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In der Straße der Weltstadt ist eine Buchhandlung. Hinter der Fensterscheibe steht, zwischen schönen Bücherbergen, eine Madonna mit dem Kinde, von den drei Weisen aus dem Morgenlande umkniet. Der Bildhauer gab ihr einen großen Heiligenschein. ,– ,– Und er sah diese Madonna in den Abendwolken schweben, damals, als er auf der Landstraße wanderte und eine Frühlingsblume zwischen seinen Zähnen wippen ließ. Daheim, in seiner dunklen, hungrigen Stube, hat er sie gezaubert.
Nun steht sie im Ladenfenster, dort, wo die große Stadt braut und brüllt, kocht und brodelt. Die Bücher um sie herum lehren und singen, erzählen und lachen, predigen und weissagen und verkündigen mit großen Worten ein neues Heil. ,– ,–
Die Mutter Maria aber sitzt da, wie aus einem Himmelstraum entstiegen. Und wie sie mit zartgesenktem Kopfe auf ihr Kind blickt, da ist's, als ob der weiße Weihnachtsgott seine ewigen Lieder in ihre Seele sinken läßt.
Der Frost klirrt. ,– ,– Vor der Scheibe drängen sich die Menschen, Männer und Frauen! Arm und reich, frierend und satt, Protestanten und Katholiken, Germanen und Juden, Deutschnationale und Kommunisten. ,– ,– Alle staunen sie die Madonna an.
Und das Lächeln der Mutter Gottes bindet ihre entzweiten Herzen wieder zusammen. Auf ein paar Minuten nur umarmen sich ihre Seelen unter dem Lächeln der Madonna im Buchladen. ,– ,– Wie verzaubert stehen sie da. Sie sind ja alle wieder Brüder und Schwestern geworden; ,– ,– auf ein paar Minuten nur. ,– ,–
Ueber die Straße kommt eilig, mit schleifenden Sohlen, ein Blinder. Es ist, als ob seine toten Augen vom Wunder im Buchladen angestrahlt würden. ,– ,–
*
Wir sind doch eigentlich recht verbildet und entwurzelt. Sehen wir uns ein Theaterstück an, so verlangen wir Kostüme und Kulissen. Wir kommen erst in Entzücken, wenn großer Mummenschanz uns umringt. Es ist, als sei unsere Einbildungswelt verschüttet. Alles müssen wir leibhaftig vor uns sehen, sonst glauben wir nicht, sonst tappen wir wie in einem Irrgarten herum.
Da ist's bei den Kindern doch anders.
Sitze ich da spielend mit meiner kleinen Tochter zusammen. Auf einmal erklärt sie mir, daß sie jetzt Kaufmannsfrau sei. Und im Handumdrehen ist sie schon tüchtig im Gewerbe drin ,… Sie hat ihren Ladentisch, hat die Ware und wiegt sie ab, läßt sich von mir Geld geben, was ich mit einer Handbewegung tue; gibt mir die Ware, wechselt sogar das Geld noch, gibt mir das gewechselte Geld wieder; stellt sich glücklich hin, nickt mit dem Kopf und sagt: »Auf Wiedersehen!«
Alles tat sie in der Phantasie, mit komisch, lieben Bewegungen. Da war kein Tisch, kein Stuhl, kein Geld, nichts war da. ,– ,– Nur ihre Augen glänzten glücklich, ihre Haare flogen, und ein seliges Lächeln sonnte sich um ihren Mund. ,–
O, wo bist du bloß geblieben, du schöne, himmlisch schöne Kinderzeit, du?! ,–
*
O, wenn der himmlische Fabulierer, der das Märchen vom Dornröschen ersann, wüßte, wie wir sein Traumgespinst aus Lieblichkeit und Dornen, Hexenspruch und Mut behandeln! Wenn er wüßte, wie wir damit umgehen, meine kleine Tochter und ich. Seit acht Tagen habe ich ihr das Märchen alle Abende erzählt. Und wenn ich's ihr erzählte, da füllten sich zusehends ihre großen Augen mit Fabelträumerei. Und es war, als ob diese Kinderaugen meine Seele überstrahlten wie blaue Kornblumen.
Den größten Eindruck auf sie machte immer die Stelle, wo der Prinz durch die Heckenrosen dringt und das schlafende Dornröschen wachküßt. ,– ,– Und diese Stelle haben wir dramatisiert! Also so: Die Matratze ihres Bettes habe ich lang in die Stube gelegt. Um die Matratze herum wurde die Schloßmauer gebaut: aufgestellte Stühle, Fußbänke und zwei alte, ausgediente Blumentöpfe darauf. Hinter den Stühlen und Fußbänken und Blumentöpfen lag also Dornröschens Reich; dieses Reich mit Spuklichtern und Bratengeruch und fetten Köchen und Kronenglanz. ,– ,–
Dornröschen war sie: meine kleine dreijährige Tochter. Ja, Dornröschen. Nur einen Strumpf hatte sie an; der andere Strumpf lag irgendwo. Ein ganz gewöhnliches Waschkleid hatte sie an. Rote Bäckchen, Zottelhaare und fragende Augen. Aber sie war trotzdem ein schönes Dornröschen.
Und ich der Ritter; bei Gott, ich war der Ritter: Filzschuhe an. Ohne Kragen. In beiden Händen, fest umschlossen, den Feuerhaken.
Und nun ging's los: Meine kleine Tochter kroch durch die aufgestellten Stühle in ihr Reich. Legte sich lang auf die Matratze und machte die Augen zu. Ein wunderschöner Anblick, wie sie so dalag. Die Augen zusammengekniffen; übers ganze Gesicht lustige Erwartung; ein feiner, seltsamer Zug um den Mund: halb Angst, halb Freude.
Ich trat mit meinem Feuerhaken in die Stube; ganz Ritter. Blitzende Augen. Jede Bewegung Mut. Ich schmetterte die ganze Stuhlmauer zur Seite wie Zunder. ,– Ein Krachen hub an; ein Splittern von den Blumentöpfen: Höllenmusik. Und die Kleine kniff immer fester die Augen zusammen; kniff so derb, daß sich ihr Mund dabei komisch verzog.
Und nun war ich bei ihr und kniete neben ihr. Es war mir auf einmal so eigen zumute; gerade so, als ob durchs Dach der Unsterbliche freundlich blinzelte, der das schöne Märchen einst erdachte. Mir war's, als ob sich um das kleine Gesicht ein Schimmer legte, von Himmelskerzen angezündet.
Und nun küßte ich ihren Mund. ,– ,– Sie sprang auf, umarmte mich, und dann sah sie sich neugierig und jauchzend die ganze Geschichte an, die ich mit meinem Feuerhakenstreich vollbrachte. ,– ,–
Nach einer Minute klopfte schon stürmisch die Hauswirtin und überreichte mir höchst entrüstet die Kündigung. ,–
Aber so etwas gibt's ja gar nicht. Wegen einem goldenen Fetzen aus dem Dornröschenmärchen, den ich in den grauen Alltag hing, soll man auf die Straße fliegen? ,– ,– So etwas ist ja ganz ausgeschlossen. Ach, ich verstehe die Menschen nicht mehr! ,– ,–
*
Es gibt ein Bild von Picasso, ein seltsames Bild. Manche sagen: Es sei eigenartig. Wieder welche sagen: Es sei verrückt. Das Bild heißt: »Violine«. Eine zersprungene Geige ist gemalt. Dort ist der Geigenhals, hier ist der Steg, da der Saitenhalter. Irgendwo laufen die Saiten. Versprengte Melodiefetzen tauchen auf. Eine Schar Notenköpfe wimmelt herum. Auf den ersten Blick hat das Bild etwas Narrenhaftes. Man sucht die Hand, die das Instrument zerschlug. Da scheint sie auch aufzutauchen. ,– Nun ist sie wieder vergangen. Ja, man muß sich schon hineinsehen und hineinhören. Das Bild läßt nicht mehr los, es peinigt, entzückt, macht immer wieder neugierig und zerkrallt. ,– Ein Fabelbild, hingemalt mit dämonischer Phantasie. Expressionismus sagen welche: Gut; aber warum denn immer gleich mit einer Einschachtelung zur Stelle sein? ,– ,– Das Bild ist der Ausdruck eines starken Gefühls.
Wenn mich Picasso über mein Urteil befragte, dann würde ich ihm meine kleine Tochter vorstellen. Sie wird bald drei Jahre, kann schon richtig sprechen und wenn sie will, kann sie den Himmel aufgehen lassen, in meiner Stube; den engelumkicherten Himmel. ,– ,– Ich lege ihr das Bild von Picasso vor, das ich aus einer Zeitschrift gerissen habe. Sie blickt auf das Bild mit großen, verwunderten Augen. Sie sieht und entdeckt mit ihrem Zeigefinger den ganzen Wesenszug des Bildes. Der Geigensteg ist bei ihr nicht der Geigensteg. Er ist für sie eine Brücke. Die Notenköpfe sind für sie Vögel, die durch die Brücke fliegen. Die Saiten sind für sie Regen, Regenstriche. Die Geigenschnecke grübelt ihr kleiner Kopf zu einer Hand um. Ich frage sie, wie sie das meint mit der Hand. Da machte sie eine kleine Faust und sagt »Hand«; macht die Faust auf, lacht laut und sagt: »Vögel kommen heraus.« ,– ,– Vögel, das sind ja die Noten in ihrer Vorstellung. ,– ,– Und nun vervollständige ich das Bild, ziehe die Gedankenlinien der Kleinen zusammen, taste den Empfindungsbogen meiner Tochter ab. Und was kommt heraus? Etwas Wunderschönes kommt heraus. ,– ,– Aus der Hand fliegen die Noten wie Vögel, jagen durch den Geigensteg, der sich wie eine Brücke baut; verwirren sich, verschweben, zerspringen, werden verweht, gejagt und getanzt von den Saiten, die die Regenlinien sind. ,– ,– »Violine« hat Picasso das Bild genannt. ,– Die Gedanken meiner kleinen Tochter, die sich noch nicht einmal ihre Schuhe richtig anziehen kann, haben den Schimmer dieses seltsamen Bildes erfaßt. ,– ,– Aber was ist mehr: Empfindungen enträtseln oder sich die Schuhe richtig anziehen können? ,– ,– Meinetwegen soll sie immer barfuß laufen, wenn sie will! ,– ,–
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Ich gehe mit meiner kleinen Tochter durch die Dämmerung. Plötzlich steht sie still, streckt ihren rechten Arm aus und zeigt mit dem Finger nach dem Abendstern, indem sie sagt: »Nicht wahr, der Stern gehört mir und dem lieben Gott?!« ,– ,– Und diese Kinderfrage kam so selbstverständlich aus ihrem Herzen, als wenn sie gefragt hätte: »Nicht wahr, die Hände hier, die ich habe, sind meine Hände?« ,– ,–
Jawohl, der Stern gehört ihr nur allein und dem lieben Gott. ,– ,– Denn wie kommt sie überhaupt zu der Frage? Es müssen demnach Verbindungslinien von ihrer Seele zum Stern gehen und vom Stern wieder zu ihr. Es müssen doch Gefühle da sein, die vom Stern zum Kinderherzen und wieder zurückschwingen. Der Stern muß demnach ein Stück von ihrem Wesen sein. ,– ,– Und da wird mir auf einmal klar, daß dieses kleine Mädchen das richtige Leben lebt, das sich in sich vollendet wie der Stern sich in sich vollendet. Sie lebt mit dem kleinen Geleucht, das am Abendhimmel steht, schimmernd und einsam, und doch wieder nicht einsam, wie man das gemeinhin versteht; denn der Stern strahlt ja in Heiterkeit genau so, wie sie jetzt strahlt. Kennt sie Verzweiflung, Aerger, Wut, Trauer und Gram? ,– ,– Kennt das der Stern da oben? Sie ist ein Ausdruck des leuchtenden Boten Gottes am Himmel, sie ist seine Gesellin. ,– ,– Und der Stern ist wieder ein Ausdruck von ihr, und ist ihr Geselle. Sie lebt ein Leben in Reinheit, Schönheit und Himmelsferne. Und sie wird vom Leben rein und schön und himmelsfern wieder gelebt.
Kam sie aus dem Stern, um die Einheit zu erleben? Oder sieht sie im Stern das Symbol der Tiefe, die in ihrem Herzen liegt? Empfindet sie nicht rein mystisch?
Ja, der Stern gehört dir. ,– ,– Und nun wollen wir unsere Hände falten und beten, daß er dir nicht verloren gehe.
*
Wir gehen in den hellen Morgen hinein, meine kleine Tochter und ich. Ein Kind mit drei Jahren, stupplig, wild, die Strümpfe heruntergerutscht bis auf die Schuhe, von daheim hat sie sich ein dickes Buch mitgenommen: »Caesars Monarchie und das Principat des Pompejus.« Sie wollte es durchaus mitnehmen, und ich ließ es ihr. Unter den kleinen, rechten Arm hat sie den fetten Schmöker geklemmt und schreitet nun aufgerichtet und wichtigtuend vor mir her.
An uns vorüber schaukelt die rosige Wolke eines Pfirsichbaumes. Vögel singen sich durch die unendliche Bläue. Und das kleine Mädchen springt bald hierhin, bald dorthin. Für jeden Stein hat sie ein andächtiges Gesicht. Sie hebt ihn auf und steckt ihn in meine Tasche. Und die Knopflöcher meines Rockes schmückt sie selig mit dem trompetenden Gelb des Löwenzahns. Sie macht mich bekannt mit Hunden und Katzen. Alte Mauen stellt sie mir vor, die versorgt und müdgearbeitet der Sonne zugehen. Und alte Männer spricht sie an, die sich zitternd an dicke Stöcke klammern. Ja, sie kennt sie alle. Alle haben sie ein Ruheplätzchen in ihrem Herzen. Sie hat »Caesars Monarchie und das Principat des Pompejus« unterm Arm, hat heruntergerutschte Strümpfe; was bedeutet ihr da der Herr Bürgermeister und der Herr Polizeipräsident? Nichts. ,– Sie lächelt sie weg, wenn sie würdevoll an ihr vorübergehen.
Und plötzlich steht sie stille, zieht mich tief zu sich getunter und flüstert mir ins Ohr: »Ich bin dein Liebchen.« ,– Ja, mir kann nichts geschehen, weil sie mein Liebchen ist.
Und weiter geht's. Ich fühle das Verlangen, einmal die Steine zu zahlen, die sie mir in die Tasche gesteckt hat; aber ich tue es lieber nicht. Ich weiß selbst nicht, warum. Nun geht's in eine Straße mit prächtigen Modenläden und mit Ringen im Fenster und teuren, goldenen Uhrgehängen. Ach, sie hat kein Auge dafür. Aber dort, vor einem Winkelladen, wo zerlaufene Schuhe hinter der Scheibe stehen und ein verrosteter Vogelkäfig und ein zerdrückter Zylinderhut, da hat sie eine alte Puppe entdeckt; abgeliebt und fleckig geküßt, so sitzt sie zwischen dem Trödelkram. Und die kleinen Mädchenaugen blicken lange und lachen verlangend und blau und herzlich durch die staubige Scheibe der vergessenen Puppe zu. Und weiter geht's. Kindererinnerungen hängen sich an mich. Ich buchstabiere mit ihr, ich zähle mit ihr. Ich beantworte jede Frage, und mag sie noch so dumm sein. Ich lache mit ihr und weiß manchmal gar nicht, worüber sie lacht.
Es ist, als ginge ich mit ihr in den Himmel hinein.
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Gestern ging ich mit meiner kleinen Tochter durch eine alte Straße. wie ein spinnenüberhangener, stolperiger Satz aus einem verwunschenen Märchen sah diese Häuserzeile aus. Und die alte, krumme Laterne war das Komma. Und der Kirchturm am Ende war das Ausrufungszeichen. Und die Sonne stand darüber wie das ewige Gesicht des Schöpfers, der diesen Satz ergrübelt hat. ,– ,–
Und plötzlich, wie wir so hinschlendern, springt uns aus dieser Häuserzeile etwas Buntscheckiges entgegen, etwas Narrenhaftes, Koboldiges. ,– Ein Mensch hat den Gedanken gehabt, sein altes Haus zu verschönen. ,– ,– Und weil der Mensch sicherlich ein ganz modernes Kunstempfinden hat, nahm er gleich sechs Farbentöpfe zur Verschönerung: rot, grün, schwarz, weiß, blau und gelb. ,– ,– Diese vollen, dicken Farbentöpfe kippte er über sein Haus aus. Expressionistisch malte er's an. ,– ,– Ach, sieht das lustig aus. Es ist, als ob die Freude und der Jubel und das Lachen der ganzen Welt sich an dieses Haus gehängt hat. ,– ,– Es steht inmitten der hingesunkenen, alten Häuser wie eine betrunkene Großmutter, die sich, weinselig, das Brautkleid anzog. Das Haus kichert, schneidet Gesichter, sieht ganz verbuhlt aus; das Haus wird lebendig. ,– ,–
Und wie meine kleine Tochter das Haus sieht, steht sie einen Augenblick wie gebannt da. Ihre Augen werden wundergroß. Ihr Mund tut sich staunend auf. Ein freudiges Erschrecken ist in sie gefahren. Das bunte Haus bewegt ihr Kinderherz wundersam. Und auf einmal geht ein Zucken durch ihre kleinen Beine; ihre Hände schmiegen sich: Sie tanzt! Sie tanzt! Sie tanzt dem alten Haus entgegen. ,– ,– Und das kasperbunte, halbverrückte Haus steht da wie von lauter Glück verwoben.
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Wenn ich mit meiner kleinen Tochter durch den Lenzmorgen spaziere, die kleine Hand willig in meiner Hand, dann fühle ich, wenn wir an die blumenwilde Wiese kommen, plötzliche wie ein Ziehen und Zucken durch die Kinderhand geht. Und vogelschnell ist das kleine Ding über den kleinen Zaun geklettert und beugt sich jubelnd über Himmelsschlüssel und Gänseblümchen, wie eine jauchzende Fermate über ein seliges Lied. ,– Aber nach einer kurzen Weile biegt um die Ecke ein schnurrbartflatterndes, stockschwingendes Warnungszeichen. Unter einer amtlichen Schirmmütze brummen und kreischen befehlerische Worte. Und verschüchtert, ängstlich verläßt das kleine Mädchen das blühende Spielzeug und legt wieder furchtsam ihre Hand in die meinige. ,– Das war vorgestern ,… Und heute? ,… Ach, heute war's ganz anders.
Sie sitzt wieder unter den Blumen. Um die Ecke fegt wieder der polizeigewaltige Haltepunkt ,… Und da!? ,– ,– Da bleibt mein kleines Mädchen ruhig sitzen. Ein pfiffiger, spitzbübischer Blick leuchtet in ihren Augen auf. Sie greift eine ganze Hand voll Blumen und trägt sie, als ob nichts geschehen wäre, steil vor sich hin, dem alten Warnungsmann entgegen. Jetzt steht sie vor ihm, reicht glücklich tuend, mit einem kleinen Anflug von Angst den Blumenstrauß zu seinen alten Händen hinauf, die einen Ordnungsknüppel umkrampft haben. Der Alte weiß nicht, was er sagen soll. Eine große Wandlung geht in ihm vor. Sein Beamtenherz stülpt sich langsam, umständlich eine bunte Narrenkappe auf. Seine befehlerischen Hände nehmen unsicher aus den Kinderhänden den frühlingsfrommen Blumenstrauß. Der wilde, schwarze Haltepunkt erschimmert zu einer Gnadensonne. Das schnurrbartflatternde Warnungszeichen wird ein inniger Notenkopf. Und nun geht er, voll von Glück, ohne ein Wort zu sagen, seinen Bewachungsgang um die Wiese weiter. Er hat ganz vergessen, daß er einen Stock hat und eine dicke Dienstanweisung und vierzig pensionsberechtigte Jahre. Sein Herz ist verzaubert von der schelmischen Weisheit meiner kleinen Tochter.
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Zwischen Pfingsttrompete und Klarinette, zwischen Trommel und große Pauke ist ein kleines Mädchen geraten. ,–
Da steht sie nun, umwogt und angestoßen und gedreht und geschupst von einer Musik, in die eine schwüle Biergartensonne fiel und Gläserklappern und Zigarrenrauch und Schweiß und Fadheit und Kellnerspringen. ,– ,–
Aber da; als ob ein Wunder geschehen wäre, verwandeln sie sich beim Anblick des kleinen Mädchens: der Taktstock, die Trompete und die Klarinette, die große Pauke und die Trommel.
Die krächzende Kehle der Trompete fängt auf einmal an zu schmeicheln und zieht ihre Töne jubelnd und selig um die Seele des Kindes.
Die bierdudelnden Klarinetten necken und flitzen und werfen ihre Töne wie klingende Bälle an das kleine Mädchenherz.
Die schläfrigen Trommeln knattern auf und rattern und rollen und rumoren. Der schnarchende Bauch der großen Pauke wackelt und bebt und bumst vor heimlichem Vergnügen. ,– ,–
Und der Taktstock der zuerst faul und flüchtig und fahrig in der Luft herumfuchtelt, hat sich auf einmal straff aufgereckt und fährt nun durch das grüne Biergartenlicht wie ein seliger Prophetenfinger, der die Bahnen der Engel und der Mücken und der Sonnenfunken nachzeichnet. ,– ,– Der Taktstock zieht die kleinen Arme des Kindes hoch und kriegt sie soweit, daß sie sich heben und senken und fuchteln; genau so wie er. ,– ,– Ja, ja: Zwischen Pfingsttrompete und Klarinette, zwischen Trommel und große Pauke ist ein kleines Mädchen geraten.
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Es gibt Vornamen, die sind geboren wie Blumen aus der Frühlingserde. Manche wieder sind wie ein kleines Fünkchen Himmel. Schimmern können die Vornamen, singen, kichern und lachen. Sonne und Wind und Herzensmelodien klingen in ihnen fort. Schön ist's, wenn die Vornamen den Menschen zeichnen, wenn sie wie ein Lichtschild sind zu seinem Wesen. Aber wie kann man denn wissen, daß der Name, den man einem Menschenflämmchen in die Wiege sagt, wirklich der richtige Name ist? Ja, das ist eine nachdenkliche Frage. Aber ich glaube, wenn man den Namen träumt, dann paßt er auch für den Menschen, an den man ihn verschenkt.
Ehe wir das letzte Mal ein kleines Kind kriegten, hatte ich einen seltsamen Traum: Ich sah, hochaufgerichtet auf einer bunten Wiese, einen Starkasten stehen im Traum. Eine klingende Bläue lag in der Luft. Plötzlich flog aus dem Starkasten ein eigenartiges Wesen heraus. Kein Vogel. Es sah aus wie ein P. Der Rücken des P war ein Gänsefittich. Es bewegte sich, mit seinem einzigen Fuß, schaukelnd durch die Luft und verschwand. Und ich hinterher. Das P segelte auf die Spitze eines verfallenen Turmes, der großmäulig gereckt gegen den abendlichen Himmel stand. Das P setzte sich auf die Wetterfahne. Und die Wetterfahne war ein schwarzes, gedrucktes e, das an zu kreiseln fing, die Glieder fliegen ließ und dann wieder zitternd stillstand. Da tauchte auf dem Dachfirst ein Männchen auf, den Kopf gebeugt, hinkend. Das Männchen, das wie ein t aussah, spazierte lustig auf dem Turmknauf herum. Und jetzt sah ich, wie sich im verwitterten Turmknopf die Glocke regte, wie sie an zu atmen fing. Das kleine Turmfenster fing an zu glühen und sah genau aus wie ein e. Unten, am Fuße des Turmes, lief ein kleiner Junge und schwenkte eine blaue Fahne. Das Wesen, das aus dem Starkasten entwischt war, flog von der Wetterfahne, griff den kleinen Jungen, lud ihn auf den Gänseflügelrücken und segelte mit ihm davon. Es sah aus, als ob das P ein r aufgeladen hätte.
Und was soll ich sagen: Als ich aufwachte, zwei Stunden darnach hatte meine Frau einen kleinen Jungen, und wir nannten ihn Peter.
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Es ist herbstlicher Sonntagnachmittag im Dorfe. Durch die schwachbunten Fenster der kleinen, niedrigen Kirche dringt sanft und verklärt das Sonnenlicht. Der Altar leuchtet im Erlöserfrieden. Eine kleine Taufgesellschaft geht feierlich und andächtig durch die Kirche; voran die Hebamme. In seidenen, spitzenfeinen Kissen trägt sie den Täufling; einen strammen Jungen. Hinterher im Bratenrock und Zylinder in der rauhen Hand, schreitet der Bauer. Rechts von ihm geht, mit freudegeröteten Wangen, im schwarzen, knisternden Kleide, die Bäuerin ,… Und nun kommen die Paten: Der Windmüller, die Frau Dorfschulze, der Großbauer und der Schenkwirt; alle würdig, alle fromm und alle sehr wohlhabend. Der Pastor, ein alter, gütiger Mann, hält eine knorrige Rede, die so schön ist wie die Birnbäume, die da draußen, im Pfarrhausgarten, ihre Früchte schaukeln und ihre Blätter leise rauschen lassen, als wollten sie die Früchte wie Kinder wiegen. Etwas Ludwig-Richterhaftes hat der alte Pastor ,… Und nun tauft er den kleinen Bauernjungen. Der Lehrer phantasiert dazu auf der Orgel eine Himmelsmelodie und eine Sternenweise ,… Der Täufling aber weint und schreit und zappelt mit den kleinen Händen. Betreten und verlegen sehen die Eltern und die Paten auf das unruhige Kind. Die Hebamme schaukelt und rüttelt das seidige Bündel. Aber das Schreien wird immer kräftiger. Jetzt hebt der Pastor den Zeigefinger und macht das Zeichen des Kreuzes über das Kind. Jetzt fährt der segnende Zeigefinger langsam über den kleinen Kindermund. Zwei kleine Hände greifen gierig danach, fassen den Pastorzeigefinger, stopfen ihn in den Mund und saugen am segnenden, frommen Zeigefinger des alten Pfarrers herum. Und nun ist das Kind ruhig ,… Ueber das Gesicht des Menschenhirten zieht eine verlegene Röte ,… Die Engel, die am Altare stehen, bewegen ihre Flügel und lächeln. Und die gebrochenen Augen des Gekreuzigten tun sich auf einmal auf und leuchten selig.
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Durch traurige, sorgengraue Stunden leuchtet manchmal ein Licht, blinkt ein Stern, der der Stube wieder bunte Scheiben zaubert: ein freundlicher Brief vielleicht, das Antlitz des Geldbriefträgers, dann wieder lustiger Besuch und so fort, was eben im Bereich einer kleinen Mansardenwohnung liegt.
Manchmal braucht es auch nur ein Vogellied zu sein, das die schuldige Stubenmiete vergessen macht. Aber all diese kleinen Begebenheiten, die sich einem wunderlich an das Herz hängen, halten meist nicht vor. Sie fallen wie Sternschnuppen, segeln wie Blumen im Winde, klingen wie Flötentöne unter einer Dachtraufe; ach, und dann sind sie meist vorbei.
Aber dann wieder gibt es Lichter, wo eine kleine Ewigkeit darin leuchtet. Lichter aus dem Himmel, die das ganze Leben lang leuchten. Mag sie noch so närrisch und dumm sein, so eine Bilderbuchbegebenheit, Kasperbudenherrlichkeit ,– aber ich muß doch erzählen, was mir da begegnet ist.
Das Herz war mir schwer schon seit dem frühen Morgen. Allerhand Sorgen quälten mich. Und da sitzt mein kleines Mädchen vor mir, so ein kleines, zweijähriges, strubbliges Ding mit großen, blauen Augen, die dem Kindergesicht ein seltsames Aussehen geben. Jetzt hat sie den Stubenschlüssel in der Hand, steht auf den Zehen und versucht und versucht, den Schlüssel ins Loch zu kriegen. Sie stochert und tastet am Schlüsselloch herum; aber es geht nun einfach nicht. Der Schlüssel ist widerspenstig. Da nimmt sie ihn, wirft ihn wütend auf die Erde, bleibt vor ihm stehen, besinnt sich, lächelt, nimmt den Schlüssel wieder auf, streichelt ihn mit heftiger Zärtlichkeit, küßt ihn, drückt ihn an sich, den angerosteten Stubenschlüssel und streichelt ihn immer wieder. Dann stellt sie sich wieder auf die Zehen, probiert wieder am Loch herum, und richtig, ja wirklich, es ist wirklich keine Lüge, der Schlüssel geht gehorsam in sein Schlüsselloch.
Ich wurde ganz heiß vor Freude, wie ich das alles beobachtete. In meinem Herzen wuchs ein Maibaum auf. Ich ging den ganzen Tag wie verzaubert herum. Ich werde dieses kleine Erlebnis bis an mein Lebensende nicht vergessen. Und wenn der Gerichtsvollzieher alles aus meiner Stube geholt hätte, alles, auch mein Tintenfaß ,… ich wäre nicht betrübt gewesen. Ich bin ja so reich, viel reicher als alle Gerichtsvollzieher auf der ganzen Welt zusammen ,…
Ich habe ja eine kleine Tochter, ein Lichtgeschöpf, das den ganzen Himmel mit ihren Händen auf die Erde holen kann.
*
Wir wandern durch den Sommermorgen, meine kleine Tochter und ich. Durch das gelbe, heilige Brot auf den Aeckern flimmert die Sonne. Lerchen besingen den Segen der Aehren. Grillen wetzen ohne Unterlaß. Wie die Wappen des Glückes segelt und schaukelt ein Haufen Schmetterlinge über die Wiese. Und die Wiese zittert ordentlich vor Seligkeit. Sie möchte sich an die blaue Brust des Himmels schmiegen.
Wir setzen uns auf den Wiesenrain. Und nun blättere ich, auf dem Knie, ein Märchenbuch von Max Slevogt auf. Ein großes Wunder hebt an. Das Buch ist wie eine Hexentruhe, die nicht leer werden will. Das Märchen schlägt sein dunkles, tiefes Auge auf. Der Zeichenstift Slevogts ist lebendig geworden. Er kribbelt und stammelt und phantasiert und überschlägt sich und singt und närrt sich selber und flüstert und landstreichert und stelzt und tanzt, tut wunderlich und fromm; setzt sich Kronen auf und Schellenkappen und plappert und erzählt. Jede Linie, die der Stift zeichnet und kritzelt, kichert voll herzlichen Humors, schimpft, lacht dick, geistert voll Innigkeit, streichelt wie eine zärtliche Hand.
O, du Hexenmeister Slevogt! Einen ganzen Nachmittag lang kann man über einem Märchenblatt von dir liegen, und immer und immer wieder entdeckt man neue Töne, neue Lichter, neue Klänge. Manche Wendungen deines Zeichenstiftes geben einem alten wohlvertrauten Märchen ganz neue Sprünge, ein ganz neues Angesicht.
Es ist schon über Mittag durch. Immer habe ich noch das Slevogt-Buch auf meinen Knien. Eine dicke Haarsträhne baumelt vom Kinderkopfe herunter ins Slevogt-Buch hinein, als wäre es eine Dornröschensträhne. Wir schauen und schauen. Immer neue Zaubereien offenbart das Buch.
Und der graue Tümpel aus der Ferne, die Dorfglockentöne, das Windmühlenkreisen, Bauernflüche, das Sensendengeln, alles spielt hinein in das Buch, in das selige Buch.
*
Mein kleiner Junge, warum habe ich dich denn Peter genannt? ,– ,–
Weil ich weiß, daß du später einmal, wenn du groß bist, auf dem Hute des Lebens wie eine Heckenrose sitzen wirst. Ja, deshalb habe ich dich Peter genannt.
Du spielst dem Bettelmann zum Tanz auf und dem Herrn Polizeidirektor, aber nicht in einer festen Stellung, nein, nein; laß dich bloß nicht mit einer festen Stellung ein. Frei sollst du sein wie ein Sperling. ,– ,–
Schlaf im Straßengraben, in Scheunen und Herbergen. Belausche das Piepsen der Feldmäuse und den weichen Frieden der mitternächtlichen Dorflaterne. Höre auf den Wind, nicke den Sternen zu, die deinen Schlaf bewachen wollen. Rede dir ein, daß du auf dem Regenbogen reiten kannst, wenn du willst. Und wenn dein Gesicht in träumenden Blumen liegt, dein sonnverbranntes Gesicht, denke noch einmal daran, ehe du schläfst, daß der liebe Gott in diesen Blumen an Arbeitstischen sitzt und sinnt.
Wenn ich ins Grab springe, Peter, dann will ich dir schon soviel Geld hinterlassen, daß du dir wenigstens eine Fiedel kaufen kannst. Laß die Ameisen in deiner Fiedel wohnen und die Heupferdchen. Setze dich an die Feierabendtische der Menschen und erzählen ihnen wunderliche Geschichten, wo der Wind drin ist und die Nachtigall und die Weihnachtsflocken. Die Menschen werden dir ein Stück Brot und einen Krug Bier geben und sie werden an dich mit Glück zurückdenken. Aber nimm kein Trinkgeld, nimm nur Geschenke. Sei stolz, wenn auch deine Schuhe zerrissen sind und deine Hosen ausgefranst. Es kann vielleicht sein, daß ich dir mehr hinterlasse wie nur das Geld für eine Fiedel. Dann, Peter, verschwende, verschwende alles. Kaufe dir, im Winter, Rosen an deinen alten Kittel. Gehe in die Stuben, schmeiße die Grammophone auf die Straßen, und wenn man dich verklagen sollte, bezahle ruhig die Entschädigung an die Gerichtskasse.
Und wenn du irgendwo einen alten, reichen Mann weißt, der Hochzeit macht mit einer schönen, jungen Frau, lauf hin, laß dir die Braut herausrufen in den Hausflur, gib ihr einen heftigen Kuß und renne davon.
Vielleicht willst du dich auch verheiraten. ,– Nimm ein Bettelmädchen, das dich lieb hat und das schöne Augen hat und das tanzen kann und hungern kann. ,– ,–
Und wenn du manchmal, im Straßengraben, deine Hände faltest, denke an mich. Und besuche mich auf dem Friedhofe, wenn ich Geburtstag habe. Lege dich lang auf mein Grab, dein Gesicht in den Oktoberhimmel empor, und spiele, auf dem Rücken liegend, ein Lied auf deiner Fiedel, ein lustiges Lied. Ich werde es hören, tief drunten in meinem Grabe. ,– ,– Und ich werde wissen, daß du ganz mein Junge bist und daß du mein Herz in deinem Herzen trägst.
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Irgendwo, auf einem Dachboden, fand ich ein zerblättertes, stockfleckiges Schreibheft. Als ich's aufschlug, da dachte ich: wieviel Fleiß hat das Schreibheft in sich hineingesogen? Wieviel Kinderblicke? Wieviel Lerchengesang hat ungehört an die Blätter des blauen Heftes geklopft? ,– Wie ernst und streng kann doch so ein Schreibheft sein. Alle Knabenunruhe weiß es zu bändigen.
Auf einem Blatte, ganz oben, stand schwerfällig, aber fast schön geschrieben, das vierte Gebot. ,– Ein wütender Strich ging groß durch die Worte: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!« ,– Der Strich stieß wie ein Dolchmesser in mein Herz hinein.
Warum hatte denn die Schuljungenhand diesen schönen Satz durchstrichen? Diesen Satz, auf den Kirchen gebaut werden können. Und immer fragte es durch meine Gedanken: »Warum?« ,– Hat die Roheit eines Vaters den feingeschriebenen Satz dunkel gemacht? Hat der Leichtsinn einer Mutter das selige Gebot ausgelöscht? ,– Warum der wütende Strich?
Was schimmert und schreit und braut alles in der einen schwarzen Linie, die wie ein modriger Bach den funkelnden Satz durchläuft? ,– Was lebt in dieser Linie? ,– Fuseldunst? Schläge? ,– Gewalt? ,– Lüge? ,– Und ein paar Tropfen klagendes Blut aus einem Jungenherzen? Liegt in dieser Zeile, die das Bibelgebot zerkrallt, das Gift drin, das in den Jubelbecher der Kindheit fiel? ,– Vielleicht! ,– Vielleicht! ,– Ich weiß es nicht. Aber die Blätter, die hinter dem durchstrichenen vierten Gebot folgen, sind alle unordentlich geschrieben, flüchtig, lieblos. ,–
»Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!« ,– Es ist, als beugten sich die Buchstaben und neigten sich zitternd unter der Wucht dieses einen schwarzen Striches.
*