J. P. Jacobsen
Sechs Novellen
J. P. Jacobsen

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Ein Schuß im Nebel

Das kleine, grüne Zimmer auf Stavnede war sichtlich zu dem Zwecke eingerichtet, als Durchgang zu der übrigen Zimmerflucht zu dienen. Auf jeden Fall luden die kurzlehnigen Stühle, die längs des perlfarbigen Getäfels aufgestellt waren, nicht zu längerem Verweilen ein. Mitten an der Wand hing ein Hirschgeweih und krönte eine helle Stelle, deren Form deutlich zeigte, daß hier einmal ein ovaler Spiegel seinen Platz gehabt habe. Eine der Zacken trug einen breitrandigen Damenstrohhut mit langen seladongrünen Bändern. Rechts in der Ecke standen eine Flinte und eine durstige Kalla; in der andern ein Bündel Angelruten, in eine der Schnüre war ein Paar Handschuhe eingeknüpft. Mitten im Zimmer stand ein kleiner runder Tisch mit vergoldetem Fuß; ein großes Bukett Farnkräuter lag auf der schwarzen Marmorplatte. Es war spät am Vormittag. In einer großen und goldigen Säule fiel das Sonnenlicht durch eine der oberen Scheiben und senkte sich grade auf die Farnkräuter; einige derselben waren saftig grün, die meisten waren welk, nicht trocken und zusammengeschrumpft; sie hatten ihre Form behalten, aber die grüne Farbe war einer Unendlichkeit von gelben und braunen Schattierungen gewichen, von dem zartesten Weißgelb bis zum kräftigsten Rotbraun.

Am Fenster saß ein Mann von ungefähr 25 Jahren und starrte auf jene lustigen Farben. Die Tür zum Nebenzimmer stand weit offen, und drinnen am Klavier saß eine schlanke, junge Dame und spielte. Das Klavier stand nahe am offenen Fenster, und die Brüstung war so niedrig, daß sie hinaus auf den Grasplatz und den Weg sehen konnte, wo ein junger Mann im stilvollen Reitanzug damit beschäftigt war, einen Schimmel zuzureiten. Der Reiter war ihr Bräutigam, Niels Bryde hieß er; sie war die Tochter des Hauses. Der Schimmel da draußen gehörte ihr, und es war ein Vetter von ihr, der draußm im Vorzimmer saß, ein Sohn ihres Vaterbruders, Gutsbesitzer Lind auf Begtrup, der arm und verschuldet gestorben war, und von dem zeitlebens kein gutes Wort gesprochen worden, was er auch nicht verdiente. Lind auf Stavnede hatte sich des Sohnes Henning angenommen und hatte die Kosten der Erziehung getragen, doch nur so einigermaßen, denn obgleich Henning sehr begabt war und viel Lust zu den Büchern hatte, wurde er doch vom Gymnasium genommen, sobald er konfirmiert war, und kam dann wieder heim nach Stavnede, um die Landwirtschaft zu erlernen. Jetzt war er eine Art von Verwalter auf dem Gute, aber er hatte keine rechte Autorität, da der alte Lind es nicht lassen konnte, überall dreinzureden.

Seine Stellung war im ganzen genommen sehr unangenehm. Das Gut war schlecht imstande, und es konnte nichts geschehen, um es aufzubessern, da es an Kapital fehlte. Es konnte nicht die Rede davon sein, mit den Nachbarn Schritt zu halten, wie viel weniger noch mit der Zeit. Alles mußte gehen, wie es seit Gott weiß wie lange gegangen war: so viel wie möglich für so wenig wie möglich. In schlechten Jahren mußten daher auch Äcker verkauft werden, damit man nur bares Geld zu sehen bekam.

Im ganzen war es eine recht traurige Tätigkeit für einen jungen Mann, um Zeit und Kräfte dafür einzusetzen; hierzu kam noch, daß der alte Lind sehr hitzig und unverträglich war, und da er Henning die obenerwähnten Wohltaten erwiesen hatte, glaubte er ihm durchaus gar keine Rücksichten schuldig zu sein. Er unterließ daher nie, so bald er heftig wurde, diesen hören zu lassen, was für ein verhungerter Junge er gewesen, als er ihn zu sich nahm, und wurde er wirklich böse, dann ging er sogar so weit, daß er mit allerdings wahren, trotzdem aber schonungslosen Andeutungen über das Treiben seines Vaters kam.

Ein unverheirateter Onkel, der unten im Schleswigschen einen ausgedehnten Holzhandel betrieb, hatte mehremal versucht, Henning zu sich zu bekommen, und dieser hätte das Leben auf Stavnede auch längst schon verlaufen, wenn er nicht so verliebt in die Tochter gewesen wäre, daß er sich die Möglichkeit, an einem andern Orte zu leben als sie, nicht denken konnte. Es war indessen keine glückliche Liebe. Agathe konnte ihn wohl leiden, sie hatten als Kinder zusammen gespielt, und was das betrifft, auch als Erwachsene; als er jedoch eines Tages, vor einem Jahre ungefähr, sich ihr erklärt hatte, war sie sowohl ärgerlich wie bestürzt gewesen und hatte ihm gesagt, daß sie dies für einen unüberlegten Scherz halte und hoffe, er werde ihr keine Veranlassung

geben, es für puren Wahnsinn zu halten, indem er in Zukunft noch einmal etwas Ähnliches andeute.

Die Sache war nämlich die, daß die entwürdigende Behandlung, welcher sie ihn stets ausgesetzt sah, und die er ertrug, und zwar aus Rücksicht auf seine Liebe zu ihr, ihn in ihren Augen wirklich herabgesetzt hatte, sodaß sie ihn als zu einer niederen Kaste gehörend betrachtete, nicht niederer an Rang, oder weil er arm war, aber niederer an Empfindung und Ehrbegriff.

Einige Zeit darauf kam die Verlobung mit Bryde.

Was hatte Henning nicht in dem gegenwärtigen Vierteljahr gelitten! und doch blieb er; er konnte den Gedanken nicht aufgeben, sie zu gewinnen, er hoffte, daß irgend etwas geschehen werde, ja, er hoffte eigentlich kaum, er phantasierte von merkwürdigen Begebenheiten, die eintreten und jener Verbindung ein Ende machen sollten, aber er erwartete nicht, daß seine Phantasien zur Wirklichkeit werden könnten, er brauchte sie nur als Vorwand zum Bleiben.

»Agathe!« rief draußen der Reiter und hielt sein Pferd vor dem offenen Fenster an: »Du siehst uns ja gar nicht an, und jetzt machen wir unsere Sache doch so hübsch.« Agathe wandte ihren Kopf dem Fenster zu, nickte und sagte, indem sie mit dem Spielen fortfuhr: »Gewiß sehe ich Euch an. Ihr wärt da drüben am Schneeballenbusch ja beinahe gefallen,« dann machte sie einige schnelle Läufe oben im Diskant.

»Los also! – Hopp!« und sie ging in eine lärmende Galoppade über.

Der Reiter aber blieb.

»Nun?«

»Sag mir, bleibst du den ganzen Vormittag dort am Klavier?«

»Ja.«

»Nun, dann will ich doch versuchen – ja, wir können wohl nach Hagestedhof hinüberreiten und zu Mittag wiederkommen?«

»Ja, wenn ihr euch beeilt; adieu, dicker Bläß, adieu Niels.«

Er ritt fort; sie schloß das Fenster und spielte weiter, aber nicht lange; – es war doch viel unterhaltender zu spielen, wenn er da draußen ritt und ungeduldig wurde.

Henning sah dem Fortreitenden nach. Wie er diesen Menschen haßte; wenn er nur nicht gewesen wäre und... sie paßten durchaus nicht für einander, wenn der Faden nur einen Knoten bekäme, damit sie sich einander zeigten, wie sie wirklich waren ... Agathe kam in das grüne Zimmer, sie summte die Melodie der Nokturne, die sie soeben gespielt hatte, und ging an den kleinen Tisch, um das Farnbukett zu ordnen. Das Sonnenlicht fiel gerade auf ihre Hände; sie waren groß und weiß und schön geformt. Henning war stets bezaubert von diesen hübschen Händen, und heute trug sie sehr weite Ärmel, sodaß man den runden Arm bis zum Ellbogen hinauf sehen konnte; sie waren so üppig, diese Hände mit ihrer weichen Fülle, ihrer blendenden Weiße und den kräftigen Formen, und dann das feine wechselnde Muskelspiel, die anmutigen Bewegungen – es war eine so niedliche, wogende Bewegung, wenn sie sich über das Haar strich. Wie oft hatten sie ihm nicht leid getan, wenn sie über die dummen Tasten springen und spannen mußten; dazu paßten sie gar nicht, sie sollten still im Schoß eines dunklen Seidenkleides liegen, mit großen Ringen geschmückt wie nackte Haremsweiber.

Wie sie so dastand, mit den Farnkräutern beschäftigt, lag in ihrem Gesicht ein Ausdruck gleichgültigen Glücks, der Henning reizte. Weshalb mußte das Leben für sie so hell und leicht sein, für sie, die ihm jeden Lichtstrahl geraubt hatte? Wenn er sie aus dieser klaren Ruhe aufscheuchte, wenn er einen kleinen Schatten über ihren Weg jagte! Sie hatte ihm seine Liebe vor die Füße in den Staub geworfen und war darüber fortgeschritten wie über einen toten Gegenstand, wie wenn es nicht eine Menschenseele wäre, die sich sehnsuchtsvoll und glückverlangend in dieser Liebe krümmte und wand ...

»Jetzt kann er bald in Borreby sein,« sagte er und blickte zum Fenster hinaus.

»Nein, er wollte nach Hagestedhof,« antwortete sie.

»Nun, das andere liegt ja nicht weit aus dem Wege.«

»Wie? Es ist doch nicht am Wege.«

»Nein, das ist es eigentlich auch nicht – verkehrt er dort noch immer viel?«

»Wo?«

»In Borreby natürlich, beim Holzvogt.«

»Das weiß ich wirklich nicht. Was sollte er dort?«

»Ach, das ist wohl nur Gerede – Du weißt, der hat die schönste Tochter.«

»Na, und?«

»Ja, lieber Gott! Alle Männer sind doch nicht Mönche.«

»Spricht man denn etwas?«

»Ach, es wird ja über alle Menschen gesprochen, aber er könnte auch vorsichtiger sein.« »Aber was sagt man denn? Was sagt man?«

»Na, Rendezvous und ... das Gewöhnliche.«

»Du lügst, Henning! Das sagt kein Mensch, das alles reimst Du Dir zusammen.«

»Weshalb fragst Du dann? Welche Freude sollte ich übrigens daran haben, den Leuten zu erzählen, was für Glück er bei den Mädchen in Borreby hat!«

Sie ließ die Farn liegen und trat zu ihm. »Für so gemein hätte ich Dich doch nicht gehalten, Henning,« sagte sie.

»Ja, Liebste, ich begreife, daß Dich dies empört, es muß ja auch unangenehm für Dich sein, daß er sich nicht einmal soviel Zwang auferlegt – wenigstens jetzt.«

»Pfui Henning! das ist niedrig und unwürdig von Dir, aber ich glaube Deine Lügen nicht.«

»Ich bin's ja nicht, der dies sagt,« sprach er und sah vor sich nieder, »ich habe ja nicht gesehen, wie sie sich küssen.«

Agathe beugte sich vor und schlug ihn verächtlich ins Gesicht.

Er wurde leichenblaß und sah sie mit einem Blick an, der halb der eines kranken Hundes, halb der eines beleidigten Mannes war. Agathe verbarg das Gesicht in den Händen und ging an die geöffnete Tür. Hier blieb sie einen Augenblick stehen und stützte sich, als ob sie ohnmächtig wäre, und dann sah sie über die Schulter zu ihm hin und sagte kalt und ruhig: »Henning, ich sage Dir, ich bereue nicht, was ich getan habe.«

Darauf ging sie.

Henning saß lange wie betäubt da; dann wankte er auf sein Zimmer und warf sich aufs Bett. Er widerte sich selbst an. Jetzt war alles zu Ende – das klügste, was er tun konnte, war, sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen; – leben – sich mit furchtsamen Blicken wie ein getretener Hund durchs Leben schleichen? – Nein! –Sie hatte ihn durch jenen Schlag zum Sklaven gestempelt, und sie hatte recht; einer solchen Niedrigkeit gegenüber war nichts anderes zu tun. Wie hatte er sie geliebt! – brennend, –-wahnsinnig; aber nicht wie ein Mann, wie ein Hund, –- im Staube ihr zu Füßen wie vor einem Heiligenbilde. Sie standen im Garten, sie schnitt ihren Namen in einen Baumstamm, der Wind spielte mit ihrem Haar, er stahl sich hin und küßte eine ihrer flatternden Locken und war Tage lang glücklich; nein, seine Liebe hatte nie männlichen Mut und fteudige Hoffnung gehabt; er war Sklave in allem, in seiner Liebe, seiner Hoffnung, seinem Haß. –

Weshalb hatte sie nicht geglaubt, was er erzählt, sondern blind auf Niels vertraut? Er hatte ihr nie etwas vorgelogen; dies war die erste niedrige Handlung, die er je begangen, und sie hatte das sofort gesehen! Es war, weil sie ihm nie etwas anderes zugetraut hatte, als was niedrig und gemein war. Sie hatte ihn nie verstanden, und um ihretwillen hatte er dies lange, kümmerliche Leben auf Stavnede ertragen, wo jeder Bissen Brot, den er in den Mund gesteckt, ihm durch die Erinnerung, daß er eine Gnadengabe empfing, verbittert wurde. Er hätte wahnsinnig werden können bei dem Gedanken. Wie er sich haßte, seiner wahnsinnigen Geduld, seiner demütigen Hoffnung wegen. Er hätte sie morden können für das, wozu sie ihn gemacht hatte, und er würde sich rächen; sie sollte ihm die langen Jahre der Erniedrigung, die tausend qualvollen Stunden bezahlen. Rache für die verlorene Selbstachtung, Rache für seine sklavische Liebe und für den Schlag auf die Wange. So wiegte er sich jetzt in Racheträume, wie ehedem in Liebesträume, und er erschoß sich nicht und reiste auch nicht.

 

Zwei oder drei Tage später stand Henning vormittags mit Flinte und Jagdtasche im Garten. Wie er noch so dastand, kam Niels Bryde geritten, ebenfalls zur Jagd ausgerüstet, und obgleich beide sehr wenig voneinander hielten, sprachen sie sich doch freundlich an und schienen sehr entzückt, daß es sich so glücklich traf und sie den Ausflug miteinander machen konnten. Sie gingen also zusammen zur »Rönne«, eine ziemlich große, heidebewachsene, niedere und flache Insel draußen an der Fjordmündung. Diese Insel war im Herbst viel von Seehunden besucht, welche sich auf den niederen Sandbänken wälzten, die vom Strand aus ins Wasser schossen, oder sie auf dem großen Gerölle schliefen, das an der Landung lag. Und diesen Seehunden galt die Jagd. Als sie die Stelle erreicht hatten, ging jeder seinen eigenen Weg am Wasser entlang. Das graue neblige Wetter hatte viele Seehunde hereingelockt, und sie hörten einander gleichmäßig schießen. Später nahm der Nebel zu, und um die Mittagszeit lag er so dick über Insel und Fjord, daß es auf zwanzig Schritt Abstand nicht möglich war. Steine und Seehunde voneinander zu unterscheiden.

Henning setzte sich am Strande nieder und starrte in den Nebel hinein. Alles war still, nur ein leises, plätscherndes Geräusch vom Wasser und das ängstliche Pfeifen eines einsamen Strandläufers tauchten zuweilen aus der schweren, drückenden Ruhe auf.

Er war all dieser Gedanken müde, müde des Hoffens, müde des Hassens, krank vom Träumen. Hier still sitzen und schläfrig vor sich hinstarren, sich die Welt wie etwas vorstellen, das weit in der Ferne lag, wie etwas, das überstanden war, hier still sitzen und die Stunden einer nach der anderen hinsterben lassen, – das war Frieden, das war beinahe Seligkeit. Da klang ein Lied durch den Nebel, glücklich und jubelnd:

Im Mai da führ ich heim die Braut,
Eine Rose rot, eine Lilie traut,
He, Spielmann, spiel!
Dann soll der Wald sich schmücken grün,
Im Feld soll Blum' an Blume stehn,
Der Vollmond soll die Welt durchziehn,
Die Sonn' will strahlend heiß ich sehn.
Der Kuckuck ruft hinaus ins Land,
Daß ich mein goldnes Glück nun fand,
Doch die Sorge, die bleibt fein zu Haus.

Das war Niels Brydes klare Stimme. Henning sprang auf; wie ein Blitz schlug der Haß bei ihm ein; sein Auge brannte, er lachte heiser, dann legte er die Flinte an die Wange,

»Doch die Sorge, die bleibt sein zu Haus«

klang es noch einmal; er zielte nach dem Ton im Nebel, die letzten Worte erstarben im Knall – dann war alles still wie zuvor.

Henning mußte sich auf die rauchende Flinte stützen, er hielt den Atem an und horchte – nein, Gott sei Dank! es war nur das Plätschern des Wassers und der ferne Schrei aufgeschreckter Möven. – Doch! da drinnen im Nebel jammerte etwas. Er warf sich auf die Erde, drückte das Gesicht ins Heidekraut und hielt sich die Ohrm zu. Deutlich sah er das verzerrte Gesicht, die krampfhaften Zuckungen der Glieder und das rote Blut, das unaufhaltsam aus der Brust strömte, Strom auf Strom, das bei jedem Herzschlag hervorbrach – es ergoß sich auf das braune Heidekraut, floß an den Blättern und Stengeln herab und sickerte zwischen den schwarzen Wurzeln ein.

Er erhob den Kopf und horchte: es jammerte noch, aber er hatte nicht den Mut hinzugehen, nein, nein! er riß das Heidekraut mit den Zähnen aus, wühlte mit den Händen in der lockeren Erde, wie um ein Versteck zu suchen, er walzte sich wie ein Wahnsinniger hin und her, aber es war noch immer nicht vorbei, er hörte es noch immer jammern.

Endlich wurde es still. Er lag lange und horchte, dann kroch er langsam auf allen Vieren in den Nebel hinein. Es dauerte lange, bevor er etwas sehen konnte, dann fand er ihn endlich am Fuße einer kleinen Erderhöhung. Er war tot; der Schuß hatte ihn in die Herzgrube getroffen.

Henning nahm die Leiche in die Arme und trug sie quer über die Insel in das Boot, in dem sie gekommen waren; dann nahm er die Ruder auf und ruderte ans Land. Von dem Augenblick an, wo er die Leiche gesehen, hatte seine Erregung sich gelegt, und eine stille, dumpfe Wehmut war an ihre Stelle getreten. Er dachte an die Vergänglichkeit des Lebens, und wie schonend er jene zu Hause vorbereiten müsse.

Als er ans Land gekommen, ging er nach einem Bauernhof, um ein Fuhrwerk zu bekommen. Der Mann fragte, wie das Unglück geschehen sei. Der Bericht bildete sich fast wie von selbst auf Hennings Lippen: Bryde war draußen auf der Westseite mit der Flinte in der Hand über eine Anhöhe gekrochen; der Hahn mußte wohl nicht geschlossen gewesen sein, irgend etwas mußte sich drin verfangen haben, und der Schuß war losgegangen. Henning hatte dem Schuß angehört, daß sie nahe beieinander sein mußten und hatte Bryde zugerufen; als er keine Antwort erhalten, war er unruhig geworden, dem Knall nachgegangen und hatte ihn unterhalb einer Anhöhe gefunden; da war er aber bereits tot.

Er erzählte das alles in gedämpftem, ruhigem Ton, und hatte, solange er sprach, durchaus kein Bewußtsein seiner Schuld; als sie aber die Leiche auf den Wagen gelegt hatten und sie in das Stroh sank, fiel der Kopf auf die Seite und schlug mit einem dumpfen Laut gegen die Bretter, und da war Henning fast einer Ohnmacht nahe; als sie mit der Leiche über Borup nach Hagestedhof fuhren, wurde ihm übel.

Sein erster Gedanke, nachdem er die Leiche abgeliefert, war davonzulaufen, und nur mit der allergrößten Selbstüberwindung bezwang er sich zu bleiben, bis das Begräbnis vorüber war. In der Wartezeit kam im Äußern eine fieberhafte Unruhe über ihn, etwas seltsam Schreckhaftes bemächtigte sich seiner Gedanken, welches bewirkte, daß sie an nichts Bestimmtem festhalten konnten, sondern von einem zum andern flatterten. Dieses rastlose Wirbeln und Kreiseln, dem er nicht Einhalt zu tun vermochte, war nahe daran, ihn wahnsinnig zu machen, und wenn er allein war, begann er zu zählen oder er trällerte und schlug den Takt mit dem Fuß, um auf diese Weise gleichsam die Gedanken zu fesseln und nicht in den entsetzlichen, ermattenden Rundtanz hineingewirbelt zu werden.

Endlich kam das Begräbnis.

Tags darauf war Henning auf dem Wege zu seinem Onkel, dem Holzhändler, um diesen zu bitten, daß er ihm eine Anstellung in seinem Geschäft gebe. Er fand den Onkel in sehr gedrückter Stimmung. Seine alte Haushälterin war nämlich vor einem Monat gestorben, und in den letzten Tagen hatte er seinen Geschäftsführer wegen Veruntreuung verabschieden müssen. Henning war daher sehr willkommen. Er arbeitete sich mit Eifer in das Geschäft hinein, und nach Verlauf eines Jahres war er der Leiter desselben.


Vier Jahre später sind manche Veränderungen vorgegangen. Der Holzhändler ist tot, und Henning wurde als sein Universalerbe eingesetzt. Der alte Lind auf Stavnede ist auch zu seinen Vätern heimgegangen, hat das Gut aber so verschuldet hinterlassen, daß es verkauft werden mußte, und beim Verkauf ist so gut wie nichts für Agathe übriggeblieben. Stavnedes neuer Besitzer ist Henning, der den Holzhandel aufgegeben hat und zur Landwirtschaft zurückgekehrt ist. Auf Hagestedshof ist ein gewisser Klausen Niels Brydes Nachfolger; er wird binnen kurzem mit Agathe Hochzeit machen, die jetzt im Hause des Pfarrers lebt. Sie ist noch hübscher als früher. Mit Henning ist es anders. Es ist ihm nicht anzusehen, daß er Glück gehabt hat. Er sieht beinahe alt aus; die Gesichtszüge sind scharf, der Gang matt, er geht gebeugt, spricht wenig und sehr leise; sein Auge hat einen seltsam matten Glanz bekommen, und sein Blick ist unruhig und wild. Wenn er sich allein glaubt, spricht er mit sich selbst und gestikuliert dazu. Die Leute in der Gegend glauben deshalb, daß er trinkt.

Aber das ist es nicht. Tag und Nacht, wo es auch sei, nirgends weiß er sich sicher vor dem Gedanken an den Mord von Niels Bryde. Sein Geist und seine Fähigkeiten sind in dieser ewigen Angst dahingewelkt, denn wenn dieser Gedanke kommt, ist es nicht wie Reue oder dunkler Schmerz, sondern lebendige, flammende Angst, ein entsetzliches Delirium, wo der Blick sich verwirrt, sodaß alles sich bewegt: strömend, triefend, seltsam rieselnd, und alles hat die Farbe gewechselt, es ist leichenblaß oder dunkel blutigrot. Und in all diesen Strömen ist ein Ziehen, als söge es aus allen Adern, als schöpfe es aus all den feinen Fäden der Nerven, und die Brust keucht in atemloser Angst, aber kein erlösender Schrei, kein aufleichternder Seufzer kann sich einen Weg über die bleichen Lippen bahnen.

Solche Visionen sind die Folge des Gedankens, deshalb fürchtet er ihn, deshalb ist sein Blick unruhig, und sein Gang so matt. Die Furcht ist es, die ihn entkräftet hat, und die Kraft, die ihm geblieben, lebt in seinem Haß. Denn er haßt Agathe, haßt sie, weil seine Seele in der Liebe zu ihr zugrunde gegangen ist, sein Lebensglück durch sie zerstört, wie sein Frieden; aber am meisten haßt er sie, weil sie nichts ahnt von jener ganzen Welt voll Qual und Elend, die sie geschaffen; und wenn er jetzt unter drohenden Gebärden mit sich selbst spricht, so ist es Rache, woran er denkt, Rachepläne, über die er sinnt. Aber er läßt sich nichts merken, er ist die Freundlichkeit selbst gegen Agathe, er bezahlte ihre Ausstattung, und später war er ihr Führer vor den Altar, und seine Freundlichkeit kühlte sich auch nicht nach der Hochzeit ab: er half und riet Klausen in jeder Weise, und mehrere große Spekulationsgeschäfte, die ein ausgezeichnetes Resultat hatten, machten sie gemeinsam. Dann hörte Henning auf, aber Klausen hatte Lust fortzufahren, und Henning versprach, ihm mit Rat und Tat beizustehen. Das tat er auch. Er streckte ihm sehr bedeutende Geldsummen vor, und Klausen ging von einer Spekulation zur andern. Er gewann bei einigen, verlor bei mehreren, aber je mehr er spekulierte, desto eifriger wurde er. Ein sehr großes Unternehmen sollte ihn endlich zum reichen Manne machen. Dies erforderte mehrere große Auszahlungen, und Henning half ihm fortwährend; die letzte stand aus, da zog Henning sich zurück. Die Aussichten schienen Klausen vielversprechend, und wenn er sich jetzt aus der Affäre zog, war er ruiniert, aber bezahlen konnte er nicht. Daher schrieb er Hennings Namen unter ein paar Wechsel; niemand würde Verdacht schöpfen, und der Gewinn würde bald kommen.

Das Unternehmen mißglückte. Klausen war fast ruiniert. Der Verfalltag des Wechsels war beinahe herangerückt, das letzte mußte versucht werden, – da schickte er Agathe nach Stavnede. Henning war erstaunt, sie zu sehen, denn sie hatte erst vor kurzem einem Kinde das Leben geschenkt, und das Wetter war rauh und regnerisch. Er führte sie in das grüne Zimmer, und sie erzählte ihm von der unglücklichen Spekulation und von den Wechseln.

Henning schüttelte den Kopf und sagte ruhig und milde, daß sie ihren Mann mißverstanden haben müsse, man schreibe den Namen anderer Leute nicht unter Wechsel, das sei nämlich ein Verbrechen, geradezu ein Verbrechen, welches das Gesetz mit Zuchthaus bestrafe.

Nein, nein, sie habe ihren Mann nicht mißverstanden, sie wisse, daß es ein Verbrechen sei, grade deshalb müsse er helfen; wenn er nur keine Einsprache gegen die Unterschrift erhöbe, würde alles wieder gut werden.

Ja, dann müsse er ja den Wechsel bezahlen, und das könne er nicht; er habe schon soviel Geld in Klausens Geschäft, daß er über seine Kräfte belastet sei. Er könne nicht.

Sie weinte und bat.

Sie solle aber doch bedenken, daß er ungeheuer an Klausen verloren habe. Als sie ihm erzählt, daß das Unternehmen mißglückt, sei ihm wirklich gewesen, als ob ihm jemand einen Schlag ins Gesicht versetzt habe, so überrascht und bestürzt sei er gewesen. Als er dies Wort gebraucht, sei ihm eingefallen, daß sie ihn einmal geschlagen habe, ob sie sich dessen erinnern könne. Nein? ... es sei eines Tages gewesen, als er sie damit geneckt, daß Bryde... ob sie sich wirklich nicht erinnern könne? Doch; sie habe ihn in liebenswürdigem Zorn auf die Backe geschlagen, auf diese Backe hier.

Ja, ob er denn nicht helfen könne?

Hier in diesem Zimmer war es. Ach, das war eine andere Zeit, eine merkwürdige Zeit. Er glaube auch, daß er einmal um sie angehalten habe, es käme ihm so vor. Gesetzt den Fall, daß sie ihn genommen; aber es sei töricht, davon zu reden; nein, Bryde war ein so schöner Mann; daß er so traurig ums Leben kommen mußte, der hübsche Bursche!

Ja, ja, aber gab es denn wirklich keinen Ausweg? Keinen?

Sie solle das mit den Wechseln nur nicht glauben; das habe Klausen ihr nur eingeredet, um aus ihm herauszulocken, ob er ihm nicht noch ein wenig helfen könne; das sei ein Kniff, Klausen war ja pfiffig, sehr schlau, sehr schlau.

Nein, es sei wirklich, wie sie sage. Käme sie mit einer abschlägigen Antwort zurück, so müßte Klausen nach Amerika flüchten; der Wagen, der ihn nach der Eisenbahnstation in Voer bringen sollte, war schon herausgezogen, als sie sich auf den Weg hierher machte.

Nein, das habe er von Klausen nicht geglaubt. Das sei ja der gemeinste Schurkenstreich! den Mann in Ungelegenheiten zu bringen, der ihm immer und immer wieder geholfen hatte. Er müsse sehr schlecht sein. Es sei empörend, auf diese Weise Unehre über die Frau und das unschuldige Kind zu bringen. Sie solle nur hören, was die Leute sagen würden! Arme Agathe! Arme Agathe! Sie warf sich ihm zu Füßen und flehte: »Henning, Henning, hab Erbarmen mit uns!«

»Nein, und tausendmal nein, mein Name soll frei von Flecken bleiben; ich helfe keinem Verbrecher!«

Dann ging sie.

Henning setzte sich hin und schrieb an die Polizei in Voer, daß man Klausen wegen Wechselfälschung anhalten solle, wenn er sich auf der Eisenbahnstation zeige. Ein reitender Bote wurde mit dem Briefe abgeschickt.

Am Abend hörte er, daß Klausen abgereist sei, am nächsten Tage, daß man ihn in Voer angehalten habe.

Agathe mußte sich zu Bett legen, als sie nach Hause kam; schwach wie sie nach der kürzlich überstandenen Krankheit noch war, hatte sie die Anstrengung und die starke Gemütsbewegung nicht ertragen können. Die Nachricht, daß man Klausen angehalten, brach sie vollständig. Die Krankheit nahm einen heftigen, fieberartigen Charakter an, und drei Tage später kam die Meldung nach Stavnede, daß sie tot sei.

Am Tage vor dem Begräbnis ging Henning nach Hagestedhof. Das Wetter war dunkel und neblig, das Laub fiel in Massen, in der Luft lag ein scharfer erdiger Geruch.

Man führte ihn in das Sterbezimmer, die Fenster waren mit weißen Tüchern verhängt, am Kopfende brannten ein paar Lichter. Der Blumenduft der vielen Kränze und der Geruch des Sargfirniß verbreiteten eine schwüle Atmosphäre.

Er wurde beinah feierlich gestimmt, als er sie in der phantastischen, weißen Totenkleidung daliegen sah. Über das Gesicht war ein weißes Tuch gebreitet; er ließ es liegen. Die Hände waren über der Brust gefaltet; sie hatten ihr weiße Baumwollhandschuhe angezogen. Er nahm die Hand, zog den Handschuh ab und schob ihn in seine Brusttasche. Dann betrachtete er neugierig die Hand, bog die Finger, und hauchte sie an, wie um sie zu erwärmen. Lange hielt er ihre Hand in der seinen; es wurde dunkler und dunkler im Zimmer; draußen nahm der Nebel zu. Dann beugte er sich auf ihr Antlitz herab und flüsterte: »Fahr wohl, Agathe. Ich will Dir etwas sagen, bevor wir scheiden; ich bereue doch nicht, was ich getan habe,« dann ließ er ihre Hand los und ging.

Als er hinauskam, konnte er kaum die Scheune sehen, so dick war der Nebel. Er ging am Strande entlang nach Hause. – Jetzt war er gerächt, und dann! Was dann morgen? Und übermorgen?

Es war so still, nur ein leiser Laut vom Wasser da unten; – aber er konnte sein Herz nicht hören; es schlug doch, aber so matt, so matt, – wie? Das klang wie ein Schuß! und noch einer! Er schüttelte ben Kopf, lächelte und murmelte: »nein, nicht zwei, nur einer, nur einer.« Er war so müde, aber ausruhen – er hatte keine Zeit zum ausruhen. Er blieb einen Augenblick stehen und sah sich um: es war nicht viel zu sehen, der Nebel bildete eine Mauer um ihn herum, Nebel oben, Nebel rund umher, unten Sand; in grader Linie lagen seine Fußspuren hinter ihm; mitten hinein in den Nebelkreis reichten sie, weiter nicht; er ging wieder ein wenig, nein, weiter als bis zur Mitte kamen sie nicht, aber hinter ihm, dort, wo er gegangen, da war ein Kreis seiner Fußspuren. – Er war doch sehr müde; es war der Sand, in dem das Gehen so schwer hielt – jeder Fußstapfen hatte etwas von seinen Kräften gekostet, ja, es war eine Reihe von Gräbern seiner entschwundenen Kräfte, – Und nach der andern Seite hin lag der Sand eben und glatt und wartete, – ein Schauer überlief ihn: Jemand schreitet über mein Grab – jemand geht in meinen Fußspuren, es bewegt sich dahinten im Nebel wie Frauenkleider, da drinnen in dem weißen Nebel bewegt sich etwas Weißes. Wieder schritt er so kräftig zu, wie er nur konnte. Seine Knie zitterten, es wurde ihm schwarz vor Augen, aber vorwärts mußte er, fort durch den Nebel, denn das da drinnen verfolgte ihn beständig. Es kam näher und näher, die Kräfte waren nahe daran, ihn zu verlassen, er schwankte von einer Seite auf die andere, seltsame Blitze fuhren an seinen Augen vorüber, scharfe, schneidende Laute klangen ihm im Ohr, der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn, seine Lippen öffneten sich vor Ensetzen; dann brach er im Sande zusammen. Und hervor aus dem Nebel kam es, formlos und doch erkennbar, schwer und langsam schlich es über ihn. Er versuchte, sich zu erheben, da packte es ihn mit feuchten, weißen Fingern an der Kehle ...

Als Agathe am nächsten Tage begraben werden sollte, mußte das Gefolge eine Weile warten; aber aus Stavnede kam niemand, ihr das letzte Geleit zu geben.


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