Wilhelm Jensen
Osmund Werneking
Wilhelm Jensen

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Es war völlig Nacht, als er in Bergen wieder eintraf; nach seiner Zusage und gewohntem Brauch bei der Rückkehr begab er sich zum Hause Toves. Das Mädchen flog ihm freudig entgegen und rief: »Ich habe mir gedacht, daß du heute später kämest, dein Versprechen zu erfüllen.«

Er fragte gedankenlos: »Welches Versprechen?«

Sie deutete durch das offene Fenster. »Der Mond muß gleich kommen – sieh, da schimmert der Berg schon im Licht.«

Mit Mühe verwandte er seine Anteilnahme auf ihre Worte und versetzte: »Das tat er gestern auch, und da wolltest du nicht mit mir gehen, obwohl ich dich bat; so fällt mir wohl Recht zu, heute nicht Lust zu haben.«

Sie sah ihn erstaunt an. »Ich nicht? Wann?«

»Treib dein kindliches Spiel von gestern nicht weiter!« erwiderte er unmutig. »Glaubst du wirklich noch, ich hätte deine Stimme am See nicht erkannt?«

Tove wiederholte: »Am See bei der Hansenlustbarkeit?« und ihre Augen blickten ihm mit einem so überzeugenden Ausdruck fragender höchster Verwunderung ins Gesicht, daß er unwillkürlich betroffen entgegnete:

»Du hättest mir nicht in der schwarzen Gugel die Wasserrose gegeben und mich vor Herrn Tiedemann Steens Torheit –«

Er vollendete nicht! sie hatte mit einem Tone, der keinen Zweifel mehr belassen konnte, nachgesprochen: »Die Wasserrose?« Und plötzlich zuckte es ihm wie ein jäh erhellender Blitz durch den Kopf, daß er bedachtlos ausstieß:

»Hat sie auch deine Stimme, wenn sie in deiner Sprache redet?«

Das Mädchen griff ängstlich nach seiner Hand und fragte mit zitternden Lippen: »Wer –?« Eine Flut unklarer antwortloser Fragen überwogte ihm plötzlich Sinne und Gedanken, er gab keine Entgegnung, erst als sie noch unruhvoller wiederholte: »Wer redet mit meiner Stimme?« versetzte er rasch:

»Irgendeine der Normannentöchter hier aus der Stadt, die ich nicht kenne. Es war ein Mummenspaß, ich glaubte, du seiest es gewesen. Komm, Tove, daß wir die gute Zeit nicht versäumen! Ich bin ja gekommen, um mein Versprechen zu erfüllen und dich zu holen.« Es tat ihm leid, daß er sie vorher fast rauh angefahren, und er bestrebte sich, das ihr zugefügte Unrecht durch liebreiche Art wieder gut zu machen. Aber seinem Willen zum Trotz konnte sein Denken nicht bei ihr verweilen: er gab, wie sie an seinem Arm jetzt durch die dunklen Gassen schritt, auf ihre Fragen manchmal wunderlich verwirrte Antwort, endlich verstummte sie ganz. Sie sah ihren Wunsch erfüllt, doch er brachte ihr keine Freudigkeit mit sich.

Schweigsam stieg sie, von ihm geführt, an eine Berglehne hinan. »Wohin willst du, daß wir gehen?« fragte er freundlich. Sie erwiderte nur leise: »Ich bin müde;« es war, als brächte ihr Mund es mühsam hervor. »So wollen wir uns setzen,« entgegnete er mit sorglicher Bereitwilligkeit, schritt noch etwas weiter bis zu einer geeigneten Stelle aufwärts und ließ sich dort auf einem niedrigen Felsstück neben ihr nieder. Sie saßen wortlos beisammen, es war eine linde, stille Nacht, die noch nicht von dem baldigen Abschied des kurzen nordischen Sommers redete. Langsam verbreiterten sich die beglänzten Abhangsflächen der Bergeshöhen und rückten tiefer ins dunkelnde Tal hinunter; nach der Fülle der Helligkeit des Lichtes mußte die osther aufsteigende Mondenscheibe ungefähr in völliger Rundung am Himmel stehen. Osmund Werneking sah vor sich hinaus, wie der fortschreitende Strahl bald hier, bald dort etwas bisher unsichtbar Gewesenes hervorhob; Tove hatte regungslos den Kopf an seine Schulter gelegt, daß er fast ihre Anwesenheit vergaß. Doch nun erinnerte ihn ein körperliches Gefühl an ihre Gegenwart, ein leises Rütteln durchlief von ihrem schwarzen Scheitel her seinen Arm, und er sprach: »Dich friert, es ist wohl besser, daß wir zurückgehen.«

Er wollte, wie es schien, auch eigener Neigung folgend, aufstehen, aber ihre linke Hand hielt ihn, sich fest um seinen Arm klammernd, und mit der andern scheu vor sich hindeutend, flüsterte sie:

»Nein – sieh!« »Was?«

»Dort kommt er.«

Seine Augen wandten sich in der Richtung, nach der sie wies; der Mond hatte beinahe die Burgfeste Bergenhuus erreicht und ließ als ihr erstes Stück den alten Olafsturm von dem schattendunkeln Untergrunde heraufwachsen. Weißlich-geisterhaft sah das hohe Gemäuer herüber, als steige eine leichentuchumhüllte Gestalt langsam höher aus der Erde empor. Der Schauder rann heftiger durch die Glieder Toves, sie barg ihr Gesicht an Osmunds Brust. Zerstreuten Sinnes sprach er:

»Du bist närrisch, was soll deine Angst vor dem Turm?«

Sie gab leise Antwort: »Er sucht nach mir« –

»Nach dir? Warum? Sei nicht kindisch!«

»Du weißt es nicht – niemand, als ich« –

Ihre raunende Stimme hatte einen irren Klang, daß er unwillkürlich fragte:

»Woher weißt du es denn?«

Sie schwieg einen Augenblick, daß er nichts, als deutlich das rasch unstete Klopfen ihres Herzens vernahm, dann flüsterte sie hastig:

»Von meiner Mutter weiß ich's: eine sagt's immer der andern. Und sie erben's fort, und das Blut in uns fühlt's.«

Osmund Werneking empfand jetzt an dem Ton der Stimme, es war nicht kindische Furcht, sondern ein irrer Wahn, der aus der Seele des Mädchens sprach, und er fragte, teilnahmsvoll auf ihn eingehend, mitleidig: »Was denn, Tove? Sag's mir, ich beschütze dich vor ihm und helfe dir.«

Doch sie schüttelte den Kopf. »Das kann niemand. – Du könntest es, aber du willst nicht,« fügte sie langsamer hinzu; »es ist unser Los.«

»Welches Los?«

»Daß wir es sühnen sollen und nicht können.«

»Sprich deutlicher, Tove: was, meinst du, sühnen zu müssen?«

Das Mädchen richtete sich auf und legte die Lippen fast an sein Ohr. Ihr Mund atmete nicht, nur die Worte kamen als ein Hauch aus ihrer Brust:

»Furchtbares – eine Schuld, die keine Vergebung findet. Darum müssen wir alle so jung sterben wie sie.«

»Von wem sprichst du, Kind? Wer ist sie?«

»Meiner Mutter Vormutter – ich weiß nicht, wie viele nach ihr gewesen. Aber auf allen lag die ungeheure Schuld, die sie von ihr mitbekommen, und sie mußten untergehen in Sünde, Jammer und Qual. Der Fluch nimmt kein Ende, bis eine von uns den entsetzlichen Verrat durch Treue mit ihrem Leben sühnen kann.«

»Den entsetzlichen Verrat? Welcher Art?« wiederholte der Hörer, doch Tove erwiderte nicht auf die Frage, sondern fuhr zusammenschauernd fort:

»In solchem Turm saß sie – lebendig – kannst du's denken? – ohne Licht und ohne Luft. Sie war jung wie ich und krallte ihre Hände in den Stein, den die Menschen um sie gemauert – sie konnte sich nicht töten, und der Hunger fraß an ihr und sie griff in der Finsternis nach dem Gewürm am Boden des Turms und stillte die Marter ihrer Eingeweide damit. Und sie wurde wahnsinnig – ich fühl's in meinem Blut, wie sie's wurde – und schrie, daß es durch die Mauern gellte, und die Leute hörten es draußen, ingrimmig lachend und zahnknirschend und sprachen erbarmungslos: Da verhungert die Gottverfluchte – sie soll das Blut der Tausende trinken, die sie gemordet – ihres eigenen Vaters« –

Erschöpft hielt Tove Sigburgdatter inne, Osmund Werneking aber war plötzlich von ihrer Mitteilung sonderbar erregt worden und fragte schnell:

»Von deiner Urältermutter redest du? Wo geschah's?«

»Du sprachst eines Tages davon, daher kannte ich den Namen.«

»Welchen Namen?«

»Dein Vorfahr sei auch einmal dort gewesen auf Gotland.«

Nun rief er jählings seltsam überlaufen: »Witta Holmfeld« –

Das Mädchen stieß einen Schrei aus. »Woher weißt du's? So nannte meine Mutter sie« –

Der Mond war im selben Augenblick hinter einer östlichen Felszacke hervorgetreten und überglänzte zum ersten Male fast tageshell das schwarzumrahmte, elfenbeinblasse Antlitz der späten Abkömmlingin ferner Tage, in der sich das Blut der Lagunenstadt des Südens und Waldemar Atterdags gemischt, von dem Herr Dietwald Wernerkin die Hoffnung gesprochen, daß es sich nicht weiter vererben möge, sondern »die böse Aussaat von der Stadt Venedig« mit der jung verdorbenen und gestorbenen Tochter der schönen Verräterin Wisbys ein Ende genommen habe. Es war wohl Anlaß, daß es Osmund Werneking bei der unvorbereiteten Erkenntnis wundersam das Blut durchrann. Das war's gewesen, was ihn unbewußt vom ersten Tag mit einem geheimnisvollen Bande zu dem fremdartigen Mädchen gezogen; die Fäden, welche ein lang versunkenes Leben einst zwischen ihren Urältern gewebt, hatten nicht ausgelöschte, heimliche Kraft an den Enkeln bewährt. Von Staunen übermannt, sprach er noch einmal: »Witta Holmfelds Kind« – ihm war, als sei ein Jahrhundert nicht vergangen, die Zwischenreihe zwischen ihr und ihrer Urältermutter nicht gewesen, aber dann schlang er schmerzlich, mit tiefem Mitleid den Arm um ihren Nacken, zog ihren Kopf an seine Brust und sagte liebreich tröstend:

»Nein, du bist's nicht – du bist meine kleine schuldlose Tove, zu der das Schicksal mich bringen gewollt, daß ich besser Sorge für sie tragen solle, als Dietwald Wernerkin einst für Witta Holmfeld. Du hast wohl ihr Haar und Antlitz geerbt, wie seine Schrift es aufbewahrt, doch nicht ihren leicht betörbaren Sinn und ihr heißblütig, schlimm bestechlich Herz. Auf dir ruht nur Unglück, das dich ohne Vater und Mutter verlassen in die Welt hineingeworfen, aber kein Frevel und kein Fluch. Die sind mit ihr ausgelöscht, von der ich mehr weiß als du; komm, ich will dir von ihr reden, was ich im Gedächtnis bewahrt.«

Das Mädchen hatte, wie von einer Sinnesbetäubung überfallen, regungslos den Kopf an ihn zurückgelegt, nun schlug sie stumm die Augen gegen sein Gesicht auf, sonst gab sie kein Zeichen, daß sie höre. Er aber erzählte ihr mit leiser Stimme, was er aus Dietwald Wernerkins Niederschrift wußte, der Wahrheit gemäß, doch schonend und mildernd, und häufte alle Schuld auf Waldemar Atterdags verführerische Kunst und treulose Ränke. Erschreckt hatte er empfunden, daß in Toves Seele der Gedanke, sie trage die Schuld Witta Holmfelds noch auf sich und müsse sie sühnen, mutmaßlich aus früher Kinderzeit schon mit irrsinniger Macht tief seine Wurzeln eingeschlagen, und das Bemühen Osmunds trachtete danach, sie vorsichtig, klug und sanft aus diesem angstvollen, gemütsverstörenden Wahn zu befreien. Sie lag unbeweglich und erwiderte nichts darauf; nur als er sprach: »Der Anblick des alten Turmes hat dich immer derart erinnert, drum will ich sorgen, daß er es nicht mehr tut, und dich mit mir nehmen, wenn ich nach Wismar heimkehre« – da ging ein traumhaft-seliges Lächeln um ihren feinen Mund, und sie sprach zum ersten Male seine letzten Worte kaum hörbar nach:

»Du willst mich mit dir nehmen? O, sag's noch einmal – und dann laß mich schlafen.«

»Wir gehören ja zusammen,« erwiderte er herzlich, »es war der Wille des Himmels, daß ich hierher kommen sollte, dich zu finden.«

Ihr Blick sah mit einem stummen Glanz unnennbarer Glückseligkeit zu ihm auf; dann fielen die Lider über ihre dunklen Augensterne herab. Er fragte: »Bist du müde, mein Schwesterchen, und wollen wir nach Hause gehen?«

Ein Weilchen blieb Osmund unschlüssig, gedankenvoll ihr mondbeglänztes Antlitz betrachtend, noch sitzen, hob sie dann wie ein Kind auf die Arme und trug sie den nur kurzen Weg zu ihrer Behausung hinab. Sie erwachte nicht, in tiefem Schlaf legte er sie auf das Lager in ihrer Stube und gab Vrouke Tokkeson Auftrag, sie nicht zu wecken, sondern angekleidet bis zum Morgen ruhen zu lassen. Beim Fortgang reichte er der Alten ein Geldstück von beträchtlicherem Wert als sonst in die Hand, doch sie trat ihm an die Tür nach und sprach: »Ihr seid freigebig, Herr; ich will nach Kräften bedacht sein, daß Ihr auch fernerhin unbemerkt zu uns gelangen könnt.«

Osmund fragte verwundert: »Warum sollt' ich's nicht und warum unbemerkt?«

»Ich habe Botschaft empfangen, es kommt morgen einer zurück, den es verdrießen möchte, wenn er Euch öfter hier wahrnähme.«

Ihm entflog: »Kehrt Toves – kehrt der Herr Bischof zurück?«

Vrouke Tokkeson nickte. »Ihr habt mich verstanden, daß wir vorsichtiger sein müssen. Aber Ihr redet mit goldener Zunge und dürft auf mein Schweigen und meine Beihülfe zählen.«

Er empfand einen tiefen Widerwillen gegen das geldgierige, seinen Verband mit Tove im niedrigsten Verdacht haltende Weib, doch sah er ein, daß er unter den veränderten Umständen bei der Heimkunft des Vaters in der Tat vorderhand ihrer Mitwirkung bedürfe, um sein ferneres Hierherkommen und Abrede über die noch unfertig sich in ihm gestaltenden Pläne zu ermöglichen, und er versetzte:

»So haltet's ihm noch geheim, Vrouke, Ihr habt's erfahren, daß ich nicht karge.«

Die Alte streckte lüstern nochmals ihre Hand aus und wisperte geheimnisvoll: »Sie ist auch wohl mehr wert an rotem Gold, als eine andere in der Stadt, daß man sie ganz drin kleiden könnte, denn wisset, Herr, es fließt Königsblut in ihren Lippen –«

Er fiel, noch mehr als zuvor angewidert, kurz ein: »Ich weiß es, Ihr braucht's mir nicht zu künden,« warf ihr noch eine Münze in die Hand und ging rasch davon, ohne auf Vrouke Tokkesons ungläubig verdutzt hervorgestoßene Entgegnung: »Woher wißt Ihr, was sie selber nicht weiß?« zu hören. Ein Zusammenströmen sich gleichzeitig überdrängender Gedanken durchwogte ihm den Kopf, doch einer rang sich jetzt als der stärkste über die andern auf. Wenn es nicht Tove war, die ihm gestern die Wasserrose gegeben, so konnte es nur Wilma Oldigson gewesen sein. Warum ähnelte nicht nur manchmal plötzlich etwas in ihren Zügen, sondern hatte in normännischer Sprache auch ihre Stimme täuschend der erstern geglichen? War sie gleichfalls eine Tochter des Bischofs Torlef und von ihm irgendwo drüben in der Felseneinsamkeit verborgen gehalten, weil ihr Antlitz, von einer norwegischen Mutter entstammend, mehr als dasjenige Toves an das seinige gemahnte?

Es war ein erstes Licht, das ihm über sie fiel, nur ihre deutsche Sprache ohne jeden nordischen Tonfall stand nicht damit im Einklang. Doch wenn es sich so verhielt, konnte es vielleicht das einfachste Mittel für ihn bieten, in begreiflichster Weise Tove mit sich nach Wismar zu führen.

Sein Herz klopfte durch den tageshellen Glanz der Mondnacht.

Nun drängte sich eine andere Gedankenwoge herein. Wie war Wilma Oldigson an den See gekommen?

Die Frage fand schnelle Antwort. Er selbst hatte ihr am Abend zuvor mitgeteilt, daß ein Hansenfest dort sein werde und ihn hindere, am nächsten Tage die Sonne mit ihr ins Meer scheiden zu sehen.

Doch noch eine zweite Erwiderung vermochte er sich zu geben. Warum war sie heut zum ersten Male nicht droben gewesen?

Hat sie nicht kommen wollen, weil er sie am See für eine andere gehalten und zu dieser mit freundlich-traulicher Anrede gesprochen?

Sein Herz schlug bei dieser Erklärung noch ungestümer auf, daß er es laut durch die Stille vernahm. Es mußte Mitternachtsstunde sein, die Straßen Bergens lagen ruhig verlassen. Nur ein einzelner Schritt tönte jetzt über den harten Felsboden heran, unwillkürlich trat Osmund in den tiefen Schatten eines Hauswinkels zurück, ihm war's, als müßten seine trunkenen Gedanken, jedem lesbar, ihm auf die Stirn geschrieben sein. So wartete er, um eine Begegnung zu vermeiden, der Fußtritt kam näher, nun ging rasch und eilfertig die breitwüchsige Gestalt Herrn Tiedemann Steens an ihm vorüber.

Osmund Werneking schickte sich an, seinen Weg fortzusetzen, da schoß ihm jählings etwas durch Kopf und Herz zugleich. Wohin trachtete Tiedemann Steen um Mitternacht? Woher hatte Wilma Oldigson von ihm gewußt, was, und welche Torheit, vor der sie gewarnt? Stand er im Begriff, diese auszuführen? Mit den Worten: »Also morgen!« hatte er sich von den schwarzen Gugelvermummten im Walde verabschiedet.

Doch eigentlich ließ diese Erinnerung, dasjenige, was sich darunter bergen mochte, den Nachdenkenden völlig gleichgültig. Ihm war nur eines daraus wie ein Blitzfunken entgegengezuckt: Wenn Wilma Oldigson von einer Absicht Tiedemann Steens unterrichtet war, so ging er mutmaßlich auch dorthin, wo sie sich befand.

Osmund hatte gelobt, sie nicht auf dem Weg zu suchen, den sie täglich beim Abschied von ihm einschlug. Doch kein Handschlag band ihn, nicht Herrn Tiedemann Steen nachzufolgen. Wenn der Oldermann eine Torheit im Sinne trug, war's sogar eine Pflicht für den Abgesandten des Lübecker Rates, zu erkunden, vielleicht zu hindern, was jener beabsichtige. Und im nächsten Augenblick sagte Osmund Werneking sich, ihm liege das Gebot ob, die Wege des mitternächtlichen Wanderers auszuforschen, und behutsam folgte er hinter dem deutlich hallenden Schritt drein.

Es fiel nicht leicht, dies in den Gassen der Stadt unbemerkt zu vollbringen, doch befand sich offenbar das Ziel des Oldermanns nicht in Bergen selbst, denn er wandte sich an den See hinaus, wo das Hansenfest stattgefunden, und draußen ward es bald mit jeder Minute schwieriger, ihn im Auge zu behalten und sich zugleich doch gegen seinen etwaigen Rückblick zu sichern. Eine Zeitlang half da und dort überhängendes Gezweig der Bäume, dann indes hörten diese auf, und Osmund Werneking wußte keine Auskunft mehr, als sich seiner schweren Schuhe zu entledigen, um sich zum mindesten nicht durch den Klang seines Auftritts zu verraten. Der Mond verschleierte sich ein wenig, und hin und wieder zog langsam ein grauweißlicher Nebelreif an den Bergkuppen; verlangend blickte Osmund nach ihnen empor, sie mit der Hand fassen und über die runde Glanzscheibe herüberziehen zu können. In gleicher Eilfertigkeit schritt der rüstige Oldermann bald durch enge Felskluft, bald über zackiges Geröll, dessen scharfe Spitzen sich schmerzhaft in die unbeschützten Füße des Nachfolgenden eindrückten. Nach der Standveränderung des Mondes mußten sie ungefähr schon zwei Stunden gegangen sein; augenscheinlich befand sich Tiedemann Steen hier nicht zum erstenmal, sondern kannte die von ihm innegehaltene weglose Richtung, gestaltete nun aber das Unentdecktbleiben für Osmund zur Unmöglichkeit, denn er drehte sich zur Linken eine steile, schattenlos vollbestrahlte Steinhalde hinan. Entmutigt blieb der bis jetzt wechselnd kühn und vorsichtig hinterdrein Geschrittene stehen, nirgendwo vor ihm fand sich mehr eine Deckung, keine Behutsamkeit vermochte ihn dem Blick länger zu entziehen. Zugleich machte das ungewohnte Gehen auf der dünnen Leinwand sich seinen Füßen mit fast ermattender Empfindlichkeit bemerkbar, in herzklopfendem, heftigem Unmut sah er dem weiter emporsteigenden Oldermann nach. Da fiel über diesen ein leichter Schatten, verdichtete und verbreitete sich, ein Wölkchen war über den Mond getreten, als sei es im entscheidenden Moment gekommen, um Osmund Werneking Beihülfe zu leisten, und wieder von plötzlicher Kraft und Zuversicht belebt, eilte er Tiedemann Steen aufs neue nach. Er gewahrte ihn nicht mehr, hörte nur das Geräusch seines Trittes über sich; so klomm er geraume Weile aufwärts, doch mählich und dann immer schneller verwandelte sich das, was ihm anfänglich Beistand geliehen, zu seinem völligsten Nachteil. Statt der leichten Nebelhüllen drängten sich dunkle Wolkenmassen, jeden weiteren Vorblick raubend, am Himmel auf, ein Windmurren begann und entzog seinem Ohr auch den Klang, nach dem er sich bis jetzt zu richten vermocht. Hastiger sprang er vorwärts, nun stand er atemlos auf einer erreichten Höhe und horchte. Doch er hatte die Spur verloren, hörte nichts mehr und sah nichts. Graudunkle Nacht lag rund um ihn, wies ihm nur voraus undeutlich unter ihm ein Gemenge düsterer, öder Klippen, von denen ein kühler Anhauch heraufkam. Langsamer bewegte er sich darauf zu, bald schossen Wände steil vor ihm nieder, zwischen denen er, nur das Nächste verschwommen um sich erkennend, nach der Möglichkeit eines Abstiegs umhersuchen mußte. Seit dem frühen Nachmittag war er, bis auf die kurze Ausrast mit Tove, fast unablässig im Gebirg umhergewandert, jetzt mochte es die dritte Nachtstunde sein. Erschöpft setzte er sich und bekleidete seine wie Feuer brennenden, bei jedem Auftreten zusammenzuckenden Sohlen wieder mit den Schuhen, das gab ihm etwas Kraft zurück. Außerdem mußte er vorwärts, er trachtete nicht mehr nach einem Ziel, nur einen Abweg aus dem Gewirr jäher Felsstürze zu finden. So kletterte er mühsam, sich von Platte zu Platte niederlassend, in die Tiefe; aus der unbekannten Wildnis unter ihm scholl ihm nach und nach deutlich vernehmlich ein dumpfes Rauschen an eine Gesteinwand anschlagenden Wassers entgegen. Er mußte zu einem der kleinen, viele Meilen lang in die menschenleere Schärenwelt nördlich von Bergen hineingekrümmten Fjorde niederklimmen, nun klatschten die Wellen dichter vor seinen Füßen, die eine ebene Felsböschung erreicht hatten, auf der er ziellos entlang schritt. Nach kurzer Zeit sprang eine hohe schwarze Felszacke vor ihm in den Himmel, ohne indes den Ausweg zu versperren, doch im Augenblick, wie er sie umbog, stand er geblendet, denn ein rotes Fackelgeloder warf ihm, kaum ein halbes Hundert Schritte entfernt, glühenden Schein ins Gesicht. Zugleich aber funkelten unter ihm die Augensterne einer wolfgroßen Blutrüde, die mit wütendem Anschlag gegen ihn vorsprang, mehrere rauhkehlige Stimmen riefen eine Frage drein; ehe er klar zur Besinnung gelangte, fühlte er sich von einem halben Dutzend wild-kraftvoller Fäuste gepackt, widerstandunfähig überwältigt und zu Boden geworfen. Seine Arme wurden im nächsten Augenblick scharf mit Stricken zusammengeschnürt, er selbst wieder auf die Füße emporgerissen und dem roten Lichtschein entgegengestoßen. Das alles war so unerwartet und schnell geschehen, daß er jetzt erst eine Vorstellung davon erlangte, wohin er so plötzlich aus der lautlos dunklen Felseneinsamkeit versetzt worden. Doch blieben es zunächst nur seine äußern Sinne, die einen Eindruck seiner neuen Umgebung aufnahmen, sie übermittelten ihm noch kein Verständnis, denn was sich ihm vor die Augen stellte, erschien völlig wie die phantastische Hirnausgeburt eines sinnlos-grotesken Traumbildes.

Am Ufergestein angekettet lag ein beträchtlich großes Schiff mit festgerolltem braunrotem Segelwerk, über dessen bretterne Landungsbrücke er zum Deck hinangeschleppt ward. Auf diesem, von einem Fackelkreis umhellt, stand zwischen den beiden Masten ein Tisch mit prachtvollen goldenen Kannen und Pokalen, und vier Männer saßen trinkend um ihn herum. Einer von ihnen war Herr Tiedemann Steen, die andern boten sich ähnelnde, mächtig hochwüchsige Gestalten mit langen, eisgrauen, zottig verwildert bis über die Mitte der Brust fallenden Bärten. Hohe Greisenhaftigkeit sprach aus ihren Zügen, doch zwischen den Runzeln und Runen derselben hervor glühte noch ein wild-ungedämpftes Feuer aus ihren Augen. Zwei trugen volle kriegerische Eisenrüstung und befederte Sturmkappen auf dem Kopf, der dritte dagegen hielt nur ein langes Schwert zwischen den Knien, dessen dicht mit Rubinen besetzter Knauf blutrot gleißende Lichtstrahlen um ihn warf. Er saß erhöht, so daß er die übrigen um mehr als Haupteslänge überragte, und seine Erscheinung bildete hauptsächlich dasjenige, was den Eindruck eines phantastischen Traumes erregte. Sein weißes Kopfhaar war mit einem blitzenden Diadem geschmückt, vom Nacken bis zu den Füßen fiel ein faltenreicher Purpurmantel herab, der über und über von Kettenbehängen des kostbarsten Edelsteingeschmeides funkelte. Augenverwirrend leuchteten hundertfach große Topase, Smaragde, Demanten durcheinander, ihr ungeheurer Wert überstrahlte das Komödienhafte des Prunkes, der dem Aufzugspomp eines mächtigen Herrschers in einer Königsburg glich, hier aber am nächtlichen Schiffsbord inmitten des öden Schärengeklipps fast possenhaft närrisch erschien. Doch hochfahrende, stolz bewußte Miene des Trägers sprach, daß er die seltsame Gewandung und kostbare Schmuckzier nur als gebührenden Ausdruck noch größerer innerer Würde betrachte; er wandte jetzt den Kopf mit der scharfen habichtschnabelgleich gekrümmten Nase und fragte gebieterisch:

»Was lärmt ihr, wenn ich trinke?«

Einer von denen, welche Osmund Werneking gebunden herbeiführten, entgegnete unterwürfig:

»Wir haben einen Späher gefangen, Herr Viking, der über die Felsen kam.«

Der Angesprochene winkte kurz mit der beringten Hand. »So gebt ihm Salzwasser zu trinken, bis sein Durst still ist. Es soll niemand dursten, wenn ich trinke.«

Doch nun rief Tiedemann Steen staunend und erschreckt:

»Um Gott, Herr Werneking, wie kommt Ihr hierher?«

Osmund erwiderte: »Habe mich im Gebirg verirret, Herr Oldermann, wie es scheint, gleich Euch« –

»Seid ihr taub, daß ihr mein Gebot nicht vernommen?« fiel der Viking benannte, die buschig-weißen Braunen runzelnd ein. »Wer sich vermißt, mich anzublicken ohne Gestattung meiner Gnade, wird blind und sieht nichts mehr!«

Die Schiffsknechte wollten den unmächtig Gefesselten wieder fortschleppen, doch einer der andern am Tisch Sitzenden hatte sich bei Tiedemann Steens Ausruf plötzlich erhoben, trat auf Osmund zu und fragte:

»Betrog mein Ohr mich? Heißet Ihr Werneking?«

Der Befragte gab zustimmende Antwort, und der andere fuhr fort:

»Seid ein Sohn Detmar Wernekings zu Wismar, Ratsherrn, glaube ich? Könntet's wohl sein!«

Nun lachte er, wie Osmund auch dies bejahte, auf, drehte den Kopf und rief, doch ohne die Unterwürfigkeit, mit der zuvor der Schiffsknecht gesprochen:

»Lasset ihn, Herr Viking! Er kommt von Wismar, dem wir Dank schulden aus alter Zeit, und mag Wein mit uns bechern statt des Salzwassers!«

Der Träger des Purpurmantels entgegnete indes befehlerisch: »Das Gesetz macht ihn stumm; mein Schwert beschirmt das Gesetz!« Und er hob mit theatralischer Würde den rubinblitzenden Schwertknauf empor.

Doch der unwillig Beschiedene achtete nicht sonderlich darauf, sondern versetzte, den Kopf zur Seite drehend:

»Redet Ihr, Bartholomes!«

Der dritte, der bisher gleichgültig geschwiegen, entgegnete:

»Wenn Herr Steen ihn kennt und für ihn gut sagt, laßt ihn schwören bei seiner Seele Heil, daß er nicht Lebendigem und Toten Kundschaft von dem reden will, was er hier gesehen und gehört. Sonst macht ihn bei den Fischen stumm!«

Er setzte unbekümmert seinen Becher an den Mund; der Lübecker Oldermann, der seit seinem ersten unwillkürlichen Ausruf verstummt geblieben, trat jetzt eilig heran und flüsterte besorgt:

»Erfüllet rasch, was von Euch verlangt worden, Herr Werneking, da ein Unheil Euch herbeigeführt hat, daß Euch nicht Schlimmeres widerfährt!«

Doch der ängstlich Ermahnte stand wortlos zaudernd. Die Besinnung war ihm soweit gekommen, daß er erkannt hatte, er müsse sich auf einer Seeräubersnigge befinden, mit deren Hauptleuten Tiedemann Steen in heimlicher Verbindung stand. Durfte er sich von Drohung und Furcht verleiden lassen, einen unverbrüchlichen Schwur abzulegen, welcher der von ihm zu Lübeck übernommenen Pflicht zuwiderlief? Zudem wallte das Blut in ihm auf, daß er durch Gehorsam gegen die gestellte Anforderung als mutlos vor den trotzigen Gestalten dastehe; er hielt die Lippen aufeinander geschlossen, und das Schweigen Osmunds offenbar nutzend, um sich in seiner Machtfülle zu zeigen, rief nun der Viking: »Ich habe ihn verurteilt, führt ihn zum Gericht!« Und der »Bartholomes« benannte fügte gleichgültig drein: »Wenn er's nicht anders will, so laßt ihn mit den Fischen saufen!«

Nur der, welcher Osmund zuerst um seinen Namen befragt, zögerte noch und raunte:

»Seid kein Narr, Wein mundet besser als Wasser.«

Doch mit der Steigerung der Gefahr hatte sich ein ritterlicher Todestrotz in dem Blut des jungen Urenkels Dietwald Wernekings höher aufgebäumt, er öffnete zu entschlossener Antwort die Lippen, da schlug von der Seite her ein halb erstickter Aufschrei an sein Ohr, und mit mechanisch herumfahrenden Augen gewahrte er plötzlich, ein halbes Dutzend Schritte entfernt, das blutlos erblaßte Antlitz Wilma Oldigsons vor sich. Sie war mit einer Erzkanne aus dem Schiffsraum heraufgekommen, hielt sich, wie fast von Ohnmacht angefaßt, an der Brüstung der Treppe und blickte ihm starr mit wortlosem Flehen tödlicher Angst ins Gesicht. Ein einziger Augenblick nur war's, der ihn mit einem namenlosen Herzschlag noch stumm betäubte, doch im nächsten Moment sprach Osmund Werneking laut:

»Ich schwöre, ihr Herren, bei meiner Seele ewigem Heil, was ihr verlangt, daß ich nicht Lebendigem noch Totem von etwas reden will, was ich in dieser Nacht gehört und gesehen!«

»So begnadige ich dich! Fülle uns und ihm den Becher, Schenkin!« sprach der Viking, sein gehobenes Schwert wieder auf den Boden zurückstoßend. Augenscheinlich besaß er auf dem Schiffe mehr eine angemaßte als wirkliche Macht und barg, wenn er in Widerspruch mit seinen beiden Genossen geraten, seine erzwungene Nachgiebigkeit gegen ihren Willen unter doppelt hoheitsvollem Gebaren. Er stürzte den Inhalt seines Bechers hinab, ließ sich ihn von der eilig, doch schwankenden Knies jetzt herantretenden Wilma Oldigson bis zum Rand wieder anfüllen, und sprach; ihr gnädig nickend:

»Weshalb sind deine Lippen weiß wie Meerschaum, Seeschwalbe, die sonst wie rote Korallen blühen? Kredenze mir den Trunk, daß sie meinem Purpur gleichen!«

Sie vollzog mit zitternder Hand sein Geheiß; Osmund Werneking war aus seinen Banden gelöst worden, und der Viking deutete ihm mit herablassender Gebärde einen Sitz am Tische. Nun schenkte Wilma auch ihm aus der Kanne ein, kein Zug ihrer Miene hatte verraten, daß sie den unter so absonderlicher Bewandtnis zu dem nächtlichen Trinkgelage hinzugeratenen jungen Gast schon vordem gesehen, nur einmal ein blitzkurzes Aufleuchten unter ihren Lidern auch ihm unverbrüchliches Schweigen auferlegt. Sie trug die nämliche Schiffertracht, in der sie täglich droben am Felsrand neben ihm saß, unverkennbar verwaltete sie das Amt einer Schenkin auf dem Piratenschiff. Doch ihre Wangen und Lippen waren jetzt nicht mehr blaß, sondern als ob ein geheimer Zauber in dem von ihr kredenzten Trunk geweilt, gleich dem Purpurmantel des Viking aufgeglüht.


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