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Im Großstadtgewühl habe ich vor langen Jahren auf einem Bücherkarren einen Schmöker gekauft, der mir unersetzlich geworden ist. Es ist mein Zauberbuch. Ich kam damals mutterseelenallein aus einem kleinen Nest und hatte nur einige Markstücke in der Tasche. Den Schmöker erstand ich für ganze 5 Pfennige. Es ist ein Adreßbuch; nicht dick und nicht dünn. Die Stadt, woher dieses Personen- und Straßenverzeichnis stammt, weiß ich nicht; denn der Einband, die ersten drei Seiten und das Titelblatt fehlen. Es fällt mir auch gar nicht ein, den Geburtsort meines Zauberbuches zu erforschen. Ich freue mich, daß ich es habe. ,– Das zerlederte Buch ist meine Fundgrube; es ernährt uns alle, meine Kinder, meine Frau und mich, wenn auch nicht gerade glänzend; aber es ernährt uns wenigstens, wenn ich etwas in der Seele habe, was herausfliegen will, etwas Ungewisses, Drängendes, dann nehme ich dieses Adreßbuch in die Hand und blättere darin herum. Plötzlich bleiben meine Augen an einem Namen hängen, einem komischen Namen: Franz Wappenschild oder Jakob Heidebuckel, Liene Uhle oder Schnurrpfeil, Christian Liedersinger, Holzschuher oder Frohmichel. Ich komme nicht mehr von dem Namen los. Eine Landschaft schwebt in meiner Seele auf; ein Stadtbild erhebt sich. Ein Lebensschicksal blättert sich mir auf. Und nun fange ich an zu schreiben. Ich schreibe Tag und Nacht. Wie eine bunte Himmelstaube schwebt und singt über den vielen Blättern, die ich vollschreibe, immer dieser seltsame Name, den mir das Adreßbuch verraten hat. Ich schreibe wie ein Besessener. ,– So ist's mir bei allen meinen Büchern gegangen, immer sind es die Namen, die mich wie ein Zauberstab berühren und die Quellen in mir aufspringen lassen. Die Namen klopfen, streicheln, beißen und treten mich. Sie beleuchten meine Seele, sie tanzen mit ihr; die Namen, die komischen Namen. Sie nehmen mich auf ihren Rücken und tragen mich davon. Freilich erwandere ich mir auch Gedanken auf Landstraßen, in verkrochenen Dörfern; fange aus dem Frühlingswind meine Geschichten, hasche Sterne aus meiner Frau heraus, nehme die bunten Laternen, die in den Gesichtern meiner Kinder schimmern, schreibe meine Träume auf; aber die größte Macht strömt mir doch aus meinem Bücherkarrenadreßbuch zu. O du altes, zerledertes Buch! Geh' nicht von uns fort! ,– was wäre ich ohne dich?!
*
Jedes Haus in dieser krummen, gewundenen Gasse scheint auf einen seltsamen Gast zu warten. ,– Aber wer soll denn zu diesen versorgten, armen, schiefen Häusern kommen? ,– Da, sie haben auf die Glockentöne gewartet, die aus der Höhe poltern und singen. Die Häuser fangen die Glockentöne auf, nehmen sie in ihre Winkel und Nischen und streicheln sie, lassen sie wie Fangbälle springen und wieder davonrollen, weit den Bach entlang, in die Landschaft hinaus. Und so warten die Häuser auf die Sonne, auf den Mond, auf Wind und Sterne und Regenbogen. Und immer wird jeder Gast mit einem besonderen Gesicht erwartet. ,– Ach, die krumme Gasse gibt sich überhaupt nicht mehr mit Menschen ab. Sie hat die Menschen mit ihren Mietssteigerungen und Steuerquittungen so sterbenssatt. Sie verkehrt nur noch mit himmlischen Dingen und mit den Mächten der Natur. Denen schlägt sie ihre Grundbücher auf, und wenn die hineinblicken, wird ein Zauberbuch daraus, aus dem Spukballaden flattern oder hexenhafte Spinnensprüche oder vergoldete Märchenzeilen.
Kurz vor Sonnenaufgehen fühlen die Häuser schon den jungen Tag. Sie halten die Augen fest geschlossen und lauschen gespannt, als wollen sie fernenweit Worte enträtseln. ,– Und nun hören sie, wie es Tag wird. Sie hören's an einem Wispern und Tuscheln und leisem, leisem Sirren. Und wenn die Sonne da ist, dann machen sie erst langsam die Augen auf. ,– Die krumme Gasse ist es, die die Unendlichkeit eines Augenblickes tief erkannt hat: Flog da ein großer Schmetterling breit und kurvenbunt die Häuser entlang. Wie eine sekundenlange Verwandlung kam's über die Häuser. Ein flüchtiger, zarter Schimmer glänzte über ihr Angesicht. Und es war, als ob ein Farbenrausch, ein himmlisches Klingen, ein Perlenhaufen über die Gasse geregnet wäre; so stark, daß die Häuser den Atem anhalten mußten. ,–
Es ließe sich noch soviel von der Seele der alten, krummen Gasse erzählen. Aber man muß schon mit ihr ganz intim werden. Und das dauert lange Zeit. ,– Wer weiß, ob ich nicht tiefsinnig werde, wenn ich ihre ganze Seele erhascht habe. ,– Darum: Behüt dich Gott, du krumme Gasse!
*
Jetzt, da der Vorfrühlingswind durch die Dorfstraße eilt, ist's, als ob sich die alte, knorrige Straße wieder breit macht, als ob sie aufjauchzt bei jedem Sonnenfetzen, als ob sie sich in das Blau des Himmels hineinwühlen möchte, als ob sie jeden Kindersingsang belauschte. ,– Und abends, wenn sie im silbernen Gewebe der Sterne liegt, dann horcht sie hinaus, wo der Bach über die Kiesel fliegt; oder sie zieht sich hinein in den feldergrünen Traum der Bauern. ,–
Gestern fuhren zwei Menschen auf der Dorfstraße einen zweirädrigen Karren. Es war gegen Abend. Ein Mann, in einem guten Anzug, hatte sich vor den Wagen gespannt. Eine Frau schob den Karren. Auch sie war sehr fein gekleidet. Offenbar stammten sie aus der Stadt.
Auf dem Karren, hoch oben, thronte ein alter Ohrenstuhl; ein sagenhaftes Ding, von Märchenduft umweht. Ein Stuhl, der einer Großmutter gehörte, die in ihrem alten Herzen Märchen hatte wie Goldketten in einer überschimmelten, angestoßenen Truhe. Wie oft hatten zu ihren Füßen Enkelkinder gekniet, die mit erschauernden Seelen der Großmutterfabeleien lauschten. Auf der Stuhllehne fingerten sie herum, mit Schieferstiften zerkratzten sie die breiten Arme des Ohrenstuhls. ,– Und der Stuhl eroberte sie sich alle: die Kinder und die Kindeskinder. Erst knieten sie vor ihm, dann setzten sie sich, müde, weißhaarig, auf ihn herauf; thronend wie in einer Wolke. Es war immer das alte Lied vom Knospen und vom Blühen und vergehen. Menschengeschlechter hat der Stuhl getragen. Er war Wiege und war Sarg; lange, lange Jahre.
Nun fuhr er dahin. In die Stadt vielleicht, in einen prahlerischen »Salon« hinein. Zu Menschen, die ihn nicht kannten; die bloß so taten, als ob sie verwandt mit ihm seien, Verschachert war der Stuhl. Sie fuhren ihn dahin, wie man ein Ausstellungsstück dahinfährt, das nach Geld und Wohlstand riecht. Der Stuhl konnte sich nicht wehren.
Aber jetzt war's, als ob die Dorfstraße aufmuckte, als ob sie den Stuhl nicht zum Dorf hinauslassen wollte; als ob sie wütend wurde. Sie buckelte sich; sie rannte, stolperte und kletterte, daß der Wagen springen mußte und schwankte. Sie riß ihre Löcher auf; ihre Striemen taten sich auf. Sie warf sich dem Wagen vor die Räder, rollte Sterne; sie knirschte und rumpelte und kratzte und knurrte. Die beiden Großstadtleute schwitzten und fluchten; aber sie überrumpelten die Straße und verschwanden nach einer Weile in die Nacht; mit dem Stuhl, der so alt war wie der Rauch, der heimatselig aus den Schornsteinen kroch.
Breit und horchend lag die Straße wieder da. Es war, als ob sie andächtig in die Ferne lauschte, wo der Wagen fuhr, weit fuhr; als trüge er einen verschacherten Zauberer mit sich, der ab und zu mit alten, müden Fingern in eine selige Harfe greift.
*
Nun will ich leise in den Himmel gehen
Mit meinem alten Wanderstock.
Schon flattert in der Morgenfrühe
Vom Atem Gottes froh mein Rock.
Ich klinge vom Geläute alter Türme.
Ein Lerchenlied in meine Seele bricht.
Ich rausche mit dem Mühlradrauschen.
Ich blühe mit der Linde süßem Licht.
Und wie ein Cherub steht die ew'ge Sonne
Und grüßet mich im Flammenschein.
Jetzt stößt sie mit dem gold'nen Schwert
Den Himmel auf und läßt mich ein.
*
Wenn man zerwanderte Schuhe hat, wenn der Knotenstock in den braunen Händen schon rissig wird, wenn der Kittel verstaubt ist, und wenn man noch ein ganzes Dutzend Einmarkscheine in der Hosentasche hat, dann muß man im »Grand Hotel Continental« um ein Nachtlager bitten; nein, nicht um ein Nachtlager, um ein Zimmer muß man höflichst bitten. Und wenn man das Glück hat, durch die Tür gelassen zu werden, dann kann man allerhand erleben. ,– Der Kellner, geschniegelt und gebügelt, kommt sich auf einmal wie ein König vor. Er spricht nur von oben herab, Verachtung zuckt um seinen Mund. Er ist nur Würde, ist nur noch eine strenge Bügelfalte. Wenn diese Bügelfalte nun gnädig ist, dann weist sie ein Zimmer an, das ganz oben ist, wo die Sonne wie ein Vulkan brennt, wenn man mächtig müde ist, dann schläft man, oder man duselt noch vor sich hin. Man hört, von unten wohl noch, wie die Geigen im Foyer singen und den reichen Gästen das Geld aus den Taschen kitzeln. Aber wenn man eingeschlafen ist, o Gott, die Träume! ,– Die Markscheine in den Hosentaschen werden lebendig, flattern bis auf die Bettdecke, bleiben dort liegen, und plötzlich tauchen zwei Augen auf, groß wie Mühlräder, die Augen des Kellners. Und die Augen beschielen die Markscheine. Feurige Flammen züngeln aus den Augen und fressen das Papiergeld. ,– Und dann geht's auf einmal wie ein Automobil durch die Stube. »Grand Hotel Continental.« Und es kurbelt und rattert und rast und stößt an das Bett, und das Bett wird durch die Stubendecke gestoßen, auf das Dach hinaus und kracht hinunter, fünf Stockwerke tief; und unten wird man ausgelacht. »Grand Hotel Continental.«
Im »Auge Gottes« aber ist's was ganz anderes. Da habe ich gestern geschlafen. Wie das schon klingt! Ich habe im »Auge Gottes« geschlafen. Als wäre man nicht mehr auf der Erde, so klingt's. Wie eine Kinderewigkeit; so singt's. Man denkt an eine Sternenstunde, wo einem Flügel wachsen, wenn man das hersagt: Ich habe im »Auge Gottes« geschlafen. Alt und vergrämt sah es aus. An der Giebelstirn hing angerostet ein schmiedeeisernes Gottesauge. Das »Auge Gottes« drückte sich, am Marktplatz, schüchtern um die Kirche. Und wie ich eintrat und um ein Nachtlager bat, da ging ein ganzes Märchenreich auf. Und wie ich im Herbergsbette lag, in den rotkarierten Bettkissen, da hatte ich einen seligen Traum: Fünf schmiedeeiserne Notenlinien spannten sich über mein Bett. In den Notenlinien saßen Landsknechte und würfelten. Trommeln hingen in den Notenlinien, Lanzen staken darunter, daß es aussah, als wäre es eine trutzige Note, die aus einem mittelalterlichen Kriegslied geflogen war. Ein Engel saß ganz oben auf den Notenlinien, hatte einen schäumenden Humpen in den Händen und goß den Wein auf die Landsknechte, die lächelnd und bärtig aufsahen. In ihren alten Augen fing es an zu schimmern. Und nun sah ich alles, was durch diese Landsknechtsaugen gegangen war: grüne Länder und Städte aus Marmor, Wasser, Gold, Hüttenrauch, tanzende Kinder, Blut, sengende Flammen, rauschende Fahnen; alles sah ich auf dem Grunde dieser Landsknechtsaugen aufleuchten. Und auf einmal war alles verschwunden. Ein Handwerksbursche balancierte barfüßig über die Notenlinien. Und wie seine Füße die Linien berührten, da hob ein Klingen an und ein Singen ,… Ich wachte auf. Auf dem Fensterbrett, traumhell im Mondlicht, saß eine Nachtigall und sang.
*
Auf einmal ohne daß man es will, muß man stillstehen; wie angenagelt stillstehen. In irgendeiner seltsamen Maske, einem Sonnenstrich, einem Glockenklingen oder Blättermurmeln fliegt eine Menschenseele und umgaukelt die Seele des Lauschenden; verzaubert sie, durchlächelt sie. Leibhaftig ist der Mensch und sein Werk wieder da.
Da bin ich gestern über Wiesen und Felder gelaufen. Die Frühlingserde unter meinen Füßen wankte. Das Wasser strömte in meine Schuhe. Und da ich doch keine Wasserjungfer und kein Falter werden konnte, lenkte ich ein und lief weit hinaus, wo sich in vornehmer Stille schöne Häuser aufbauten. Ich kam an ein Haus, dessen Eigentümer ich nicht kannte. Und plötzlich zwang mich ein Ornament, das über der Gartenpforte saß, stehen zu bleiben. Ein putziges Ornament: Taschner hätte es meißelnd ersinnen können, Schubert hätte es singen können, Andersen hätte es erzählen können und Mörike hätte es phantasieren können: Ein langbeiniger Geiger, in ein Rechteck geflegelt, die Fiedel zwischen den hochgezogenen Knien. Eulenspiegelhaft, kirmesselig. Und darüber, zu Häupten des Musikanten, ein jubilierender Vogel. ,– Und plötzlich strömten in mein Herz Melodien aus »Hänsel und Gretel«. Ringelreihenstrophen durchtanzten mein Herz. Wiegengesänge, Königskinderlieder und Akkorde, die verweht werden von Weihnachtsflocken. ,– Ich vergaß meine nassen Schuhe und Strümpfe. War ganz verhext von der seltsamen Seligkeit, die mein Herz durchblaute. ,– Und so von ungefähr fingen meine Augen an zu suchen nach dem Schild des Eigentümers. Und da stand's, eine Name: »Hum–per–dinck. ,– ,–«
Aus dem Grabe heraus hatte er mir zugewinkt. Und nun war's auf einmal, als wollte sich mein alter, knorriger, verschrammter Wanderknüppel umbiegen zum goldenen, schimmernden Stab des gütigen Buko von Halberstadt.
*
Ich reiße mir den Rock vom Leibe.
O Frühlingswind, wer dir gefiel!
Du zupfst mich und du rupfst mich,
Als wär ich just ein Saitenspiel.
Und über Wiesen, durch das Tal,
Da flieg ich wie ein Lied.
Nicht weit von meinem Munde
Ein bunter Falter zieht.
Es stehen spät am Abend
Die Sterne um mich her.
Ich schlaf' in Gras und Blumen,
Als wenn's ein Brautbett wär.
Und habe tief gelächelt
In meinem Wandertraum.
Mir war's, als ob ich blühte
Schön, wie ein Lindenbaum.
*
Wandernd kam ich in eine Kleinstadt. In einer Gasse stand abwesend finster, in mittagsblauer Luft ein Haus mit einem Stiefel über der Tür. Eine Schusterwerkstatt. Die Schnürhaken meiner Schuhe waren fast alle abgerissen und meine Schnürsenkel hatte ich, weil sie längst nicht mehr standhielten, durch Bindfaden ergänzt. Ich trat ein. Leider traf ich den Schuhmacher und seine Frau in einer recht unangenehmen und geräuschvollen Unterhaltung an. Die Frau, ziemlich dick, vollgescheiteltes Haar, lebhafte Augen und kecke Schultern, schimpfte, daß die Augen wie Blitze flimmerten und zuckten. Ihr Mundwerk hatte eine gutgeschmierten Gang. »Du Saufsack! ,– versoffener Hund!« Es war schon eine üble Blütenlese aus diesen Kosenamen. Der Schuster saß auf seinem Schemel, einen Schuh zwischen den Knien, unschlüssig, etwas zu sagen. Nur manchmal, wenn ihm ein recht dreckiges Schimpfwort an den struppigen Schädel flog, zuckte er etwas zusammen und hob, ringkämpferhaft, seine sehnigen, nackten Arme. Und jedesmal, wenn er die Arme hob, trat die Frau zurück; aber während sie zurücktrat, wurden ihre Reden nicht etwa sanfter; nein, sie wurden saftiger, gemeiner ,…
Ich wußte erst gar nicht, was ich tun sollte. Ich stand da und horte den häuslichen Holzhackerradau mit an. Und während das Schusterunwetter tobte, sah ich mir die Werkstatt an. Eine alte Uhr war da. Auf dem Schustertisch, zwischen Glasscherben, Lederabfällen und Handwerkszeugen blühte im Hals einer Bierflasche ein Weidenkätzchen. Eine verhängte Glastür führte hinein in die Wohnräume der Schustersleute. Neben dem Schuhmacher saß auf einem Schemel, der sonst sicherlich dem Gesellen oder Lehrjungen gehörte, ein Mädchen, so von sieben Jahren vielleicht. Strohige Zöpfe hatte sie, ein furchtsames Lächeln im Gesicht und hellgraue Augen mit ganz weißen, langen Wimpern. Auf den Knien hatte sie ein Buch liegen, in das sie ab und zu schnelle Blicke schickte. Sie war wohl die Tochter der beiden. Und ohne auf die elterliche Schimpferei zu achten, trat ich zu dem Kinde und lugte, so von oben herab, in das Buch hinein. Es schien ein Lesebuch zu sein, ein biblisches Geschichtsbuch, denn ich erhaschte eine Ueberschrift: »Der Jüngling zu Nain« ,… Da sprang der Schuster auf. Wie von einem vergifteten Spieß gestoßen, so fuhr er in die Höhe. Seine Augen, die erst ruhig waren, funkelten wütend. Er stürzte auf seine Frau zu. Die aber war katzenflink. Mit einer Schnelligkeit, die mich in Erstaunen setzte, riß sie die Glastür auf, war in der Stube und riegelte die Tür ab. Der Schuster kehrte wieder, bissig lächelnd, auf seinen Schemel zurück. Und ohne überhaupt nur mit einer Silbe auf diesen ehelichen Krieg zurückzukommen, fragte er nach meinem Begehr. Ich zog die Schuhe aus, setzte mich auf einen Stuhl und wartete in Strümpfen solange, bis er meine zerschundenen Rappen wieder in Gang gebracht hatte. Er holte erst aus der Hosentasche eine Schnapsflasche und tat einen tüchtigen Schluck. Dann nahm er gleich meine Stiefel in die Kur. Unterdes feuerte hinter der Tür seine Frau immer noch mit Schimpfworten.
Da der Schuster sehr verschlossen tat, bat ich seine Tochter, mir doch die Geschichte vom Jüngling zu Nain zu erzählen. Und ohne sich zu zieren, fing sie an. Erst tastend, dann ganz herzlich und warm, als ob sie von der heiligen Begebenheit durchleuchtet würde. Sie erzählte, ohne ins Buch zu sehen. Sie blickte mich an, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Kinn in die Handflächen gebeugt: Jesus und seine Jünger kamen in eine Stadt, die hieß Nain. Als sie an das Stadttor kamen, da trugen die Leute einen Sarg. Und im Sarg lag ein Jüngling. Seine Mutter ging hinter dem Sarge her. Der Jüngling war ihr einziger Sohn. Und er ernährte seine Mutter, denn sie war eine Witwe. Alle Morgen, wenn er auf die Arbeit ging, machte sie ihm die Brote zurecht und die Flasche mit dem Kaffee. Und alle Sonnabende, wenn er von der Arbeit kam, gab er ihr immer die ganze Tüte, wo er den Wochenlohn drin hatte. So lebten sie sehr gut. Aber da starb er. Und die arme Frau war nun ganz allein und mußte hungern. Der Herr Jesus wußte das. Sie tat ihm so leid. Da rührte er den Sarg an und sagte: »Jüngling, stehe auf!« Und der Jüngling zu Nain richtete sich auf, und seine Mutter war hocherfreut, daß ihr die Tränen kamen vor Glück. Und sie gingen dann gleich nach Hause. Und am nächsten Tage ist der Jüngling schon wieder auf die Arbeit gegangen, und das Glück war wieder da.
Mir war ganz wunderlich zumute, als ich die Erzählung so hörte; so im Uhdestil. Ich ließ mir das Buch reichen. Der biblische Text stand darin. Also stammte die Erzählung ganz aus dem Anschauungskreis des Kindes. Ab und zu, wie Giftgranaten, stoben hinter der Tür noch die Flüche der Schustersgattin. Aber die alte Uhr fing einen Choral an zu sinnen. Die Schusterkugel wurde ein silberner Stern. Durch die niedrige, muffige Werkstatt trieb die Schleppe eines Engels, hinter sich her eine flimmernd goldene Furche ziehend. Das kleine Mädchen las weiter; so vor sich hin. Nachdenklich mit dem Zeigefinger verfolgte sie jede Zeile.
Nach einer halben Stunde waren meine Schuhe wieder taktfest. Ich zahlte und gab dem kleinen Mädchen die Hand, die mir die ihrige hochrot und verlegen reichte, wie ich an der Tür war, warf ich noch einen Blick zurück. Der Schuster trank, den Kopf zurückgelehnt, wieder einen großen Schluck aus seiner bräunlich angelaufenen Schnapspulle. Das kleine Mädchen hatte wieder den Kopf in ihr Buch sanft gesenkt. Und weiter ging ich, hinaus, der seligen Sonne zu.
*
Meine Wanderschuhe eilen
Durch die weißen Frühlingssterne.
Und mein alter Wanderstab
Zieht mich in die blaue Ferne.
Und der Himmel und die Wolken
wogen in mein Herz.
Und mein Jubeln und mein Leuchten
Macht den Frühlingssonnenschein.
Lenz, dein holdes Angesichte
Drücke ich an meine Brust!
Mich durchsingt die Schar der Vögel
Mit der süßen Maienluft.
Ruf mich nicht und laß mich wandern!
Fort mit allem Schmerz und Weh!
Einmal müssen meine Schuhe
wieder durch den Winterschnee.
*
Und weiter geht's ins blaue Licht, das ganz durchsungen ist von Lerchenliedern ,… Mir ist's, als ob die Dorfhäuser hinter mir herschreiten; rufend und singend hinter mir herschreiten ,… Wen treffe ich heute? Einer muß mir begegnen, den ich schon lange liebe und den ich noch nicht gesehen habe. Ich fühle es. Und die Birkenbäume, an der Landstraße schmiegen und biegen den seidenen Frühlingstag ,… Da, um die Nachmittagsstunde!
Fast alle Fenster im Dorf sind geöffnet. Man kann sich bequem hineinlehnen und die ganze Stube deutlich durchschauen. Ich liege und blicke lange in die Kammer des Flurhüters hinein. Kein Mensch ist drinnen ,… Und plötzlich sehe ich nahe dem Fenster ein seltsames Bild hängen. Ein Bild, wie man sie früher hatte, als es noch Zichorienpakete gab; Stück für Stück 10 Pfennig. Diese Pakete hatten solche Bilder eingerollt. Ich komme auf den Gedanken, daran zu riechen, aber das Bild hängt zu weit. Uebrigens kommt mir das Bild so bekannt vor. Es ist von Fliegen beschmutzt, angegraut und verstaubt ,… Einen Mann stellt es dar: Ziemlich dick das Gesicht. Die Stirn hoch. Unterkinn. Weiß Gott, ist das nicht Jean Paul? Wahrhaftig, die Augen sind voll von singender Trunkenheit, voll Himmel und Ewigkeitsglanz. Hier und dort, auf dem großen Schädel fehlen Locken, willkürlich herausgeschnitten. Vielleicht haben sie Verehrerinnen mit in den Sarg genommen. Und da unterm Bilde steht etwas. Ein Vers:
»Jean Paul, der Wahrheit Freund, Feind aller Laster,
Empfiehlt gewiß auch gerne diesen Knaster.«
Also hat dieses Bild des Gottes aus der Rollwenzelei in einem Tabakpaket eingewickelt gelegen. Ein Reklamebild, wahrhaftig. Und nun hängt's seit hundert Jahren vielleicht schon in der Stube vom Flurwächter, mit Sicheln zusammen, alten Röcken, Schaftstiefeln, alten Uhren, mit Knotenstöcken zusammen und mit Kornähren vom letzten Erntefest ,… Und nun wandre ich weiter. An meiner linken Seite geht hungernd der Armenadvokat Siebenkäs aus Kuhschnappel und spricht vor sich hin, zwischen den Zähnen: »Ich pfeife das Leben aus, das Welttheater, und was so darauf und dergleichen.« An meine rechte Seite gelehnt, immer die Augen im seidenblauen Frühlingshimmel, schreitet Liane aus dem »Titan«. ,– Und es geht mir durch den Sinn: warum bist du hier auf der Landstraße? was will das Leben mit dir? Und plötzlich werde ich ganz froh. Es jubelt in mir auf: »Oh, wenn ich nur soviel Sinn habe, wie das Blatt vom Birkenbaum an der Straße, dann bin ich nicht überflüssig.
*
In einem thüringischen Nest kam ich im Nachmittagslicht in ein Armenhaus. Ein wehes Haus, um das sich die Sonne drückte, als wollte sie es wärmen und durchfluten. Eine Schwalbe umkreiste die Mauern, die einmal weiß getüncht waren und nun abblätterten und den Lehm heraussehen liegen. Und wie die Schwalbe das Haus umschoß, da war's, als ob sie einen blauen Himmelsfaden um Dach und Fenster und Türen wickelte ,… Ich setzte mich drinnen an einen groben Holztisch, der wackelig und von Taschenmessern eingekerbt war. Einer, zitternd, mit unsicherer Stimme und unsteten Augen, setzte sich zu mir: Ein alter Trinker. Er erzählte mir, daß in der Hinterstube ein Mensch wohne, der Musik mache. Er müsse hier wohnen, weil ihm die Musik fast gar nichts mehr einbringe. Nur Sonntags, wenn Tanz sei, spiele er auf. Seine Frau sei gestorben. Er lebe mit seinem Jungen zusammen, der so an die vier Jahre sein möge. Manchmal käme auch der Lehrer zu ihm und ließe sich was vorspielen. Und der Lehrer habe ihm gesagt, daß der Mann aus der Hinterstube die Musik aus sich heraus mache; daß er sich die Musik ausdenke. Er wäre ein Künstler, habe der Lehrer gesagt, wenn er auch im Armenhaus wohne.
Ich stand auf, um den eigenartigen Menschen zu besuchen. Ich klopfte an und trug drinnen mein Anliegen vor. Vor mir stand ein Mensch, Mitte der Fünfziger mochte er alt sein. Nur mit Hemd und Hosen und Strümpfen bekleidet. Das Gesicht hatte trotz eines rötlichen Schnurrbartes eine krankhafte Blässe. Die grauen Augen, die tief lagen, blitzten mißtrauisch und abwesend. Im Munde hielt er eine lange Tabakspfeife, die ihm bis zu den Zehen reichte. Die Stube war fast ganz leer. Am Fenster stand ein Klavier, darauf stand ein Bierglas mit Wasser, lag ein Kanten Brot, Notenstöße, Bleistifte und ein Band Gedichte von Liliencron. Unten an den Tasten stand eine Partitur, ein wunderliches Notenblatt. Wie mit Hexenzeichen beschmiert; manchmal sahen die Noten aus, als wäre eine Spinne durch einen Tintenteich gestelzt und habe sich auf das weiß des Papiers verirrt. Hingeschmissene, verrückte, tranzende, betrunkene Noten. Manchmal durchgestrichen, dann wieder mit Mehlkleister ein Stück weißes Papier übergeklebt, mit der Hand die Linien gezogen, und dann wieder Noten darauf, Noten, lauter Noten. In der Ecke stand ein gichtbrüchiges Sofa, darauf saß, an die Lehne gekauert, im Hemd ein struppiger, lächelnder kleiner Junge, der von der Stubenkälte eine rote Nase hatte ,… »Ich werde Ihnen meine Frühlingskantate vorspielen,« sagte der Meister. Er setzte sich ans Klavier. Der kleine Junge kletterte vom Sofa, nahm die lange Pfeife des Vaters in seine beiden Hände wie einen großen Stab. Die Pfeife überragte seinen Blondkopf um ein großes Stück ,… Und nun ging's los: Eine Hexerei war's, als ob der Himmel ins Armenhaus kommen wollte mit Klingen und Singen und Schwingen; Lenz und Sonne, Vogelorakel, Kirchturmsläuten, Herzensmelodien. Es war ein buntes, seliges Fest. Das Armenhaus kam sich wie verzaubert vor. Der kleine Junge stand da, in sich versunken. Manchmal hob er schüchtern seinen Kopf und sah nach oben, zum zitternden Pfeifenhals empor. Der Vater aber jubelte, als ob er aus dem alten Klavier lauter Edelsteine holte. Er kam sich wie ein Herrgott vor, der den Regenbogen übers Land zirkelt. Schön sah er aus, dämonisch, mit einem kleinen, überirdischen Lächeln, das immer langsam in den Bart kroch und wieder aus dem Bart herauskam ,… Es wurde finster. Das Armenhausfenster haschte das letzte Licht. Der kleine Junge, mit der großen Tabakspfeife in beiden Händen, stand immer noch wie unbeweglich, leuchtend, wie auf die Erde geweht.
Der Meister hatte das Herz des Armenhauses geweckt: Aus Verzweiflung und Not, aus Verkommenheit und Tränen holte er Himmelsfunken ,… Das Armenhaus war für drei Nachmittagsstunden die Herberge des ewigen, gütigen Gottes.
*
Wer weiß, wie's mir noch geht
Den ganzen Frühling lang.
Die Welt will fast zerspringen
Vom Nachtigallensang.
Die Uhren geh'n in Rosen,
Von Sternen angestoßen.
Der Birkenbaum
Saugt meinen Traum
In seinen weißen Stamm hinein
Und schaukelt ihn im Mondenschein.
Und hält ihn fest wie einen Schatz
In seinem Blute frühlingsstill;
weil er in Winterwehen
Nicht frieren will.
*
Im D-Zug nach München sitzt ein wunderlicher Fahrgast. Breitschulterig sitzt er da. Schaftstiefeln hat er an, einen dicken Knotenstock in der Hand. Bartlos ist sein Bauerngesicht: breiter Munds feine Schlauheit in den Augen. Er ist Eisenbahnbeamter, das deutet die Mütze ein, Schrankenwärter vielleicht oder Weichensteller in einer Kleinstadt. Vor sich hin, in den Schoß, hat er einen dicken Rucksack gelegt, den er ab und zu öffnet, eine mächtige Schlackwurst daraus hervorholt, sein Taschenmesser zieht, mächtige Happen abschneidet und sie langsam und mit Wohlbehagen in den Mund schiebt. Dann blickt er wieder müde, gelangweilt, vor sich hinduselnd im Wagen umher. Manchmal scheint er einzuschläfern, dann beugt er seinen Kopf tief auf die Handrücken, die vom Knotenstock gestützt werden. ,– ,–
An der nächsten Station, in Bitterfeld, schreckt er wieder auf. Er fragt, so nebenher, ob er bald in München sei.
»In München?« ,– da müsse er noch die ganze Nacht durch fahren. Der Zug sei erst gegen Morgen in München. So wird er belehrt.
Er nickt, als ob er das schon längst wüßte. Er schien nur ein Gespräch anknüpfen zu wollen.
»Haben Sie denn Verwandte in München?«
Der Mann mit der Eisenbahnmütze schüttelt den Kopf.
»Haben Sie sich denn schon ein Hotelzimmer bestellt? In München soll alles überfüllt sein.«
Mit leichtem, verlegenem Lächeln schüttelt er wieder den Kopf und sagt: »Nein, nein! Ich will dann abends gleich wieder von München abfahren, nach Hause.«
»Aber was wollen Sie denn in München?«
Da entgegnete er, langsam nach Worten suchend, aus sich herausgehend: »Nein ,… nein! ,… Ich bin Schrankenwärter und habe einen Urlaubsschein von der Bahn bekommen; damit kann ich hinfahren, wohin ich will.« ,– ,–
»Aber warum wollen Sie denn gerade nach München fahren?«
Jetzt steigt ein richtiger Spitzbubenzug in seine Augen, und er sagt: »Weil die Wandkalender dort billiger sind.«
»Die ,– ,– Wandkalender? ,– ,– wegen eines Wandkalenders fahren Sie nach München?«
»Ja. ,– ,– Es ist gar nicht mehr möglich, daß man sich bei uns einen Wandkalender kaufen kann. Da kostet ja so ein Ding fünf ganze Mark. Und ich bin mit meiner Frau so an einen Wandkalender gewöhnt, wenn wir ihn auch nicht brauchen; aber ein Wandkalender muß da sein, wenn er nicht da ist, dann fehlt uns eben was. Nun hat mir ein Kollege gesagt, daß in München die Wandkalender nur drei Mark kosten. Nun, da habe ich zu meiner Frau gesagt: Weißt was, ich fahre nach München und hole uns einen Wandkalender. Die Fahrkarte kostet ja nichts. Und die Züge sind jetzt wieder gut geheizt. Na, da bin ich eben losgefahren.«
»Und wollen Sie sich München nicht mal ansehen?«
»Ach,« sagt er gelangweilt, »die Städte sind ja alle egal. Eine ist wie die andere. Mit München wird's genau so sein. Zu Haus ist's doch am schönsten.«
Sagte es, beugte wieder seinen großen Kopf langsam auf seine rauhen Handrücken und fuhr weiter seiner Kalenderstadt zu.
*
Die Vorstadtstraße liegt im Abendlicht. Plötzlich biegt um die Ecke ein alter, quietschender Kinderwagen; die Räder krumm gefahren, das Korbgestell schief und wackelig. Der Wagen humpelt. Ein Grammophon steht auf dem Karren und schaukelt und kippelt hin und her. Ein alter, grauer Kerl schiebt den Kinderwagen. Er hinkt in ausgelatschten Pantoffeln einher. Sein Rock ist zerflickt und fadenscheinig. Seine grauen Haare werden vom Abendwind leicht bewegt. Seine Augen blinzeln müde. Sein Gesicht ist von Falten zerrissen, die bis in den struppigen Bart hineinkriechen.
Jetzt hält er den Wagen an und zieht den Grammophonapparat auf. Eine Walzermelodie dudelt und kreischt und schnurrt von der Platte herunter. Der Alte tritt zur Seite, macht schlenkrige Bewegungen; erst tastend, dann sicherer. Die alten Arme flügeln komisch. Und nun ist er drin, im seligen Bezirk eines Walzers. Er wird von den Tönen bewegt, gedreht, hin- und hergeworfen. Ueber sein Gesicht kriecht ein verlegenes bitteres Lächeln. Er verliert die Pantoffeln. Der Alte hüpft und walzt in Strümpfen weiter. ,– ,–
Er tanzt. Aber sein Tanz hat keine Lustigkeit, kein Sichverlieren. Ab und zu schielt er auf den Apparat, flüchtig, von der Seite. Er lauert auf einen armseligen Groschen, der auf den Dudelkasten fallen soll.
Der Alte tanzt. Seine Knie zittern. Sein Hunger tanzt, sein Elend tanzt. Die Walzermelodie trägt ihn nicht in alle Himmel hinein; sie raubt ihm den Atem, gräbt die Falten seines Gesichtes noch tiefer, treibt in seine halb erloschenen Augen etwas gierig Bettelndes.
Jetzt schnurrt der Apparat zu Ende. Schwindlig, taumelnd, greift der Alte nach dem hingeworfenen Bettlergroschen und schiebt seinen Karren müde weiter.
Der Abend kriecht grau hinter ihm her.
*
Wenn man, im Abendlicht, über die Landstraße geht und sieht auf dem hindunkelnden Felde eine Vogelscheuche zappeln, dann bleibt man wohl stehen und sagt sich: »Was hat so eine Scheuche wohl für Gedanken und Empfindungen?« ,– ,– Und im tiefsten Herzen wacht ein fragender Wunsch auf: »Wie wär's, wenn du dich mal eine Nacht als Vogelscheuche auf's Feld stellen würdest? ,– ,– Schaden kann's dir ja nicht.« ,– ,– Und dann geht man über den taufeuchten Wegrain, schleicht sich zur Vogelscheuche hin, reißt sie aus und schlenkert sie beiseite; dann fängt man an zu graben, mit den Fingernägeln, zwei tiefe Löcher; für jeden Fuß eins; und dann stellt man sich hinein, die Beine breit auseinander, scharrt die Löcher wieder zu; und nun stehe ich fest. Das Taschentuch binde ich mir um den Hut; wie eine Fahne flattert es, wie eine Narrenfahne. Mit den Händen stütze ich mich auf den Wanderstock und lausche wie hellhörig, mit blinzelnden Augen, in die tiefe, tappende Nacht hinein.
Der Tau fällt schwer. Wie in einer naßkalten Wolke stehe ich da. Der Tau hebt mich hoch. ,– ,– Was schwankt zu meinen Füßen? ,– ,– Die Stille raunt und murmelt und geistert; die Felderstille. ,– ,– Was bewegt unter mir die Köpfe im Nachtwind? ,– ,– Sind's die Kartoffelsträucher? ,– ,– Nein, nein! ,– ,– Eine Schar Männer sind's. ,– ,– »Meine Herrschaften, Sie sind von weither gekommen, um bei mir um die Hand meiner Tochter anzuhalten. ,– ,– Sie versetzen mich, offen gesagt, in eine höchst verzwickte Lage. Ich hätte nicht geglaubt, daß sich eine ganze Armee von Männern aufmachen würde, um mein Kind zu freien. Es wird mir schwer fallen, sie wegzugeben, weil sie die Sonne in meine Stube gebracht hat. ,– ,– Aber ich bin auch freudig überrascht. ,– ,– Was Sie für einen komischen Schatten werfen, Herr Geheimrat! ,– ,– Wie ein Aktenschwanz ist Ihr Schatten. ,– ,– Aber seien Sie doch nicht gleich so beleidigt! ,– ,– Warum rennen Sie denn gleich davon? ,– ,– Stubenwurm soll ich gesagt haben?« ,– ,–
Eine Maus raschelt; ein aufgescheuchter Vogel flattert. »Ah, Herr Pfarrer! ,– ,– Gott grüß Euch! ,– ,– Nur keine Angst, meine Tochter paßt in einen Kinderkreis hinein. Sie kann aus den Psalmen Ihrer dicken Bibel, Herr Pfarrer, bunte Kugeln machen und kann sie in junge und alte Hände werfen bis tief in die Herzen hinein. ,– ,– Sie wollen etwas einwenden? Ich weiß schon, was Sie fragen wollen; aber gedulden Sie sich: Zuletzt gebe ich die Antwort für alle. ,– ,– Ah, Herr Musikant; ist's Ihnen zu einsam mit Ihrem breiten Cello geworden. ,– ,– Sie sind arm; ich weiß es. Ich weiß noch viel mehr. Sie heben alle Abende den Deckel von ihrem Cello ab, legen zwei Kissen in ihre singende Kiste und schlafen darin. Ein Wunderbett. Können Sie Ihr Cello auch zum Brautbett gebrauchen? Es wäre gewiß lustig für meine Tochter; das Cello zum Brautbett; o, die Melodien, die Melodien. Sowas hätte sich Ihr altes Cello gewiß nicht träumen lassen. ,– ,– Was, Sie sind beleidigt?! ,– ,– Ach, entschuldigen Sie nur, das Mondlicht klirrt an meinem Schädel. Bleiben Sie nur, bis ich meine Antwort gegeben habe. ,– ,– Einen schönen Gruß, Herr Schulmeister! ,– ,– Auch auf Freiersfüßen? ,– ,– Ja, mit dem Essen im Gasthaus, das ist heutzutage eine teure Geschichte. ,– ,– O, die hohe Ehre, Herr Bankdirektor. Ich kann nur sagen, daß ich gerührt bin; soviel Aufmerksamkeit hätte ich mir nicht träumen lassen. ,– ,– Der Herr Bürgermeister! ,– ,– Ich weiß; ich weiß; Ihre erste Frau konnte das Geld nicht leiden. Meine Tochter, hoher Herr, ist die Sparsamkeit selber. ,– ,– Sie hat nämlich keinen roten Pfennig. Ich kann ihr nichts mitgeben. Sie ist arm. Sie müssen sich schon mit ihrer Liebe und mit ihren blauen Augen zufrieden geben. ,– ,– Laufen Sie doch nicht alle weg! Bleiben Sie doch hier! Um Gotteswillen; warum rennen Sie denn so? habe ich Sie so in Schreck und Angst gejagt, weil ich gesagt habe, daß meine Tochter arm wie eine Kirchenmaus ist?« ,– ,–
Jetzt geht der Mond groß und hell über's Feld. Ich greift in die Tasche und hole eine Kinderrassel heraus, die ich für meine kleine Tochter auf einem Jahrmarkt gekauft habe. Jetzt schwinge ich die Kinderrassel. Das Feld wird lebendig. Eine Fledermaus geistert schwarz um mich. Der Wind steht ruhig und lauscht. ,– ,– Ich schlafe im Stehen ein; den Kopf auf den Griff meines Wanderstockes gelegt. Ich wachse in's Feld hinein, treibe Wurzeln, blühe in meinen Träumen auf. ,– ,– Ganz früh werde ich von der heraufkommenden Sonne geweckt. Durchfroren, taufeucht und kreuzlahm gehe ich langsam davon, in den blaugläsernen Landstraßentag hinein.
*
Die Bauern erzählten mir von einem seltsamen Mädchen, von der Kindermaria. Im Herbst, vor zwei Jahren, sei sie zu ihnen gekommen; aus der Großstadt. Der Vater war Major gewesen und fiel in den letzten Schlachten des Krieges. Ihre Mutter starb im Jahr vorher. Die Kindermaria war ihre einzige Tochter, siebzehn Jahre alt, und hatte von den Eltern ein kleines Vermögen geerbt. Mit lachender Herzlichkeit sprachen die Bauersleute von ihr, die Arbeiterfrauen, die auf den großen Gütern beschäftigt waren.
Die Kindermaria kaufte für jedes Kind, das im Dorfe arm geboren wurde, die Ausstattung: Windeln, Jäckchen, Spielzeug, kleine Schuhe, Mützchen und Hemdchen. Und für die Schulkinder, die in der untersten Klasse saßen, brachte sie Schultafeln, Fibeln und Singebücher. Abends, nach Feierabend, erzählte sie in muffigen, armen Wohnstuben Märchen, sang. Lieder, bastelte und rätselte mit den Kindern.
Sie schien sich ziemlich kärglich zu ernähren. Das Vermögen sei sicherlich nicht groß gewesen, meinten die Bauern. Sie hätte Tag für Tag ein lichtblaues Kleid an, ginge barfuß und ohne Hut. Es gäbe übrigens keinen Menschen im ganzen Dorfe, der sie hätte essen sehen. Und im Bache wäscht sie sich, ganz früh am Morgen, wenn die Sonne aufgegangen ist. Sie wohne im Taubenschlag.
»Ja, in der großen Scheune, beim Großbauer, im Taubenschlag. Früher war's ein Taubenschlag; jetzt steht er leer, und da wohnt sie eben drin, die Kindermaria.« Seit einigen Tagen hätten sie sie nicht gesehen. Sie sei wohl krank.
Ich machte mich auf den Weg und stolperte die knarrende, wacklige, verstaubte Scheunentreppe hinauf. Im Halbdunkel sprang eine Maus über meine Füße. Ganz hoch oben, unterm Dach, wo ausgediente Eggen und Pflüge und Sensen lagen, war eine kleine Tür aus Spanbrettern flüchtig zusammengeschlagen. Ein Schloß war nicht daran, nur eine Bindfadenschlinge, die die Tür geschlossen halten sollte und lässig herunterbaumelte.
Ich klopfte schüchtern an. Kein Mensch antwortete. Ich trat ein und blieb in der Tür stehen. Auf einer Pritsche lag ein lichtblondes Mädchen, mit einer Pferdedecke zugedeckt, und schlief. Schmale, weiße Hände lagen gefaltet auf der rauhen Decke, umrieselt von blondem Haar, das in zwei dicken Zöpfen gebändigt war. Ein eigenartiges Licht war im Taubenschlag; eine Art Märchenlicht. Das runde Taubenfensterchen war nämlich mit blauem Seidenpapier überklebt. Die Sonne hatte sich einige Löcher hindurchgesehen und bohrte nun mit ihren goldenen Fingern daran herum. Die Bretterwände waren alle mit tiefroten Herzen bemalt, in die Herzen hinein war jedesmal ein weißer Stern gezeichnet. In einigen Abständen war hier und dort ein blauer, tiefblauer Blumenkopf hingekleckst.
Meine Augen blieben an einem Spruche hängen, der über der Pritsche stand, in dunkelgrünen Buchstaben: »Aergere dich um keinen Dreck. Setz' dich über alles weg.«
Ein ausgedienter Gartentisch war da. Eine dickbäuchige Vase stand darauf, mit Astern darin. Einige Bücher lagen herum: Der Zupfgeigenhansl, das Neue Testament und ein Buch von mir, mein kleiner Roman: »Ins Blaue hinein«. Es war mir ganz eigen zumute, hier oben, im Taubenschlag, bei der schlafenden Kindermaria, ein Buch von mir zu finden.
An der Holztür, vor der ich stand, hing eine Zeichnung, aus einer Zeitschrift gerissen, ein Bild von Rudolf Schäfer: drei flötende, geigende und brummbaßspielende Musikanten, auf Holzstühlen sitzend, mit einem Herzen in die Stuhllehne eingeschnitten.
Unter der Pritsche, in einem Pappkarton, lagen Kinderklappern, Pfeifen aus Blech, ein Lesebuch, Aepfel und Birnen.
Ich machte einige Schritte, um diese seltsamen Schätze näher zu betrachten. Die schlafenden Augen auf der Pritsche taten sich auf, groß und blau. Ein kleines, schwaches Licht fing in den Augen an zu glänzen. Und nun sah ich erst, wie blaß und durchsichtig ihr Gesicht war. Sie schien etwas erstaunt zu sein über meinen Besuch und sagte, daß sie krank sei und ein fürchterliches Stechen in der Brust habe.
»Soll ich da nicht lieber einen Arzt holen?«
»Ach, das ist nicht nötig.«
Ich setzte mich zu ihr auf die Pritsche: »Frieren Sie denn nicht?«
Sie lächelte nur und schüttelte langsam den Kopf.
»Fühlen Sie sich denn glücklich?«
Sie nickte heftig, und eine helle Röte färbte ihre Wangen.
»Sie leben ja hier wie ein Vogel. Sie haben wohl oft Kinderbesuch?«
Sie nickte nur.
»Sie haben wohl Angst vor den Männern?«
Jetzt lachte sie wieder und fragte: »Wieso?«
»Na, ich meine, hier im Taubenschlag als einzige Taube; das muß doch wohl recht einsam sein. Sie brauchen ja nicht gerade einen Bussard zu heiraten; aber ich weiß einen Pastor in Thüringen; das wäre ein Mann für Sie. Bei dem haben Sie auch noch die Garantie dazu, daß sie einen Kindergarten mit eigenen Kindern aufmachen können.«
Sie lachte wieder hell und freudig und sagte: »Sie sind mir der Richtige! Besuchen mich, so mir nichts, dir nichts, und wollen mir gleich einen Mann aufschwatzen. Jetzt bin ich aber neugierig, wer Sie sind.«
Ich wurde verlegen, holte meinen Militärpaß heraus und gab ihn als Ausweis. Das Mädchen jauchzte; und nun traten in ihre großen Augen die Tränen. Sie bedeckte verlegen die Augen mit dem Handrücken. Ich rannte, ohne mich zu verabschieden, aus dem Taubenschlag heraus, hinunter ins Dorf; zum Gasthaus, wo um diese Zeit der Landdoktor saß.
Nach zwei Tagen starb sie. »Lungenentzündung«, sagte der Arzt. Man hatte sie aus dem Taubenschlag herausschaffen wollen, in ein Krankenhaus; aber sie hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt.
Als man sie zu Grabe trug, in einem harten Sarg, den ihr die Schulkinder mit ihren Spargroschen gekauft hatten, da regnete es in Strömen ,… Die Kinder gingen hinterher; barfüßig, in Holzpantoffeln; mit nassen Haaren, durch Pfützen springend. Manche weinten, und andere sangen wehmütig: »Ade zur guten Nacht.«
Und es regnete und regnete bis tief in den Abend hinein.
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In den Lenztagen lief ich durch's Thüringer Land.
Mein Herz hing in den blauen Frühlingswolken oder es zerging im seligen Lenzlicht.
Da war ein Bergabhang, der immer noch, wenn ich an ihn denke, in meiner Seele an zu blühen fängt. Ein Bergabhang, umhüpft von dem Gekicher eines Baches. Ein Bergabhang, überflossen von bunter Frühlingszauberei. Es war, als ob die Blumen tönten und die Schmetterlinge auf ihren Flügeln das Lächeln Gottes schaukelten.
Unten lag, hingewürfelt, rotdächrig, das Dorf. Und weit, weit stand eine Mühle am Horizont.
Und die Mühle schaufelte das grüne Wipfellicht ins Korn hinein.
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Nun bin ich wiedergekommen.
Der Schnee siebt über den Bergabhang hin. Der Bach läuft mürrisch. Alles hat die weiße Stille ausgelöscht.
Aber mitten im Schnee, hineingebettet wie ein bunter jauchzender Gedanke, liegt ein kleiner Kranz aus Himmelschlüssel gewunden.
Wo kommt der her?
Was will der Kranz?
Die Blumen frieren.
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Ich traf den Dorfschulzen und erzählte ihm vom verschneiten Bergabhang und von dem Kranz im Schnee.
Er lächelte unwirklich und sagte: »Der Kranz is von unsern Lehrer im Dorfe. Seine Frau is'n vor zwee Jahrn wegjestorbn. In Wochenbette. Se worn erst een und een halwes Jahr verheirat. Se han sich sehre jut verstanden. Wie de Frau starb, hat er se gleich nach der Stadt bringen lassen un hat se verbrennen lassen. Es wor im Mai vor zwee Jahren. Un wie seine Frau verbrannt war, da hat er de Asche jenumm' und hat se hingestreit an den Bergabhang.«
»Aber warum an den Bergabhang?«
»Jo, er hat hernoch gesaet, das wäre der Platz, den seine Frau und er so jerne jehatt hamm und wo se sich zum ersten Male jekißt hätten. ,– Das hat er erzählt. ,– Un jestern hat se Jeburtstag jehatt un do hatt er ihr den Kranz hinjebracht.«
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Mitten in die Blumen und in den Bach hinein hat er sie gestreut. ,– Und in den Wind hinein. Und auf die Flügel eines blauen Falters. Der hat vielleicht ihr Herz mitgenommen, irgendwohin.
Und in den Grillengesang hinein hat er sie gestreut. Und ihr Lächeln kann auch im Tode nicht kalt werden.
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Im Schnee liegt der kleine Kranz.
Ein frierender Vogel fliegt ins Winterlicht.
Alles zerweht.
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Mit der Vieruhrsonne kam ich, von der Landstraße weither, in eine kleine Stadt. Ich kannte die Stadt; denn vor vielen Jahren war ich dort zur Schule gegangen. Ich lief in ein kleines, müdes Haus und stolperte, beschwingten Herzens, die knarrende Treppe hinauf; in der rechten Hand einen großen Himmelschlüsselstrauß. Als ich stürmisch und freudevoll die Stubentür aufriß, sah ich meine Mutter am Fenster sitzen, zusammengekauert und weinend. Sie hatten meinen Vater hinausgefahren, seit vierundzwanzig Stunden erst; hinaus nach der Totenhalle. Und als ich das hörte, da war's, als ob jemand, mit einem Stich, die Freude in meinem Herzen zerdolche. Wir machten uns auf den Weg. Der Wind wehte rauh und kalt und riß meiner Mutter einige graue Haarsträhnen unterm Kopftuch hervor. Die Lederpantoffeln meiner Mutter schleiften durch die Dreckpfützen. Sie achtete nicht darauf. Ihre verweinten Augen schienen weit weg zu sein. Ich holte den Schlüssel vom Totengräber. Es fing an zu regnen. Die alte, gute Frau wartete draußen geduldig in Regen und Sturm. Sie fror nicht. Nur manchmal schüttelte sie sich. Aus Herzeleid vielleicht. Ich schloß die schwere, knarrende Leichenhallentür auf ,… Und da sah ich meinen Vater liegen, in ein langes Papierhemd gekleidet. Abgemagert bis auf die Knochen, so lag er da. Nicht wie einer, der vom Tode niedergemäht war, nein, wie einer, der vom Leben unbarmherzig zerstampft wurde. Nur auf seinem fahlen Gesicht schien ein Stern zu glimmen. Ein eisiger Schrecken übermannte mich. Ich fühlte, wie eine bittere Traurigkeit sich durch mein Herz fraß und immer höher fraß, durch die Brust; bis sie glitzernd aus den Augen tropfte ,… Meine Mutter schlich schluchzend um den Sarg herum wie eine alte Henne, der ein Küchlein gemordet wurde. Sie streichelte den Kopf des Toten und wimmerte: »Ach Gott, der ist ja wie ein Scheit! ,…« Sie befühlte mit zitternden Fingern die billige Polsterung des Sarges und flüsterte mir mit weher Stimme zu: »Alles solches leichtes Zeug ist das ,… Wie aus Papier ,…« Und dann stand sie wieder unschlüssig, wußte nicht her und hin; schlich gebeugt immer wieder um den Sarg herum ,… Und dann legte ich meinen Strauß Himmelschlüssel, die vom seligen Landstraßenlicht noch zitterten, zwischen die zersorgten, zerrungenen Hände des Toten ,… Und dann gingen wir wieder nach Hause; stumm, in den Abendwind hinein ,… Ich sah, wie meine Mutter im Gehen ab und zu ihre rechte, nadelzerstochene Hand streichelte, als ob sie plötzlich wieder die Wärme fühlte von jenen Händen da draußen, die nun gefaltet im Sarge ruhten.
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Er meisterte sein Leben mit Treue und freudiger Pflicht. Achtundvierzig lange Jahre stand er, klaren Auges, am Schienenstrang. Wind und Sonne, Sterne und Regenbogen grüßten ihn wie einen Bruder. Sein Herz wurde versponnen in die eisernen Melodien der Züge. Weichen und Morsezeichen waren seine Handwerkszeuge. Blühen und Vergehen strahlte in seine Augen. Und seine Seele war wie der Maibaum, den er pfingstlich in seine Stube trug. Er wurde alt und müde wie die Wegweiser da draußen, die an den Landstraßen stehen und seine Schritte kannten. ,– ,– Nun ist er vergangen. Und die Wälder werden auf ihn warten. Die Züge werden seine Augen suchen. Der Wind wird seine Spuren betasten. Der Fuhrmann wird nach ihm fragen. Aber der alte Bahnwärter will nicht wiederkommen.
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Man sagt: Er sei ein Landstreicher gewesen. Freilich sah er sehr abgerissen und hungrig aus. Der Flurwächter fand in seiner Hosentasche, nachdem er ihn erschossen hatte, nur ein angerostetes Taschenmesser, ein halbes Paket Tabak und eine zerrauchte Stummelpfeife; weiter nichts. Keine Papiere, keinen Pfennig Geld. Nichts ,… Aber er war tausendmal mehr als ein Landstreicher: Er war ein Klang aus dem ewigen Lobgesang der Natur. Er ging über die Welt wie ein seliger Gedanke, den sich die Erde geschaffen hat, um immer schön zu sein; auch im Herbst, wenn sie entblätterte, und im Winter, wenn sie schlief ,… Wo er ging, da ließ er einen Sonnenschimmer hinter sich.
Es war an einem kalten Weihnachtsabend gewesen. Der Flurwächter rief ihn an, weil er sich an einem Schäferkarren zu tun machte, der verlassen auf dem Felde stand. Vielleicht wollte er sich darin wärmen und sein Nachtlager machen. Er beachtete den Flurwächter nicht. Wie in Gedanken versunken, so stand er am Schäferkarren. Beim dritten Ruf aber hatte er sich umgesehen und hatte laut aufgelacht; bissig aufgelacht; und wollte davonrennen ,… Da schoß der Flurwächter; ein Schuß quer durch den Kopf, durch den Kopf, der lange Jahre den Himmel getragen hatte ,… Er schlug lang hin ,… Im Sterben bewegten sich noch seine Lippen. Er wollte etwas sagen; aber er brachte nichts heraus. Nur ein verlorenes, verirrtes Lächeln breitete sich über sein Gesicht; dann war er tot.
Vier Tropfen Blut aus seinem Kopf sickerten in den Weihnachtsschnee ,… Dem Flurwächter aber war's, als ob die Erde aufschrie, als er ihn getroffen hatte. Dann wieder war's wie ein Klirren, als habe er in den kristallflimmernden Weihnachtsabend ein Loch hineingeschlagen. Und dann schwieg es eine Sekunde. Kaum war die Sekunde vergangen, da erhoben sich, aus dem ersten und zweiten Blutstropfen des Verwanderten, sechs brennende Weihnachtslichter. Die flügelten und funkelten sich hoch, blieben stehen, strahlten einsam, und dann zergingen sie. Aus dem dritten Blutstropfen bildete sich ein Gesicht; ein Muttergesicht mit einem Bauernfrauenkopftuch umrahmt. Und das Gesicht wuchs und schwebte und verlächelte weihnachtsfriedlich. Aus dem vierten Blutstropfen klang ein Singen wie aus Kindermund; eine warme, selige Christnachtstrophe. Und die zerfloß bald weit am Horizont.
Was sollte das bedeuten? Waren das die letzten Gedanken des Wanderers, die der Flurwächter mit seiner Kugel zerrissen hatte? ,… Ja, sie waren's ,… Einmal nur im Jahre, wenn der Heiland geboren war, einmal nur wollte er stillsitzen, am warmen Ofen bei Kerzenflimmern, Frauenaugenfrieden und Kindersingen; einmal nur im Jahre wollte er selig geborgen sein ,… Nun lag er da draußen, in Schnee und Wind ,… Seine letzten Gedanken aber jagten und jubelten noch lange in der Nacht umher ,… Sie hingen sich an die Sterne, sie umarmten die frierenden Bäume, sie bewegten die Glocken, sie schaukelten die ganze Weihnachtsnacht ,…
Nach den Feiertagen begrub man ihn. Man legte ihn in einen Armensarg. Man bettete ihn nicht. So, wie er ging und stand und starb, so lag er auch im Sarg: Mit zerrissenen Schuhen, zerflickten Kleidern, in der rechten Faust den Schwarzdornstab. Keine Blume kränzte ihn, keine Träne wurde um ihn geweint ,… Warum auch? ,…
Er ist ja gar nicht tot ,… Er kommt ja wieder ,… Das Blut, das noch in seinen Adern ist, wird überfließen, in seinen Wanderstab, wird darin kreisen; der Stab wird Wurzeln schlagen, im Herzen des Wanderers. Der Stab wird aufgrünen, durch den Sargdeckel hindurch, hinaus, hinauf, wo sich der Himmel wölbt. Und im Frühling wird er blühen ,… Der Wanderer blüht in einem Schwarzdornstrauch ,… Die Erde hat ihren treuesten Gesellen nicht vergessen können.
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Gott läßt sich nicht verjagen, wenn er von einer Menschenseele verspottet, verleugnet oder verdammt wird, so verläßt er grollend diese Seele nicht, sondern spinnt weiter an seinen Himmelsmelodien, bis er eines Tages sich strahlend dem Verflucher offenbart. So ist's im Leben der Völker, in der Natur und so zeigt es die kleine Geschichte hier, die ich erzählen will. Im Erzgebirge lebte in einem armen, elenden Hause ein Spielzeugmacher, ein ewiger Junggeselle. Huckert hieß er. Er hätte wahrscheinlich auch keine Frau gekriegt; denn er war lahm. Seine Stube, mit dem gichtbrüchigen Sofa, mit den Leim- und Farbentöpfen und der billigen Oelpinselei an der Wand, die ein italienisches abgetretenes Motiv wiederholte, kannte nur ihn, seine sauern Groschen, seine Spielzeugbasteleien und sein mageres Essen. Manchmal humpelte er erregt durch die Kammer, ballte seine Fäuste und knurrte gallig vor sich hin: »Gott verdammich, ist das ein Leben! Gott, ach wenn es nur einen gebe!« Und sein Lachen hatte etwas Bissiges. So ging sein Leben dahin; ein fluchender Einsiedler, der aus seiner lieblosen Behausung die Seligkeiten in Kinderstuben schickte, indem er Pferde schnitzte, Kasper bemalte und lauter bunten Tand. In einer Winternacht hatte der alte Kerl einen eignen Traum. Er lag in seinem zerrankerten Bett. Draußen stöberte der Sturm. Der eiserne Ofen war eiskalt. Der alte Spielzeugmacher sah plötzlich über sich tausend, abertausend Augen schimmern: Kinderaugen, blaue und graue, schwarze und braune. Und die Kinderaugen umleuchteten ihn und machten seine altes verluderte Gestalt so strahlend, als wäre die Frühsonne über ihn aufgegangen. Und die Kinderaugen zogen und schmeichelten und bettelten die Seele des Alten aus der Brust heraus. Und die Spielzeugmacherseele flog heraus und war durchsichtig blau wie ein Jahrmarktsluftballon, den man für kleine Spielhände kauft; unten hing sogar ein Faden daran. Die Seele des Spielzeugmachers erhob sich und schwang sich auf. Kindermelodien erwachten, umringten und umtanzten die fliegende Spielzeugmacherseele. Sterne legten sich zu silbernen Kränzen um die aufsegelnde Seele. Der Mond wackelte und klirrte und schnitt komische Fratzen ,… Auf einmal war alles ruhig. Eine knöcherne Hand griff nach dem Faden der kugelblauen Seele. Aber die Seele hob sich noch immer. Und nun sah der Spielzeugmacher, wie der Tod, der knöcherne, klappernde Tod an seiner blauen Seele hing und wie beide, seine Seele und der Tod, in eine helle Wolke fuhren ,… Am Morgen war Huckert gestorben ,… Auf seinem hageren, zerrissenen Gesicht war ein Lächeln stehen geblieben; ein wunderschönes Lächeln. »Herzschlag«, sagte der Arzt; aber was will das sagen! ,… Gott war in ihm so groß geworden, daß er den armen Kerl selig von dieser Erde entführte.
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Man schrieb, in Wittenberg, das Jahr 1534.
Draußen war's Winter mit kaltem Schneelicht.
Luther saß in seiner Studierstube, vor lauter Akten und Bücherbergen, und wühlte sich, schreibend und blätternd wie ein Bergmann in einen tiefen Schacht hinein.
Um seine Beine herum kroch ein kleines Mädchen, das mochte wohl so an die fünf Jahre sein.
Sie war langzöpfig, hatte große, lachende Augen und hieß Magdalena. Luther lächelte, schob die dicken Akten zur Seite und sann vor sich hin. Er fühlte ein leises, zärtliches Glockenspiel in seinem Herzen. Draußen rüttelte der Schneesturm.
Luther griff zum Federkiel, und er bildete Verszeile auf Verszeile. Und jede Zeile kam ihm vor, als wäre sie eine Säule zu einem Kirchlein. Und er schrieb und schrieb.
Manchmal lauschte er, nach unten, zu seinen Füßen. Und da haschte er den Liebreiz aus den Augen seiner Magdalena. Und der Kinderliebreiz wurde zum bunten Fenster im Kirchlein.
Das kleine Mädchen war eben dabei, Luthers Schuhriemen aufzulösen. Jetzt war sie fertig und warf den einen Schuh an die Lutherlaute, die in der Ecke, wie ein lustiger Fant, im Dunkeln stand. Die Laute klirrte und tönte. Lenichen jubelte und jauchzte und lachte.
Luther nahm das Lachen, das helle, klingende Kinderlachen und baute einen strahlenden Altar daraus für sein Kirchlein.
Und nun sang die kleine Luthertochter; ein ungeschicktes Kindersingen. Und das Kindersingen flog in das Lied, das der Doktor baute, und wurde zur läutenden Glocke darin. Luther war fertig und er strahlte und griff seine kleine Tochter, setzte sie auf seinen Schoß und las, den blonden Kinderkopf an seine Brust gelehnt:
»Vom Himmel hoch da kom ich her,
ich bring euch gute newe mehr,
der guten mehr bring ich so viel,
davon ich singen und sagen wil. ,– ,–«
Draußen schneite es immer mehr. Der Kalender wartete sehnsüchtig auf das Christkind, das mit grüngoldenen Flügeln durch die Winterwolken fliegen sollte.
Und Luther las singend und lächelnd immer mehr. Und die Bittschriften, die hoch und dick in der Fensternische lagen, lauschten. Und ihm war, als habe er, auf seinem Schoße, warm in die Arme gedrückt, einen Engel eingefangen.
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In der Christnacht aber war's, als ob alles Elend und alle Sorgen von der Herberge abfielen. Sie strahlte für eine Stunde, sang schüchtern und leise ein frommes Lied vor sich hin und betete und hatte so sonderbare Fensteraugen. ,– ,–
Um Mitternacht aber, als alle Glocken längst ausgesungen hatten, stand sie wieder frierend und hungernd im Winterschnee. ,– ,– Und der Wind blies und pfiff an der Haustür herum.
Um die erste Morgenstunde kam ein alter Handwerksbursche über den Schnee gelaufen, klopfte leise an, wurde hereingelassen und schlich sich, händereibend, auf die Bank, die am halberloschenen Ofen stand. Alle Betten waren besetzt. ,– Der Alte fing an nachzugrübeln; dann zog er sich die nassen, zerrissenen Schuhe aus, riß sich den verschneiten Rock vom Leibe und legte ihn zu Füßen der Bank. Dann hielt er verstohlen Umschau. Er gewahrte eine große, altmodische Bibel, die vergessen und zerlesen auf einem Tische lag. Er nahm sie und löschte die trübe Funsel aus. Dann schlug er die Bibel auf und legte sie auf die Bank, dann kniete er sich auf seinen ausgebreiteten Rock, legte die blaugefrorenen, hageren Arme um das dicke, heilige Buch und ließ den Kopf in die aufgeschlagene Bibel sinken. Wie in einem Kissen lag jetzt sein Schädel. Einmal noch bewegte er den Kopf. Die Bartstoppeln überraschelten leise die frommen Buchstaben. Nach einer Weile schlief er. Sein Atem ging schwer. Das Dunkel ballte sich groß in der Herbergsstube. Wie ein Vertriebener lag er da, wie ein Ausgestoßener, so zerwandert und verweht!
Draußen, im Schneewind, flackerten unruhig zwei Sterne durchs Fenster. Die Herberge schlief tief dem Morgen zu. ,–
Der Handwerksbursche hatte die Geschichte von der heiligen Nacht aufgeschlagen. Sein Kopf lag da, wo der Evangelist die Geburt des Heilandes erzählt.
Jetzt breitete sich über das windzerrissene Gesicht des Fremden ein sonderbares Lächeln. ,– ,– Aus dem heiligen Buche heraus hob sich, wie mit Silberstift in das Herbergsdunkel gezeichnet, ein seltsames Bild. ,– ,– Ueber den Gehetzten schwebte die Mutter Maria mit dem Kinde. ,– ,– Ein segnender Blick traf den Müdgelaufenen, der jetzt, im Schlafe, tief aufseufzte. ,– ,– Ein Seufzen, das alles Leid dieser Erde gefangen hält. ,– ,– Und die Seufzer hoben sich. ,– ,– Und die Mutter Maria kniete auf den Seufzern des Handwerksburschen. ,– ,–
Die Herberge kam sich wie verhext vor. Die Sterne zogen durch das Fenster und umkreisten die Mutter Gottes wie Engelsfittiche. ,– ,–
Ueber die Schlafenden huschte ein seliger Schimmer. ,–
Es war, als wollte sich die Herberge heben. ,– ,– Da zerging die Mutter Maria. ,– ,–
Und wie sie zergangen war, lagen die Schlafenden wieder sorgengrau und verweht. ,– ,–
Durch die Fenster schlich sich schon das Frühdämmerlicht.
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