Ina Jens
Maja
Ina Jens

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Eva Bendli

Das war nämlich eine sehr böse Geschichte . . . die Geschichte von der Eva Bendli und mir, und heute noch schäme ich mich ein wenig, wenn ich daran denke. Ich habe nämlich damals mit Willen etwas recht Schlechtes getan, und das ist, wie jedermann weiß, immer gemein.

Die Geschichte hat sich also ungefähr so zugetragen. Es war ein gar lieblicher Morgen im Monat Mai. Die Luft flimmerte und zitterte wunderbar vor lauter Sonnengold, und die Vögel sangen und zwitscherten vor Lust in den blühenden Bäumen.

Ich saß auf dem Brunnenrand im Garten und sah glücklich in den Frühlingstag hinaus und hatte gar nicht genug Augen und Ohren, um alles zu sehen und zu hören.

Da rief mich die Großmutter. Sie war auf der Tenne und kniete vor einer offenen Truhe. Die war bis oben mit duftender Bettwäsche gefüllt: Leintücher mit handbreiten, gehäkelten Spitzen und Bezüge mit gestrickten Einsätzen, die mir immer so gut gefielen und an denen ich nicht müde wurde, morgens die »Löcher« zu zählen. Ein paar von diesen feinen Dingen hatte nun die Großmutter auf dem Arm.

Als ich zu ihr trat, stand sie auf, schloß die 88 Truhe und legte die freie Hand auf meine Schulter.

»Sieh, Maja«, sagte sie, »ich habe dir etwas recht Wichtiges zu sagen. Da oben hinter dem Lärchenwäldli«, sie zeigte mit der Hand geradeswegs nach den Spitzen der Bäume, »da ist doch das Dörfchen Tschappina. Da wohnt eine Familie, die ein krankes Mädchen hat. Das liegt schon seit vielen Jahren im Bett. Es kann nicht stehen und nicht gehen, ja vielleicht wird das arme Kind überhaupt nie mehr gesund. Der Arzt kann auch nicht zu ihm hinauf, weil die Wege viel zu schlecht sind und weil das Dörfchen auch so furchtbar weit abliegt, und da wird nun das Kind zu uns kommen und ein paar Monate bei uns bleiben. Der Arzt wohnt ja nebenan und kann dann jeden Tag kommen und das kranke Bein vielleicht doch wieder gesund machen. Das wäre doch sehr gut, nicht wahr, Maja? Und du versprichst mir auch, recht lieb und freundlich zu dem Mädchen zu sein, wenn es bei uns ist, nicht?«

Sie strich mir übers Haar und ging mit den weißen Laken und Bezügen die Treppe hinauf.

Ich war eine Weile ganz steif und starr. So etwas war denn doch noch nicht dagewesen. Ein fremdes Kind für mehrere Wochen im Hause! Ich kreuzte die Arme und überlegte.

Diese Neue würde nun mit uns essen und mit uns schlafen, und die Großmutter hatte es scheinbar sehr gut mit ihr im Sinne. Wer wußte, vielleicht würde sie diese Neue sogar ebenso lieben 89 wie mich selbst, und ich mußte alles tun, was diese Fremde wollte, und niemals würde ich mehr so schön allein spielen können wie bisher.

Etwas Feindseliges regte sich in mir. Meinetwegen hätte die ewig dort oben in Schlappina oder Tschampino, oder wie das hieß, bleiben können.

Aber nun kam sie eben. Ja, nun kam sie wirklich! Welch ein Ereignis! Die Neugier packte mich plötzlich und die Erwartung. »Großmutter!« rief ich, »wie heißt sie denn, und wann kommt sie?« Die Großmutter war schon im obern Flur. »Eva Bendli heißt sie«, rief sie zurück, »und kommen werden sie so um zwölf Uhr herum.«

»Eva Bendli . . . Eva Bendli . . .« Ich sagte die beiden Wörter in allen Tonarten vor mich hin. »Eva Bendli . . . ein dummer Name«, dachte ich und streckte die Zunge heraus, gerade in der Richtung, wo das Dorf Tschappina lag, aber daß diese Eva Bendli schon um zwölf Uhr kommen sollte, jagte mich doch vor das Haus.

Wie ich so eine Weile das Stückchen Bergstraße entlang gesehen hatte, hörte ich plötzlich das Knarren eines fahrenden Wagens, und gleich darauf zeigte sich eine braune Kuh, daneben ein Bauernweiblein, das sie lenkte, und nun ein Leiterwagen mit vielen Matratzen und Decken und Kissen darauf.

Ich starrte und starrte mit klopfendem Herzen die seltsame Gruppe an. Das waren sie.

»Großmutter!« schrie ich und stürzte ins Haus hinein. »Sie kommen! Sie kommen!«

90 Ich hatte so gellend geschrien, daß alles im Hause zusammenlief. Unsere Mietleute, unsere halbtaube Magd und die Großmutter – alle rannten die Treppe hinunter und auf die Straße.

Ich mußte lachen. Es war zu lustig, wie jedes zuerst hinaus wollte. Auch mußte das wohl eine sehr wichtige und sehr ernste Sache sein.

Ich blieb ganz erregt am Treppengeländer stehen, denn schon trugen sie das Bett mit der Kranken an mir vorbei.

Ich reckte mich ein wenig auf den Fußspitzen. Da sah ich einen hübschen Mädchenkopf auf den weißen Kissen: braune Locken, braune Augen und rote Backen.

Kein Funke von Mitleid regte sich in mir. »Gerade zum Erbarmen sieht die nicht aus«, dachte ich ganz enttäuscht und schlich hinter den anderen hinauf.

Mein Staunen und Wundern stieg, denn die Kranke wurde nicht etwa in eines unserer Schlafzimmer, sondern – man stelle sich so etwas vor! – in unsere beste Stube gebracht, dorthin, wo man so herrlich zum Fenster hinaus auf den Kirchturm und übers Dorf und auf die Berge sehen konnte, und wo der schöne, grüne Ofen stand, der immer so wunderbar wärmte, und wo auf dem Boden Teppiche lagen und vor den Fenstern die hübschen Gardinen hingen, die meine Großmutter mit so viel Mühe selbst »filischiert« hatte, und wo es einen Glaskasten gab mit den seltensten Dingen darin, mit Tigermuscheln, Korallen, 91 Kokosnüssen und einem Schweizerhäuschen, das, wenn man es aufzog, so lieblich spielte: »Herz, mein Herz, warum so traurig?« – lauter Dinge, die ich nur am Sonntag anfassen durfte.

Ja, da wurde diese Eva Bendli wirklich hingebracht und dazu noch in unser schönstes und weichstes Bett gelegt. »Als ob sie eine Prinzessin wäre«, dachte ich ärgerlich.

Ich drückte mich auf die kleine Treppe hinter dem Ofen und paßte von da scharf auf, was etwa noch alles vor sich gehen würde.

Neben dem Bette bemerkte ich einen fremden hölzernen Koffer. Er war dunkelbraun angestrichen und mit großen, roten Blumen bemalt.

Auf dem Koffer saß die Mutter, ein altes Weiblein in einem groben, dunkelblauen Bauernkleid und mit einem großen, gelben Tuch um den Kopf. Sie hielt die Hand des Mädchens und jammerte immerzu: »O mi arms Eveli! O mi arms Eveli!« und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.

Das war recht wunderlich anzusehen, und die alte Frau tat mir ein wenig leid.

Dann aber kam meine Großmutter herein. Auf unserem herrlichsten Tablett, es war aus weißem Porzellan mit blauen Blumen, brachte sie eine Tasse voll Milch, Zucker, Butter und – – – Biskutin.

Ihr wißt natürlich nicht, was Biskutin ist. Für mich aber war Biskutin das Beste und Feinste von allem, was es an guten Dingen auf der Welt gab.

92 Biskutin! Das waren nämlich geröstete Schnitten aus köstlichem Eierteig, und wenn man noch Butter darauf strich – ach – ich weiß nicht, was ich damals alles dafür gegeben hätte! Aber Biskutin – das gab es in unserem Hause nur sehr, sehr selten, eigentlich nie.

Ich hatte dieses wundersame Gebäck nur ein einziges Mal gekostet, und das war zur Belohnung dafür gewesen, daß ich einen ganzen Tag in der stechenden Sonnenhitze Unkraut gejätet hatte.

Das Eveli aber, das bekam nun Biskutin mit Butter und gezuckerte Milch.

Ganz gleichmütig begann es zu essen. Wie ein hungriger Wolf sah ich ihm von meinem Verstecke aus zu. Bei jedem Bissen, den es verschluckte, schluckte ich mit. Mein Magen krümmte sich vor Verlangen, und ich konnte meine Augen gar nicht groß genug aufkriegen, um diesem Göttermahle zuzusehen.

Meine Großmutter und die Mutter des Mädchens sahen der Kranken lächelnd zu. An mich dachte niemand. Ganz langsam stiegen mir da die Tränen in die Augen, und ich krampfte meine Hände zusammen und betete recht inbrünstig: »Ach, lieber Gott, laß mich doch auch einmal so krank werden, so schrecklich krank wie das Mädchen dort, damit ich auch Biskutin und Milch bekomme, und damit sich auch alle so um mich kümmern. Laß mich . . . hu . . . . hu . . . doch einmal so krank werden, lieber Gott! Hu . . . Amen!«

Da fiel mir plötzlich ein, daß die Großmutter 93 mir oft gesagt hatte, daß ich jedes Stückchen Brot und jeden Apfel, wenn es sich gerade so »gebe«, mit armen Kindern auf der Straße teilen müsse, und ich dachte: »Gewiß lehren alle Mütter und Großmütter ihre Kinder solche schönen Sprüche, und gewiß hat das Eveli das auch gelernt.«

Und da ich mich gerade auch für ein so bitter armes Kind hielt, trat ich plötzlich hinter dem Ofen hervor und stellte mich dicht ans Bett und wartete.

Als die beiden Frauen mich sahen, standen sie auf und sprachen freundlich auf mich ein, ich sollte doch ja immer brav sein und das Eveli nicht ärgern und es immer in mein Gebet einschließen und so weiter.

Dann gingen sie hinaus. Ich sah dem Mädchen unverwandt ins Gesicht.

Mein Gott, nun verschluckte es das letzte Stück!

Fast hätte ich es laut hinausgeschrien. Meine Hoffnung war dahin.

»So schlecht bist du und gibst anderen nichts ab!« dachte ich, blieb aber immer noch wie gebannt neben dem Bette stehen.

Sie wischte sich den Mund ab, legte die Serviette auf das Tablett und sagte zu mir: »Das hat aber geschmeckt! Nun kannst du die Tasse in die Küche tragen.«

Ich rührte mich nicht. Da fragte sie: »Wie heißt du?«

Ich reckte meinen Kopf ein wenig, rümpfte die 94 Nase, sah an ihr vorbei zum Fenster hinaus und sagte: »Maja.«

Weiter nichts. »Ich heiße Eva – Eva Bendli.« Ich wandte mich ihr zu, sah sie böse an und giftete: »Das ist ein ganz abscheulicher Name, und du bist noch viel abscheulicher, und die Tasse kannst du allein in die Küche tragen!«

Dann lief ich aus der Stube, aus dem Hause hinaus und ging ohne Mittagessen in die Schule.

Als ich um vier Uhr nach Hause kam, ging ich gar nicht erst in die Stube, sondern in den Stall zu den Kühen. Diese wurden gerade gefüttert. Ich setzte mich auf die Holzbank und sah zu . . . lange, lange, bis man mich rief. Oben tat ich dann sehr gleichgültig, machte in der »guten Stube«, wo die Neue lag, meine Schularbeiten, sah aber mit keinem Blick nach ihr hin.

In der darauffolgenden Nacht hatte ich einen peinigenden Traum. Ich war in einer hohen, weiten Kirche mit bunten Scheiben, einer Unmenge Heiligenbilder und vielen, vielen Menschen. Diese hatten alle brennende Kerzen in der Hand, aber in Wirklichkeit waren es gar keine Kerzen, sondern lauter Biskutin, und jeder hielt mir im Vorübergehen seinen Biskutin unter die Nase, aber wenn ich zuschnappen wollte, zogen sie ihn rasch weg und lachten und verhöhnten mich. Da fiel ich auf den Boden und weinte bitterlich, aber über diesen Tränen wachte ich auf.

Es war schon höchste Zeit, aufzustehen. Draußen hörte ich die Großmutter bereits 95 herumhantieren, und im Nu war ich mit dem Anziehen fertig.

Als ich in die Küche kam, gab mir die Großmutter das Tablett mit der dampfenden Milch, einem Schälchen Zucker und zwei goldgelb glänzenden Biskutin. Man stelle sich das vor! Wieder Biskutin! Und sie sagte: »So, Maja, bringe dies dem Eveli, und dann komme und trinke deinen Kaffee!«

Ganz still ging ich mit den köstlichen Dingen zu der Kranken, sagte weder »guten Morgen« noch sonst etwas, legte ihr das Tablett auf das Bett und ging wieder hinaus.

Bei uns war damals Schmalhans Küchenmeister. Der Frühling war immer die Zeit, da unsere Vorräte zu Ende gingen. Im Schornsteine hing nicht ein einziger »Schüblig«, nicht ein winziges Stückchen Speck mehr. Im Gartenzimmer waren die Schränke, in denen sonst die großen Butterballen gestanden, trostlos leer. Die Bretter, auf denen im Winter die wagenradgroßen Käse lagen, hingen gespenstisch von der Decke herunter. Die Kartoffeln bekamen lange Triebe, und auf dem Boden ging auch der Mais seinem Ende entgegen. Die Kühe gaben wenig Milch, und Geld hatten wir schon lange keines mehr. Das Brot, das die Großmutter selbst zubereitete, war halb aus Weizen-, halb aus Maismehl, und es wurde gleich Vorrat für vierzehn Tage gebacken. Schon in der zweiten Woche konnte man in die Messer »Zähne hauen«, wenn man das Brot schnitt.

96 Ja, ich muß es gestehen, dieses trockene, steinharte Brot zu essen war mir eine richtige Qual, dazu der schwarze Kaffee mit ein paar winzigen Tröpfchen Milch! Ich würgte und drückte daran seit Wochen, denn ich sah, meine Großmutter hatte ja auch nichts Besseres.

An diesem Morgen aber, an dem ich der Eva Bendli das herrlichste Frühstück hineingetragen, war es mir unmöglich, auch nur ein winziges Stückchen Brot oder einen Tropfen Kaffee hinunterzuschlucken. Die Großmutter hielt mir ängstlich die Hand an die Stirn, denn sie glaubte, ich hätte Fieber, und sagte, ich solle doch lieber zu Hause bleiben, aber da läutete die Schulglocke, und ich stürzte mit meinem Ranzen davon.

Als ich am Mittag nach Hause kam, erwarteten mich seltsame Dinge. Es war, als ob daheim alles lebendig geworden wäre. In der Küche stand ein großer Kessel voll Wasser auf dem Herd. Das Feuer knisterte und loderte ganz fürchterlich, und das Wasser dampfte und kochte, und die Großmutter rannte wie ein Sturmwind an mir vorüber. Ich wurde von einer Ecke in die andere geschoben und gestoßen, und immer wieder hieß es: »Was stehst du uns denn im Wege? Siehst du nicht, daß wir es alle so eilig haben?«

Schließlich gelang es mir, in die Krankenstube zu schleichen. Da aber ging erst mein Staunen an. Auf dem Tische lagen nämlich die wunderlichsten Dinge. Da war ein großer Klumpen schneeweißer Watte. Da lagen allerlei blinkende Eisen auf 97 einem weißen Tuche: Scheren, Messer und andere Instrumente, die ich nie gesehen hatte, und Flaschen mit großen Etiketten darauf, und am Bett stand der Doktor Hoffmann. Er hatte eine weiße Schürze an und die Aermel bis zum Ellenbogen aufgekrempelt. Er befahl bald dies, bald jenes, kurz und rauh, und die Mutter vom Eveli war auch wieder da und weinte still vor sich hin. Das Eveli aber schrie immerzu: »Ich will nicht! Ich will nicht und will nicht!«

Und ich dachte, das sieht ja aus wie beim Schweineschlachten, und fing an vor Angst zu zittern.

Da hielt der Arzt dem Eveli etwas unter die Nase und sieh! – das war doch sonderbar! – sie rührte sich nicht mehr. Ich dachte erleichtert: »Die ist aber schnell alle geworden.«

Nun deckte der Arzt das kranke Bein auf. Es war nicht anders als sonst ein Bein, nur daß es vom Knöchel bis weit hinauf zum Oberschenkel seltsam gelblich glänzte. Jetzt aber, o Schrecken, nahm der Arzt eine Schere und schnitt die Haut dem gelben Streifen nach auf, wahrhaftig, er schnitt . . . schnitt immer weiter, als ob es ein Fetzen wäre. Und dann . . . mich schüttelte es . . . quoll aus der Wunde Eiter und schwarzes Blut von oben bis unten, und ein entsetzlicher Geruch von Karbol und anderen scharfen Arzneimitteln erfüllte die Stube.

Da ging ich weg . . . wie betäubt . . . hinaus in 98 den Garten, lehnte mich an den alten Birnbaum und starrte dumpf vor mich hin.

Plötzlich aber kam mir etwas Schreckliches in den Sinn, und zitternd vor Angst begann ich laut zu beten: »Ach, du lieber Gott im Himmel oben, verzeih nur . . ., daß ich . . . auch so krank werden wollte! Lieber, guter Gott, laß mich bloß nicht krank werden, bloß – – nicht – – krank werden . . . !«

Je mehr ich betete, um so mehr steigerte sich meine Angst. Zuletzt heulte ich sogar ganz erbärmlich, und da ich kein Taschentuch hatte, schneuzte und schneuzte ich in meine schöne neue Schürze.

An diesem Nachmittage konnte ich in der Schule gar nicht ordentlich aufpassen. Immer wieder griff ich nach meinem Bein, um mich zu versichern, daß mein Gebet vom vorherigen Tag nicht doch etwa in Erfüllung gegangen sei. Es wäre ja zu fürchterlich gewesen.

Am Abend fand ich zu Hause alles wieder wie früher. Was mich erstaunte, war, daß das Eveli gar nicht tot war, sondern ruhig schlief.

In den Zeiten, die nun folgten, hatte ich mich mit dem kranken Mädchen so nach und nach ein wenig ausgesöhnt, das heißt, es kam vor, daß ich manchmal auf Augenblicke sogar mit ihr spielte oder ihr etwas aus der Schule erzählte, aber das geschah nur sehr selten.

Die Qual des Verlangens nach den herrlichen Vorräten, die für das Eveli dauernd im Schrank 99 vorhanden waren, drückte mich nach wie vor, ja sie steigerte sich unendlich, als wir nach Wochen, da das Mädchen aufstehen konnte, an demselben Tisch zusammen aßen.

Jeden Tag wiederholte sich dasselbe. Für die Großmutter und mich gab es morgens und nachmittags schwarzen Kaffee ohne Zucker und ein Stück trockenes Hausbrot; für das Eveli, das mir gegenüber saß, gab es am Morgen Milch und feines Weißbrot mit Butter und am Nachmittag Schokolade mit irgend etwas Gutem dazu. Da wechselten »Biskutin« mit »Studentenschnitten« oder »Totenbeinchen« oder sonst etwas Köstlichem vom Zuckerbäcker.

Jeden Tag hoffte ich, daß sie mir heute gewiß ein winziges Stückchen von ihrem Ueberfluß abgeben würde, und jeden Tag wurde ich darin getäuscht. Das ging durch Wochen und Monate, dreißigmal, sechzigmal, hundertmal und mehr.

Einmal habe ich auch einen geradezu heldenhaften Entschluß gefaßt. Was ich da tat, war eigentlich gegen meine Natur. Ich hatte mir aus kleinsten himmelblauen und roten Perlen ein allerliebstes Halskettchen gemacht, und ich hielt die kleine Arbeit für etwas sehr Wertvolles. Mit diesem Kettchen trat ich nun eines Tages zum Eveli und sagte mit klopfendem Herzen: »Eveli, wenn du mir ein kleines Zipfelchen von deinem Biskutin heute gibst, weißt, nur zum Probieren, dann schenke ich dir dieses Kettchen.« Und ich legte es ihr auf den Schoß.

100 Sie aber sagte ohne Besinnen: »Nein, nein! Die guten Sachen muß ich selbst essen, die verschenke ich nicht, und die Kette kannst du selbst behalten, die hat gar keinen Wert.«

Da schlich ich mich davon und weinte, weinte so fürchterlich, daß ich mich aus lauter Angst vor meinem eigenen Gebrüll weit oben im Baumgarten im Gebüsch versteckte.

Ich war in der Zeit, da die Eva Bendli bei uns wohnte, ein recht mürrisches, verbissenes Kind. Aus den getäuschten Hoffnungen, aus der Zurücksetzung, die ich seit Monaten jeden Tag erfuhr, nisteten sich in meinem Herzen gefährliche und häßliche Gefühle ein. Es waren gelber Neid und bitterer Haß gegen das fremde Mädchen.

Tausendmal machte ich heimlich die Faust, biß die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuheulen. Tausendmal wäre ich am liebsten diesem hartherzigen, geizigen Mädchen an den Hals gesprungen. Schütteln und würgen hätte ich sie mögen und dazu schreien: »Du Giftkröte! Du schlechtes Ding! Mach nur, daß du wieder aus unserem Hause fortkommst!«

Die Großmutter hatte von meinem Seelenzustande gewiß keine Ahnung, denn sonst hätte sie vielleicht manches geändert, aber ein wenig leid muß ich ihr doch getan haben, denn manchmal liebkoste sie mich und sagte wie tröstend: »Warte nur, bald kommt der Herbst, und dann haben wir auch wieder Butter im Haus.«

Ich aber schlich mit meinem Haß so durch die 101 Tage. Der Herbst war da. Das Eveli stand jeden Tag auf und saß dann ganz vergnügt am Fenster. Gehen konnte es aber immer noch nicht.

Ich trug mich mit heißen Rachegedanken, und jetzt kommt das, was diese Geschichte so böse macht und weshalb ich sie nur ungern erzähle.

Es war ein Freitagnachmittag. Auf der Tenne wurde Korn gedroschen. Die Maschinen klapperten, daß man im ganzen Haus kein Wort verstand. Die Großmutter half beim Dreschen. Ich aber stand oben am Fenster neben dem Eveli.

Draußen leuchtete das Land lieblich in der goldenen Herbstsonne. Hier und dort glänzten die reifen Früchte an den schwerbeladenen Bäumen. Vom Berge herunter hörte man die Kuhglocken läuten, denn am Sonnabend war der erste große Markt des Jahres, und alle Bauern der entlegenen Dörfer trieben ihr Vieh talwärts. Daran, daß auch die Eltern vom Eveli kamen, dachte ich nicht. Ich war ganz sinnlos von dem einen Gedanken, den ich seit Wochen und Monaten in mir trug.

Eintönig klapperte die Dreschmaschine. Niemand war in der Nähe, und ich dachte: »Jetzt oder nie.«

Böse sah ich auf das Mädchen, das sich eben ein Stück Schokolade in den Mund steckte und zu mir sagte: »Lege mir doch die Füße auf den Schemel!«

Ganz dicht trat ich da vor sie hin und fragte mit halb erstickter Stimme: »Welches ist denn eigentlich dein krankes Bein?«

102 »Dieses hier«, zeigte sie ahnungslos.

»Ist es auch gewiß dieses und kein anderes?« fragte ich zitternd.

»Ja, ja«, sagte sie eifrig, »dieses ist es.«

»Und welche Stelle tut dir am meisten weh?«

Sie zeigte auf die Mitte des Schienbeines und sagte ein wenig klagend: »Hier . . . nicht einmal antippen darf man da . . . es ist alles wie Glas.«

Da schlug ich ihr mit meinen nägelbeschlagenen Schuhen einmal und noch einmal gegen die kranke Stelle und schnaubte dazu wie eine Wilde: »So . . . da hast du es . . . Du Geizkragen! . . . Du Giftkröte . . . !«

Dann rannte ich auf die Straße. Ich hörte sie noch jämmerlich schreien, als ich schon am Tore war, aber das rührte mich nicht im geringsten. Mir war ganz leicht zumute. Ich war von einem Gefühl befreit, das ich wie eine Last monatelang mit mir herumgetragen hatte.

Jetzt war mir aber auch alles andere vollkommen gleichgültig. Da war gar kein Verlangen mehr nach Biskutin und Butter und Milch. Da ich mich gerächt hatte, war alles still und wunschlos in mir geworden.

Daß ich eine Schlechtigkeit begangen hatte, wußte ich nur zu gut, und daß es darauf irgendein Donnerwetter gab, wußte ich auch, aber das war mir ganz gleich. Mir war endlich wieder einmal herzlich wohl.

Als ich am Abend doch mit recht schlechtem Gewissen nach Hause kam, tat niemand 103 dergleichen. Das Eveli lag im Bett, und die Großmutter war freundlich wie sonst.

»Sollte die wirklich nicht geklatscht haben?« dachte ich mit andächtigem Staunen.

Das wäre nun wirklich mehr gewesen, als ich hätte fassen können. Fast schien es so zu sein, und ganz benommen und recht nachdenklich ging ich an diesem Abend zu Bett.

Tags darauf war Markt. Am Morgen hörte ich zu meinem Schrecken, daß die Eltern von Eveli auch mit Vieh kommen würden. Mir war es gewiß, daß ich von diesen Eltern eine furchtbare Strafe zu erwarten hatte, denn das Mädchen lag still und teilnahmslos im Bett.

Ich befand mich den ganzen Tag in einem wenig beneidenswerten Zustand. Ich fühlte mich gar nicht mehr so frei wie nach der Tat. Mich beschwerte mein schlechtes Gewissen, und die blasse Angst vor dem Kommenden saß mir im Herzen.

Darum hielt ich mich denn tagsüber auch möglichst fern vom Hause auf. Das »Schlangengäßli« paßte mir vorzüglich als Versteck. Da gab es Brombeeren und Himbeeren, und niemand sah mich.

Auf einmal aber, während ich so durch die Büsche strich – mich durchfuhr es wie der Posaunenstoß zum Gericht – rief man durch die Bäume meinen Namen.

Was sollte ich tun? Ich duckte mich hinter der Mauer und rührte mich nicht.

104 »Ma . . . ja . . . ! Ma . . . ja . . .!« schrie es noch lauter, noch durchdringender.

Da lief ich durch den Baumgarten ins Haus. Die Großmutter war in der Küche und sagte, ich sollte doch einmal zum Eveli hinein.

Ich glaubte, der Boden verschwinde unter meinen Füßen, und als ich in die Mitte der Stube trat, wurde mir grün und gelb vor den Augen.

Das Eveli lag im Bett, und ihre Mutter saß daneben. Als die Letztere mich sah, stand sie auf, kam auf mich zu . . .

»Nun schlägt sie mich tot«, dachte ich.

In mir schien alles zu Eis zu erstarren. Sie aber nahm meine Hand, zog mich ganz sanft ans Bett zum Eveli und sagte: »Da habe ich dir auch etwas recht Schönes vom Markt mitgebracht . . .« Sie gab mir ein kleines Päckchen in die Hand – »und, nicht wahr, mi liebs Chindli, du tust doch dem Eveli nichts mehr zu leide! Es ist doch so en arms Gschöpfli –« und die alte Frau weinte und küßte mich und fragte mich noch einmal ganz lieb und sanft, ob ich es ihr auch versprechen könne.

Ich nickte heftig, machte mich los und ging – nein, ich flog mit meinem Päckchen hinaus und hinauf unter die Holderbüsche.

Ganz atemlos saß ich eine Weile da . . . Dann machte ich langsam das Päckchen auf. Da lagen sechs goldgelbe Biskutin, zwei lange rote Zuckerstangen, eine dicke Lebkuchenfrau und zwei allerliebste Nastüchlein darin, von denen das eine 105 einen hellgelben und das andere einen rosenroten Rand hatte. Auf dem hellgelben Tüchlein war ein Hund, auf dem ein kleines Mädchen ritt, das seinen Hut hoch in der Luft schwenkte, und auf dem rosafarbenen war ein ganzer Hühnerhof und Wälder und Berge.

Es waren wunderbare Dinge. Ich atmete tief. Die Gewalt des unverdienten Glückes war über mich gekommen.

Ganz mechanisch hob ich drei Finger der rechten Hand in die Höhe und schwur laut und feierlich: »Wirklich . . . so schlecht, wie ich gestern war, will ich doch in meinem ganzen Leben nicht mehr sein.«

* * *

Was ich damals im Gebet gewissermaßen mir selber versprochen, habe ich in der folgenden Zeit denn auch redlich gehalten. Die für mich geradezu fürstlichen Geschenke hatten mich ganz überwältigt, und ich versuchte mich auf jede mögliche Weise dem Eveli zu nähern.

Lange blieb das Mädchen zwar nicht mehr bei uns. Der Winter kam, das Bein war scheinbar ganz gut geheilt, und eines Tages fuhr das Eveli wieder auf dem Leiterwägelchen mit dem braunen Kühlein davor nach Hause.

Lange sah ich dem Wagen nach, und ich weiß, daß ich trotz der letzten friedlichen Zeiten froh aufatmete, als er endlich meinen Augen entschwand. An jenem Tage machte ich meine 106 Aufgaben so schön und sauber wie schon lange nicht mehr.

Ein ganzes Jahr habe ich nichts mehr von dem Eveli gehört. Dann aber, an einem Wintertag, da der Schnee in dichten Flocken fiel und die Großmutter und ich am Ofen saßen, sagte die Großmutter plötzlich in die Stille hinein: »Weißt du auch, was heute geschehen ist?« Ich sah sie fragend an, und sie antwortete sehr traurig: »Heute haben sie das Eveli begraben.« Sonst nichts.

Da dachte ich noch einmal an alles, was mich während des Aufenthaltes der Eva Bendli in unserem Hause so tief bewegt hatte, auch an die schönen Nastüchlein, an die Biskutin und Zuckerstangen, die ihre Mutter mir geschenkt hatte, und es tat mir sehr leid, daß sie nun irgendwo auf dem Berge im kalten Schnee in der Erde liegen mußte. 107

 


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