Ina Jens
Maja
Ina Jens

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Auf die Alm

Es war ein schöner, warmer Frühlingsabend. Die Dämmerung schlich langsam von den Bergen ins Tal. Irgendwo auf einem Berge wurde das Alphorn geblasen. Sonst war es nah und fern still und feierlich.

Ich saß an dem wunderlichen alten, grünbezogenen Schreibtische meiner Großmutter und schrieb unermüdlich lange Reihen dreistelliger Zahlen untereinander. Das Schreiben war mir an diesem Abend ein Hochgenuß, denn ich malte meine Zahlen mit einer glänzenden Silberfeder in ein funkelnagelneues Heft.

Einmal nur sah ich zum Fenster hinaus. Auf der Spitze eines Baumes saß eine Amsel und flötete lieblich in den Abend hinein. Ich war ganz wunschlos, hörte eine Weile dem süßen Liedchen des Vogels zu und wollte wieder weiterschreiben, als ein lauter Ruf von der Straße her mich von neuem ans Fenster rief.

Draußen stand die Margret Hilker und schrie: »Ich muß durchs ganze Dorf laufen und allen Kindern sagen, daß wir morgen auf die Mettneralp gehen, und daß ihr um acht Uhr auf dem Schulhofe sein sollt, und daß ihr eine Tasse und einen Löffel mitnehmen müßt!«

73 Weg war sie. »Das ist fein«, jubelte es in mir, und ganz selig stand ich am Fenster und sah zu der fernen Mettnerspitze empor. Der weiße Firn leuchtete veilchenfarben in der Ferne, und ich stellte mir im Geiste alles vor, was dort oben war, wohin wir morgen unseren Ausflug machen sollten: die weite, einsame Wiese mit den blauen Enzianen, die kleine braune Almhütte mitten darin und die stillen, dunklen Wälder rund herum und dann die herrliche Schlagsahne, die es dort oben gab!

Bei dem Gedanken daran war es mir unmöglich, weiter Schularbeiten zu machen. Ich mußte es der Großmutter sagen, aber wie ich aus der Stube laufen wollte, fiel mir plötzlich ein: Ich hatte ja heute mein einziges Paar Schuhe dem Schuster zum Flicken gegeben.

»Großmutter!« schrie ich ganz entsetzt. Es mochte wohl wie ein Hilferuf geklungen haben, denn die Großmutter kam gleich einem Sturmwind hereingestürzt.

»Um Gotteswillen, was ist los?« fragte sie, und ich überstürzte mich mit Reden: »Großmutter, wir gehen doch auf die Alp morgen um acht, und ich habe keine Schuhe, und ich muß doch mit. Wird der Schuster die Schuhe denn bis morgen machen? Und könntest du ihm nicht heute noch sagen, daß er sie bis morgen um acht Uhr fertig macht? Denk nur, wenn ich keine Schuhe habe, kann ich nicht mit . . .«

»So höre doch endlich auf!« sagte die 74 Großmutter und zündete die Lampe an. »Also morgen, sagst du, macht die Schule den Ausflug? Ich will dann doch noch zum Schuster gehen und ihm sagen, daß er die Schuhe bis morgen flicken muß. Ich bin gleich wieder zurück.«

Unterdessen schrieb ich auch meine Aufgabe zu Ende.

Als die Großmutter wieder kam, sagte sie: »Morgen um sieben Uhr hast du die Schuhe.«

Sie schickte mich an diesem Abend früh zu Bett. Als ich in den Federn lag, dachte ich voll froher Erwartung an den kommenden Tag, konnte mich aber einer gewissen Furcht wegen der Schuhe nicht erwehren, und schließlich fing ich an, den lieben Gott recht inbrünstig zu bitten, daß er doch den schrecklichen Schuster erleuchte und ihm Kraft gebe, meine Schuhe noch diesen Abend fertig zu machen. Dann klopfte ich sechsmal an die Wand, damit ich auch bestimmt am anderen Morgen um sechs Uhr aufwachte, und schlief ein.

Punkt sechs schlug ich die Augen auf, sprang aus dem Bette, zog mich eiligst an und schlich aus dem Schlafzimmer in die Stube ans Fenster.

Wunderbar kam mir da die Welt vor. Kirchenstill war es draußen. Kein Mensch auf der Straße. Die Wälder erhoben sich so dunkel, und die Firne und Berge standen so ernst und sinnend da, als ob sie noch träumten, und über ihnen lag ein seltsamer Schein. Der kam von der Sonne, die noch in den Tiefen hinter den Schroffen wanderte. Und einsam stand auch das Schulhaus da, 75 und doch war alles voll geheimnisvoller Erwartung, und mein Herz klopfte laut vor Freude über den kommenden herrlichen Tag – aber meine Schuhe! Ob er sie auch wirklich bringen würde? Zeit dazu war allerdings genügend, denn es war ja noch so früh.

Schließlich hörte ich, wie auch die Großmutter aufstand. Als sie mich am Fenster sah, war sie ganz erschrocken.

»Seit wann bist du denn schon auf, und was machst du?« fragte sie, und ich antwortete: »Ich warte auf meine Schuhe.«

»Nur Geduld!« ermahnte sie. »Sie kommen schon«, und ging in die Küche und machte Feuer.

Da schlug es halb sieben. Draußen war es schon ganz licht geworden. Der Schein über den Bergen war hellgolden, und jeden Augenblick mußte die Sonne aufgehen.

Das Frühstück stand auch schon auf dem Tisch: Bratkartoffeln, Brot und frischgemolkene Kuhmilch, an gewöhnlichen Tagen für mich eine Götterspeise – heute wollte nichts hinunter.

Die Uhr schlug sieben. Ich trank und rannte ans Fenster, um zu sehen, ob der Schuster komme. Er kam nicht.

Ich setzte mich wieder hin, trank wieder einen Schluck Milch und lief wieder zum Fenster. Kein Mensch war zu sehen.

Ich ging ans andere Fenster, der Schule zu. Noch lag der Schulhof einsam wartend da.

Wieder setzte ich mich hin und würgte ein 76 paar Kartoffeln hinunter. Die Großmutter ermahnte mich, geduldig zu sein, die Schuhe würden schon kommen.

Wieder stand ich am Fenster. Die schreckliche Dorfstraße wollte sich nicht beleben. Sie lag wie tot zwischen den Häusern und Ställen, aber drunten auf dem Schulhofe – du gerechter Himmel! – dort wurde es lebendig.

Meine Augen weiteten sich in tödlichem Schrecken. Eine Schar Kinder in hellen Kleidern und Strohhüten, die grünen Proviantbüchsen an der Seite, kam lachend und plaudernd vom »Neuen Dorfe« herauf.

»Großmutter! Sie kommen schon!« schrie ich und brüllte dazu: »Großmutter! Meine Schuhe! Er bringt sie nicht!«

»Doch, doch«, sagte die Großmutter und packte mir seelenruhig meine kleine Blechbüchse voll: geschnittenes Weißbrot, eine geräucherte und eine gekochte Wurst, zwei Eier, eine kleine Tüte mit gestoßenem Zucker, ein Schächtelchen voll Zimt, einen Löffel und zuletzt eine große, schöne Tasse, auf der ein Strauß goldener Blumen mit der Inschrift »Zum Geburtstage« stand.

Während ihrer Arbeit ermahnte sie mich andauernd: »Iß nicht nur Schlagsahne, sonst wird dir schlecht. Immer einen Löffel Schlagsahne und einen Happen Brot dazu. Und auf die Schlagsahne streust du Zucker und Zimt, aber nicht zu viel, hörst du? Verlier auch den Löffel nicht. Er ist aus Silber. Paß auf die weiße Schürze auf und trink 77 nirgends Wasser! Hier ist eine kleine Flasche mit kaltem Kaffee, wenn du Durst hast . . .« usw., usw., und dazu schlug die Uhr mit einem Tone, der mir wie der Ruf zum Jüngsten Gericht erscholl, halb acht.

Ich stürzte von einem Fenster zum andern. Die Kinder auf dem Schulhofe mehrten sich zusehends. Die Dorfstraße aber blieb still und menschenleer.

Da sagte die Großmutter: »Ich will doch mal schnell zum Schuster laufen. Bleib unterdessen nur ruhig hier. Es wird schon werden.«

Ich litt Höllenqualen. Ich starrte minutenlang auf die große weiße Uhr an der Wand, als könnte ich ihren Lauf mit meinem Willen hemmen, aber unerbittlich rückte der Zeiger vorwärts.

Auf dem Schulhofe war jetzt ein buntes Leben und Treiben. Weinen konnte ich nicht, so zugeschnürt war alles in mir.

Da kam die Großmutter. Sie war doch ein wenig traurig und sagte: »Der unverschämte Mensch hat mir nicht einmal aufgemacht. Das ganze Haus schläft noch.«

Von der Großmutter weg irrte mein Blick auf den Schulhof.

»Großmutter!« gellte ich, »dort kommen sie schon mit der Fahne . . . und . . . o . . . o . . . der Lehrer ist auch schon da! Großmutter . . . ich bleibe nicht hier!«

Ich war fest entschlossen, mitzugehen, und sollte ich barfuß mitwandern.

78 Da . . . wie die Katze sich auf die Maus stürzt, machte ich einen Satz unter den Ofen und zog Großmutters Sonntagsstiefel hervor.

»Großmutter, ich ziehe deine Schuhe an.« Eine Ruhe war über mich gekommen, wie sie ein König haben muß, wenn er ein Todesurteil unterschreibt. Die Großmutter schüttelte zwar den Kopf: »Wirst nicht weit damit kommen«, aber sie zog mir schließlich doch ihre Schuhe an, schnürte sie oben doppelt und dreifach zusammen und lächelte ein wenig wehmütig.

Also zog ich aus: in einem großen Hute mit vielen Büschelchen glutroter Kirschen drauf, mit einer schneeweißen, steif gestärkten Schürze, an der Seite die grüne Büchse und an den Füßen die ungeheuren Stiefel.

Ich mußte meine Füße wie ein Storch hochheben, damit nicht unversehens das Vorderteil des Schuhes nach hinten klappte und ich vornüber fiel, aber vorwärts kam ich doch.

Mit schlangenartiger Schnelligkeit schlich ich mich der Mauer entlang bis auf den Schulhof. Der Lehrer hatte bereits den Befehl zu geordneter Aufstellung gegeben. Jeder war in einer solchen Aufregung und Erwartung, daß mich niemand sonderlich beachtete und ich mich ungesehen unter die Kinder mengen konnte.

Mit Sang und Klang zogen wir paarweise zum Dorf hinaus. Nach ungefähr einer Stunde tapferen Marschierens löste sich die Ordnung unseres Zuges nach und nach auf.

79 Diejenigen, die gut zu Fuß waren, eilten mit dem Lehrer voraus, die anderen schlenderten langsam hinterher.

Ich ging bescheidentlich und wohlweislich mit einigen Freundinnen zuletzt.

Noch war niemand auf mein wunderliches Schuhzeug aufmerksam geworden, und ich wollte mich auch fernerhin dieses Nichtbeachtens erfreuen und griff zu einer List.

Neben der breiten Fahrstraße lief seitlich ein flacher Graben, der feucht und mit Gras bewachsen im Schatten lag. Mit ein paar kühnen Sprüngen war ich von der Landstraße in den Graben gehüpft und sagte zu den anderen: »Ich gehe lieber im Schatten.«

Das hohe Gras verdeckte nämlich liebreich meine Füße, und während die anderen auf der Straße weiter wanderten, holte ich tapfer im Graben aus.

Es mochte so gegen zehn Uhr sein. Da kamen uns auf der sonnenbeschienenen Straße zwei Spaziergänger entgegen. Es waren ein Herr und eine Dame.

Ich erkannte in ihnen sofort einen Onkel und eine Tante von mir, mit denen ich gelegentlich recht groß tat, obwohl ich sie kaum kannte.

Sie kamen alle drei Jahre aus dem fernen »Engelland«, wohnten dann drei Wochen im ersten Hotel des Dorfes, kleideten sich sehr fein und standen im Rufe, sehr reich zu sein.

Auch an diesem Morgen kamen sie wie 80 richtige »Engelländer« daher. Der Onkel trug einen schwarzen, feinen Rock aus glänzendem Stoff, weiße, wollene Beinkleider, gelbe Schuhe und eine weiße Schirmmütze. Die Tante dagegen hatte ein kleines Herrenhütchen auf, eine weiße Seidenbluse, einen dunkelblauen, fußfreien Rock, ebenfalls gelbe Stiefel, einen goldgefaßten Zwicker und in der Hand einen Spazierstock.

Mir schwoll der Kamm, öffentlich meine vornehme Verwandtschaft vor meinen Freundinnen zu bekunden. Meine langen Schuhe, die sich unterdessen in dem feuchten Graben mit Schmutzklumpen bedeckt hatten, waren vollständig vergessen.

Hurtig sprang ich aus dem Graben auf die Straße und schritt mit dem stolzesten Lächeln wie im Parademarsch auf den feinen Onkel und die vornehme Tante zu und gab ihnen die Hand.

Sie sahen mich einen Augenblick ganz erschrocken an, dann fragte die Tante mit wenig freundlichem Gesicht: »Aber Kind, was hast du denn für schreckliche Schuhe an den Füßen?«

Ich sah verwundert an mir hinunter, dann merkte ich, wie mir die Röte ins Gesicht stieg, aber nun galt es, sich tapfer zu halten, und ich begann, ihnen einen Vortrag über die Vergeßlichkeit der Schuster im allgemeinen und über die Faulheit des Schusters in unserem Dorfe im einzelnen zu halten, aber die beiden schienen durchaus nicht gewillt, meine Ausführungen anzuhören.

Sie sahen sich, wie mir schien, mit furchtbar 81 wütenden Gesichtern an und sprachen auf einmal englisch miteinander, und ich hörte immer etwas wie »horrible« und »shocking«.

Ich war ganz verstummt und stand beschämt und mit Tränen in den Augen vor ihnen.

Sie sagten, ich sollte nur sehen, daß ich die anderen noch einholte, und wegen der Schuhe würden sie mit der Großmutter reden.

Nicht einmal die Hand gaben sie mir, und mit einem bitteren Weh im Herzen trottete ich in den Graben zurück und schritt jetzt ganz allein hinter den anderen her und schämte mich furchtbar.

Zum Glück hatten die Kinder meine demütigende Begegnung nicht weiter beachtet, und mein Schuhzeug war noch immer nicht von ihnen entdeckt worden.

So stieg ich unverdrossen bis gegen Mittag stets als letzte vom Zuge den Weg zur Metternalp empor. Endlich, es mochte zwölf Uhr sein, hörte die Straße auf. Ein schmaler Pfad führte zwischen grünen Matten hin. Zu beiden Seiten blühten die herrlichsten Alpenblumen vom hellsten Rot bis zum tiefsten Blau, und endlich waren wir am Ziele.

Auf einer sonnenbeschienenen Wiese lag die niedere, braune Almhütte. Auf der Schwelle standen ein alter Mann und eine alte Frau. Sie strahlten über das ganze Gesicht, als wir jauchzend anrückten.

Es dauerte nicht lange, so hatten wir uns im grünen Grase, auf Steinen oder herumliegenden Baumstämmen gelagert.

82 In der Mitte der Wiese befand sich ein großer Zuber, bis zum Rande mit Schlagsahne gefüllt.

Unser Lehrer verteilte sie, und wir durften, so oft wir wollten, uns welche holen.

Wir lachten, wir schrien, wir aßen und unterhielten uns köstlich. Ich hielt mich immer etwas abseits, meine unglücklichen Schuhe sorgfältig unter meinem Rock versteckend.

Als wir uns so nach etwa einer Stunde gütlich getan hatten, gingen die Kinder in Gruppen zusammen nach Belieben ihren Vergnügungen nach. Die einen spielten »Kapitän heraus!« einige schliefen hinter der Almhütte, und die größten gingen sogar in die niedere Bauernstube hinein, spielten auf der Harmonika und tanzten.

Da kam einer von denen, die neben mir saßen, auf den Gedanken, »Versteck« zu spielen, und ich behauptete kühn und nicht ohne Hintergedanken, ich wollte mich ganz in der Nähe so gut verstecken, daß mich bis zur Heimkehr niemand fände.

Sofort waren alle damit einverstanden, mich zu suchen. Ich befahl ihnen, sich auf die Erde zu werfen und die Augen zu schließen, bis ich riefe.

Als sie alle mit dem Gesicht dem Boden zugekehrt dalagen, stand ich blitzschnell auf meinen ungeheuren Untersätzen und jagte davon in die Hütte hinein.

Dort hatte ich hinter der Treppe ganz im Dunkeln einen kleinen Boden gesehen und war überzeugt, daß, wenn ich mich dort hinkauerte, auch das schärfste Auge mich nicht entdecken konnte.

83 Leise, aber pfeilschnell zog ich mich in das sichere Versteck zurück, preßte meine Blechbüchse fest an mich und hielt den Atem an.

Ich hörte, wie sie draußen schrien und um die Hütte stoben. Ich lachte in mich hinein und machte mich noch kleiner.

Auf einmal wurde die Türe aufgerissen, und alle stürmten herein. Ich hielt es für geraten, mich noch mehr zurückzuziehen.

Gebückt schlich ich einen Schritt rückwärts . . . und . . . ein markerschütternder Schrei durchzitterte die Luft . . . kopfüber stürzte ich in die Tiefe hinunter, ohne Halt, ohne Stütze, über Steingeröll und Erde in nächtliche Finsternis hinein.

Schließlich blieb ich in einer weichen Masse liegen. Von oben rollten Steine hinter mir her. Auch sah ich einen schwachen Lichtstrahl, der von dort her zu mir drang, von wo ich hergekullert war.

Ich schrie, ich brüllte aus Leibeskräften. Ueber mir liefen und riefen Menschen wie wahnsinnig durcheinander.

Endlich hörte ich auch die Stimme unseres Lehrers, ich solle in Gottesnamen versuchen, wieder hinaufzuklettern, denn hinunter könne da niemand kommen, es sei eine eingefallene Kellerhöhle.

Ich machte den schwachen Versuch, mich auf allen Vieren emporzurichten, aber bei der geringsten Bewegung rollten Steine und Schutt wieder tiefer mit mir hinunter, und ich schrie verzweifelt: 84 »Ich kann nicht mehr hinauf . . . ich muß sterben . . . ich . . . muß . . . sterben!!«

Da rief man von oben, ich sollte mich ruhig verhalten, sie würden mir eine Stange hinunterreichen, und das geschah denn auch.

Nach verzweifelten Anstrengungen gelangte ich endlich mit Hilfe der Stange aus dem furchtbaren Loche wieder ans Tageslicht.

Oben hatte sich die ganze Schule versammelt, und wie eine Verbrecherin wurde ich mitten in die Gesellschaft geführt. Ich weinte und schluchzte, daß es mich schüttelte.

Anfangs war alles totenstill, dann aber fingen einige und schließlich alle miteinander fürchterlich zu lachen an. Ich muß wohl auch einen recht komischen Anblick geboten haben. Meine feine, schneeweiße Schürze war von oben bis unten mit einer schlammartigen, grünen Masse bedeckt, meine Proviantbüchse stand weit offen; kein Löffel, keine Tasse, nichts war mehr darin.

In mein verheultes und beschmutztes Gesicht fielen die lehmigen Haarsträhnen, und . . . nun kam das Traurigste an diesem Tage . . . einer schrie plötzlich: »Guckt mal! . . . Die Schuhe, die sie anhat!«

Und alle schrien und lachten: »O die Schuhe! die Schuhe!« und machten mir lange Nasen und höhnten und spotteten.

Ich hielt mich in jenem Augenblick für das unglücklichste Wesen auf der weiten Welt, aber dann waren doch zwei mitleidige Herzen da. Der 85 Lehrer gebot Ruhe, und die alte Bäuerin nahm mich in die Küche, wusch mich und putzte an mir herum, bis ich wieder einigermaßen hergestellt war.

Ich habe an diesem Tage nicht mehr gespielt, sondern in der kleinen Bauernstube gedrückt und traurig die Zeit erwartet, da wir heimkehren sollten.

Endlich war es denn auch so weit. Ein paar gutmütige Freundinnen hielten sich auf dem Heimwege zu mir. Es war ein miserabler Rückweg, denn schließlich setzte auch eine furchtbare Müdigkeit ein, und als wir endlich in unserem Dorfe anlangten, war es schon dunkel.

Die Abendglocken läuteten. Wir nahmen Abschied voneinander, und ich schleppte mich ganz allein durch die alte Dorfstraße nach Hause.

Als ich die Stubentüre aufmachte und die Großmutter sah und den gedeckten Tisch und alles so gemütlich war, überkam mich auf einmal das ganze Elend des Tages, und laut aufschluchzend fiel ich der Großmutter in die Arme.

So nach und nach erfuhr sie denn auch alles, schüttelte den Kopf und meinte, während sie mir immer wieder begütigend über das Gesicht strich: »Geschehe nur nie etwas Schlimmeres!«

Und dann, als wir gegessen hatten, ging sie zum Schrank und holte eine viereckige weiße Schachtel heraus und sagte: »Vielleicht hast du heute doch noch eine Freude.«

Sie lächelte geheimnisvoll, öffnete die 86 Schachtel und nahm ein Paar wunderhübsche, nagelneue, zierliche Knopfstiefelchen hervor.

»Was sagst du dazu?« fragte sie und legte sie vor mich hin. »Die Tante, du weißt schon welche, brachte sie heute für dich. Sie meinte, zwei Paar Schuhe müsse doch jedes Kind haben.«

Ich stand wohl da wie jemand, vor dem sich plötzlich der Himmel öffnet, und wagte gar nicht, die schönen Dinger anzufassen, aber die Großmutter sagte: »Nimm sie nur! Sie gehören dir, wenn sie dir passen. Probiere sie doch einmal an!«

Flugs waren da die großen garstigen Stiefel herunter und die feinen an meinen Füßen. Sie saßen wie angegossen. Ein ganz überseliges Gefühl erfüllte mein an diesem Tage recht bewegtes Herz.

Ganz sachte, ganz behutsam zog ich die Stiefelchen wieder aus, nahm sie in meine Arme, preßte sie an mich und begann zu weinen, ganz lange, ganz still. Ich konnte gar nicht mehr aufhören, und die Großmutter fragte erschrocken: »Mein Gott, was fehlt dir denn, mein Kind? Warum weinst du nur?«

Und ich heulte und schluchzte und zitterte: »Huh . . . huh . . . halt . . . vor . . . lauter . . . Freude . . .« 87

 


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