Wilhelm Jensen
Osmund Werneking
Wilhelm Jensen

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Ein Mädchen war's, wohl ein wenig älter, als der Ton ihrer Stimme zuvor vermuten lassen, die fast als die eines Kindes geklungen. Sie mochte etwa sechzehn Jahre zählen und erinnerte ihren Befreier aus der Drangsal beim ersten Anblick an ein befremdliches weibliches Geschöpf, das er einmal als Knabe auf einer Dorfmark in der Nähe von Wismar gewahrt. Dort hatte ein Trupp sonderbarer Männer, Weiber und Kinder auf der regenfeuchten Erde gelegen, wie der deutsche Norden sie noch niemals zuvor gesehen. Sie waren aus dem Ungarn- und Böhmerland heraufgekommen, redeten eine Sprache, die keiner begriff, und konnten sich nur durch Mienen und Gebärden mit den wendischen Bauern notdürftig verständigen. Es hatte geschienen, daß sie selbst sich mit dem Namen Cigani oder Zingari bezeichneten, und wie sie gekommen, waren sie über Nacht spurlos wieder verschwunden. An ein junges Weib aber, das er unter ihnen gewahrt, gemahnte Osmund Werneking das Mädchen vor ihm auf der Bank. Es hatte die nämlichen glänzend schwarzen Haare, feingebildete Lippen, dunkle feurige Augen im schmalen Antlitz, dessen Farbe beinahe einem hellen Topasstein gleichkam. Die mittelgroße, zarte Gestalt umgab ein Tuchgewand von wertvollerm Stoff, als es bei den Normannentöchtern bräuchlich, schmale, zierliche, nicht von harter Arbeit vergröberte Hände sahen aus den engen Ärmeln hervor. Sie saß wortlos auf der Bank und blickte ihren Helfer wie im Traum, daß sie sich hier befinde, an, ungewiß und doch neugierig, scheu und vertraulich zugleich.

Auch Osmund Werneking stand einige Augenblicke verstummt vor dem fremdartigen Gebilde, das die Lampe ihm unerwartet überhellt. Er hatte nicht daran gedacht, sich ihr Gesicht vorzustellen, doch nun überraschte ihn die Anschau desselben. Verwundert fragte er nach einer Weile:

»Bist du ein Normannskind?«

Sie nickte, er fügte hinzu:

»Wie heißt du?«

»Tove.«

»Und deines Vaters Name?«

Sie schwieg kurz, dann gab sie Antwort:

»Ich heiße Tove Sigburgdatter.«

Er verstand ihre Erwiderung, sie trug nur den Namen ihrer Mutter, keinen vom Vater. Es war nun, da sie ruhig, nicht in der Beängstigung wie drunten auf der Gasse, redete, mit anderm, sonderbarem Ton von ihren Lippen gekommen, nicht über das klagend, was sie sprach, doch mit einem schwermütigen Aufklang ihrer Stimme überhaupt. Osmund brach indes zarten Sinnes rasch von seiner vorherigen Frage ab und fuhr fort:

»Wie kamst du in das Getümmel? Warum hütetest du dich nicht?«

»Ich wollte nach meinem Hause gehen.«

»So spät und allein? Das war nicht klug für ein ehrbares Mädchen zu Bergen. Von woher kamst du denn hierher des Wegs?«

»Vom Turm.«

»Welchem Turm?«

»Vom alten an der Burg, ich gehe täglich zu ihm.«

»Und weshalb?«

»Ich fürchte mich vor ihm.«

»Und deshalb besuchst du ihn?« antwortete Osmund Werneking, über den Widersinn ihrer, wie ihm schien, bedachtlosen Entgegnung lächelnd. Doch zugleich sah er, daß ein unruhiges Licht durch ihre Augen lief, und ein leichtes Zusammenschauern rüttelte die feinen Glieder unter ihrem Gewand. Erst dieser Anblick mahnte ihn, daß ihre Kleidung vom Regen durchnäßt sei, und sie mit Frost schüttle; deshalb auch mochte sie so sinnlos auf seine letzte Frage erwidert haben, und er sprach rasch mit Besorgnis:

»Du bist naß geworden, dich friert.«

Sie schüttelte indes den Kopf. »Nein, mir ist's warm wie in der Sonne.«

Er sah trotzdem schnell umlaufenden Blickes suchend in der Stube umher. »In diesem Hause sind keine Frauen, die andere Kleider für dich hätten,« murmelte er halblaut, »ein Weib könnte besser Zuflucht bei den Bären im Gebirg suchen als hier.« Doch aus den Worten floß ihm ein Gedanke, er trat eilig an seine Lagerstatt, nahm das Bärenfell davon und hüllte es sorglich um die Schultern des Mädchens. Dies blickte ihm mit groß erweiterten Augen regungslos ins Gesicht, daß er unwillkürlich fragte:

»Weshalb siehst du mich so verwundert an?«

Sie zögerte kurz, eh' sie entgegnete:

»Sind alle Deutschen so gut?«

»Mich deucht, du hattest vorhin nicht Anlaß, Gutes von ihnen zu denken.«

»Das waren Hansen, ich meine die Deutschen, die so aussehen, wie –«

Sie hielt an, sichtbar ungewiß, ob sie ihn nach norwegischem Brauch mit du oder mit Ihr ansprechen sollte. Er verstand ihr Zaudern und sagte:

»Heiße mich so wie ich dich und wie dein Mund es gewöhnt ist.«

Nun erwiderte sie einfach: »Warum sollt' ich auch anders zu dir sprechen, als zur Sonne? Sie würde mich nicht verstehen, glaub' ich, wenn ich sie anreden wollte, wie die Herren.«

»Versteht sie dich denn?«

»Ich fühl's zuweilen, daß sie mir Antwort gibt.«

»Und wer sind die ›Herren‹, mit denen du anders sprichst?«

»Vor denen ich mich scheue, Herr Oluf Nielsen, der Herr Stiftshauptmann und der Herr Bischof.«

»Vor mir scheuest du dich also nicht?«

»Nein, du bist wie die Sonne« – sie lächelte zum erstenmal und zog mit den weißen Fingerchen das Fell dichter um sich zusammen – »du wärmst mich, wie sie.«

»So fror dich vorher doch?«

Sie nickte. »Mich friert's oft, aber jetzt nicht mehr, gar nicht.«

Ganz eingehüllt in das schwarzbraune Bärenfell, das absonderlich zu der Farbe ihres Haares und ihrer Augen stimmte, saß sie da wie ein halb rätselhaftes fremdländisches Geschöpfchen. Doch trotzdem gemahnte sie Osmund Werneking jetzt nicht mehr so wie zuerst an das junge Zigeunerweib, das er als Knabe gesehen. Ein fremdes Blut mußte wohl unter ihrer elfenbeinglatten und -farbigen Haut klopfen, aber mit nordischem gepaart; wie ihre Wangen sich jetzt mählich beim Sprechen leicht gerötet und die feinen Lippen sich lächelnd über die hellschimmernden Zähnchen gehoben, trat doch auch normannisch-germanische Stammesart aus dem Antlitz und dem Vorbau der schläfenschmächtigen Stirn hervor. Nur war's eine sehr andere, veredelte Art als die der übrigen Normannstöchter, welche Osmund bisher gewahrt, nicht nur mit zarterer Schönheit der Züge begabt, sondern vor allem von einer geheimen Lieblichkeit durchweht. Manchmal ging's wie ein dämmernd einfallender Schatten darüber hin, doch Angesicht und Wesen des Mädchens gemahnten an die Blume, deren Natur es ist, sich sehnsüchtig nach der Sonne zu wenden. Bei dem kargen Licht des Lämpchens erschien das junge Antlitz als eine undeutliche Mischung von kindlicher Unbefangenheit und einer ungewissen Beängstigung, wie wenn ein lästiges Schuldbewußtsein den jugendfreudig auftrachtenden Frohmut ihres Mundes und Herzens hastig wieder erdrücke. Dann irrte einen Augenblick lang ein unstetes Flackern und Zucken durch ihre langen Wimpern und wie ein trüber Nebelschleier fiel es hinterdrein. Doch konnte sich nichts Unedles und Strafwürdiges, keine wahrhafte Schuld darunter verbergen, denn danach schauten die Augen wieder mit der graden, furchtlosen Zuversicht und spiegelnden Reinheit eines Kinderblickes auf. Osmund Werneking aber war es fast wie in einer traumhaften Sinnesbeirrung, daß dieses seltsam-fremdartige Mädchenantlitz als ein feinster, anmutreichster, beinahe märchenähnlicher Gegensatz zu der rohen Welt umher plötzlich zwischen dem plumpen Gebälk seiner Stube dasaß. Seine Gedanken waren umhergegangen, woher sie stammen möge, und unwillkürlich flog ihm jetzt die Frage von den Lippen:

»Wohnst du bei deiner Mutter?«

Tove schrak leicht bei der Unterbrechung der eingetretenen Stille zusammen, dann erwiderte sie:

»Nein, bei Vrouke Tokkeson.«

»Ist deine Mutter nicht mehr lebend?«

»Schon lange nicht; wir sterben alle jung.«

Da lief wieder, deutlich sogar unter dem Bärenfell wahrnehmbar, ein Frostschauer durch Tove Sigburgdatters Glieder. Osmund trat erschreckt auf sie zu, faßte ihre Hand und stieß aus:

»Dich friert doch noch, du bist zu arg durchnäßt und mußt nach Hause, damit du nicht krank wirst. Komm, ich geleite dich, daß dir nicht wieder Übles auf der Gasse zustößt.«

Ein neuartiger Ausdruck der Betrübnis überflog ihre Züge; sie entgegnete mit dem leise klagenden Ton ihrer Stimme: »Muß ich schon gehen? Es war so schön hier.«

»Ich darf's nicht dulden, daß du länger so bleibst.«

»Aber ich darf wieder zu dir kommen?«

»Ja,« erwiderte Osmund Werneking. Doch gleich darauf fügte er hastig drein: »Nein – hierher nicht.«

Sie fragte zögernd und traurig: »Bin ich für euren Garten zu gering?«

»Nein, Tove, du bist für dieses Haus zu – dies ist kein Haus für Mädchen deiner Art, meine ich. Komm, ich führe dich; sprich draußen auf der Diele nicht, bevor wir im Freien sind.«

Er geleitete sie an der Hand über die dunkle Treppe hinunter auf die Gasse. Der Regensturz hatte ziemlich aufgehört, doch es war völlig Nacht geworden, und einige Mal nacheinander strauchelte der Fuß des Mädchens über die unsichtbaren Felsrippen des Bodens. Mit einem halb lachenden Ton sprach sie: »Ich muß heut blind sein und sehe sonst doch wie eine Katze im Dunkel.«

»So will ich Augen für dich haben,« entgegnete Osmund; ihr Kopf reichte ihm bis an den Nacken, und er legte sorglich den Arm um ihre Schulter und hielt sie beim Fehltreten sicher aufrecht. Sie gab Antwort: »Da brauche ich meine Augen nicht und kann sie zumachen; so geht sich's, als man fliege.« Dann sprach sie geraume Weile nichts mehr, bis er fragte:

»Ist die Frau, bei der du wohnst, eine Sippe von dir?«

»Vrouke Tokkeson? Nein.«

»Wie kommst du denn zu ihr?«

»Der Herr Bischof, glaub' ich, hat mich zu ihr getan, als meine Mutter gestorben; ich weiß es nicht anders.« Sie mußte jetzt doch die Lider öffnen, um ihrem Führer die Richtung anzugeben, der Weg ging beträchtlich weit durch den normännischen Stadtteil. Im Dunkel stieg der Umriß eines hohen, schwarzen Gemäuers gegen den Himmel, das Osmund Werneking halb bekannt erschien. Er fragte: »Ist das nicht Munkholmkloster?«

»Ja, wir wohnen nahebei, hier unter der Bergwand.«

Tove hielt vor einem Holzhause von geringfügigem Umfang inne, das wie ein Vogelnest an überragendem Felsen angeklebt schien, ein Wassersturz rauschte dicht daneben weißschimmernd ins Dunkel. Sie hatte plötzlich nach der Hand ihres Begleiters gesucht, hielt diese und fragte stockend mit ängstlich erwartungsvollem Stimmenklang:

»Wenn ich nicht wieder zu dir darf, kommst du dann zu mir?«

»Wenn ich das Haus bei Tage wieder finde, frage ich morgen nach, ob die Nässe dir keinen Schaden gebracht.«

Sie antwortete rasch: »Ich will den ganzen Tag vor der Tür achtgeben, daß du nicht fehl gehen kannst,« zugleich jedoch öffnete sich die Tür des Häuschens, und eine Stimme fragte von der Schwelle:

»Kommst du endlich, Tove? Ich habe längst zu Nacht gegessen.«

»Daran tatet Ihr recht, Vrouke,« erwiderte das Mädchen, »esset noch mehr, ich bin nicht hungrig und brauche nichts.«

»Wer ist bei dir?« fragte die Angesprochene mit einer Stimme, die kaum unterscheiden ließ, ob sie einem Weibe oder einem Manne angehöre.

Tove gab kurze Antwort drauf und fügte bittend gegen Osmund Werneking hinzu: »Es regnet noch, komm mit ins Haus, bis es aufhört.«

Er folgte ohne Erwiderung ihrer Hand, die ihn mitzog und über lichtlosen Flur in einen niedrigen Wohnraum führte, der zugleich die Küche des Hauses enthielt. Auf dem Herd im Winkel glomm noch ein mattes Reisigfeuer, das Mädchen fachte dies, mit den Lippen blasend, eilig an und entzündete dran einen ölgetränkten Kienspan, der nun die dürftig ausgestattete Stube flackernd erhellte. Vrouke Tokkeson war hinter den beiden eingetreten und Osmund vermochte jetzt zuerst ihr Äußeres zu unterscheiden. Es war ein Normannsweib, wie er ihresgleichen schon manche in Bergen gesehen, hartknochig von Gestalt und Gesichtszügen, bereits ziemlich hoch an Jahren vorgerückt, mit grausträhnigem Haar, auf den ersten Blick ohne alle verwandtschaftliche Ähnlichkeit mit Tove Sigburgdatter. Unter farblosen Brauen hielt sie einen nichtssagenden Blick auf den nächtlichen Begleiter ihrer Hausgenossin gerichtet; wenn etwas in dem Ausdruck der dickumliderten Augen lag, war's eine prüfende Musterung der ungewöhnlichen, vornehmen und reichen Gewandtracht Osmund Wernekings. Ihre Miene, Stimme und Bewegung taten gleicherweise Starrheit des Alters kund, doch hatte sichtlich der erste Anschein getäuscht, als ob das Mädchen sich vor ihr scheue und von ihrem Willen abhänge. Im Gegenteil verwandelte sich die knochige Steifheit der Alten vor den Worten Toves fast in eine biegsame Unterwürfigkeit; offenbar war nicht sie, sondern ihre junge Gefährtin die eigentliche Herrin des Hauses. Etwas zögernd hatte die letztere jetzt eine Frage an sie gerichtet, auf die sie langsam erwiderte: »Warum sollte der Herr nicht in den nächsten Wochen zu dir hierher kommen, wenn er dein Freund ist? Es kommt ja sonst niemand zu dir, und wer noch jung ist, ist nicht gern immer allein.« Die Augen des Mädchens leuchteten von einem glücklichen Strahl, sie räumte Hausrat von einer Bank und bat Osmund, sich zu setzen. Vrouke Tokkeson fiel ein: »Führe den Herrn doch in deine Stube, er ist besser gewöhnt, als sich auf dem harten Holz niederzulassen.« Doch Osmund Werneking sprach jetzt drein: »Es ist spät und du sollst dich zur Ruh' legen, Tove; morgen ist wieder ein Tag, da komm' ich zurück.« Er lächelte über das Wort Königs Waldemar Atterdag, das in unbewußter Erinnerung aus seinem Munde hervorgegangen; die Angesprochene sah ihn aufhorchend, halb wie ungläubig staunend an und erwiderte: »Wer hat dich das gelehrt?« Er verstand ihre Frage nicht. »Was, Tove?« Doch gleich darauf setzte er hinzu: »Siehst du, dich schüttelt der Frost noch immer, leg dich schlafen, Kind, daß du nicht krank wirst!« Bei seinen Worten tauchte in dem leeren Blick der Alten eine Unruhe auf, sie fügte drein: »Der Herr redet verständig, er ist ein Hanse und hat zu befehlen. Tu, was er verlangt, ich habe dich zu behüten, daß du nicht Schaden nimmst.« Osmund wollte sich zur Tür wenden, doch nun flog Tove auf ihn zu und faßte seine Hand: »Ich will alles tun, was du sprichst – aber ich habe dir noch nicht gedankt für alles, was du mir heut abend getan! Das darf ich doch noch erst, eh' du fort gehst – Hab' Dank!«

Tove schien leicht am Boden auszugleiten, halb in die Knie zu fallen und sich schnell wieder emporzuheben. Aber Osmund Werneking hatte gefühlt, daß ihre Lippen sich dabei einen Augenblick lang weich und demütig-schüchtern auf seine Hand gedrückt; dann ging er draußen durch die nächtigen Gassen. Doch lagen diese verwandelt um ihn, nicht als ob er in Bergen sei, sondern an irgendeinem Ort, wohin der Traum ihn einmal gebracht. Er wußte nicht recht, ob er auch gegenwärtig wachend hier gehe, die Welt umher erschien ihm nicht mehr rauh, wild und trostlos. Seine Seele war zum erstenmal von einem fremden, bewältigenden Gefühle erfüllt. Er dachte nach: seine Seele, nicht sein Herz. So konnte aufkeimende Liebe desselben zu einem Weibe nicht sein; doch ein tiefes, ihn im Innersten erregendes Mitgefühl, fast Mitleid empfand er für das rätselhafte junge Geschöpf, das da drüben, einer Blume in ödem Schattengestein gleich, unter der Felswand einsam-traurig und sonnensehnsüchtig hinzuleben schien. Wie kam sie dorthin? Augenscheinlich eine windverwehte Saat aus einem prunkvoll-reichen Garten, den sie selbst nicht kannte. Wunderlich aber kreuzte es dem Heimschreitenden die Gedanken. Gar anders lagen alle Umstände, doch im Tatsächlichen hatte er ebenso ein halbes Kind aus Not und Drangsal erlöst, wie einstmal Dietwald Wernerkin auf der sonnigen Heide bei Arensfeld, und eine rinnende Undeutlichkeit umschleierte auch sie, daß er nichts von ihr wußte, als ihren Namen. Nur war sie nicht goldlockig und blauäugig wie Elisabeth von Holstein, sondern bot in allem den größten Gegensatz zu dieser und war kein unerreichbar über ihm schwebendes Fürstenkind. »Unerreichbar?« fragte er halblaut vor sich hin. Betrog er sich etwa doch selbst und verhehlte ihm nur noch der Schlag seines Herzens, was drin klopfte? Doch er schüttelte sicherbewußt die Stirn: so warm und freundlich der Gedanke an sie seine Brust erfüllte, lag keine solche Täuschung unter ihm verborgen, und unverständlich war's ihm, was zum erstenmal ihn mit so plötzlicher Teilnahme an einem weiblichen Wesen überkommen. Er mußte der klagende Widerspruch ihrer Sonderart zu der Wildnis sein, in der er sie angetroffen. Nun erreichte er den Kaufhof, gab sich dem, von zwei großen zottigen Wolfsrüden begleiteten nächtlichen Wächter desselben zu erkennen und suchte droben sein Lager auf. Fast hatte der Schlaf ihn schon bewältigt, als es ihm war, wie wenn ein leiser, süßer und doch schwermütig stimmender Frühlingsduft ihn anwehe; er schlug noch einmal die Lider in die Höhe, dann zog er halb traumgefaßt das dunkle Bärenfell dichter um sich, das ein Weilchen die zarten Glieder Tove Sigburgdatters vor der Kälte beschützt hatte.

Neben den deutschen Gärten befanden sich noch, da und dort an der Hasenbucht zerstreut, die »außerhansischen« Faktoreien der Engländer und Niederländer zu Bergen, und Osmund Werneking nahm bald gewahr, daß zwischen beiden kaufmännischen Niederlassungen ein äußerst gespanntes Verhältnis bestand, das zwar öffentliche Feindseligkeit vermied, doch in gemeinsamer innerlicher Übereinstimmung die Mehrheit der Hansen mit Scheelsucht und Mißgunst auf den regen und gewinnreichen Handelsbetrieb ihrer fremdländischen Mitbewerber hinblicken ließ. Die letztern wichen indes im Gefühl ihrer weit unterlegenen Kopfzahl jedem Zusammenstoß geschickt und besonnen aus, legten niemals ein übermütiges Behagen an den Tag und hatten augenscheinlich ihre Zugehörigen angewiesen, wenn es abends auf den Gassen zu Reibereien gerate, Herausforderung und Spott ruhig über sich ergehen zu lassen und in ihre Behausungen zurückzukehren. Nur einmal wurden sie in eine größere und blutige Schlägerei verwickelt, gegen die sie am andern Morgen Klage bei den deutschen Oldermännern einbrachten. Zu seiner Überraschung und Befriedigung zugleich war Osmund Zeuge, daß besonders auf eifriges Betreiben Herrn Tiedemann Steens sofort der »Kaufmannsrat« in der Gerichtsstube bei St. Marien zusammengerufen, eine strenge Untersuchung angestellt, die Hansen zum größten Teil als schuldig befunden und ihre Rädelsführer zu mehrwöchiger Gefängnisstrafe bei Brot und Wasser verurteilt wurden. Freilich nahm es Osmund wunder, daß er die derartig Gezüchtigten mehrmals im Vorüberkommen bei solcher Kost hinter den Eisentrallen ihrer Fenster laut singen und lachen hörte, einmal stießen sie offenbar rasselnd sogar ihre Becher gegeneinander, als ob diese statt mit Wasser mit besser mundendem Getränk angefüllt seien, aber Osmund Werneking mußte sich nach dem Vorgang eingestehen, daß er sich einer zu üblen Vormeinung hingegeben und wider sein Erwarten bei gewichtigen Anlässen doch ernsthafte Zucht und unparteiischer Rechtsspruch im hansischen Kaufhof walte. Ihm mißfiel überhaupt seit dem Ablauf der Regenwochen der Aufenthalt zu Bergen weniger als zuvor. Die günstige Witterung verstattete ihm täglich, auf die hochsommerlich zugänglichen Berge der Umgegend bald nach dieser, bald nach jener Richtung hinaufzusteigen und über das ungeheure, tausendfältige Gewirr der schmalen Wasserarme, schwarzer Klippen, Schäreninseln hinwegzuschauen. Gleich unabsehbar gestreckt, lag darüber hin ostwärts das schneebedeckte Hochgebirg des Kjölengrats und gen Westen der endlose dunkle Atlantische Ozean. Träumerisch gedachte der junge Urenkel Dietwald Wernerkins da droben manchmal, daß diesen einst solcher Anblick desselben unermeßlichen Meeres mit seinen Gedanken in die Weite gezogen, als müsse die See drüben irgendwo an ein anderes, der Menschheit fremdes Gestade anschlagen. Und er wußte auch, daß sie dort an den Felswänden von Island und Grönland solche Ufer fand, doch es waren noch unwirtlichere Küsten als diese, nur von entbehrungsgewöhnten, wetterharten, gewinntrachtenden Fischern in den kurzen Sommermonden besucht und nicht geeignet, Sinne und Seele verlockernd zu sich hinüberzuziehen. Aber noch weiter hinüber sollte das sagenhafte ›Vinland‹ liegen, von dem die Märe verkündigte, daß in grauer Zeit ein junger Normannenfürst, Erichs des Roten Sohn, dorthin die Segel gespannt, und zu umschweifendem Sinnen regten die windumsummten Bergkuppen immer wieder aufs neue. Eine lautlose, ungeheuerliche Einsamkeit verbreitete sich um den Betrachtenden, besonders nach Norden, wohin er mit Vorliebe seine Wanderung lenkte. Als ein kleines, einziges Häuflein Leben lag in der Tiefe hinter ihm die Stadt Bergen, vor ihm ging der Blick nur in eine verworrene, unbewohnte Wasser- und Felswildnis hinunter, die sich wie ein Schluchtlabyrinth des Todes ausdehnte und übereinanderwälzte. Kein Anbau und keine Saat war ringsum als die der Natur, Heideblumen zwischen kurzer Grasnarbe und ins Gestein festgeklammerte, windmurrende, oftmals blitzzerspaltene Föhren. Nur einmal gewahrte Osmund vor sich einen jungen, wie es schien, blondhaarigen Mann in Schiffertracht an einer jähen Felswand sitzend und regungslos auf den Ozean hinausschauend. Doch ehe er näher an die seltene menschliche Erscheinung in der Einöde hinankam, stand der Fremde auf und verschwand, behend abwärtssteigend, im Gewirr einer unter seinem Sitz niederfallenden Steinkluft.

Von seiner Bergwanderung heimkehrend, sprach aber Osmund Werneking an jedem Tage gegen Abend zu einem Besuch in dem kleinen Häuschen Tove Sigburgdatters vor, das ihm binnen kurzer Zeit das vertrauteste zu Bergen geworden war, ihn in der fremden Stadt beinahe heimisch anmutete. Erwartungsvoll stand das Mädchen jedesmal nach seiner Ankunft ausblickend, faßte seine Hand und führte ihn neben dem rohen Wohnraum, den er bei seinem ersten Dortsein betreten, in ihre Stube hinein. Diese bot überraschenden Gegensatz zu der sonstigen dürftigen Ausstattung des Hauses, sie war nur klein, doch wie ein vielfältig geschmückter Käfig für ein zierliches Vögelchen eingerichtet. Die Holzwände wurden warm und behaglich von gewirkten Stoffen verhüllt, ein Teppich bedeckte den Boden, und das Fenster wies sogar einen Verschluß durch runde Glasbuckelscheiben, wie sie zu Bergen sonst nur noch das Munkholmkloster und die bischöfliche Wohnung besaßen. Ein paar duftende Blumen in Topfscherben standen davor, und allerhand Zierat lag noch auf Simsen umher, große bunte Muscheln und vielgeästete Korallen von fremden, südlichen Meeresküsten, dazwischen Renntiergeweih, weißes Möwen- und schillerndes Auerhahngefieder des hohen Nordlands. Eine breite Bank war ganz mit weichem Eisbärfell überflockt, und wie das zierliche Vögelchen des Käfigs saß Tove darauf und Osmund allabendlich um die Dämmerstunde neben ihr. Er war beim ersten Anblick des wohnlich ausgeschmückten Raumes erstaunt und im Begriff gewesen, seine Verwunderung darüber kund zu tun, aber dann hatte er gedacht, daß vermutlich die Mutter Toves hier gelebt, und die Lippen schnell geschlossen, ehe er ihr durch eine neugierige Frage weh getan. An der Mittelwand der Stube hing ein sehr kostbares, aus Elfenbein geschnitztes Kruzifix, das ein reiches Angebinde darstellte; vor dem mochte Sigburg nach dem Vorübergang kurzen Glanzes und Glückwahnes oftmals in Reue und bitterlichen Tränen auf den Knien gelegen haben. Es schien, als ob ihre Tochter noch davon wisse, denn ihr Auge ging immer rasch, wie mit einer geheimen Scheu an dem Kreuz vorbei.

Sonst aber lag in dem Wesen des Mädchens nichts Ängstliches und manchmal halb irr Unstetes mehr, wie bei der ersten Begegnung auf der Stube Osmunds. Sie war aufgeblüht, ihre blassen Wangen hatten nicht nur zeitweilig, sondern ständig eine leise Färbung gewonnen, und kindliche Freudigkeit glänzte in ihren dunkeln Augensternen. Jedes Wort kam ihr von glücklichen Lippen; zuweilen sogar mit schelmischem Lachen, das absonderlich zu dem schwermütigen Klang der Stimme um den feinen Mund hinglitt. Osmund Werneking wußte oft kaum, was sie miteinander unausgesetzt geredet, aber die Stunden waren hastig vorübergeflogen. Von Tag zu Tag kam ihm deutlicher das Gleichnis einer Blume, die vom Wind in die öde Wildnis verweht, einsam blühte und duftete. Er sagte sich auch, sie allein bilde den Anlaß, daß Bergen verwandelt um ihn liege, daß er ohne das Zusammentreffen mit ihr die Stadt bereits verlassen haben würde. Doch jetzt dachte er an kein Fortkommen, freute sich mit dem ersten Gedanken jedes Morgens auf den Abend. Auch er war von Kindertagen einsam emporgewachsen, keinem Menschen bisher mit einem innersten Gefühl befreundet, kannte niemanden, der an ihm mit einem solchen hing. Hier zum erstenmal bereitete sein Kommen einen andern ein unverhehltes Glück, blickten ihm täglich zwei Menschenaugen freudig harrend entgegen. Es geriet ihm schon nicht mehr in den Sinn, daß etwas Seltsames darin lag, wie er hier abendlich allein mit dem schönen, fremden normannischen Mädchen zusammensaß, von dessen Herkunft und Lebensumständen er nichts wußte. Ihn erfüllte eine Empfindung, als ob er sie schon lange gekannt, bevor sein Blick sie zuerst wahrgenommen, und als seien sie zwei freundlose Waisen, die zueinander gehörten. So traulich und lebensschön war's, neben ihr zu sitzen, ihre kleine, warme Hand zu halten, mit ihr zu reden und sie zu hören. Wenn ihre Stimme durch das öde Haus in der Dankwardsstraße zu Wismar geklungen wäre, so hätte er es nicht verlassen, keinen Antrieb empfunden, in die unbekannte Welt hinauszuziehen. Warum hatten seine Eltern ihm nicht eine Schwester gleich ihr verliehen? Ab und zu saß er in halbem Traum und antwortete zerstreut auf ihre Fragen. Dann dachte er, wenn er sie mit sich nach Wismar zurücknehme, dann wäre es ja so, als ob seine Eltern eine Tochter besessen. Nur um der andern Menschen willen lag eine Schwierigkeit darin, weil sie nicht seine Schwester war; aber vielleicht ließ sich durch Nachdenken ein Mittel ausfindig machen, das ihre Gegenwart in seinem Hause auch mit schicklichem äußern Anstande vor der Welt verband.

So sah jeder Abend sie beisammen. Sie hatte Bergen niemals verlassen, kannte nichts anderes als die hohen Felswände und das Meer um ihre Heimatstadt und lauschte aufmerksam, wenn er ihr Kunde von andern Ländern und Städten berichtete. Besonders aber vernahm sie gern, was er von seinen Vätern und Vorvätern sprach. Auch von der Gedenkschrift Dietwald Wernerkins und seiner Umfahrt nach Venedig hatte er ihr erzählt. Dazu schüttelte sie den Kopf, denn sie verknüpfte keine Vorstellung mit dem fremden Stadtnamen. Ihre Kenntnis ging nicht über ein undeutliches Wissen von den drei nordischen Reichen hinaus, und Osmund hatte ihr viel zu erklären. Doch von Dietwald Wernerkin hörte sie am liebsten und sagte plötzlich einmal, dem Sprecher tief in die Augen blickend: »Den hätte ich auch lieb gehabt, er muß grad' so gewesen sein, wie du jetzt bist.« Und atemlos horchte sie, wie er von Elisabeth, der jungen Königin von Norwegen erzählte. Da durchrüttelte es sie wieder einmal mit einem Schauer und sie fiel ihm ins Wort: Hierher sollte sie in den alten Turm? O, nur das nicht! Lieber bei den schlimmsten Ungeheuern am Meergrund!«

Er lächelte: »Was geht denn der Olafsturm dich an, Tove, und warum ist er dein Feind?«

»Ich weiß es nicht,« entgegnete sie und schwieg. Aber nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Mir war's von Kindheit, als sei er nicht von totem Stein und Eisen, sondern könne sich plötzlich einmal auseinandertun und Arme nach mir strecken und mich darin festhalten, so lange bis mein Herz vor Schreck und Todesangst und Müdigkeit stillstände. Laß uns nicht von ihm reden, sondern von Dietwald Wernerkin, der die schöne Elisabeth so lieb hatte und sie ihn. Ganz anders war sie als ich, nicht wahr? Aber ich hätte ihn doch nicht weniger lieb gehabt.«

Dann, wie Osmund Werneking ihr willfahrte und von dem jungen Ritter mancherlei weiter berichtete, griff sie bei einem Wort plötzlich nach seiner Hand und stieß hervor:

»Zu Gotland war er auch?«

Verwundert sah Osmund sie an. »Warum erstaunt's dich? Hast du von Gotland gehört?«

»Ja« – ihre Lider waren regungslos weit geöffnet, und sie hatte den Arm halb gehoben – »es muß da drüben liegen – nach Sonnenaufgang« – und ihre Hand sank, wie von einer Starre gefaßt, langsam herab.

Ihm kam's heut, sich mit behutsamer Vorsicht nach ihrer Vergangenheit zu erkundigen, wie sie in dieses Haus und zu Vrouke Tokkeson gekommen sei. Sie antwortete: »Es war immer so, nachdem meine Mutter gestorben.« Das mußte vor sieben oder acht Jahren geschehen sein, sie wußte es nicht genau, und er fragte:

»Ich glaube jemand – der Herr Bischof, glaube ich, hat es angeordnet.«

»Und war diese Stube schon ebenso, als deine Mutter starb?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wie die andere daneben, die Wände nicht so und alles, auch das nicht.«

Ihre Hand deutete nach dem Kruzifix; über Osmunds Gesicht ging ein Zug des Nachsinnens. »Das stammt vermutlich gleichfalls von dem Herrn Bischof?« Ein Nicken ihrer Stirn bejahte. »Er brachte es mir zur letzten Juulnacht.«

»Und alles andere kam wohl auch von ihm?«

»Schon früher, glaub' ich; er meinte, die Holzwände des Hauses seien zu kalt.«

»Da bist du wohl traurig, daß er so lange verreist ist?«

Sie entgegnete hastig: »Nein, ich bin froh darüber,« und sie fügte hinterdrein: »Sonst muß ich bei ihm lesen und schreiben, und ich tu's nicht gern. Wozu soll ich's erst lernen?«

»Hältst du's denn nicht für gut, das zu können?«

»Für andere gewiß, die so lange leben, um es nötig zu haben.«

Da schimmerte ihr wunderlicher Glaube wieder hervor, daß sie jung sterben müsse, das Scheue und Unruhige ihres Wesens kam über sie und sie blickte Osmund bittend an, sie nicht weiter zu befragen. Er wußte auch, daß es fruchtlos sei und ihrem Verstummen keine Antwort mehr abringe. So verließ er sie, Vrouke Tokkeson, die harrend im Nebenraum stand, wie allabendlich eine begierig von ihr erhaschte Geldmünze darreichend, auf welche sie stets erwiderte: »Der Herr befehle, was er von mir verlangt!« Ein neuer Gedanke aber begleitete ihn heut durch das tiefe Dämmerlicht heim. Langsam war der in ihm aufgekeimt, doch an diesem Abend zur Gewißheit erwachsen, daß Tove Sigburgdatter eine Tochter des Bischofs Torlef sei. Das lag als Geheimnis um sie her, sie selbst wußte es nicht und durfte es nicht wissen, wie keiner sonst in Bergen. Nur Vrouke Tokkeson besaß vermutlich Kunde davon und war von ihm zur Behüterin seines Kindes, dessen Vater er sich nicht benennen durfte, auserwählt. Daher fügte sie sich auch unterwürfig allen Wünschen und Willensäußerungen des Mädchens, das die Quelle ihres gesicherten Lebensunterhaltes bildete.


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