johann Heinrich Jung-Stilling

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der junge Stilling fing auch nunmehro an, zu Herrn Stollbein in die Katechisation zu gehen; das war ihm nun zwar eine Kleinigkeit, allein es hatte doch auch seine Beschwerden; denn da der Pastor immer ein Auge auf ihn hatte, so entdeckte er auch immer etwas an ihm, das ihm nicht gefiel; zum Beispiel: Wenn er in die Kirche, oder in die Catechisationsstube kam, so war er immer der Vorderste, und hatte also auch immer den obersten Stand; dieses konnte nun der Pastor gar nicht leiden, denn er liebte an andern Leuten die Demut ungemein. Einsmals fuhr er ihn an, und sagte:

»Warum bist du immer der Vorderste?« Er antwortete:

»Wenn's Lernen gilt, so bin ich nicht gern der Hinterste.«

»Ei, weißt du Schlingel kein Mittel zwischen hinten und vornen?«

Stilling hätte gern noch ein Wörtchen dazugesetzt, allein er fürchte sich, den Pastor zu erzürnen. Herr Stollbein spazierte die Stube ab, und indem er wiederum heraufkam, sagte er lächelnd: »Stilling, was heißt das zu deutsch: medium tenuere beati?«

»Das heißt: die Seligen haben den Mittelweg gehalten; doch deucht mir, man könnte auch sagen: plerique medium tenentes sunt damnati.« (Die mehresten Leute sind verdammt, die das Mittel gehalten haben, das ist: Die weder kalt noch warm sind) Herr Stollbein stutzte, sah ihn an, und sagte: »Junge! ich sage dir, du sollst das Recht haben voranzustehen, du hast vortrefflich geantwortet.« Doch nun stund er nie wieder vornen, damit ihm die andre Kinder nicht bös werden möchten. Ich weiß nicht, ob es Feigherzigkeit, oder ob es Demut war. Nun fragte ihn Herr Stollbein wieder: »Warum gehst du nicht an deinen Ort?« Er antwortete: »Wer sich selbst erniedriget, der soll erhöhet werden.« »Schweig!« erwiderte der Pastor, »du bist ein vorwitziger Bursche.« Dieses ging nun so seinen Gang fort, bis im Jahr 1755 auf Ostern, da Henrich Stilling vierzehn und ein halb Jahr alt war; vierzehn Tage vor dieser Zeit, ließ ihn Herr Pastor Stollbein allein vor sich kommen, und sagte zu ihm: »Hör, Stilling, ich wollte gern einen braven Kerl aus dir machen, du mußt aber hübsch fromm, und mir, deinem Vorgesetzten, gehorsam sein; auf Ostern will ich dich, mit noch andern, die älter sind als du, zum heiligen Abendmahl einsegnen, und dann will ich sehen, ob ich dich nicht zum Schulmeister machen kann.« Stillingen hüpfte das Herz für Freuden, er dankte dem Pastor, und versprach, alles zu tun, was er haben wollte. Das gefiel dem alten Manne von Herzen, er ließ ihn im Frieden gehen, und hielte sein Wort treulich, denn auf Ostern ging er zum Nachtmahl, und alsofort wurde er zum Schulmeister nach Zellberg bestimmt, welches Amt er den ersten Mai antreten mußte. Die Zellberger verlangten auch mit Schmerzen nach ihm, denn sein Ruhm war weit und breit erschollen. Die Wonne läßt sich nicht aussprechen, welche der junge Stilling hierüber empfand, er konnte kaum den Tag erwarten, der zum Antritt seines Amts bestimmt war.

Zellberg liegt eben hinter der Spitze des Gillers, man geht von Tiefenbach gerade den Wald hinauf; sobald man auf die Höhe kommt, hat man vor sich ein großes ebenes Feld, nahe zur rechten Seiten den Wald, dessen hundertjährige Eichen und Maibuchen in gerader Linie gegen Osten zu, wie eine Preußische Wachtparade, hingepflanzt stehen, und den Himmel zu tragen scheinen; fast ostwärts, am Ende des Waldes, erhebt sich ein buschichter Hügel, auf dem Höchsten, oder auch der Hänsgesberg genannt; dieses ist der höchste Gipfel von ganz Westfalen. Von Tiefenbach bis dahin hat man drei Viertelstund' beständig gerad und steil aufzusteigen. Linker Hand liegt eine herrliche Flur, die sich gegen Norden in einen Hügel von Saatland erhebt, dieser heißt: auf der Antonius-Kirche. Vermutlich hat in alten Zeiten eine Kapelle da gestanden, die diesem Heiligen gewidmet gewesen. Vor diesem Hügel, südwärts, liegt ein schöner herrschaftlicher Meierhof, der von Pachtern bewohnt wird. Nordostwärts senkt sich die Fläche in eine vortreffliche Wiese, die sich zwischen buschichten Hügeln herumdrängt; zwischen dieser Wiese und dem Höchsten geht durchs Gebüsche, ein grüner Rasenweg vom Feld aus, längs die Seite des Hügels fort, bis er sich endlich im feierlichen Dunkel dem Auge entzieht; es ist ein bloßer Holzweg, und von der Natur und dem Zufall so entstanden. Sobald man über den höchsten Hügel hin ist, so kommt man an das Dorf Zellberg; dieses liegt also an der Ostseite des Gillers; da wo in einer Wiesen ein Bach entspringt, der endlich zum Fluß wird, und nicht weit von Kassel in die Weser fällt. Die Lage dieses Orts ist bezaubernd schön, besonders im späteren Frühling, im Sommer und im Anfang des Herbsts; der Winter aber ist daselbst fürchterlich. Das Geheul des Sturms, und der Schwall von Schnee, welcher vom Wind getrieben, hinstürzt, verwandelt dieses Paradies in eine Norwegische Landschaft. Dieser Ort war also der erste, wo Henrich Stilling die Probe seiner Fähigkeiten ablegen sollte.

Auf den kleinen Dörfern in diesen Gegenden, wird vom ersten Mai bis auf Martini, und also den Sommer durch, wöchentlich nur zween Tage, nämlich freitags und samstags Schul' gehalten; und so war's auch zu Zellberg. Stilling ging freitags morgens mit Sonnenaufgang hin, und kam des Sonntags abends wieder. Dieser Gang hatte für ihn etwas Unbeschreibliches; – besonders wenn er des Morgens vor Sonnenaufgang auf der Höhe aufs Feld kam, und die Sonne dort aus der Ferne, zwischen den buschichten Hügeln aufstieg; vor ihr her säuselte ein Windchen, und spielte mit seinen Locken; dann schmolz sein Herz, er weinte oft, und wünschte Engel zu sehen, wie Jakob zu Mahanaim. Wenn er nun da stund, und in Wonnegefühl zerschmolz, so drehte er sich um, sahe Tiefenbach unten im nächtlichen Nebel liegen. Zur Linken senkte sich ein großer Berg, der Hitzige Stein genannt, vom Giller herunter, zur Rechten vorwärts lagen ganz nahe die Ruinen des Geisenberger Schlosses. Da traten dann alle Szenen, die da zwischen seinem Vater, und seiner seligen Mutter, zwischen seinem Vater und ihm, vorgegangen waren, als so viele vom herrlichsten Licht erleuchtete Bilder vor die Seele, er stund wie ein Trunkener, und überließ sich ganz der Empfindung. Dann schaute er in die Ferne; zwölf Meilen südwärts lag der Taunus oder Feldberg nahe bei Frankfurt, acht bis neun Meilen westwärts lagen vor ihm die sieben Berge am Rhein, und so fort eine unzählbare Menge, weniger berühmter Gebirge; aber nordwestlich lag ein hoher Berg, der mit seiner Spitze dem Giller fast gleich kam; dieser verdeckte Stillingen die Aussicht über die Schaubühne seiner künftigen großen Schicksale.

Hier war der Ort, wo Henrich eine Stunde lang verweilen konnte, ohne sich selbst recht bewußt zu sein; sein ganzer Geist war Gebet, inniger Friede, und Liebe gegen den Allmächtigen, der das alles gemacht hatte.

Zuweilen wünschte er auch wohl ein Fürst zu sein, um eine Stadt auf dieses Gefilde bauen zu können; alsofort stund sie schon da vor seiner Einbildung; auf der Antonius-Kirche hatte er seine Residenz, auf dem Höchsten sah er das Schloß der Stadt, so wie Montalban in den Holzschnitten, im Buch von der schönen Melusine; dieses Schloß sollte Henrichsburg heißen, wegen des Namens der Stadt stund er noch immer im Zweifel, doch war ihm der Name Stillingen der schönste. Unter diesen Vorstellungen stieg er auf vom Fürsten zum Könige, und wenn er aufs Höchste gekommen war, so sah er Zellberg vor sich liegen, und war nichts weiter, als zeitiger Schulmeister daselbst, und so war's ihm dann auch recht, denn er hatte Zeit zu lesen.

An diesem Ort wohnte ein Jäger, namens Krüger, ein redlicher braver Mann; dieser hatte zween junge Knaben, aus denen er gern etwas Rechts gemacht hätte. Er hatte den alten Stilling herzlich geliebt, und so liebte er auch seine Kinder. Diesem war es Seelenfreude, den jungen Stilling als Schulmeister in seinem Dorf zu sehen. Daher entschloß er sich, denselben bei sich ins Haus zu nehmen. Henrichen war dieses eben recht, sein Vater machte alle Kleider für den Jäger und seine Leute, und deswegen war er daselbst am mehresten bekannt; überdem wußte er, daß Krüger viel rare Bücher hatte; die er recht zu nutzen gedachte. Er quartierte sich daselbst ein; und das erste, was er vornahm, war die Untersuchung der Krügerischen Bibliothek; er schlug einen alten Folianten auf, und fand eine Übersetzung Homers in teutsche Verse; er hüpfte für Freuden, küßte das Buch, drückte es an seine Brust, bat sich's aus, und nahm es mit in die Schule: wo er's in der Schublade unter dem Tisch sorgfältig verschloß, und so oft darinnen lase, als es ihm nur möglich war. Auf der lateinischen Schule hatte er den Virgilius erklärt, und bei der Gelegenheit so viel vom Homer gehört, daß er vorher Schätze darum gegeben hätte, um ihn nur einmal lesen zu können; nun bot sich ihm hier die Gelegenheit von selbst dar, und er nutzte sie auch rechtschaffen.

Schwerlich ist die »Ilias«, seit der Zeit, daß sie in der Welt gewesen, mit mehrerem Entzücken und Empfindung gelesen worden. Hektor war sein Mann, Achill aber nicht, Agamemnon noch weniger; mit einem Wort: er hielt es durchgehende mit den Trojanern, ob er gleich den Paris mit seiner Helenen kaum des Andenkens würdigte; besonders weil er immer zu Haus blieb, da er doch die Ursache des Kriegs war. Das ist doch ein unerträglicher schlechter Kerl! dachte er oft bei sich selber. Niemand dauerte ihn mehr als der alte Priam. Die Bilder und Schilderungen des Homers waren so sehr nach seinem Geschmack, daß er sich nicht enthalten konnte, laut zu jauchzen, wenn er ein so recht lebhaftes Wort fand, das der Sache angemessen war; damals wär' die rechte Zeit gewesen, den Ossian zu lesen.

Diese hohe Empfindung hatte aber auch noch Nebenursachen; die ganze Gegend trug dazu bei. Man denke sich einen bis zur höchsten Stufe des Enthusiasmus empfindsamen Geist, dessen Geschmack natürlich, und noch nach keiner Mode gestimmt war, sondern der nichts als wahre Natur empfunden, gesehen und studiert hatte; der ohne Sorge und Gram, höchst zufrieden mit seinem Zustand lebte, und allem Vergnügen offen stunde; ein solcher Geist, liest den Homer in der schönsten und natürlichsten Gegend von der Welt, und zwar des Morgens in der Frühstunde. Man stelle sich die Lage dieses Orts vor; er saß auf der Schule an zweien Fenstern, die nach Osten gekehret waren; diese Schule stand an der Mittagsseite, am Abhang des höchsten Hügels, um dieselbe her waren alte Birken mit schneeweißen Stämmen auf einem grünen Rasen gepflanzt, deren dunkelgrüne Blätter beständig fort im ewigen Winde flisperten. Gegen Sonnenaufgang war ein prächtiges Wiesental, das sich an buschichte Hügel und Gebirge anschloß. Gegen Mittag lag, etwas niedriger, das Dorf, hinter demselben eine Wiese, und dann stieg unvermerkt eine Flur von Feldern auf, die ein Wald begrenzte. Gegen Abend in der Nähe, war der hohe Giller mit seinen tausend Eichen. Hier las Stilling den Homer im Mai und Junius, wenn ohnedas die ganze halbe Welt schön ist, und in der Kraft ihres Erhalters jauchzet.

Über das alles waren auch seine Bauern gute natürliche Leute, die beständig mit alten Sagen und Erzählungen schwanger gingen, und bei jeder Gelegenheit damit herauskramten; dadurch wurde der Schulmeister vollends recht mit seinem Element genährt, und zu Empfindungen aufgelegt. Er ging einsmals hinter der Schule den höchsten Hügel hinauf spazieren, oben auf der Spitze traf er einen alten Bauer aus seinem Dorf, der Holz sammelte, sobald dieser den Schulmeister kommen sahe, hörte er auf zu arbeiten, und sagte:

»Es ist gut, Schulmeister, daß du kommst, ich bin doch müde, nun hör was ich dir sagen will; ich denke soeben dran. Ich und dein Großvater haben vor dreißig Jahren einmal hier Kohlen gebrennt, da hatten wir viel Freude! wir kamen immer beieinander, aßen und trunken zusammen, und redeten dann immer von alten Geschichten. Du siehst hier rund umher, soweit dein Auge trägt, keinen Berg, oder wir besannen uns auf seinen Namen, und den Ort, wo er am nächsten liegt; das war uns dann nun so recht eine Lust, wenn wir da so lagen, und uns Geschichten erzählten, und zugleich den Ort zeigen konnten, wo sie geschehen waren.« Nun hielte der Bauer die linke Hand über die Augen, und mit der Rechten wies er gegen Abend und Nordwest hin, und sagte: »Da etwas niederwärts siehst du das Geisenberger Schloß, gerad hinter demselben, dort weit weg, ist ein hoher Berg mit dreien Köpfen, der mittelste heißt noch der Kindelsberg, da stand vor uralten Zeiten ein Schloß, das auch so hieß; da wohnten Ritter drauf, das waren sehr gottlose Leute. Da zur Rechten hatten sie, an dem Kopf, ein sehr schönes Silberbergwerk, wovon sie stockreich wurden. Nu, was geschah! Der Übermut ging so weit, daß sie sich silberne Kegel machten; wenn sie spielten, so wurfen sie diese Kegel mit silbernen Klötzen; dann buken sie große Kuchen von Semmelmehl, wie Kutschenräder, machten mitten Löcher darein, und steckten sie an die Achsen; das war nun eine himmelschreiende Sünde, denn wie viele Menschen haben kein Brot zu essen. Unser Herr Gott ward es auch endlich müde; denn es kam des Abends spät ein weißes Männchen ins Schloß, der sagte ihnen an, daß sie alle binnen drei Tagen sterben müßten, und zum Wahrzeichen gab er ihnen, daß diese Nacht eine Kuh zwei Lämmer werfen würde. Das geschah auch, aber niemand kehrte sich dran, als der jüngste Sohn, der Ritter Siegmund hieß, und eine Tochter, die eine gar schöne Jungfrau war. Diese beteten Tag und Nacht. Die andern sturben alle an der Pest, und diese beide blieben am Leben. Nun war aber hier auf dem Geisenberg auch ein junger kühner Ritter, der ritte beständig ein großes schwarzes Pferd, deswegen hieß man ihn auch nicht anders, als den Ritter mit dem schwarzen Pferd. Er war ein gottloser Mensch, der immer raubte und mordete. Dieser Ritter gewann die schöne Jungfrau auf dem Kindelsberg lieb, und wollte sie absolut haben, aber es nahm ein schlechtes Ende. Ich kann noch ein altes Lied von der Geschichte.«


 << zurück weiter >>