J. P. Jacobsen
Sechs Novellen
J. P. Jacobsen

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Zwei Welten

Salzach ist kein munterer Fluß, und an ihrem östlichen Ufer liegt ein kleines Dorf, das sehr trübselig, sehr arm und seltsam still ist.

Wie eine elende Schar mißgestalteter Bettler, die das Wasser auf ihrem Wege aufgehalten hat, und die nichts besitzen, um den Fährlohn davon zu bezahlen, stehen die Häuser unten am äußersten Rande des Ufers, die gichtbrüchigen Schultern fest gegeneinander gedrückt, und stecken hoffnungslos mit ihren morschen Krückstöcken in dem grauen Strom. Aus dem Hintergrund der Galerien starren schwarze, glanzlose Scheiben unter den vorspringenden Schindeldächern hervor, starren mit scheelem Ausdruck gehässigen Kummers hinüber nach den glücklicheren Häusern, die einzeln und zu zweien hier und dort in freundlichen Gruppen auf der grünen Ebene verstreut liegen und sich weit hinein in die golden nebelige Ferne verlieren. Doch die armseligen Hütten umgibt kein Glanz, nur brütende Finsternis und Schweigen, das noch düsterer wird durch das Geräusch des Flusses, der träge und doch nimmer rastend vorüberschleicht, und auf seinem Wege so lebensmüde, so wunderlich geistesabwesend vor sich hinmurmelt.


Die Sonne war im Untergehen; auf der andern Seite begann das glashelle Summen der Grillen bereits die Luft zu erfüllen; dann und wann trug ein plötzlicher matter Windhauch, der kam und im dünnen Schilf des Flusses erstarb, es herüber.

Ein Boot kam stromabwärts.

An einem der letzten Häuser stand eine schwache, abgezehrte Frauengestalt weit über die Brüstung der Galerie gelehnt und sah ihm entgegen. Mit ihrer fast durchsichtigen Hand beschattete sie die Augen; denn da oben, wo das Boot fuhr, lag der Sonnenglanz goldig glitzernd auf den Wassern, und es sah fast aus, als glitte es auf einem Spiegel von Gold dahin.

Aus dem klaren Halbdunkel leuchtete das wachsbleiche Antlitz der Frau hervor, als trüge es sein Licht in sich selbst; es war deutlich und scharf zu sehen wie die Wogenkämme, die selbst noch in dunklen Nächten die Wellen des Meeres erhellen. Ängstlich spähten ihre hoffnungslosen Augen, ein seltsam schwachsinniges Lächeln lag um den müden Mund, aber die lotrechten Runzeln auf ihrer runden vorspringenden Stirn breiteten über das ganze Gesicht einen Schatten verzweifelter Entschlossenheit.

Von der Kirche des kleinen Dorfes begann es zu läuten.

Sie wandte sich ab vom Sonnenglanz und wiegte den Kopf hin und her, wie um dem Glockenklang zu entgehen; dabei murmelte sie beinahe wie eine Antwort auf das nicht endenwollende Läuten: »ich kann nicht warten, ich kann nicht warten.«

Doch das Läuten hörte nicht auf.

Wie vom Schmerz gefoltert ging sie in der Galerie hin und her; die Schatten der Verzweiflung waren noch tiefer geworden, und sie atmete schwer wie eine, die die Tränen drücken, und die doch nicht weinen kann.

Lange, lange Jahre litt sie an einer schmerzhaften Krankheit, die ihr niemals Ruhe ließ, ob sie lag oder ging. Sie hatte eine weise Frau nach der andern aufgesucht, hatte sich von einer heiligen Quelle zur andern geschleppt – doch stets ohne Erfolg. Jetzt zuletzt war sie nun mit dem September-Bittgang in St. Bartolema gewesen, und hier hatte ein alter einäugiger Mann ihr den Rat gegeben, einen Strauß von Edelweiß und welker Raute, von brandigen Maiskolben und Kirchhofsfarren, von einer Locke ihres Haares und einem Sargsplitter zu binden; diesen solle sie einem jungen Frauenzimmer, das gesund und frisch war und auf fließendem Wasser daher käme, nachwerfen; dann würde die Krankheit sie verlassen und auf die andere übergehen.

Jetzt trug sie den Strauß auf der Brust versteckt und auf dem Flusse kam ein Boot daher, das erste, seitdem sie die Zauberrute gebunden. Wieder war sie an die Brüstung der Galerie getreten; das Boot war so nahe, daß sie die fünf, sechs Passagiere an Bord zu unterscheiden vermochte. Fremde, wie es schien. Am Steven stand der Bootsmann mit einer Pflichtstange; am Steuer saß eine Dame und steuerte, neben ihr ein Mann, der aufpaßte, daß sie nach dem Wink des Bootsmannes steuerte; die andern saßen mitten im Boot.

Die Kranke beugte sich weit vor; jeder Zug ihres Antlitzes war lauernd und angespannt; die Hand steckte im Busen. Ihre Schläfen klopften; ihr Atem stockte fast, mit fliegenden Nüstern, mit glühenden Wangen und weit aufgerissenen, starren Augen wartete sie auf das Nahen des Bootes.

Schon vernahm man die Stimmen der Reisenden, bald deutlich, bald nur wie gedämpftes Murmeln.

»Glück«, sagte einer, »ist eine absolut heidnische Vorstellung. Im Neuen Testament finden Sie es nicht an einer einzigen Stelle.«

»Seligkeit denn?« wandte ein anderer fragend ein.

»Nein, hört mal«, sagte jetzt jemand, »das Ideal eines Gesprächs ist sicherlich das, von dem abzukommen, was man bespricht; und mich dünkt, das könnten wir jetzt auch tun, indem wir zum Anfang unserer Unterhaltung zurückkehren.«

»Gut; also die Griechen ...«

»Zuerst die Phönizier?«

»Was weißt Du von den Phöniziern?«

»Nichts! aber weshalb sollen die Phönizier immer übergangen werden!

Das Boot war jetzt gerade unter dem Hause, und in diesem Augenblick zündete jemand an Bord seine Zigarette an. In kurzem Aufflackern fiel das Licht auf die Dame am Steuer, und in dem rötlichen Schein gewahrte man ein jugendliches, frisches Mädchengesicht mit glücklichem Lächeln auf den halbgeöffneten Lippen und träumerischem Ausdruck in den klaren Augen, die zum dunkeln Himmel emporblickten.

Der Lichtschein schwand; ein leises Plätschern, als ob etwas ins Wasser geworfen würde – und das Boot trieb vorüber.

 

Es war ungefähr ein Jahr später. Die Sonne sank hinter einer Bank von schweren, düsterglühenden Wolken, die einen blutroten Schein auf die fahlen Fluten des Stroms warfen; ein frischer Wind strich über die Ebene; kein Zirpen der Grillen, nur das Plätschern des Flusses und das Rauschen und Rasseln im Uferschilf. In der Ferne sah man ein Boot stromabwärts kommen.

Die Kranke von der Galerie stand unten am Ufer. – Als sie dem jungen Mädchen damals die Zauberrute nachgeworfen, war sie dort oben ohnmächtig zusammengebrochen; die starke Erregung, vielleicht auch ein neuer Armenarzt, der in die Gegend gekommen, hatten eine Veränderung in ihrer Krankheit bewirkt; nach einer bösen Zwischenzeit hatte sie angefangen, sich zu erholen und war ein paar Monate später vollkommen gesund. Anfangs war sie wie berauscht von diesem Gefühl von Gesundheit, aber das dauerte nicht lange, dann war sie niedergeschlagen und traurig, unruhig, verzweifelt, denn überall hin verfolgte sie das Bild des jungen Mädchens im Boote. Zuerst zeigte es sich ihr, wie sie es gesehen hatte, jung und blühend; es kniete ihr zu Füßen und sah flehend zu ihr auf; später wurde es unsichtbar, aber sie wußte dennoch, wo es war und daß es da war, denn sie hörte, wie es leise jammerte, am Tage in ihrem Bette, nachts in einem Winkel ihrer Kammer. Jetzt kürzlich war es aber wieder still und sichtbar geworden, es saß vor ihr, bleich und abgezehrt und starrte sie an mit unnatürlich großen, wundersamen Augen.

Heute Abend stand sie nun unten am Flußufer; sie hatte einen Holzspan in der Hand und zeichnete Kreuz auf Kreuz in den weichen Schlamm; zuweilen erhob sie sich und lauschte; dann zeichnete sie wieder weiter.

Jetzt begann das Abendläuten.

Sorgsam vollendete sie ihr Kreuz, legte den Span aus der Hand, kniete hin und betete. Dann ging sie bis an die Brust in den Fluß, faltete die Hände und legte sich nieder in die grauschwarze Flut. Und die Flut nahm sie auf, zog sie in die Tiefe und schlich dann wie immer träge und traurig weiter, am Dorfe vorüber, an den Feldern vorüber – fort.

Jetzt war das Boot ganz nahe; es hatte die jungen Leute an Bord, die sich damals beim Steuern geholfen und jetzt auf ihrer Hochzeitsreise waren. Er saß am Steuer, sie stand mitten im Boot, in einen großen Shawl gehüllt, eine kleine rote Mütze auf dem Kopf... sie stand und stützte sich an den kurzen, segellosen Mast und summte vor sich hin.

Dann trieben sie am Hause vorüber. Sie nickte dem Steuermann vergnügt zu, sah zum Himmel auf und begann zu singen, sang, an den Mast gelehnt, den Blick auf die ziehenden Wolken gerichtet:

Ihr Wälle fest,
Ist sicher mein Nest,
Bist stark du gebaut, meines Glückes Schloß
Und schützen vor Kummer uns Tore und Troß?!
Was seh ich dort auf der Brücke stehn,
Wo die goldroten Wolken vorüber weh'n?
Ich kenn die Gestalten,
Die immer noch walten
In meinem Leben!
Daher sie schweben
Aus alter, trauriger, düsterer Zeit!
Heran, ihr Schatten vergangener Schmerzen,
Nehmt Platz an der Tafel, zunächst meinem Herzen,
Und trinkt aus dem fonniggoldenen Pokal
In des Glückes funkelndem Freudensaal!
Eim Hoch dem Glück, weil endlich es kam,
Ein Hoch, weil den Kummer es von mir nahm!
Ein Hoch ihm! – Und wär's nur ein Traum!


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