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Gedanken und Geschichten


Ueber das Bilderbuch

Als Bilderbuchkritikus hat man's nicht leicht. Da ist so viel, was man zu bedenken hat. Man muß die verwehten Glocken aus der Jugendzeit noch im Herzen läuten hören.

Und die Hauptsache: Man muß kleine Kinder haben. Kinder, die einem den Federhalter aus der Hand reißen, die das Tintenfaß umkippen, die des Vaters Hut aufsetzen; den Vater kratzen und streicheln, ihm schmeicheln und ihn quälen. Ja, kleine Kinder muß man haben, dann kann man Bilderbücher beurteilen, dann irrt man sich nicht.

Ich habe in meiner Stube Bilderbücher gehabt, die waren bunt und prächtig. Schön waren die Bilder; kindlich klangen die Verse; aber siehe da: mein kleines Mädchen ihre raschen Augen durch das Buch wandern ließ, da war's um die Nützlichkeit des Bilderbuches geschehen. Die Verse waren wohl blank und klug; aber sie blieben im Kinderohr sitzen und konnten nicht hinunter ins warme, fliegende Kinderherz.

Ja, das Kinderherz fliegt, beflügelt mit den grellbunten Fittichen der Phantasie ,… Und wenn nun so ein Reimer kommt, der alles ausschöpft, der das letzte Geheimnis sagt; der der Kinderphantasie nichts übrig läßt, dann hat das Bilderbuch keine Bedeutung mehr. Es wird schläfrig, langweilig und dumm.

Und so ist's auch mit den Bildern: Wenn die schön sauber hin gern alt sind, wenn man ordentlich den Künstler sieht, wie er gestrichelt und geklügelt hat, dann weiß man schon, daß er nicht der Kerl ist, der in das Reich der Kinder wie ein seliger Fant hineintanzt. Seine Bilder, die zu viel Wirklichkeit haben, zu viel vernünftige Schnörkel, blättern an den kleinen Kinderaugen vorbei und können nicht hinein ins kichernde Seelenlicht der Erdenflämmchen.

Denkt nicht zu klein von dem Kinderlanddichter und von dem Maler, der für kleine Augen zaubert. Sie sind nicht »harmlos« und »unbedeutend«.

Macht's nur einmal nach! Scharteken können viele schmieren. Aus hundert Büchern ein Buch machen, das kann jeder, der den Kopf auf dem rechten Flecke hat. Die öffentliche Meinung wird vor diesen Leuten immer den Hut tief abnehmen. Petroleumluft und Bücherstaub und Brillenglitzern sind eben Dinge, die zur Hochachtung hinreißen. Aber eine hämische Fratze ziehen über einen Mann, der mit seinen Zaubereien alle Kinderherzen haschen kann; das ist eine Ungerechtigkeit.

Es gibt da in Mainz einen Bilderbuchverlag von Joseph Scholz; der hat die Wünschelrute zur Kinderfreude gefunden. Der weiß, wie man Kinderaugen strahlend machen kann, wie man kleine Herzen ins Paradies fliegen läßt.

Schmidhammer, der nun auch schon im Himmel sitzt, hat für Scholz seine schönsten Bücher gezaubert. Hans Oßwald hat für Scholz die Kinderseele durchwandert. Adolf Holst hat für ihn, von den Lippen seiner Kinder, die Verse gehascht. Und der selige Gustav Falke hat für ihn das Kinderherz aufgeblättert.

Meine kleine Tochter kann stundenlang über einem Bilderbuch von Scholz sitzen; immer springen neue Wunder heraus.

Joseph Scholz ist tot. In der Kinderwalhalla sitzt er. In der Hand eine Pusteblume und einen Gänseblumenkranz auf dem Kopfe.

Er hat ja die kleinen Herzen begriffen wie kein Bilderbuchhändler vor ihm. Er hat es fertig gebracht, eine ungeduldige Kinderstube wunderlich zerflimmern zu lassen in lauter Sonne.

Er war nicht kleiner als Lotta oder Brockhaus oder Reclam. Freilich: Die bauten Berge bis ans Sternenzelt.

Scholz kam mit der Narrenkappe und mit der Rattenfängerflöte; hinter ihm her gingen jubelnd die Kinder der ganzen Welt

*

Ein Deutscher

Ich will nicht loben und nicht klagen;
Ich wollt' es bloß an Deinem Grabe sagen,
Weil es die reine Wahrheit ist.

Claudius.

Wenn seine Zeit hier anbricht, wird ein Segen über Deutschland gehen. Quellfrischen Brunnen wird man seinen Namen geben. Das derbe, große Bauernbrot wird nach ihm genannt werden. Und wenn die Sterne aufglimmen und der Mond aufgeht und die Vögel in den Nestern schlafen, wird man vom Claudius-Frieden reden. ,– Ja, solange es noch einen dörflichen Mondhimmel gibt, solange noch ein Fünkchen Gottesliebe in den Seelen schlummert, wird man sich dieses Weisen von Wandsbek erinnern. Bei ihm ist alles hell und einfältig, richtig und rein. Seine Sprache ist rührend in ihrer kunstlosen Einfachheit. Seine Ideen sind frisch und ursprünglich. Ein Kerl mit einem »inwendigen Wohlstand«. Er ist es, der uns Deutschen das allerschönste Lied gesungen hat, jenes Mondlied, darinnen Gottes Güte sich wiegt, darinnen gefaltete Menschenhände von den Lippen Gottes berührt werden. ,– Er hat nicht nach den Linsengerichten der großen Welt gefragt. Die Wurzeln seiner Kraft wuchsen unter einem friedlichen Dach, unter Frau und Kindern, beleuchtet von Sonne und Mond. Das gute deutsche Gewissen, das ist er, der Matthias Claudius. Ein himmlischer Kalendermann; einer, der mit einer Engelsfeder Traktätchen schrieb; einer, der den blühenden Rotdornstock zu einer Harfe bog, sie mit den Strahlen des Abendsterns bespannte und seine Lieder darauf harfte. Hold naive Lieder, humorkräftige, und dann wieder welche, die in ihrem religiösen Tiefsinn, ihrer Herzensstille wie ein Altar sind, über den sich Gott selig geneigt hat.

Unterm grauen Botenkittel trug dieser Claudius, dieser Mondmagister, eine Krone. Und wie eine kunstlose Münze, die aus purem Golde ist, so liegt er im Heiligtum der Deutschen. Er ist kein Schaustück, kein Zierat. Er ist unser größter Herzenskünstler.

Wie der harte Taler, so ist er, für den man Brot kauft und ein Kerzenlicht und einen Krug mit Milch und Salz und ein lustiges Kinderspielzeug. Tag für Tag sprang der Claudius ein paar mal über Stock und Tisch und Bänke. Und wenn er mit seinem Federkiel an zu schreiben fing, dann überflog sein Herz den Regenbogen. Und in seiner letzten Nacht rief er seine Tochter zu sich hin ans Bett und stammelte vergehend: »Ich muß die Nacht zu Hilfe nehmen, denn der Tag ist wahrhaftig zu kurz, um dir zu danken, liebes Kind.« So war er und so ging er dahin: Ein Lehrmeister des Herzens. Und so wird er einst wiederkommen.

*

Karl Stirner

Ein Blatt zu seiner Freude.

Im Thüringischen, in einem seligen Nest, gibt's ein Gasthaus »Zur krummen Hose«. Ein verräuchertes, schiefes, hutzliges Gasthaus, das meist von Handwerkern und Wanderern aufgesucht wird. Eines Abends war die »Krumme Hose« in großer Aufregung. Der Wirt hatte einen roten Kopf und erzählte jedem, der es hören wollte, daß er unterm Dach einen verdächtigen Burschen liegen habe. Er sei schon fünf Tage krank. Und heute, nach der Mittagszeit ,– man bedenke: nach der Mittagszeit ,– wollte er weiterwandern, und als es ans Bezahlen ging, hatte der Bursche nicht einen Pfennig Zehrgeld in der Tasche. ,– Ist das nicht ein Skandal? Findet man denn heutzutage das Geld auf der Straße liegen? ,– In der »Krummen Hose« ist man bessere Manieren gewöhnt. ,– So erzählte geschwätzig der Wirt.

Nach einer Weile holte er den Burschen. Er sah bleich und kränklich aus. Scheu und verschämt blieb er an der Tür stehen. Er mochte wohl so an die Dreißig sein. Seine Kleidung war fadenscheinig. ,– wie ein Kuhhirte sah er aus. Aber wenn man in seine blauen Augen sah, die sonderbar aus dem zerfahrenen Gesicht herausstrahlten, dann gewahrte man einen seltsamen Schimmer darin. Es war, als ob sich tief, im Augengrunde, wundersame Gedanken anzündeten und nun herausstrahlten. ,– Jedenfalls ein eigenartiger Kerl, der etwas an sich hatte, was neugierig machte. Vielleicht hat er sich jahrelang auf Landstraßen herumgeschlagen, war durch Not und Hunger singend und fluchend gegangen. ,– wer ist der Kerl? ,– Ist er einer, der mit der Erde verwachsen ist? ,– O ja! ,– wenn er sich drei Tage auf ein offenes Feld stellen würde, die Nachtigall, die kleine Gottesmagd, käme angeflogen und baute sich ihr Nest auf seinem zottigen Schädel. ,– Sieht er nicht so aus? ,– Als ob Gott seine blauen Gedanken in ihn gesenkt hat, so sieht er aus.

Und nun kam der Dorfpolizist. Er kam vierschrötig, gewichtig und bestimmt, den Wirt immer an der Seite. Der Dorfpolizist fing an, die Taschen des Fremden auszukramen. Er holte mit seinen dicken, ungelenken Fingern aus der fremden Rocktasche ein zerlesenes Heftchen heraus. Eigentlich waren es nur Blätter, abgegriffen, verschmiert und bemalt. ,– Und der Dorfgendarm breitete, spielkartenhaft, Blatt für Blatt auf dem großen Gasthaustische aus. Die ganze Platte war bald bedeckt. Es waren Blätter aus einem Reclam-Heftchen. Und der Polizist buchstabierte laut, langsam und kurzsichtig: »Edu–ard ,– Mö–ri–ke. ,– Das ,– Stutt–gar–ter ,– Hutzel–männ–lein.«

Ueber das verwanderte Gesicht des Fremden huschte jetzt ein wunderschöner Glanz. Seine Augen streichelten immer wieder die Blätter. Seine Augen schienen auf Märchenstimmen zu lauschen, die ihn aus diesen hingebreiteten Blättern riefen. Diese Blätter, die einst vom Frühlingswind umgeblättert wurden, die für ihn wie ein Gebetbuch sind, die umschimmert waren von den Sternen einer Sommernacht, wo er ab und zu eine Feldblume als Lesezeichen hineinlegte. Auf jeder Zeile dieser Blätter tanzte sein Herz wie ein frommer Gaukler.

Der Dorfpolizist schüttelte verwundert seinen Kopf und suchte aus der linken Rocktasche ein ganzes Dutzend Buntstifte, zerbrochen und verkrümelt. Er warf sie ärgerlich über die hingebreiteten Blätter auf den Tisch und brummelte in sich hinein: »Ist das die ganze Ausstattung?«

Der Fremde nickte. Seine Augen sahen jetzt aus, als ob sie sich, wie im Traum, an etwas klammerten.

»Mm,« lächelte der Dorfgendarm zum Wirt der »Krummen Hose«, »dann seid Ihr eben mal reingefallen.«

Der Wirt ballte die Fäuste in der Rocktasche und knurrte: »Mir soll mal wieder einer kommen!«

»Wer bist du denn?« wandte sich der Dorfpolizist an den Fremden. Der suchte, gebückt, aus dem Stiefelschaft sein Wanderbuch heraus und gab es hin. Der Gendarm las vor: »Karl ,– Stirner. ,– Maler. ,– Aus ,– Rosenberg in Schwaben.« Dann las er leise, mit bewegten Lippen, vor sich hin und sagte gedämpft zum Wirt: »Eltern hat das arme Luder auch nicht mehr.«

Wie eine Erleuchtung kam's über den Wirt. Er kehrte sich schnell zum Fremden: »Drei Taler bist du mir schuldig. ,– Du mußt das Geld abarbeiten. Die »Krumme Hose« muß schön werden. ,– hier, an die Wand, malst du mir was hin. Verstehst du?«

Und ohne zu antworten, griff der Maler schnell nach der Wirtshand, beugte sich darüber und drückte dankbar seine Stirn daran.

Und nun packte er, wie verwandelt, seine Hutzelmännleinblätter wieder in die Tasche, griff nach den Buntstiften und fing, wie er ging und stand, die kahlen Wände der »Krummen Hose« an zu verhexen. Wie einer, der das Licht mäht, so fuhrwerkte und spintisierte er mit seinen Buntstiften an der mürrischen Wirtshauswand herum. ,– Und nun schaffte er den tiefblauen Frühlingshimmel ins kahle Gasthauslicht. Den Zauber versponnener Wasser ließ er aufleuchten; die wonnesame Zartheit weißer Birken, die Einsamkeit der Steine, den bunten Reigen der Blumen. ,– Und Spinnenwinkel malte er, Mörike-Schnörkel, Seiltänzerbuntheit, Schusterlegenden, Kirchturmgeschichten, Kellergruseln, Kronen, die im Weine schwimmen, und Gesichter, die sich aus Märchengewässer heben.

Es war, als ob über diesen fremden Kerl die strahlenden Wunder der Natur gekommen seien; als würde er vom ewigen Atem der Natur bewegt und getrieben. Er zauberte bis nach Mitternacht. Das Gasthaus zur »Krummen Hose« kam sich wie durchleuchtet vor von Fabellichtern.

Was kümmert's uns, wie die ganze Geschichte endet? ,– Sie ist aus. ,– Das Wirtshaus steht immer noch. Und Karl Stirner ist der seligste Maler der Schwaben. ,– Er ist der wandernde Mörike mit dem Farbenkasten.

Karl Stirner, lange, lange sollst du leben!

*

Vierter Klasse

Der Wagen vierter Klasse ist schlecht besetzt: Ein paar Arbeiter, drei alte Frauen, ein Dienstmädchen, das nach der Heimat fährt mit Sack und Pack, und ein grauhaariger Professor, der kurzsichtig die neuesten Nachrichten studiert. Die alten Frauen sind bald in's Gespräch gekommen. Sie fragen sich gegenseitig aus, klagen und träumen sich und schwatzen sich in die vergangenen Zeiten hinein.

Die dritte alte Frau blickt sehnsüchtig durch's Wagenfenster, als wollten ihre Augen das Ziel der Reise herbeiziehen. Sie ist schlicht, ein bißchen ärmlich gekleidet. Ihr Haar ist schlohweiß. Sie hat einen Regenschirm in der Hand und eine schwarze Markttasche, die mit allerhand Kram vollgestopft ist: goldrahmige Photographien, Löffel, Filzpantoffeln und ein Bündel Steuerquittungen. Neben ihr steht eine Zigarrenkiste, die mit Bindfaden zugeschnürt ist.

Die beiden Frauen fragen auf sie ein.

Ihr Mann war Briefträger gewesen. Kurz vor dem Kriege starb er.

»Mit der Pension ist jetzt wohl auch schlecht auszukommen?«

Die alte Frau nickt.

Ob sie keine Kinder hat?

Ja, einen Sohn hat sie gehabt. Einen einzigen Jungen. Der ist im Kriege gefallen.

Was der Sohn war?

Lehrer war er.

Und wo sie denn hin wolle?

Sie will zu der Schwiegertochter. Ihre Möbel sind schon mit dem Güterzuge voraus. Sie will ganz zu der Schwiegertochter ziehen. Die hat sich jetzt nämlich auf die Schneiderei gelegt. Sie will ihr hübsch behilflich sein. Sie hat ja in ihrer Ehe auch alle Schneidereien gemacht. Für den Jungen die ganzen Anzüge, sogar den Einsegnungsanzug. Für sich die Kleider, für den Mann die Hemden. O, da spart man viel! Wenn's ihr jetzt auch schwerfällt; aber zum Fäden herausziehen hat sie noch immer Geschick.

Die beiden anderen Frauen beteuern, haben die Hände gefaltet, ihre Augen blicken andächtig; aber sie fragen immer weiter.

Da hält der Zug zum dritten Male.

Die alte Frau steigt aus, begleitet von den herzlichsten Wünschen der anderen. Der Zug hält fast eine ganze halbe Stunde.

Plötzlich entsteht auf dem Bahnsteig eine Unruhe. Wagentüren werden aufgerissen und zugeworfen. Man hört jetzt die Stimme der alten Frau, die eben, vor einer halben Stunde, ausgestiegen ist. Ihre Stimme ist jetzt ängstlich erschrocken, in der Höhe etwas kreischend: »Hier! Hier muß es sein!« Sie reißt die Wagentür auf, stürzt wieder in den Wagen hinein. Der Zug fährt. Von draußen hört man noch die Stimme des Schaffners: »Auf der nächsten Station nachzahlen!« ,– ,–

Kaum ist die Frau im Wagen, da rennt sie schon, hochaufgeregt, auf ihren Platz zu und prüft die Zigarrenkiste, die sie vergessen hatte. Dann setzt sie sich wieder, und jetzt kommt eine Freude in ihr Gesicht, eine stille, herzliche Freude. Ihr altes zerknittertes Gesicht wird wunderschön.

Die beiden anderen Frauen fragen wieder, aber dieses Fragen hat jetzt etwas Stichliges.

Sie wäre wohl schon bald bei ihrer Schwiegertochter gewesen? Ja, die Schwiegertochter habe sie abgeholt. Sie war schon bis vor die Haustür. Die Frau hat jetzt die Zigarrenkiste fest in beiden Händen.

In der Zigarrenkiste seien wohl lauter Hundertmarkscheine?

Die Frau schüttelt, unwirklich lächelnd, den Kopf.

Aber sicher wäre doch etwas ganz Wertvolles darin; sonst wäre sie doch nicht so danach gerannt.

Die alte Frau antwortet nichts; aber ihre Augen haben jetzt so viel Himmelnahes. Sie streichelt liebkosend an der Zigarrenkiste herum.

Und nun reden die beiden Frauen unter sich: »Sicherlich ist die Kiste voll Hundertmarkscheine. ,– Man weiß ja, Beamtenfrauen sind so geizig. Sie legen sich immer viel Geld zurück. Beamtenfrauen sparen immer. Sie hungern sich's vom eigenen Leibe ab.«

Und nun knotet die Alte ganz langsam, den Bindfaden von der Kiste los. Die beiden anderen Frauen blicken gespannt; sie mochten mit ihren Augen die Kiste aufreißen. Die Alte hebt jetzt den Deckel. Die eine, die zu dritt sitzt, erhebt sich schnell, stellt sich dicht vor die Alte, damit sie genau in die Zigarrenkiste hineinsehen kann.

»Ach, zeigen Sie doch mal!«

Die alte Frau holt ein paar zerlaufene Kinderschuhe heraus; ganz ausgetreten und rissig. Und dann zeigt sie ein Kinderhemdchen, grau schon vom vielen Liegen, faserig, zerfranst, spinnwebhaft.

»Was wollen Sie denn damit?«

»Das ist noch alles von meinem Ernst, der gefallen ist; seine ersten Schuhe und sein erstes Hemdchen.«

Und dann sagt sie nichts mehr. Die Frau, die eben aufgestanden war, setzt sich wieder auf ihren Platz. Alles ist ruhig im Wagen. Man hört nur die Räder laufen und schüttern. Es ist, als ob der Wagen in sich hineingrübelt. Die alte Frau sitzt da, die Zigarrenkiste fest in den beiden alten Händen. Ihr Gesicht wird immer schöner. Ihre Augen werden langsam feucht.

Auf der nächsten Station steigt sie aus.

Als sie herausging, da war's, als legte sich um ihren altmodischen Hut ein Heiligenschein.

*

Die Schöpfung der Wangengrübchen

»Großer, umstrahlter Sohn des Kronos, höre meine Bitte!« ,– ,– »Was willst du?« donnerte Zeus. Lächelnd hob er den Liebesgott von den Knien, und mit verschleierter Stimme sprach Eros: »Unten, in deiner Stadt, ewiger Vater, lebt ein armer Poet. Der hat dir manchen Hymnus schon gesungen, und sein Herz war voller Lieder, wie eines Reichen Truhe voll ist mit goldenen Ringen und Geschmeide. Die Menschen haben seinen Worten gelauscht und sich daran erquickt wie die Blumen am Tau, den du aus azurner Schale träufelst. ,– Der Dichter hatte ein Weib, das er liebte wie dich. Und das Weib, ewiger Vater, hast du nach Elysium gerufen. Seine Poetenseele aber, die wie ein Laubwald im Maienmond war, so grünend, so blühend und vögeldurchzwitschert, ist schwermütig geworden, und die Saiten seiner Leyer, die goldrauschend deinen Ruhm verkündigten, sind zersprungen. Wie eine gewöhnliche Wiesenblume kauert er unter den Menschen, und seine irren Augen lauern auf deinen Blitz, der sein gebeugtes Haupt zerschmettern soll. ,– ,– Sei ihm gnädig, ewiger Vater! Hilf dem Sänger deiner Herrlichkeit, großer, umsungener Zeus!« ,– ,–

»Was du da sagst,« sprach der Göttervater, »ergreift mich tief. Ich werde jenen Orpheus zu seinem Weibe senden.« »Tue es nicht, Großmütiger! Die Welt ist ja so schön, und schöner noch für ein Sängerherz, das alles im Wunderlichte sieht! ,– Schaff ihm ein Weib, herrlicher als Aphrodite! Ein Weib, dessen Adel bis hinauf zu deinem Throne reicht! Der Sänger ist noch jung und wird, wenn du meiner Bitte willfahrst, dir ein Loblied singen, wie's noch nie ein Menschenkind getan.« ,– ,–

Und Zeus schuf ein Weib. Das war so schön wie die Trunkenheit eines Frühlingstages und so herrlich wie der Feierfrieden einer Maiennacht. Doch ehe er seinem Geschöpfe den lebendigen Odem einblies, rief er Eros zu sich. »Gefällt dir's?« raunte der Gott und wies mit der Rechten auf sein Werk. Eros blickte mit großen, erstaunten Augen auf die Meisterleistung und sah lange, lange darauf hin. Dann wiegte er sein blondgelocktes Haupt, schüttelte es dreimal ganz langsam und sagte leise: »Nein, ewiger Vater!« ,– »So bist du eben größer als ich, törichter Schelm!« ,– Fauchend verließ er den Schmetterlingsjäger.

Psyche kam, kniete verwundert vor dem Meisterwerke ihres Gebieters und schlug entzückt beide Hände zusammen. »Laß mich auf deine Schultern steigen, damit ich jenes Werk vollende,« sprach Eros, kletterte auf den Rücken der Psyche, nahm seine beiden Zeigefinger und tippte damit auf die Wangen des neuen Geschöpfes. Als er wieder unten stand, da jauchzten und kicherten beide über die Grübchen, die Eros in's Werk des donnernden Zeus gezaubert hatte. Und Zeus blies seinem Geschöpf den lebendigen Odem ein, wetterte über Eros' Schelmenstück und sandte ihn hinab mit seiner Gabe zum trauernden Dichter.

Nach Monden sprach Zeus zu Eros: »Was macht mein Sänger? Nenne mir den neuen Hymnus, den er mir gesungen.«

»Allmächtiger Vater,« entgegnete Eros, »er singt nicht von deinem Ruhm. ,– ,– Die Wangengrübchen, die ich geschaffen habe, sind Inhalt aller seiner Lieder.« ,– ,–

Da lächelte Zeus: »Die kichernden Schatten besingt er? ,– ,– Die Grübchen, in die ein Tropfen deiner Schelmerei geflossen ist und ein Strahl deiner tanzenden Laune? ,– ,– Ich bin dir nicht böse, Eros ,– ,–«

Und streichelte den Gesellen. »Aber was wird Aphrodite sagen?« fragte er plötzlich und lief laut lachend in die Wolken hinein.

*

Kartenspielertod

Es ist nachts gegen zwölf Uhr herum, im Dorfwirtshaus. Die Petroleumlampe, die breitschirmig an der verräucherten Decke funzelt, hat ein schläfriges, mißmutiges Auge. Der ganze Raum ist durchqualmt von Pfeifenrauch. Unter der Lampe sitzen die Kartenspieler: Der Dorfschulze, der Schenkwirt, der Tischler und der Schmied. Sie sitzen stumm da mit gespannten, erwartungsvollen Gesichtern. Das Bier steht schal in den Glasern. Die Karten fliegen, Köpfen und klatschen. Ab und zu fliegt ein Ruf oder eine derbe Qualmwolke hinter der springenden Karte her. ,– ,– plötzlich zuckt der Schmied zusammen. Der Stuhl schlägt um. Lautlos liegt der Schmied in der Gaststube, in der schwieligen Hand noch die gefächerten Karten. Die drei Gesichter blicken von ihren Karten auf; erwartungsvoll, überrascht und neugierig blicken sie auf. Der Dorfschulze schiebt den Stuhl beiseite, befühlt den Toten, sagt: »Herzschlag«, drückt ihm die Augen zu und geht wieder auf seinen Platz zurück. Das Spiel geht weiter, schleppend, nachdenklich, etwas erschrocken, plötzlich halten sie an. Es ist, als ob ein einziger Gedanke ihnen die Karten aus den Händen legt. ,– ,– Der Dorfschulze sagt: »Wir wollen doch mal nachsehen, was der Selige für Trümpfe gehabt hat.« Sie stehen auf, knien am Toten nieder und lugen mit müden, rauchgeröteten Augen ins letzte Kartenspiel des Schmieds. ,– ,– Dann nicken sie vor sich hin: »Weiß Gott, er hatte eine gute Karte bis zuletzt.« Dann nehmen sie ihre Mützen, gehen eifrig die Dorfstraße herunter und bringen der Frau vom Schmied die Hiobsbotschaft. ,– ,– Die rennt schreiend und klagend, in der Nachtjacke, der Schenke zu. ,– ,– Ein Hund bellt am Schäferhause auf.

*

Ausfrager

Einer schrieb mir: »Was möchten Sie sein, wenn Sie nicht Schriftsteller wären?« Offen gesagt: Ich fand die Frage nicht gerade sehr bescheiden. Es kam mir vor, als läge ein leiser Hohn darin; zumal die Frage auf eine Postkarte, eine nackte Postkarte, groß, fingergroß geschrieben war. Ohne Anrede und ohne Unterschrift natürlich. Das Fragezeichen stand bedrohlich wie ein Haken, der mich aufbammeln wollte. Und doch! Als ich lange auf die Balken der Buchstaben blickte, auf die Kreise und Galgen und Messer und Spitzen und Schleifen, da gewahrte ich, wie ein treuherziger Schalk daraus hervorsah. Ich fing an nachzudenken. Also, was wäre ich geworden, wenn ich nicht Schriftsteller wäre?

Vielleicht ein Fuhrmann? O ja; so durch den Frühling fahren, eine Sternenblume hinters Ohr geklemmt, auf dem Kutschbock sitzend; in den Horizont hineinfahren, ins blaue, gläserne Frühlingslicht. Einen Hund, einen treuen Hund an der Seite, herrlich wäre das. Und Sonntags, schön angezogen, eine Braut in die Kirche kutschieren, eine seidenknisternde Braut, die man selber gern geheiratet hätte. ,– wie ein Märchen wäre das.

Oder Laternenanzünder? ,– So durch den Abend gehen, den Laternenstab über der Schulter. Und es schneit; der Wind bläst. In allen Häusern feiern sie Weihnachten. Und ich muß laufen. Durch meine zitternden Lippen spreche ich leise die Weihnachtsgeschichte vor mir her. Aber jede Laterne kenne ich. Jede hat ein anderes Auge, jede hat ein anderes Leben, jede eine andere Seele und andere Gedanken. Und sie kennen mich, wie ich sie kenne. Sie sind Grübler und neugierige Gesellen. Sie gucken in jeden Stern und spiegeln sich in jedem Dreck. Ach ja, es wäre schön, wenn ich Laternenanzünder wäre.

Oder Kirchturmwächter in einer Stadt, die seit tausend Jahren in einer verschimmelten Chronik steht und wo die Leute die Zeitung lesen bis an den letzten Buchstaben und bei den Familienanzeigen anfangen, wenn sie das Kreisblatt zur Hand nehmen. Und wo die Frauen im Abendlicht vor den Haustüren sitzen, und wo die Männer sich beim Skat vergnügen, und wo die Kirche einen Heiland hat, der selig lächelnd durch die Aehren geht im Erntelicht. Und wenn ich auf meinem hohen Turm stünde, der rissig ist und kipplig und Moos auf dem Schädel hat, o, wer würde mich nicht beneiden! Da geht der Herr Bürgermeister mit seiner Frau Gemahlin über die Straße! Ich nehme meine große Trompete und blase, daß das ganze Städtchen aus den Träumen aufwacht. Die Spinnweben, die das Angesicht des Städtchens versponnen haben, juble ich mit meiner Trompete herunter. Die Sterne, die das Städtchen überwandern, schmettre ich mit meiner Trompete vom Himmel hernieder, daß sie klirrend auf das holprige Kleinstadtpflaster fliegen. Ich würde mit meiner Trompete so lange jubeln, bis in der Chronik die verstaubten, blutigen, ehrwürdigen, perückenweißen und stolzen Namen und Zahlen an zu gähnen fangen, zu tanzen und zu springen. O, das wäre wunderschön!

Oder wie schön wär's, wenn ich Dorfgeiger geworden wäre? Schön wär das. Ich würde alle Kindtaufen, Hochzeiten und Begräbnisse in meine Geige hineinfiedeln. Meine Geige würde sie behalten. Und in meinem Schlaf würde die Geige wieder anfangen zu tönen wie eine Trunkene, die sich an süßem Wein berauschte: Dankeslieder, Tänze und Choräle. Ich würde mit meiner Geige ganz zusammenwachsen. Das Herz des Dorfes würde ich in meine Geige hineindrücken, bis ich's ganz hätte; alles: Sichelklang und Aehrenrauschen, Bauernschweiß, Faltertaumeln, Ernteglut und betende Schnitterhände Alles. Und eines Tages würde ich die Geige zerhauen; ja, das würde ich. Das Herz des Dorfes würde aus der zerspaltenen Geige herausströmen. Und Gott würde es greifen, aus dem Himmel herauslangend mit ewigen Händen. Und er würde es zärtlich an seine Brust drücken. Ja, ja, Dorfgeiger möchte ich schon sein.

Aber was bin ich denn? was hab' ich denn? Eine Feder hab' ich. Einen Bleistift hab' ich. Und die machen mich, wenn's ihnen einfällt, wenn sie ins Träumen kommen, zum Fuhrmann und zum Laternenanzünder, zum Kirchturmbläser und zum Dorfgeiger. Ich bin's. Und bin's auch nicht.

*


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