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A Koy

Jangtsekiang ...

Nein, kein brausender Lobgesang auf einen der herrlichsten Flüsse der Welt, ruhig Blut, eine einfache Erzählung von einem Seemann und einem chinesischen Mädchen in Hankow.

Er hieß George Bantam und war jüngster Assistent bei der Maschine eines großen, europäischen Dampfers, der mit den Hauptbestandteilen einer Eisenbahnlinie geladen, Schwellen, Lokomotiven, Stationsgebäuden und dergleichen, den Jangtsekiang hinaufgefahren war und jetzt vor Hankow löschte. Auch dieses verdiente einen Lobgesang – hier lag ein Schiff und lud alles Zubehör einer modernen Zivilisation in die chinesischen, vorzeitdüsteren Djunken, die es zum Flußufer brachten, wo Scharen von Kulis bei mystischen Gesängen, steinzeitalt im Klang, die schwere Ladung an Land brachten und zu der hinter der Europäerstraße gelegenen Eisenbahnlinie schleppten, die von dort bis nach Peking führen sollte. Das Schiff war mit Geschichte geladen, die Urzeit und eine unbekannte, gewaltige Zukunft begegneten sich; hier aber soll nur von dem Augenblick in Mr. Bantams vor Wichtigkeit geschwellter kleiner Persönlichkeit die Rede sein.

George Bantam bekleidete eine eigenartige Stellung an Bord, indem er mit der neugebauten Maschine aus Europa gekommen war, als spezieller Kenner ihrer Konstruktion; er wußte mit allen Schlüsseln, Hähnen und dergleichen Bescheid, und das war natürlich von ungeheurer Wichtigkeit, selbst wenn neidische Personen – doch nicht wenn er es hören konnte – ihn den Schraubenjungen nannten. Im übrigen war er eigentlich Volontär, nahm aber den Rang eines Assistenten ein. Obgleich niemand regelmäßige Arbeit von ihm verlangte oder ihn vermißte, wenn er geruhte an Land zu gehen und Tage und Nächte fortzubleiben, so liebte er es doch sich unten bei der Maschine aufzustellen, im kolossalen Gefühl seiner Notwendigkeit, mit untergeschlagenen Armen und von Ruß und Hl triefend. Und dieses mächtige Lebensgefühl stand im umgekehrten Verhältnis zu seiner äußeren Erscheinung. Er war ganz klein, aber wie ein Mastiff gebaut, mit kurzen, knotigen Armen und einem kleinen, dicken Ringernacken; bei der geringsten Bewegung schwoll das Fleisch auf seinen Gliedern. Er sah aus, als sei er gerade konfirmiert worden und doch war er schon neunzehn Jahre alt. Es galt, seine Stellung zwischen den anderen Erwachsenen zu behaupten, den offenen Mäulern gegenüber, die wahrlich nicht zögerten, wenn sie zuschnappen konnten; der Schraubenjunge versuchte sich darum auf der Höhe zu halten, indem er so düster wie möglich aus seiner kurzen Pfeife paffte, indem er weithin und kundig spuckte und stets eine Haltung zur Schau trug, die von fürchterlicher Kraft zeugte. Im übrigen hatte er nicht viel mitzureden. Die blutigen Abrechnungen, die zwischen ihm und dem ganzen Schiff gleichsam in der Luft zu liegen schienen, wurden nie Wirklichkeit. Man lächelte dem Schraubenjungen süßlich zu und gab ihm keine Veranlassung zur Fehde. Die gigantische Geringschätzung, die ihm angeboren war, machte sich den elenden Chinesen gegenüber Luft, die sich an Bord wagten, um Leopardenfelle und andere Dinge zu verkaufen; diese unterbot er aufs schändlichste und nagelte sie in seiner Eigenschaft als Europäer mit stahlharten Blicken auf dem Fleck fest, er terrorisierte sie zu bodenloser wimmernder Angst, um nachher seine Herrlichkeit daran zu sättigen, daß er das Gewürm wieder zu Gnaden annahm und es leben ließ.

Einst jedoch bewies Mr. Bantam, daß seine Todesverachtung echt war. Und das war damals, als er über Bord ging und mit dem allmächtigen Vater Jangtse in höchsteigener Person einen Kampf auf Leben und Tod aufnahm, ohne nachher viel Aufhebens davon zu machen – die Sache war nämlich so zugegangen:

Der Dampfer lag mitten im Strom und der Jangtsekiang ist ein reißender Fluß. Die Ankerketten strammten sich vom Rumpf abwärts, während der Fluß seine Areale von lehmigem Wasser mit solcher Hast an den Schiffsseiten vorbeijagte, daß es den Anschein hatte, als sei der Dampfer in voller Fahrt. An der Fallreeptreppe lag immer eine Schar von Sampans, chinesische Mietsböte, die bereit waren, die Besatzung des Schiffes an Land und wieder zurückzubringen. Ein Sampan ist eine leichte, rundbauchige Jolle, die nur durch die Erfahrung eines Eingeborenen, in diesem Fluß, wo Strom und Wind das Wasser auf die heftigste und unberechenbarste Weise zusammenschraubt, gesteuert werden kann. Besonders beim Herausspringen aus der Jolle aufs Fallreep, galt es aufpassen und beizeiten zugreifen, wenn der Betreffende nicht kopfüber in dieses Lehmwasser hinein wollte, das sich wie ein Katarakt gebärdete, indem es bald sechs bis acht Meter unter der Schiffsseite verschwand, bald ebenso hoch aufwärtsschoß, während der Dampfer im Strom krängte. Die skelettmageren, chinesischen Bootsleute manöverierten mit einer unglaublichen Behendigkeit und Präzision. Es war ein ganzes Schauspiel, sie vom Lande kommen zu sehen, in dem kleinen, runden Boot, das gemalte Augen auf dem Bug hatte, womit es auf die Wogen herabschielte, als sei es der Sampan selbst, der den Strom ausnützte und blitzschnell im Winkel auf den Dampfer losschoß. Der Chinese achter am Wrickriemen versuchte es so einzurichten, daß er gerade auf die Fallreeptreppe zuschoß, wo er dann mit Katzengeschwindigkeit ein Tauende festmachte. Mißglückte es ihm, so wurde das Boot in wenigen Minuten vom Strom vorbeigetrieben und mußte dann mühsam seitwärts hinaus und wieder stromaufwärts gerudert werden; ein Boot direkt an die Schiffsseite zu zwingen, war eine Unmöglichkeit.

Eines Abends standen mehrere von den Schiffsoffizieren in der Dämmerung an der Reling und sahen diesem Schauspiel zu. Ein Teil der Besatzung hatte Landurlaub gehabt und kam jetzt in verschiedenen Sampans zurück. Es war dunkles, stürmisches Wetter, und es gehörte Geistesgegenwart dazu, von der Jolle auf das Fallreep zu springen. Der Strom raste vorbei, aufgeregt und geschwollen, das Wasser übte solch starken Druck auf sich selbst aus, daß es vielerwärts seltsam gebrochen und massenhaft in die Höhe sprang, wie eine Herde von Panik ergriffener Büffel. Es waren die Heizer, die Landurlaub gehabt hatten, und es schien bedenklich genug, sie in diesem schwierigen Wetter an Bord zu bekommen. Die meisten waren betrunken und hatten auf dem Kai Meuterei gemacht, so daß der zweite Steuermann sie wie gewöhnlich Mann für Mann zuschanden schlagen mußte, um sie von Land zu bekommen. Jetzt saßen sie mit wackelnden Köpfen im Boot, hatten aber doch noch Verstand genug, sich an der Leiter festzuklammern, wenn es auch nicht gerade die feinste Akrobatenkunst war, die man dabei zu sehen bekam. Mann für Mann erschien an Bord, sehr beleidigt über die Behandlung, die ihnen an Land zuteil geworden war und die ihnen noch wie die Schläge eines Vorhammers in den Ohren klang; der zweite Steuermann pflegte ohne Bedenken und nur ein einziges Mal zuzuschlagen! Kein Wort war von den Heizern zu hören.

»Da kommt der Schraubenjunge«, sagte der erste Maschinist mit dem gewöhnlichen Lächeln, aber mit einem Zusatz von Besorgnis, denn der kleine Mann war stark betrunken.

Draußen im Strom kam der Schraubenjunge im blauen Anzug, in einem Sampan dahergeritten, der in dem Wellenschlag wie eine Schaukel hüpfte. Ja man konnte es der Gelenkigkeit des kleinen Assistenten ansehen, daß es nicht der Wellenschlag allein war, der ihn so lebendig machte, er hatte einen tüchtigen Rausch. Wahrscheinlich hatte er in einer der Kneipen in Hankow tüchtig gezecht. Als er seines Vorgesetzten ansichtig wurde, erhob er sich und grüßte sehr gesittet, im selben Augenblick treibt der Strom den Sampan seitwärts heran, der Chinese manöveriert mit blitzschnellen Bewegungen und schleudert sein Tau um die Landungstreppe, es kommt aber auf der entgegengesetzten Seite des Stromes an der Reling in die Klemme und der Sampan dreht sich sehr natürlich in den Wogen um und legt sich wie ein Deckel über seine Insassen. Der Chinese kam nicht wieder zum Vorschein. Wohl aber der Schraubenjunge, der im nächsten Augenblick mit dem Kopf auftauchte, das Wasser von den Augenbrauen schüttelte und sich umblickte, indem er mit reißender Geschwindigkeit nach achter getrieben wurde.

»Los da!« ruft er einem Sampanmann zu, bei dem er vorbeigerissen wird. »Ich gebe fünf Dollars!«

»Gebe zehn Dollars!« schreit er einem Sampan zu, der etwas weiter hinten vertäut liegt. Der Chinese rührt sich nicht.

»Gebe zwanzig Dollars!« brüllt der Schraubenjunge außer sich dem allerletzten Sampan zu, der mit straffem Tau am weitesten achter liegt. Seine Stimme klingt so drohend, als solle den picktail, wenn er nicht augenblicklich los macht, die ewige Verdammnis treffen. Aber es nützt nichts, und im nächsten Augenblick ist der kleine Mann in der Dämmerung und dem wirbelnden Strom verschwunden, während er sich auf der Seite schwimmend über Wasser hält.

Kommandorufe, Knarren von Schiffswinden, Stampfen von Füßen auf dem Boden eines Bootes, und drei Minuten später ruderte ein sechsriemiges Boot, alles was die Matrosen ziehen konnten, in der hereinbrechenden Dunkelheit hinter dem Schwimmer her. Einige Stunden später kam es zurück, ohne Mr. Bantam gefunden zu haben, und keiner erwartete den kleinen Schelm jemals wiederzusehen, den alle, wie es sich jetzt zeigte, sehr gern gehabt hatten.

Später am Abend aber, als es ganz dunkel geworden war, und nur die seltsamen Lichtscheine der Millionenstädte Hankow, Hanjang und Wuchang den Gesichtskreis unterbrachen, hörten die betrübten Überlebenden auf dem Dampfer unten an der Fallreeptreppe eine fürchterliche Zänkerei, und sie erkannten zu ihrer in aller Eile recht gemischten Freude die mit Verachtung geschwellte Stimme des Schraubenjungen. Er war im Begriff den Sampanmann um den Fährlohn zu betrügen. Oben vom Schiff aus sahen sie den unglücklichen Chinesen den Stüber auf den Boden des Sampans werfen und hörten ihn in lautes, exaltiertes Weinen ausbrechen. Der weiße Mann habe ihm zwei Dollars versprochen, schrie er in seinem pidgin, und er habe zwanzig Cents bekommen! Me belong vely poor Sa – Sa! Und da seine Sprachkenntnisse nichts fruchteten, brach er schluchzend in seiner eigenen Sprache in Wehklagen aus, wie ein gereizter Kiebitz: wui oa uia ia a ... Mr. Bantam enterte ruhig die Schiffswand hinauf, indem er unterwegs mit würdigen und frechen Redensarten den Chinesen zur Ruhe verwies.

Er sah schön aus, als er auf dem Deck stand. Sein blauer Anzug war ein Haufe von Schlamm und Dreck; Wasser und Morast troff ihm aus seinen Hosen, Vater Jangtse hatte ihn wahrlich ordentlich in seinen lehmigen Armen gewiegt. Nachdem er sich mit Fassung bei seinem Meister gemeldet hatte, gab Mr. Bantam eine kurze Erklärung ab. Ja, er sei natürlich eine Meile flußabwärts getrieben. Da er aber beim Treiben gleichzeitig landeinwärts geschwommen sei, mußte er ja schließlich Land erreichen, obgleich es eine Ewigkeit dauerte, bis er Fuß faßte, wo der Fluß eine Biegung machte. Dann hatte er einen Rickschaw genommen und war zur Stadt gefahren und hatte sich zum zweiten Mal von einem Sampan übersetzen lassen.

»Habt ihr gesehen, daß ich Schlagseite hatte, während ich schwamm?« fragte er mit dem Baßklang in der Stimme, den er stets zu bewahren verstand. »Das lag daran, weil dieser Kavalier mich herabzog.«

Und Mr. Bantam zog einen großen, nassen Revolver aus der Hüftentasche und zeigte ihn den anderen. Ja, ja, da konnten sie freilich die Schlagseite verstehen.

Damit ging der Schraubenjunge – säbelbeinig, auch eines seiner Kunststücke – in seine Kajüte, um sich Vater Jangtse vom Körper zu waschen.

Dies hatte sich zugetragen, bevor die Veränderung mit dem Schraubenjungen vor sich gegangen war, die den anderen auf dem Schiffe nicht entging, in die sie aber lange vergeblich ihre Nase zu stecken versuchten. Der Bursche hatte Heimlichkeiten an Land! Er blieb des Nachts über fort. Und wenn er in der Messe schweigend über seinen Teller gebeugt saß, konnte er ganz privat einen feuerroten Kopf bekommen. Es ging geradezu eine Brutwärme von ihm aus, die unanständig und so genierend war, daß die anderen sich mit der Hand Kühlung zufächeln mußten. Gar nicht zu reden von der Luft, die ihnen aus seinen Kleidern und seinem Atem entgegenschlug; für Leute, die kein Opium kannten, war es zum Verrücktwerden, wie dieser Bengel nach Harz und unsagbaren Dingen stank. Aber er wollte sich nicht mitteilen. Und nichts wird von Leuten von Mr. Bantams eigener Art, besonders wenn sie auf einem Schiff aufeinander angewiesen sind, unbedingter verlangt, als moralische Gemeinschaft. Kein Privateigentum von »Gefühlen«, kein Feinerseinwollen als die anderen! Wenn Seeleute an Land gehen, gehen sie scharenweise, und wenn jemand darauf verfällt, seinen eigenen Weg außerhalb der Truppe zu verfolgen, so wird dies unbarmherzig als Verräterei gerächt. Als man deshalb auf den Verdacht kam, daß der Schraubenjunge sich mit privaten Landerlebnissen schmückte, die er nicht zur allgemeinen Begutachtung ausliefern wollte, bildete sich eine ziemlich geladene Stimmung gegen ihn auf dem Schiffe. Mr. Bantam wappnete sich gegen die glimmende Bosheit, indem er sich mit noch einer Schicht von Barschheit umgab und wie ein Kettenhund bei dem geringsten Annäherungsversuch schnappte. Seiner verbissenen Miene nach schien es, als brüte er über ein Attentat gegen die ganze Welt. Ein Kenner aber hätte durch den menschlicheren Schimmer im Auge des Burschen nachweisen können, daß das Geheimnis im Gegenteil die Haudegenseele des kleinen Mannes milderte.

Der Schraubenjunge war verliebt. Und es war noch etwas Besseres, etwas, was sich ja gar nicht mit Worten sagen ließ: es gab jemand, der ihn leiden mochte! Mr. Bantam, den selbst Vater Jangtse nicht unterkriegen konnte, war in einem Liebesabenteuer versunken. Sie hieß A Koy.

Wenn Mr. Bantam selbst hätte erzählen sollen, wie die Sache zugegangen war, wäre die Schilderung wohl sehr spärlich ausgefallen; ein Beobachter war er nicht, war sich überhaupt einer Sache nicht bewußt, bevor etwas geschah. Obgleich der Schraubenjunge genug freie Zeit hatte, den ganzen Tag, wenn er wollte, so ging er nie ohne einen Zweck aus, wenn dieser auch in nichts anderem bestand, als sich mit einer Büchse ans Ufer rudern zu lassen, um dort einen Haufen chinesischer Bauern zu versammeln, von denen er später nichts anderes zu erzählen wußte, als daß er das Pack durch seine Waffe in ehrerbietigem Abstand gehalten habe. Oder er zog nach Hankow, um Tabak zu kaufen und interessierte sich auf der Straße vielleicht flüchtig für einen Eingeborenen, der eine eisenbeschlagene Tischplatte um den Hals trug, eine chinesische Form von Sühnung für Diebstahl, oder er sog den gegerbten Geruch an den Landungsplätzen ein, wo Millionen Pfunde Mauersteinstee aufgespeichert lagen, von denen Mr. Bantam sich ganz schwach erinnerte, bereits in seiner Kindheit etwas gehört zu haben. Im übrigen aber erschütterten die mystischen Jangtsestädte den jungen Maschinisten nicht durch ihre Fremdartigkeit. Der Verbrauch des vielen Bambus erregte durch eine Ideenverbindung mit Rückenwirbeln, Skeletts und anderen häßlichen Knochenbloßlegungen, eine gewisse unheimliche Stimmung in ihm. Und im übrigen umfaßte er die schmutzigen Gelben mit der ganzen unartikulierten Gleichgültigkeit seines Wesens, er versenkte sich in wortlosem Ekel vor diesem Viehzeug in Röcken, mit Weiberzöpfen und Pechaugen, die den Schmutz, den sie selbst absonderten, in ihren Gassen breittraten.

Vielleicht war es dieses Übermaß von Abscheu, das durch die Nahe seines eigenen Gegensatzes, das Gemüt des Schraubenjungen für Abgründe in entgegengesetzter Richtung vorbereitete. Jedenfalls ereignete es sich, daß er eines Tages beim Besuch der Chinesenstadt in Hankow eines Mädchens ansichtig wurde, von dem es ihm unmöglich war, seine Augen loszureißen, und der er ohne das geringste Zögern folgte, wenn sie ihn auch in die Hölle geführt hätte. Sie saß hoch oben in einem Palankin von uralter, kostbarer, chinesischer Arbeit, für den Mr. Bantam jedoch kein Auge hatte, ebensowenig wie für die beiden nackten Kulis, die den Palankin auf Bambusstangen trugen; er hatte seine Aufmerksamkeit nur auf die Ebenholzluke von durchbrochenem Schnitzwerk gerichtet, hinter der er den wunderlieblichen Mädchenkopf sah.

Ein Chinesenmädchen, jawohl ... geh weg, Schweinehund, und Mr. Bantam stieß einen picktail beiseite, der ihn am raschen Vorwärtskommen hinderte  ... eine Eingeborene, aber entzückend, weiß und rot wie ein Wunder Gottes, mit Perlen im Haar und einem langen Goldfutteral auf dem einen der winzigkleinen, weißen Finger. Hier war keine Rede von gebrandmarkten Pechaugen, sondern zwei schwarze Sterne leuchteten wie eine Offenbarung der Seele der Nacht aus der Dunkelheit des Tragstuhles, in dem der Schein von rosenroter Seide sich mit dem Lächeln auf den Lippen des kleinen Weibes vermischte. Eine Welt von Liebreiz und Eigenart, ein Wunder von Jugend und gleichzeitig rätselhaftem Alter lugte durch die geschnitzte Ebenbolzklappe, und in einer Sekunde hatte der Anblick Mr. Bantam wie die große Fremdartigkeit ergriffen, die er doch selbst war, wie das Wunder, das er nicht faßte, das ihn aber augenblicklich dazu trieb, dem Palankin zu folgen.

Die Gassen waren so schmal, daß er hinterher gehen mußte, und da schwankte der seltsame Schrein durch die eine düstere Spalte in der Chinesenstadt nach der andern, hoch oben auf den wiegenden Stangen, während die beiden Sklaven barfüßig in dem giftigen Straßenschmutz patschten und sich gegenseitig mit dumpfem Stöhnen von dem Takt unterrichteten, um nicht aus dem Tritt zu kommen. Es fing an zu dämmern und die Reise wollte kein Ende nehmen. Mr. Bantam wußte nicht mehr wo er war, die Stadt nahm ein immer seltsameres Aussehen an, lauter hohe, geschlossene Häuser mit häßlichen Steinfiguren und Drachen und nur wenig Menschen, die hier und da wie moosbewachsene Ratten aus den Löchern in den Häusern kamen. Das Lächeln aber, das er gesehen hatte, hielt ihn fest, er konnte es nicht loswerden und er fuhr fort der geheimnisvollen Beförderung zu folgen. Einmal kamen sie ganz aus den Straßen heraus und gingen ein Stück längs der Stadtmauer, dann quer über ein Feld, wo alte Särge frei auf der Erde standen, bisweilen von Knochen und Schädeln umgeben, und dann bogen sie wieder in ein Wirrwarr von Gassen ein. Inzwischen war es in den tiefen Straßen, in denen die Dunkelheit brütete, fast Abend geworden, während der Novemberhimmel noch blaßblau und klar darüberstand, von phantastischen Dachlinien und Giebeln eingefaßt. Drinnen in den Häusern, in den seltsamen Läden oder Höhlen, wo Chinesen mit ihren über die Hände herabfallenden Seidenärmeln standen und mit einem andersartigen Ausdruck von Gier und Hohn, als man ihn in Europa gewöhnt ist, aber wahrscheinlich von wesentlich demselben Inhalt, auf die Straße blickten; in Löchern in den Mauern, hinter düsteren Jalousien, überall wurde jetzt Licht angezündet, rote, qualmende Pfenniglichter oder dämmerige Papierlaternen. Und die tausend hängenden Schilder, die die Straße zu einer Art verzaubertem Wald machten, glotzten mit ihren lotrechten Reihen von vergoldeten oder blutroten oder blauen Chinesenbuchstaben wie Geheimschriften. Schließlich verwandelte sich die gespensterhafte Beleuchtung und der Laut von unzähligen, schleichenden Filzschuhen und die seltsam grinsenden Gesichter, die im Schatten ein- und ausglitten, zu mystischen, jahrtausendalten Szenen auf einer unterirdischen Bühne, mit Kulissen aus lackierten Schildern und mit Greueln, die sich in Blutbuchstaben vermummt hatten. Der dicke, warme Gestank, der sich aus vielen verschiedenen Quellen vermischte, aus dem rauchenden Abfall der Gassen, aus dem Dunst der Häuser von Essen und Menschen, Kräutern, Tee, Fleisch, Tabak, vereinigte sich zu einem schwefligen Gas, das sich wie aufgewühlte Schwermut aufs Gemüt legte, wie eine Ahnung, daß man sich in der Hölle befände. Und dabei war alles in Bewegung, alle gingen, alle hatten zu tun, die Zeit ging, die Dunkelheit nahm zu, der Himmel veränderte seine Farbe, überall wuchs und starb es in dem seltsamen Sumpf. Ein noch lebendes Aas von einem Hund erhob sich aus dem Rinnstein und fiel wieder um, ohne Beachtung zu finden, knochendürre Bettler saßen in dem beißenden Mist und waren vor Hunger eingeschlummert, und neue Menschen kamen und gingen, und die Scharen schlichen davon, es flutete in den Gassen wie von einem bläulichen Teig von Chinesen, Chinesen ... hoch über dem Strom aber schwankte noch immer der Palankin, der kostbare Schrein mit seinen geschnitzten Ursymbolen und mit seinem lebenden Schatz von Jugend in Gestalt eines Mädchens hinter dem Ebenholzgitter.

Plötzlich schwenkten die Träger nach links ab und waren im nächsten Augenblick aus der Stadt heraus und unten am Fluß, wo eine alte, ausgetretene und schlammige Steintreppe zu einer Fähre hinabführte. Bantam atmete befreit auf und sah sich um. In weiter Ferne, eine Viertelmeile flußabwärts leuchteten die Bogenlampen in The Bund, der europäischen Straße, und noch weiter fort sah er die Toplaterne des Dampfers mitten in dem nachtverhüllten Strom. Gerade gegenüber, auf der anderen Seite des Flusses aber lag ein seltsamer Berg von Dunkelheit, der mit tausenden von kleinen spärlichen Lichtfunken überschüttet war – das war Wuchang.

Die Palankinträger schritten, ohne ihren Tritt zu unterbrechen, die Treppe hinab und gingen geradeswegs an Bord eines großen Sampans oder einer Djunke mit hohem Hinterkastell, wie die alten Karavelen in Europa, und einen Augenblick später stieß dieselbe mit einem Mastbaum von einem Wrickriemen achter von Land und glitt durch die Dunkelheit davon. Bantam nahm eine Jolle und eilte hinterdrein.

Während der Überfahrt begriff er, weshalb der Palankin den langen Weg durch die Stadt gemacht hatte. Damit er in einen passenden Winkel zur Landungsstelle auf dem gegenüberliegenden Ufer kommen und der Strom die Fähre mit sich führen konnte, während gleichzeitig gerudert wurde. Sie landeten eine Viertelmeile weiter unten am Fluß als sie ausgegangen waren, die Träger gingen an Land, und bald schwankte der Palankin wieder Straße auf und Straße ab, jetzt aber in Wuchangs dichtester Chinesenstadt, die Träger schlugen eine Richtung ein, die immer mehr aufwärts zu dem mittelsten, höchstgelegenen Teil der Stadt führte, und plötzlich verstärken sie ihre Gangart unter lautem Stöhnen, biegen um eine Ecke in eine enge Spalte zwischen hohen, schwarzen Mauern, ein scharrender Laut läßt sich hören, und als Mr. Bantam nachfolgt, rennt er gegen eine schwere, geschlossene Tür, bum! Geschlossen! Fort!

Ja, da war die geschlossene Tür in der Mauer. Der Palankin war verschwunden, als sei das Ganze nur ein Traum gewesen.

Bantam versetzte der Tür einen Fußtritt. Darauf schüttelte er seinen Kopf, schüttelte ihn wieder. Schlenderte dann weiter, verlegen, bis zu Tränen enttäuscht, zornig, einsam.

In einiger Entfernung sah er ein großes erleuchtetes Lokal, wo viele Menschen unter einem offenen Dach saßen, wahrscheinlich ein Teehaus, und dort trat er ein. Man betrachtete ihn von allen Seiten, aber niemand tat ihm etwas zuleide. Die Chinesen saßen an kleinen Tischen und tranken Tee und aßen Nußkerne und ganz kleine verzuckerte Kuchen. Bantam bestellte Tee und bekam ihn. Er wurde in einer kleinen Porzellanschale serviert, mit einer anderen, etwas weniger gewölbten darüber, und Bantam trank ihn zwischen den Rändern dieser beiden Schalen aus, wie er es die anderen tun sah. In einer Ecke saß ein eingeborenes Orchester und musizierte, da war ein Gonggong, eine Flöte mit einer völlig verkehrten Skala und eine zweisaitige Violine, alles natürlich aus Bambus, und die Musik klang auch wie ein Konzert auf Rückenwirbeln, Hüftschalen und Schienbeinen. Die Chinesen saßen leise grunzend da und nestelten an ihren Pfeifen, stopften so wenig Tabak wie eine Erbse hinein, zündeten ihn mit einer langen Lunte an und rauchten den einen Zug, worauf sie die Asche herauspusteten und von neuem stopften. Einige hatten riesige Hornbrillen auf der Nase, sie schienen von Rang zu sein. Da Bantam seinen Tee ruhig trank, dauerte es nicht lange, bis man seiner gar nicht weiter achtete. Das Haus lag mitten in der Stadt, auf dem Gipfel der Anhöhe, und man konnte nach allen Seiten auf ein Meer von niedrigen, muschelgewundenen Dächern herabsehen, auf die das ampelrote Licht aus den Straßen reflektierte. Der Lärm aus diesem ungeheuren, enggebauten Bienenkorb war von einer seltsam morastigen und wühlenden Art; es gab hier ja keine Wagen, nur Menschenfüße, nackt oder in Filzschuhen, und Wuchang hat einige Millionen Einwohner. Es klang wie Maikäfer in einem Sack, es kochte dort unten, schwitzte, dampfte von Chinesen.

Und hier also saß der Schraubenjunge und verbrannte sich am Tee und biß sich in seine bebende Lippe, wenn die Schwäche ihn überkam, die Enttäuschung und die Sehnsucht nach dem herrlichen Mädchen, das er gesehen hatte. Bis zu drei Tassen Tee ohne etwas Herzstärkendes drin, hu ha, hatte dieser Gemütszustand gewährt, da machte der Schraubenjunge sich in drei fürchterlichen Flüchen Luft und haute auf den Tisch um zu bezahlen. Es war keine große Summe und der allzuehrliche Kellner gab ihm außerdem zu verstehen, daß er seine Nußkerne und Süßigkeiten nicht stehen zu lassen brauche, sie waren bezahlt und kamen ihm zu. Mr. Bantam wehrte mit der Hand ab, nein, danke. Als er aber die Steintreppe hinabstieg, schossen ihm die heißen Tränen in die Augen, weil der Chinese so gut war, und er mußte seinen Schmerz wieder mit fürchterlichen, inwendigen Flüchen herunterschlucken. Gott, wie war er verlassen – aber wartet nur, gleich würde er alles kurz und klein schlagen! Wer wagte es, sich über ihn lustig zu machen? Tod und Teufel, was fiel denn dem Mond ein? Stand er nicht dort über den Häusern und glich dem entblößten Hinterteil eines Chinesen .... Ha, das Universum sollte sich hüten. Und der Schraubenjunge stampfte die Straße hinab, immer noch mit Tränen im Halse, von einer Schwäche belagert, der er mit bestialischer Wut begegnete, bis es ihm dick und schmerzend in den Brauen saß. Es war ja noch nicht so lange her, seit der kleine Haudegen seiner Mutter entwachsen war.

Plötzlich sieht er ein Chinesenmädchen ziemlich hoch oben auf einer Balustrade oder einer Art hohlgeschnitztem Käfig stehen, vor einer offenen Tür, die zu einem dahintergelegenen, erleuchteten Raum führt – es geht ihm wie ein Stich durch die Brust – sie ist es! Ja, mit Perlen im Haar, rot und weiß, im farbigen Seidenmantel. Aber das ist ja ganz unmöglich, denn das Haus, wo der Palankin verschwand, liegt ja viel weiter oben in der Straße. Sie kann es nicht sein, und Mr. Bantam beißt die Zähne zusammen, bezwingt sich und stampft weiter. Einen Augenblick später begegnet er einer höchst sonderbaren Doppelfigur in der düstern Gasse, einer Art Centaur, der unten aus einem schmutzigen Kuli besteht und oben aus einem feinen kleinen Chinesenmädchen. Der Kuli trägt die kleine Dame vorsichtig auf den Armen wie ein Kind, und sie sitzt dort oben in himmelblauer Seide mit einer Bambusvioline in den Händen und Perlen auf dem rabenschwarzen Haar – aber, mein Gott, das ist ja das Palankinmädchen! Mr. Bantam blickt dem Kuli, der die liebliche Bürde trägt, – der Boden und der Gipfel von China – mit offenem Munde nach. Er ist im Begriff, vor Ungewißheit aus der Haut zu fahren – ist sie es wirklich, und wo soll sie hingetragen werden? Schließlich seufzt er und reißt sich los, setzt seinen Weg fort. Aber einige Häuser weiter unten in der Gasse sieht er das Mädchen wieder, und die kohlschwarzen, süßen Augen leuchten diesmal oben aus einem Fenster, mit Perlen im Haar, weiß und rot, und jetzt bleibt er fassungslos stehen. Sie ist es ... aber wie ... oder ist er verrückt geworden? Von Entsetzen gepackt, folgt er einer Eingebung, kehrt in gestrecktem Lauf zu dem Haus mit der Balustrade zurück, wo er sie zuerst sah – und sie steht noch da, und sie ist es, und nun lächelt sie, und die kohlschwarzen, süßen Augen leuchten dort oben ...

Da war es mit der Überlegung des Schraubenjungen vorbei. Ohne Rücksicht auf Zauberei und Augenverblendung oder was weiß er, ist er mit zwei Sprüngen am Fuße des Hauses, und im nächsten Augenblick auf dem Wege zur Balustrade hinauf, mit Händen und Füßen über Drachen und geschnitztes Krimskrams kletternd, den Revolver zwischen den Zähnen. Das Palankinmädchen sieht ihm innig zu, und als sie ihn erreichen kann, faßt sie ihn am Rock und zieht mit der ganzen Kraft ihrer schwachen Arme, um ihm heraufzuhelfen. Später erfährt er, daß es A Koy ist.

Das war das Geheimnis des Schraubenjungen.

Jeden Abend in dieser Flutzeit, wenn das gelbe, zynische Mondgesicht über Wuchangs Dächer emporstieg, konnte es einen jungen Europäer beobachten, der mit immer größerer Übung und Sicherheit, jetzt ohne Spur von Revolver zwischen den Zähnen, zu einer Balustrade hinaufklettert und von einem reizenden Chinesenmädchen ins Haus geholfen wird. Mehr konnte der alte, leere Mond nicht erspähen.

Mr. Bantam kam nie weiter als bis zu dem kleinen Zimmer hinter der Balustrade, in dem A Koy wohnte, aber das war ihm auch vollkommen genug. Was in den übrigen Zimmern des Hauses, von wo er oft andere chinesische Stimmen hörte, geschah, und was A Koy vorhatte, wenn sie von ihm ging und ihn zwischen den geschnitzten, perlmuttereingelegten Ebenholzmöbeln zurückließ, das kümmerte ihn wenig. Nach Geräuschen, wenn Türen offenstanden, hatte er geschlossen, daß es ein großes, bevölkertes Haus sei, mit vielen weiblichen Bewohnern und daß es oft bei Musik hoch herging. Das ganze Haus war von dem brenzligen und unwiderstehlich süßen Opiumgeruch wie durchtränkt. Mr. Bantam aber hatte nur Gedanken für A Koy, vergaß ihretwegen alles andere in der Welt. Deshalb kam es wie ein unvorbereiteter, lähmender Schlag, als Mr. Bantam plötzlich eines Abends eine fürchterliche Männerstimme hörte, die ihm bekannt war, und er im nächsten Augenblick sah, wie der zweite Steuermann sein bärtiges Gesicht durch die Tür, die zu den anderen Zimmern führte, hereinsteckte.

Der zweite Steuermann! Und Mr. Bantam saß in zwangloser, häuslicher Bekleidung und trank Tee mit A Koy! Der zweite Steuermann tat erst, als sei er gar nicht überrascht, kam herein und nickte dem Schraubenjungen mehrmals freundschaftlich zu. So, so. Wohlbekomm's beim Tee. Schönes Wetter heute abend. Nach und nach aber verfiel der Steuermann, ohne daß er es selbst wußte, in eine Sprache, deren verblümte Rede und Kernigkeit ihn mit sich riß. Aha, hier also verbrachte der Schraubenjunge seine Abende, wenn andere meinten, er sei zum Gottesdienst im Heim für Seeleute. Na, obgleich er ein junger Dachs sei, ließ sich das hören. Aber daß er – und hier steigerte der Steuermann sich durch einen Fluch zu Pathos – daß er wie auf einem Theater zu einem Balkon hinaufklettere, ein langes, gefährliches Stück im Mondschein am Hause hinaufklettere, anstatt wie andere Seeleute durch die Haustür zu gehen – und er könne ihn versichern, daß sie offenstehe – um die Treppe hinaufzusteigen, wie solle man das nennen? Gab es überhaupt Worte für ein derartiges Benehmen?

Der Schraubenjunge ließ den Kopf sinken. Und er blieb bewegungslos sitzen, alles Blut stockte in ihm, er konnte vor Scham nicht aus den Augen sehen, während der Steuermann ihn schonungslos bloßlegte.

Jawohl, der zweite Steuermann hatte sich vorgenommen, dem Märchenprinzen etwas in die Karten zu gucken, war ihm gefolgt und hatte gesehen, wie ausgezeichnet er klettern konnte. Es war ja unverkennbar, daß der elende Schraubenjunge sich einbildete, er entere ein Laterna magica-Schloß mit einer Fee auf dem Söller, he, junger Dachs!

Hierbei betrachtete der Steuermann mit einem schrecklichen Urteil im Blick den gebeugten Kopf. Und als er sah, daß der Schraubenjunge zerschmettert war, ging er zu einem falsch barmherzigen, schneidenden Ton über:

Durften sie einander nicht kriegen? Widersetzten die schlimmen Eltern sich ihrer Verbindung, das Aas von einem Vizekönig in Wuchang und sein Drache von einer Gemahlin? Ach, wie traurig. Hier liebten zwei teure junge Menschen einander, und sollten mit Gewalt davon zurückgehalten werden, sich in die Arme zu sinken, he ...

Und der Steuermann fiel mit einem schrecklichen Fluch aus der Rolle. Die alleinige Nachahmung von Zärtlichkeit zwang ihn, sich Luft zu schaffen. Er brüllte vor Entrüstung: Daß so ein Dummkopf von einem Bengel, kaum dem Mutterleib entschlüpft, so eingebildet sein konnte! Daß man die ganze Achtung des Standes seiner Vornehmtuerei wegen riskieren sollte. Hu!

Da der Sünder noch immer schwieg, während A Koy verständnislos und innig mit ihren weichen, schwarzen Augen dabeisaß, begann der Steuermann Mr. Bantam auf eine seemannsmäßige, kränkendere Art zu höhnen, froh und grob: Ob er auch hier alle Schlüssel und Schrauben kenne, he? Ob er sich wirklich einbilde, daß er der einzige in der Welt sei, der das Geheimnis der Compoundmaschine mit Kühlung und dem Druck von sieben Atmosphären besitze usw. usw.

Jetzt war der Steuermann in seinem Fett und er grinste vor Wohlbehagen. Die Bitterkeit war überstanden, er genoß nur die glänzenden Vorteile, die die Situation bot. Plötzlich aber wendete sich das Blatt. Und das geschah, als der Steuermann in einem Sturm von Gelächter, auf den einzigartigen Erfolg Vorschuß nahm, den er in der Messe des Schiffes haben würde, wenn er von dem Abenteuer des Schraubenjungen in der verzauberten Stadt erzählte, von der Aufklärung des Mysteriums, von der Strickleiter aus dem Fenster der Geliebten, dem Teewasser im siebenten Himmel und der zärtlichen Zwiesprache der Liebenden auf chinesisch ...

Der Steuermann konnte vor Lachen nicht aus den Augen sehen, hatte alles andere um sich her vergessen, als ihm plötzlich der Atem stockte und er etwas Schweres an seinem Hals hängen fühlte. Es war Mr. Bantam, der ihm an die Kehle gesprungen war und dort wie in wütender Iltis hing. Es kam zu einem kurzen, furchtbaren Kampf.

Tsi, sagte der Steuermann, während er sich des reißenden wilden Tieres zu entledigen versuchte. Noch war er nicht böse und begnügte sich damit, Mr. Bantams Hände von seinem Hals zu klemmen und sich von ihm zu befreien. Damit aber war er noch nicht fertig, denn der Schraubenjunge ließ sich durch die erste Probe von des Steuermanns enormen Kräften nicht einschüchtern, er schlug, schwupp, in des Steuermanns strenggehegtes Zwerchfell, schwapp, noch einen auf die Kinnlade, daß die Zähne wackelten – da mußte der Steuermann zum Vorhammer greifen. Er brüllte laut wie ein gereizter Ochse, und ließ den Hammer fallen, einmal, und als Mr. Bantam sich wie ein Blinder erhob, noch einmal. Da blieb er liegen.

Das Zimmer war voll von Chinesinnen mit Perlen im Haar, die die Oberlippe von den Zähnen zurückzogen und voller Interesse den furchtbaren Steuermann betrachteten, der auf allen Vieren über seinem bewußtlosen Kameraden lag, wie um ihn zu zerreißen, wenn er sich noch einmal rühren würde. Sie sahen einander an und holten sich neuen Hohn aus ihren Blicken, gegen diese beiden fremden Unbeschreiblichkeiten. Eine von ihnen aber lag auf dem Fußboden und flehte dem Steuermann ins Gesicht, flehte mit Lippen, die keinen Laut von sich gaben, flehte mit den schiefen Augen, die vor Tränen nicht sehen konnten. Das war A Koy.

Bei dem ersten Lebenszeichen, daß Mr. Bantam von sich gab, brummte der Steuermann und erhob sich. Dann lud er den Dachs auf seinen Nacken und schleppte ihn, ohne der kleinen, weinenden A Koy oder der Kneipe überhaupt einen Blick zu schenken, auf die Straße und bis zu einem Sampan.

Der zweite Steuermann lieferte den Schraubenjungen den Kameraden an Bord nicht aus. Nicht daß er ihn schonte; im Gegenteil, er war mehr als unbarmherzig, wenn er die unbezahlbare Geschichte zum besten gab, wo er Mr. Bantam gefunden habe. Es war aber eine Nuance in seinem rauhen Wesen, eine gewisse Vorsicht, die zur Folge hatte, daß Mr. Bantam die Geißelung passieren ließ – der Steuermann wußte wohl aus Erfahrung, wie weit er gehen konnte. Die Kletterpartie im Mondschein usw. erwähnte er nicht.

Es dauerte nicht lange, bevor George Bantam als wirklich reifes Mitglied von der Gesellschaft an Bord aufgenommen wurde, anerkannt als Sünder und selbst befriedigt, daß er seinen Platz im Niveau ausfüllen konnte. Er bewies eine ungewöhnliche Anlage für eine grobe Schnauze; er hatte feine Nerven zu beschützen.

In der Tiefe seines Herzens aber bewahrte er – ebenso wie die andern – den schönen Traum, den seine törichte Jugend zur Wirklichkeit gemacht hatte, unberührt. Er würde sich des kleinen stummen Weibes, das seiner so froh gewesen war, daß sie sterben konnte, nur weil er dumm war und sie besitzen wollte, stets erinnern.

Bantam schüttelte den Kopf, wenn er unten bei der Maschine stand, von Öl und Verantwortungsgefühl triefend – schüttelte plötzlich seinen Kopf, wie eine Saite, die angeschlagen wird, aber nicht mehr klingt. Dann war es, daß er A Koys mit den Opiumaugen gedachte und von neuem nicht zu fassen vermochte, daß ein Mädchen so lieblich und so grenzenlos gut sein konnte.

Als das Schiff den Jangtsekiang hinabfuhr, verstand George Bantam nicht, was es war, das ihm als eine unersetzlich verlorene Welt vorschwebte, oder als eine Welt, die er einst in ferner Zukunft, nach einer langen, langen Reise erreichen würde. Es schien ihm, daß es derselbe Fluß, just derselbe Fluß sei, den er sah, als er herreiste, und doch erkannte er ihn nicht wieder.

Nein, er sollte den wunderbaren Fluß nie wiedersehen, den er in Opiumträumen befahren hatte, mit A Koy lautlos vor Liebe an seiner Seite, die kleine fruchtbare A Koy mit der Seidenschnur um ihren runden Leib, A Koy, die ihm so nah gewesen war, wie zwei Seelen an derselben Opiumlampe sich kommen können. Nur eine Dämmerung, von der rotschwarze Ebenholzmöbel mit Perlmuttereinlage sich abhoben, war zurückgeblieben, und dann eine Erinnerung, die sich nicht greifen ließ, die Erinnerung an das bodenlos süße Opium, das wie der Rauch des verbrannten Paradieses duftete.

Denn das Dasein war dem jungen Bantam zu unfaßbar und mächtig, obgleich es ihm mitten durchs Herz gegangen war. Er wußte nicht, daß er Aug in Auge mit der mongolischen Sphinx gestanden hatte, er bewahrte nur die Erinnerung an eine schwindelnde Süßigkeit, die ihn mit Blindheit geschlagen hatte und ihm noch bisweilen so heftig durchs Blut sauste, daß seine Augen ganz dumm davon wurden. Wer weiß, vielleicht keimte jetzt ein Wesen, auf das die Welt bis jetzt noch nicht eingerichtet gewesen war und das das ganze Lokal nach seinem eigenen privaten Bastard-Geschmack umkalfatern mußte, ein Sohn von A Koy und old England, der Imperator der Zukunft, ohne Gedächtnis, brutal und zärtlich, mit pechschwarzem Haar und blauen Augen, eine tropische Nacht, in der Eisberge auftauen, der ganze Pazifik-Mensch ... Bantam würde nie etwas davon erfahren, schenkte diesem nicht einmal einen Gedanken. Er sah nur, was er sehen konnte, und einst wird er wahrscheinlich ein Stückchen Vorgeschichte einreihen, in der er selbst, bei so viel anderer Unwirklichkeit, die Rolle des Schicksals spielt.

Der Vater Jangtse aber, den Mr. Bantam in einem Opiumrausch befahren hatte, und den er später nicht sehen konnte, war ja nur der Fluß, der ist, der Jangtsekiang, der gewaltig durch das weitgestreckte Alluvium fließt, das er selbst geschaffen hat, mit tausendjährigen Pagoden bei jeder Biegung, als Zeichen, daß noch keine nennenswerte Zeit verflossen ist, daß es noch gar nicht für ihn eilt. Der Jangtsekiang mit dem Tempel auf der Klippe mitten im Strom und mit Bergen zu beiden Seiten. Der Jangtsekiang mit Lehmhütten längs der meilenweiten flachen Ufer, wo Enten so dick wie Wolken aus dem Schilf auffliegen und der Mongole ungestört wie zu Attilas Zeiten seine geflochtenen Fischreusen im Fluß auslegt; Jangtsekiang mit den schwimmenden Inseln, den weitläufigen, bewohnten Holzflößen, die wie losgerissene Stücke von den überfüllten Städten hoch oben im Lande, dem Meere zutreiben, Jangtsekiang mit dem fetten, fast eßbaren Nilschlamm, der seit Jahrtausenden gepflegt worden ist und noch heute gepflegt wird, so daß jeder Zoll grünt ...

Ja, es ist der Jangtse, kein fremder Fluß und nicht fern, wenn du ein Herz hast, es ist Jangtse, der große Ernährer, der so viele Menschen unterhält, daß, wenn du ihn auch tagelang beschiffst, du am Lande immer wieder und wieder gepflegte Gräber und blaue Chinesen siehst, und richtest du dein Fernglas auf eine Stelle in dem flachen Uferland, bekommst du den Sehkreis voller Gräber und blauer, chinesischer Bauern.

Das ist der Jangtse auf der anderen Seite der Erde, das ist A Koys fruchtbare, unerschöpfliche Welt.


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