Jens Peter Jacobsen
Niels Lyhne
Jens Peter Jacobsen

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11. Kapitel

Drei Jahre sind vergangen. Erik und Fennimore sind zwei Jahre verheiratet und wohnen in einer kleinen Villa am Mariagerfjord. Niels hat Fennimore seit jenem Sommer in Fjordby nicht gesehen; er lebt in Kopenhagen und kommt viel unter Leute, hat aber mit niemand intimen Verkehr, außer mit Doktor Hjerrild, der sich alt nennt, weil sich in seinem dunkeln Haar weiße Fäden zu zeigen beginnen.

Jene unerwartete Verlobung war ein harter Schlag für Niels, und sie hat ihn etwas stumpfer gemacht; auch bitterer und weniger vertrauensvoll; er hat Hjerrilds Mißmut auch nicht mehr so viel Begeisterung entgegenzusetzen. Er ist stetig in seinen Studien, doch sie sind planloser, und der Gedanke, fertig zu werden, vorzutreten und zuzugreifen, hat nur noch ein unsicher flackerndes Leben. Er lebt viel unter Menschen, aber er lebt nicht mit ihnen; sie interessieren ihn wohl, aber es kümmert ihn nicht im geringsten, ob sie auch Interesse für ihn fassen, und schwächer und schwächer wird die Macht in ihm – er merkt es – die ihn dazu treiben sollte, das Seine zu tun, mit den andern oder gegen sie. Er kann warten, sagt er, selbst wenn er warten muß, bis es zu spät ist. Wer glaubt, hat keine Eile; das ist seine Entschuldigung. Denn er fühlt, daß er Glauben genug hat, Glauben genug, um Berge zu versetzen; aber er kann sich nicht entschließen, den Rücken dagegen zu stemmen. Dann und wann steigt es wie Schaffensdrang in ihm auf, Sehnsucht, einen Teil von sich selbst in einer Arbeit zu befreien, und dann kann sein Wesen tagelang angespannt sein durch frohe, titanenhafte Anstrengungen, den Lehm zu seinem Adam zusammenzufahren; doch er vermag ihn nie seinem Vorbilde ähnlich zu formen; er hat nicht Ausdauer genug, die Selbstkonzentrierung, die dazu erforderlich ist, festzuhalten. Es dauert Wochen, bevor er die Arbeit aufgibt, aber er gibt sie doch auf und fragt sich ärgerlich selbst, weshalb er dabei bleiben solle, was er noch zu gewinnen habe? er hat das Glück der Empfängnis genossen, es bleibt nur noch die Mühe des Erziehens, des Pflegens, des Nährens und des Tragens – weshalb? für wen? er sei kein Pelikan, sagt er. Abel er mag sagen, was er will. Er ist doch unzufrieden und fühlt, daß er den Forderungen nicht entsprochen, die er an sich selbst gestellt, und es hilft ihm nichts, daß er mit diesen Forderungen ins Gericht geht und ihre Begründung anzuzweifeln sucht. Er steht einer Wahl gegenüber, und er muß wählen; denn es ist ja nun einmal so, daß, wenn die erste Jugend vorüber ist, früher oder später, je nachdem der Naturgrund in einem Menschen ist, früher oder später der Tag anbricht, wo die Resignation an uns herantritt wie der Versucher, und uns lockt, dem Unmöglichen Lebewohl zu sagen und uns zufrieden zu geben. Und die Resignation hat soviel für sich, denn wie oft sind die idealen Forderungen der Jugend nicht zurückgewiesen worden, ihre Begeisterung beschämt, ihre Hoffnung zerstört worden! – Die Ideale, die leuchtenden, die schönen, sie haben wohl noch nichts von ihrem Glanz verloren, aber sie wandern nicht mehr auf Erden unter uns wie in den ersten Tagen unserer Jugend; über die breitbasierte Treppe der Weltklugheit sind sie Stufe für Stufe in den Himmel zurückgeführt worden, aus dem unser einfältiger Glaube sie herausgeholt hatte, und dort sitzen sie nun strahlend – aber fern, lächelnd, aber müde, in göttlicher Untätigkeit, während der Weihrauch einer tatenlosen Anbetung ruckweise in feierlichen Wolken zu ihrem Thron emporsteigt.

Niels Lyhne war müde; dies unaufhörliche Anlaufnehmen zu einem Sprung, der nie gemacht wurde, hatte ihn ermattet; alles wurde hohl und wertlos für ihn, verzerrt und verwirrt und so kleinlich außerdem; es schien ihm so natürlich, sich Mund und Ohren zu verstopfen und sich dann in Studien zu versenken, die nichts mit der Schwüle der Welt zu tun hatten, sondern wie ein stiller Meeresgrund für sich mit friedlichen Tangwäldern und seltsamen Tieren waren.

Er war müde, und in seinen fehlgeschlagenen Liebeshoffnungen lagen die Wurzeln seiner Müdigkeit, aus ihnen hatten sie sich schnell und sicher durch sein ganzes Wesen, all seine Fähigkeiten und seine Gedanken verbreitet. Jetzt war er kalt und leidenschaftslos genug, aber in jener ersten Zelt, da der Schlag ihn getroffen, war seine Liebe von Tag zu Tag mit unaufhaltsamer Macht gewachsen, und es hatte Zeiten gegeben, in denen seine Seele von wahnsinniger Leidenschaft gedrängt wie eine Woge in unendlicher Sehnsucht und schäumendem Verlangen angeschwollen war, sich erhoben hatte und gestiegen und gestiegen war, bis jede Fiber seines Hirns, jeder Nerv seines Herzens bis zur äußersten Grenze angespannt gewesen. Dann war die Müdigkeit gekommen, abstumpfend und heilend, und hatte seine Nerven taub gemacht gegen den Schmerz, sein Blut kalt für die Begeisterung und seine Pulse zu schwach zum Handeln. Und mehr als das; sie hatte ihn gegen einen Rückfall geschützt, indem sie ihm die ganze Vorsicht und den Egoismus eines Rekonvaleszenten gegeben, und wenn er jetzt an die Tage von Fjordby zurückdenkt, so geschieht es mit demselben Gefühl der Sicherheit, wie einer, der soeben eine schwere Krankheit durchgemacht, sie in dem Gedanken findet, daß er jetzt, wo sein Leiden und sein Fieber sich in seinem Körper zu Asche verbrannt haben, für lange, lange Zeit verschont bleiben wird.

Da geschah es, daß er an einem Sommertage, als Erik und Fennimore wie gesagt zwei Jahre verheiratet gewesen, einen halb prahlerischen, halb jämmerlichen Brief von Erik erhielt, in dem dieser sich anklagte, jetzt zuletzt seine Zeit vergeudet zu haben, er wisse aber nicht, wie es komme, er habe keine Ideen mehr. Es seien frische, muntere Leute, mit denen sie dort in der Gegend verkehrten, durchaus nicht prüde oder albern, aber der Kunst gegenüber die gräßlichsten Dromedare. Es sei nicht ein Mensch da, mit dem er ordentlich reden könne, und er sei jetzt in einen Dusel von Trägheit und Mattigkeit geraten, den er nicht überwinden könne; denn er gewahre nie mehr eine Idee oder Stimmung wie früher, er sei nie mehr inspiriert, so daß ihm oft angst und bange davor werde, es sei mit ihm zu Ende, und er werde nie mehr etwas Neues schaffen können. Aber es könne doch unmöglich für immer so bleiben, es müsse wiederkommen, er sei allzu reich gewesen, als daß es so enden könne, und dann wollte er ihnen zeigen, was Kunst sei, jenen andern, die darauf losmalten, als sei das etwas, was sie auswendig gelernt. Vorläufig sei er indessen wie verhext, und es wäre ein Freundschaftsdienst, wenn Niels nach dem Mariagerfjord käme; er solle es so gut haben, wie die Umstände es erlaubten, und er könne seinen Sommer doch ebenso gut dort zubringen wie anderswo. Fennimore ließe ihn grüßen und würde sich sehr freuen.

Dieser Brief war Erik so wenig ähnlich, und es mußte wirklich etwas nicht Ordnung sein, wenn er so klagen konnte. Das sah Niels sofort, und er wußte auch sehr wohl, wie wenig stark die Quelle von Eriks Produktionskraft sei – nur ein unscheinbarer Bach, der unter ungünstigen Verhältnissen vollständig austrocknen konnte. Er wollte sofort abreisen, Erik sollte einen erprobten Freund in ihm finden, und was die Jahre auch an Banden gelöst und an Illusionen zerstört – jene Freundschaft ihrer Kindheit würde er wenigstens zu erhalten wissen. Er hatte Erik früher schon gestützt, er würde ihn auch jetzt stützen. Ein fanatisches Freundschaftsgefühl packte ihn. Er wollte Zukunft, Berühmtheit, ehrgeizigen Träumen, allem entsagen, um Eriks willen. Alles, was er an glimmender Begeisterung, an gärender Schaffenskraft besaß, wollte er für Erik einsetzen, er wollte in Erik aufgehen, alles war bereit, sein Selbst und seine Ideen, er wollte nichts behalten, und er träumte sich den groß, der so unsanft in sein Leben eingegriffen. Sich selbst aber ausgelöscht, übersehen, arm, ohne geistiges Eigentum; und er träumte weiter, wie das, was er Erik gegeben, nach und nach kein Darlehn mehr, sondern wirklich sein Eigentum geworden durch den Stempel, den er allem gäbe, indem er es in Werk und Tat prägte. Erik in Hoheit und Ehren, er aber nur einer der vielen, vielen gewöhnlichen Menschen, wirklich nichts mehr; zuletzt nicht mehr freiwillig, sondern notgezwungen arm; ein wirklicher Bettler und nicht ein Prinz in Lumpen ... und es war süß, sich so bitterarm zu träumen.

Aber Traum ist Traum, und er lachte über sich selbst und dachte daran, wie die Leute, die ihre eigenen Angelegenheiten versäumen, immer so viel Interesse für die Arbeit anderer zu opfern vermögen; und er dachte auch daran, daß Erik natürlich, wenn sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünden, seinen Brief verleugnen, ihn ins Scherzhafte ziehen und es ungeheuer komisch finden würde, wenn er wirklich käme und sich bereit meldete, ihm wieder zu seinem Talent zu verhelfen. Trotzdem reiste er; im Grunde glaubte er doch, daß er nützlich sein könne; wie er auch versuchen mochte, es weg zu erklären und anzuzweifeln, er konnte doch nicht anders, er fühlte, daß es wirklich die alte Knabenfreundschaft war, die wieder in ihrer ganzen Naivität und all ihrer Wärme den Jahren und dem, was sie gebracht hatten, zum Trotz, erwacht war.

 

Das Landhaus am Mariagerfjord gehörte einem älteren Ehepaar, das aus Gesundheitsrücksichten genötigt war, sich auf unbestimmte Zeit im Süden niederzulassen. Sie hatten nicht erwartet, die Villa zu vermieten, da sie bei ihrer Abreise geglaubt, nur ein halbes Jahr fortbleiben zu müssen; und daher hatten sie alles unverändert stehen lassen; als Erik das Haus nun vollständig möbliert mietete, war dies in so buchstäblichem Sinne der Fall, daß er es mit Nippes, Familienporträts und allem bekam, ja sogar mit einer Polterkammer voll Gerümpel und alten Briefen in den Schreibtischschubläden.

Er hatte das Landhaus entdeckt, als er nach seiner Verlobung von Fjordby abreiste; da hier nun alles vorhanden, was sie brauchten, und noch mehr als das, und er nach Verlauf von ein paar Jahren sich für einige Zeit in Rom niederzulassen gedachte, so hatte er den Konsul vermocht, mit der Anschaffung der Aussteuer zu warten, und sie waren nach Marianelund gezogen wie in ein Hotel, nur daß sie ein paar Koffer mehr hatten als Reisende im allgemeinen.

Das Haus lag mit der Fassade nach dem Fjord keine zehn Meter vom Wasser; das Äußere war sehr gewöhnlich, ein Altan oben, eine Veranda unten, nach rückwärts ein kürzlich angelegter Garten, dessen Bäume nicht dicker waren als Spazierstöcke; dafür wurde man aber dadurch entschädigt, daß man vom Garten direkt in einen prächtigen Buchenwald mit Streifen offenen Heidelands und weiten Hohlwegen zwischen Lehmhügeln gelangte.

So war Fennimores neues Heim, und eine Zeitlang war es so hell, wie das Glück es machen konnte, denn beide waren ja jung und verliebt, gesund und frisch, ohne Sorgen um ihr Auskommen, das geistige sowohl wie das leibliche.

Aber jedes Glücksschloß, das gebaut wird, hat Sand in dem Grund, auf dem es ruht, und der Sand sammelt sich und rinnt fort unter den Mauern, langsam vielleicht, unmerklich vielleicht, aber er rinnt und rinnt, Korn für Korn.... Und die Liebe? – auch die Liebe ist kein Fels, wie gern wir es auch glauben möchten.

Sie liebte ihn von ganzer Seele, mit zitternder Glut und der Heftigkeit der Angst; er war ihr mehr als ein Gott, viel mehr, – ein Abgott, den sie anbetete, ohne Rückhalt und über die Maßen.

Seine Liebe war stark wie die ihre, aber ihr fehlte die seine, männliche Zärtlichkeit, die das liebende Weib vor sich selbst schützt und ihre Würde behütet. Es mahnte ihn wohl wie eine dunkle Pflicht, rief wohl mit leiser Stimme, aber er wollte nicht hören, denn sie war so berückend in ihrer blinden Liebe, und ihre Schönheit mit der unbewachten Üppigkeit und der demütigen Anmut einer Sklavin reizte und trieb ihn zu einer Leidenschaft ohne Grenzen und ohne Gnade.

Steht nicht irgendwo in der alten Mythe von Amor, daß er die Hand auf Psyches Augen legt, bevor sie süß berauscht in die glühende Nacht hinauslaufen?

Arme Fennimore! Wenn sie von der Glut ihres eigenen Herzens hätte verzehrt werden können, der, der sie hätte beschirmen sollen, würde sie zu Flammen angefacht haben! Denn er war wie jener trunkene Herrscher, der mit der Mordbrandfackel in der Hand beim Anblick seiner brennenden Königsstadt jubelte, weil die züngelnde Lohe seinen Rausch steigerte, bis die Asche ihn nüchtern machte.

Arme Fennimore! Sie wußte nicht, daß die brausende Hymne des Glückes so oft gesungen werden kann, daß ihr weder Melodie noch Worte bleiben, sondern nur ein wirres Durcheinander von Trivialität; sie wußte nicht, daß der Rausch, der heute emporträgt, seine Kraft von den Flügeln des morgenden Tages nimmt; als nach und nach die Nüchternheit schwermütig heraufdämmerte, fing sie bebend an zu begreifen, daß sie sich zu einer süßen Verachtung gegen sich selbst und gegeneinander herabgeliebt hatten, einer Verachtung, deren Süßigkeit Tag für Tag abnahm, bis sie zuletzt herb und bitter wurde. Sie wandten sich so weit voneinander ab, wie es sich tun ließ; er, um von einem trugvollen Ideal höhnischer Hoheit und kalter Anmut zu träumen, sie, um nach der bleichen, stillen, jetzt unendlich fernen Küste ihrer Mädchentage hinüberzublicken. Täglich wurde es ihr schwerer, die Scham brannte wild in ihren Adern, und ein qualvoller Ekel vor sich selbst machte alles unglücklich und hoffnungslos für sie. In einer kleinen, leeren Kammer, wo nichts anderes stand als die Koffer, die sie mit aus dem Elternhaus gebracht, saß sie oft stundenlang, bis die Sonne draußen versank, und den Raum mit rötlichem Licht erfüllte; dort marterte sie sich mit Gedanken, die spitzer waren als Dornen, schlug sich mit Worten, die weit schärfer als Geißeln, bis Pein und Qual sie verwirrten und sie einen betäubenden Trost darin suchte, sich zu Boden zu werfen wie ein Ding voll ekler Fäulnis und Hefe, ihr eigenes Aas, zu erbärmlich für den Sitz einer Seele. – Die Metze ihres Mannes, der Gedanke war immer in ihrem Herzen, mit ihm warf sie ihr Selbst verächtlich in den Staub zu ihren Füßen, mit ihm schloß sie jede Hoffnung auf Wiedererhebung aus, mit ihm versteinerte sie jegliche Erinnerung an das Glück.

Nach und nach kam eine harte, brutale Gleichgültigkeit über sie; sie hörte auf zu verzweifeln, wie sie zu hoffen aufhörte, ihr Himmel war eingestürzt, und sie trug kein Verlangen, ihn wieder zum Gewölbe zu träumen; sie forderte keine Seligkeit, sie war nicht zu gut für die Welt und die Welt nicht für sie, sie waren einander würdig. Sie hegte keinen Haß gegen Erik, sie zog sich auch nicht voll Angst vor ihm zurück; im Gegenteil, sie nahm seine Küsse hin, denn sie hegte zuviel Verachtung vor sich selbst, um sich ihnen zu entziehen, sie war ja sein Weib, das Weib eines Mannes!

Auch für Erik war es bitter zu erwachen, obgleich er sich mit der prosaischen Weitsichtigkeit eines Mannes gesagt hatte, daß es notwendigerweise einmal so kommen müsse. Als es aber kam, als die Liebe nicht mehr Ersatz für andere Entbehrungen war, und der funkelnde Schleier, in dem sie zu ihm herabgestiegen, fortgeweht war, da empfand er es wie die Erschlaffung aller Lebensgeister, ein Schwinden all seiner Fähigkeiten, und das machte ihn ärgerlich und ängstlich, so daß er sich mit fieberhaftem Eifer seiner Kunst zuwandte, um Gewißheit darüber zu erlangen, ob er nicht auch noch etwas anderes eingebüßt hatte, als das Glück. Aber er erhielt nicht die Antwort, die er erhofft; er verfiel auf ein paar unglückselige Ideen, mit denen er nicht von der Stelle kommen konnte, und die aufzugeben er sich doch nicht bequemen wollte. Er konnte nichts Rechtes mit ihnen machen, und doch fuhren sie fort, ihn zu beschäftigen und hinderten andere Ideen sich vorzudrängen und ihn anzuziehen; er wurde mutlos und unzufrieden und verfiel in grübelnden Müßiggang, weil die Arbeit so tötend querköpfig war, und weil er glaubte, daß er nur zu warten brauche, damit der Geist wieder über ihn käme. Aber es zog sich hin und immer hin, sein Talent blieb unfruchtbar, und hier an dem stillen Fjord war nichts in seinem Umgang, das befruchtend auf ihn hätte einwirken können; auch gab es hier keine Kunstgenossen, deren Siege ihn entweder zum Wetteifer oder zur schaffenden Opposition hätten reizen können. Diese Untätigkeit wurde unerträglich, und es packte ihn ein heißes Verlangen, sich selbst zu fühlen, gleichgültig wie oder durch was; und da sich nichts anderes bot, begann er einen Kreis älterer und jüngerer Landbewohner aufzusuchen, die unter der Anführung eines sechzigjährigen Jagdjunkers die Einförmigkeit des Landlebens durch solche Ausschweifungen zu beleben suchten, wie ihre nicht allzu reiche Phantasie, die stark begrenzt durch ihren ziemlich einseitigen Geschmack war, sie zu ersinnen vermochte. Der eigentliche Kern der Zerstreuungen waren Kartenspiel und Trunk und er blieb ziemlich derselbe, ob nun die Schale, die ihn umgab, Jagdfahrt oder Marktreise genannt wurde. Ebenso machte es keinen sonderlichen Unterschied, daß man dann und wann den Schauplatz nach einem; der Nächstliegenden Marktflecken verlegte, und dort im Laufe des Nachmittags wirkliche oder eingebildete Geschäfte mit Kaufleuten einleitete, denn die endgültige Abmachung fand doch stets am Abend im Wirtshause statt, dessen Wirt mit großer Unterscheidungsgabe alle von der richtigen Farbe zu ihnen nach Nummer sicher wies. Waren herumreisende Schauspieler am Ort, so ließ man die Kaufleute beiseite, denn die Schauspieler waren viel umgänglicher, der Flasche gegenüber nicht so zurückhaltend und im allgemeinen sehr willig, sich der leider selten mit vollständigem Erfolg durchgeführten Wunderkur zu unterwerfen, sich nüchtern trinken zu lassen; nämlich in Genever, wenn sie sich in Champagner betrunken hatten.

Der Hauptstamm dieses Kreises bestand aus kleinen Gutsbesitzern und Landleuten aus allen Jahrgängen, aber es befand sich auch ein massiver junger Laffe von einem Branntweinbrenner darunter, und ein weißhalsiger Hauslehrer, der mindestens schon seit zwanzig Jahren kein Hauslehrer mehr gewesen, sondern mit einem Seehundsfellkoffer und einer grauen Schindmähre, von der scherzweise behauptet wurde, daß er sie bei einem Pferdeschlächter gestohlen, der Reihe nach zu Gast gewesen. Er war ein stiller Säufer, großer Virtuose auf der Flöte, und man nahm von ihm an, daß er arabisch könne. Zu dem, was der Jagdjunker seinen Stab nannte, gehörten auch ein Prokurator, der immer neue Geschichten erzählte, und ein Doktor, der nur eine einzige kannte, nämlich die Belagerung von Lübeck Anno sechs.

Dieser Kreis erstreckte sich sehr weit, und es traf sich wohl nie, daß alle versammelt waren; wenn aber jemand der Gesellschaft allzu lange fern blieb, und sich daheim hielt, so erließ der Junker einen Aufruf an alle Getreuen und man begab sich hin, um sich die Ochsen des Abtrünnigen anzusehen, was so viel hieß, als daß man sich zwei oder drei Tage auf dem Gut des Unglücklichen einquartierte und es durch Zechgelage und Spiel und andere ländliche Vergnügungen, zu denen die Jahreszeit gerade einlud, auf den Kopf stellte. Während eines solchen Strafbesuchs geschah es einmal, daß die ganze Gesellschaft so lange einschneite, bis dem Wirt Kaffee, Rum und Zucker der Reihe nach ausgingen, und man sich zuletzt mit einem Kaffeepunsch begnügen mußte, der aus Zichorie gekocht, mit Sirup gesüßt und mit Branntwein angebrannt war.

Im Ganzen war es eine schlimme, grobkörnige Bande, mit der Erik zusammenkam, aber Menschen von einer so riesenstarken Lebenskraft konnten sich wohl nicht in zivilisierteren Vergnügungen Luft machen, und ihre unerschöpfliche Laune, ihre breite, bärenhafte Gemütlichkeit nahm ihnen wirklich viel von ihrer Roheit. Wäre Eriks Talent mit dem von Brouwer oder Ostade verwandt gewesen, so würde diese auserlesene Sammlung von Zechbrüdern eine Goldmine für ihn geworden sein, aber wie die Dinge nun einmal lagen, war die ganze Ausbeute für die andern und für ihn nur die, daß er sich trefflich amüsierte. Nur allzusehr; denn bald wurde diese ausgelassene Zecherei ihm unentbehrlich und nahm nach und nach seine ganze Zeit in Anspruch; wenn er sich dann und wann auch seine Untätigkeit vorwarf, und sich dann gelobte, daß sie ein Ende haben sollte, so trieben ihn doch die Leere und die geistige Ohnmacht, die er jedesmal empfand, wenn er zu arbeiten versuchte, stets in das alte Leben zurück.

Den Brief an Niels, den er eines Tages geschrieben, da seine anhaltende Unfruchtbarkeit gar kein Ende nehmen wollte und den Eindruck einer Abzehrung auf ihn gemacht, die sein Talent angegriffen, diesen Brief bereute er sofort, nachdem er abgesandt war, und er hoffte, daß Niels seine Klagen zum einen Ohr hinein und zum andern hinausgehen lassen werde.

Aber Niels kam, der fahrende Ritter der Freundschaft in eigener Person; und ihm wurde denn auch der halb abweisende, halb mitleidige Willkomm, den fahrende Ritter stets von denen bekommen, um deretwillen sie Rosinante aus dem warmen Stall gezogen haben. Da Niels vorsichtig war und abwartete, so taute Erik bald auf, und die alte Vertraulichkeit zwischen ihnen wurde zu neuem Leben geweckt. Und es trieb Erik, sich auszusprechen, zu klagen und zu bekennen; es trieb ihn mit beinahe physischem Zwange dazu.

Eines Abends nach Schlafenszeit, – Fennimore war schon zur Ruhe gegangen, – saßen sie in dem dunklen Wohnzimmer bei ihrem Grog. Nur die Glut ihrer Zigarren zeigte, wo sie waren, und nur dann und wann, wenn Niels sich ganz in seinen Stuhl zurücklehnte, hob sich sein aufwärts gewandtes Profil ganz schwarz von den dunklen Scheiben ab.

Während sie von den alten Zeiten auf Lönborghof und von ihrer Knabenzeit sprachen, hatten sie ziemlich viel getrunken, besonders Erik. Durch Fennimores Fortgehen war eine Pause entstanden, die keiner von ihnen Lust hatte, zu unterbrechen, denn die Gedanken kamen so angenehm sanft herangerollt, während sie schläfrig darauf lauschten, wie das Blut durch den zunehmenden Rausch erhitzt, in ihren Ohren sang.

»Wie töricht man doch mit zwanzig Jahren war«, klang es endlich in Eriks Stimme. »Gott mag wissen, was man eigentlich erwartete, und wie man es sich in den Kopf gesetzt hatte, daß so etwas existiere? Wir hatten wohl dieselben Namen dafür, wie die wirklichen Dinge sie tragen, aber das, was wir meinten, war doch etwas so ganz anderes im Vergleich! zu dem zahmen Gottessegen, der uns geworden. Eigentlich ist doch nicht viel am Leben, nicht wahr?«

»Ach, ich weiß nicht, ich nehme es wie es ist. Im allgemeinen lebt man ja weiter nicht. Meistens existiert man nur. Wenn man sich das Leben als einen großen, appetitlichen Kuchen ausliefern lassen könnte, auf den man einhauen könnte.... aber so bissenweise – das ist nicht schön.« –

»Sag' mir, Niels – nur mit dir kommt man dazu, von solchen lächerlichen Dingen zu reden, aber ich weiß nicht, du bist darin so wunderlich. Sag mir – hast du was in deinem Glase? – Gut. – Hast du jemals an den Tod gedacht?«

»Ich? O ja, und du?«

»Ich meine nicht so bei Begräbnissen, oder wenn ich krank bin, sondern wenn ich am allergemütlichsten dasitze, kann es über mich kommen wie – ja, geradezu wie Verzweiflung. Ich sitze dann und grüble und richte nichts aus, und kann nichts ausrichten und dann ist es, als merkte ich, wie die Zeit mir entrinnt, Stunden, Wochen, Monate! Ohne Inhalt laufen sie an mir vorüber, und ich vermag sie nicht mit einer Arbeit an den Fleck zu bannen. Ich weiß nicht, ob du verstehst, was ich meine, es ist ja nur so eine Empfindung von mir; aber ich möchte eingreifen in die Zeit mit irgend etwas, das ich vollbracht hätte. Siehst du: die Zeit, die dazu gehört, um ein Bild zu malen, gehört immer mir, ich habe etwas von ihr, sie ist nicht dahin, nur weil sie, vorüber. Ich werde krank, wenn ich bedenke, wie die Tage unaufhaltsam hingehen. – Und ich habe nichts, oder ich kann zu nichts gelangen. Es ist eine Qual; ich kann so zornig werden, daß ich im Zimmer hin- und hergehen und irgend etwas Sinnloses singen muß, um nur nicht vor lauter Gereiztheit zu weinen. Und ich bin nahe daran, verrückt zu werden, wenn ich wieder aufhöre und bedenke, daß die Zeit inzwischen wieder vergangen, und daß sie hingeht, während ich denke, und daß sie immer nur hingeht und hingeht. Es gibt nichts Erbärmlicheres, als Künstler zu sein; hier stehe ich und bin gesund und stark; ich kann sehen, mein Blut ist heiß und reich, mein Herz pocht, meinem Verstande fehlt nichts, und ich will arbeiten; aber ich kann nicht, ich kämpfe und greife nach etwas Unsichtbarem, das sich nicht greifen lassen will, zu dem keine Anstrengung mir verhelfen kann, und wenn ich mich abmühte, bis das Blut mir unter den Nägeln hervorspritzte. Was muß man tun, um eine Inspiration, eine Idee zu bekommen? Ich kann mich zusammennehmen, soviel ich will, ich kann versuchen auszugehen und mich umzusehen und zu tun, als suche ich nichts, aber nein! Immer und immer nichts! Nur das Bewußtsein, daß die Zeit da draußen in Ewigkeit mitten im Leben steht und die Stunden an sich zieht, so daß sie vorüberrutschen, zwölf helle und zwölf dunkle, ohne Aufhören, ohne Aufhören. Was soll ich tun; es muß doch irgend etwas geben, das man tut, wenn es so mit einem bestellt ist; ich kann doch nicht der erste sein, den es trifft. Wie? Weißt du nichts?«

»Reise.«

»Nein, das nicht, wie kommst du darauf? Du glaubst doch wohl nicht, daß es aus ist mit mir?«

»Aus! Nein. Aber ich meinte, daß die neuen Eindrücke ...«

»Die neuen Eindrücke! Das ist es ja gerade. Hast du nie von Leuten erzählen hören, die Talent vollauf hatten, solange sie in ihrer ersten Jugend und frisch und voll Hoffnung und Plänen waren; dann aber, als sich dies verlor, war auch ihr Talent fort – und kam niemals wieder.«

Er schwieg lange.

»Die reisten, Niels, neuen Eindrücken nach. Das war ihre fixe Idee. Der Süden, der Orient – es war alles vergebens, es glitt an ihnen ab wie an einem Spiegel. Ich habe ihre Gräber in Rom gesehen. Zwei davon, aber es gibt deren viele, viele; – der eine wurde wahnsinnig.«

»Von Malern habe ich das bis jetzt noch nie gehört.«

»Doch. – Was glaubst du, daß es sein kann? Ein verborgener Nerv, der zerrissen? Oder ob man selbst schuld daran ist? Etwas, was man vielleicht verbrochen, oder wo man gefehlt hat, wer weiß! Eine Seele ist solch ein schwaches Ding, und niemand weiß, wie weit die Seele den Menschen ausmacht. – Man sollte gut in sich selbst sein ... Du.« Seine Stimme war leise und weich geworden. »Zuweilen habe ich auch diese Sehnsucht zu reisen, weil ich mich so leer fühle; ich habe sie in einem Grade, von dem du dir keine Vorstellung machen kannst, aber mir ist, als hätte ich nicht den Mut, denn nimm an, daß es nichts hülfe, und daß ich einer von denen wäre, von denen ich soeben sprach. Was dann! Denk', wenn ich der Gewißheit von Angesicht zu Angesicht gegenüberstände, daß es mit mir zu Ende, daß ich nicht mehr das geringste hätte, nichts, daß ich nichts könnte, denk dir: nichts könnte. Ein erbärmlicher Wicht von einem Menschen, der verdammteste Hund von einem Krüppel, ein jämmerlicher Kastrat! – Wohin würde ich sinken, glaubst du? Und siehst du, es wäre ja nicht unmöglich; die erste Jugend habe ich hinter mir, und von Illusionen und dergleichen habe ich auch wahrhaftig nicht viel. Es ist furchtbar, wie viel man davon zusetzt, und ich habe doch nie zu den Leuten gehört, die froh sind, sie loszuwerden; es war nicht mit mir wie mit euch andern, die ihr zu Frau Boye kamt; ihr hattet es so eilig damit, euch gegenseitig die Schmuckfedern auszureißen, und je kahler ihr wurdet, desto übermütiger wäret ihr. Aber das ist ja übrigens auch gleichgültig, einmal wechselt man die Federn doch.«

Dann schwiegen sie; die Luft war bitter von Zigarrenrauch, und widerlich vom Kognak; mit ihren unendlich schweren Herzen atmeten sie schwer in dem Dunst da drinnen.

Da saß er nun, Niels, der sechzig Meilen weit gereist war, um zu helfen, da saß er nun, und mußte sich des kälteren Teils seiner Natur schämen. Denn was konnte er tun, wenn es zur Sache kam? Sollte er etwa malerisch zu Erik sprechen, viele Worte in Purpur und Ultramarin, die von Licht überflossen und im Schatten wateten! Als er abgereist, hatte er von etwas Ähnlichem geträumt. Wie lächerlich das war! Helfen! Vielleicht kann man die Göttin mit den leeren Händen von eines Künstlers Tür jagen, aber das ist wirklich auch alles; man kann ihm nicht mehr helfen zu schaffen, als man ihm, wenn er lahm wäre, helfen könnte, den kleinen Finger zu heben. Und wenn man noch so voll von Herz und Mitgefühl und Opferwilligkeit und allem wäre, was großmütig ist. – Für sich selbst sorgen sollte man, das ist gesund und das ist nützlich, aber leichter wäre es gewiß, Gemütsmensch ins Blaue hinein bis hinauf in den höchsten Himmel zu sein. Nur daß es so grenzenlos unpraktisch und so betrübend resultatlos ist. – Für sich selbst sorgen, und noch dazu gut; kann man davon auch nicht selig werden, braucht man doch vor niemand die Augen niederzuschlagen, weder vor Gott noch vor Menschen.

Niels bekam reichlich Gelegenheit, mißmutige Betrachtungen über die Ohnmacht des guten Herzens anzustellen, denn alles, was er nutzte, war, daß er Erik während eines ganzen Monats mehr als gewöhnlich zu Hause hielt. Indessen hatte er nicht Lust, so mitten in der heißen Jahreszeit nach Kopenhagen zurückzukehren, aber er mochte auch nicht Gast bis in die Unendlichkeit sein; deshalb mietete er sich bei einer nicht zum Bauernstand gehörenden Familie an der andern Seite des Fjords ein, nicht weiter vom Marianelund, als daß er in einer Viertelstunde hinüberrudern konnte. Es war ja ganz gleichgültig, ob er hier war oder anderswo, außerdem kannte er die Gegend nun schon, und er gehörte zu jenen Leuten, die sich schon durch die örtliche Umgebung fesseln lassen. Und dann hatte er ja seinen Freund und seine Cousine Fennimore hier. Gründe genug, besonders da auf der ganzen Welt niemand auf ihn wartete.

Als er damals hinüberreiste, hatte er ganz genau überdacht, wie er sich zu Fennimore stellen wolle; besonders wie er zeigen würde, daß er so vollständig vergessen, daß er sich nicht einmal mehr erinnere, es sei überhaupt etwas zu vergessen; vor allen Dingen keine Kälte, sondern eine herzliche Gleichgültigkeit, ein oberflächliches Entgegenkommen, eine höfliche Sympathie – so sollte es sein.

Das alles wurde indessen überflüssig.

Die Fennimore, die er vorfand, war ganz anders als die, die er verlassen. Sie war noch hübsch, ihre Gestalt war üppig und schön wie früher, und sie hatte noch dieselben trägen, nachlässigen Bewegungen, die er früher bewunderte, aber um ihren Mund lag, ein Ausdruck trauriger Gedankenlosigkeit, wie bei jemand, der allzuviel gedacht, und in ihren sanften Augen lag eine bedauernswürdige, kümmerliche, marternde Grausamkeit. Er begriff es gar nicht, aber eins war ihm jedenfalls klar, daß sie anderes zu tun gehabt, als seiner zu gedenken, und daß sie den Erinnerungen gegenüber, die er weckte, vollständig gefühllos sei. Sie sah aus wie jemand, der seinen Entschluß gefaßt und sich alles so schlimm gestaltet hat wie möglich.

Nach und nach begann er zu buchstabieren und zusammenzusetzen, und eines Tages, als sie zusammen am Strande spazierengingen, begann er zu verstehen.

Erik war dabei, Ordnung in seinem Atelier zu machen, und während Niels und Fennimore am Wasser entlang gingen, kam das Mädchen mit einer ganzen Schürze voll Gerümpel, das sie am Strande hinwarf. Es waren alte Pinsel, Bruchteile von Gipsabgüssen, zerbrochene Spateln, gesprungene Ölflaschen und leere Farbenbehälter, ein großer Haufen. Niels stöberte mit dem Fuß darin herum, und Fennimore sah mit jener Entdeckerlust zu, die man stets altem Kram gegenüber hat. Plötzlich zog Niels den Fuß zurück, als habe er sich verbrannt; er faßte sich aber sofort wieder und fuhr schnell in dem Haufen umher.

»Ah, laß es mich sehen,« sagte Fennimore, und legte die Hand auf seinen Arm, wie um ihn zurückzuhalten.

Er bückte sich und zog einen Gipsabguß heraus, eine Hand, die ein Ei hielt. »Es muß ein Irrtum sein,« sagte er.

»Nein, sie ist ja zerbrochen,« sagte sie ruhig und nahm sie ihm aus der Hand. »Sieh', der Zeigefinger ist fort,« zeigte sie, als sie aber im selben Augenblick gewahrte, daß das Gipsei durchschnitten und der Dotter mit gelber Farbe hineingemalt war, errötete sie ein wenig, und beugte sich und schlug die Hand langsam an einem Stein in Stücke.

»Erinnerst du dich, wie sie gemacht wurde?« fragte Niels, um doch etwas zu sagen.

»Ich erinnere mich, daß ich mit grüner Seife eingerieben wurde, damit der Gips nicht an meiner Hand kleben blieb. Meinst du das?«

»Nein, ich meine, als Erik den Abguß deiner Hand am Teetisch die Runde machen ließ, und deiner alten Tante, als er an sie kam, die Tränen in die Augen traten und sie dich in tiefstem Mitgefühl an sich drückte und dich auf die Stirn küßte, als hätte dir jemand bitter Unrecht getan.«

»Ja, die Menschen sind so gefühlvoll.«

»Ach nein, wir lachten sie aus und trotzdem lag etwas Feines darin, obgleich es so sinnlos war.«

»Ja, es gibt viel solcher sinnlosen Feinheit!«

»Ich glaube, du willst Händel mit mir anfangen.«

»Nein, das will ich nicht, aber ich möchte dir gern etwas sagen; du wirst wohl nicht böse sein über ein wenig Offenheit! – Sag' mir also, glaubst du nicht, daß, wenn ein Mann zum Beispiel etwas in Gegenwart seiner Frau erzählen will, das ein wenig roh ist, oder wenn er sonst auch, wie es dich bedünken mag, wenig rücksichtsvoll gegen sie ist, glaubst du da nicht, daß es ganz überflüssig ist, wenn du dagegen protestiert, indem du dich übertrieben zartfühlend und ganz schrecklich ritterlich zeigst? Man muß doch annehmen, daß der Mann eine Frau am besten kennt und weiß, daß es sie weder ärgern noch verletzen kann; sonst würde er es ja nicht tun, nicht wahr?«

»Nein, das ist nun nicht wahr, so im allgemeinen, aber hier und in bezug auf dich kann ich wohl ja sagen.«

»Ja, tu das nur, du kannst überzeugt sein, daß die Frauen keine so ätherischen Wesen sind, wie mancher Junggeselle träumt; sie sind wirklich nicht zarter als die Männer und durchaus nicht anders als die Männer; glaub' mir, der Ton, aus dem beide gebildet, war ein wenig schmutzig.« »Liebste Fennimore, du weißt Gott sei Dank nicht, was du sagst, aber du bist ungerecht gegen die Frauen, gegen dich selbst; ich glaube an die Reinheit des Weibes.«

»Die Reinheit des Weibes, was meinst du mit der Reinheit des Weibes?«

»Ich meine – – – – – ja...«

»Du meinst, ich will es dir sagen, du meinst nichts, denn das ist auch so eine von diesen inhaltlosen Feinheiten. Eine Frau kann nicht rein sein, sie soll es nicht sein, wie sollte sie es können! Welche Unnatur ist das! Hat die Hand unseres Herrgotts sie dazu bestimmt, es zu sein? Antworte mir! – Nein, und zehntausendmal nein. Was ist das für ein Wahnsinn? Weshalb wollt ihr uns mit der einen Hand zu den Sternen emporheben, wenn ihr uns mit der andern doch hinabziehen müßt? Könnt ihr uns nicht auf Erden an eurer Seite gehen lassen, Mensch neben Mensch, und nichts weiter? Es ist doch unmöglich für uns, auf der Prosa sicher aufzutreten, wenn ihr uns mit eurem Irrwisch von Poesie blind macht. Laßt uns doch in Ruhe, laßt uns doch um Gotteswillen in Ruhe.«

Sie setzte sich hin und weinte.

Niels begriff vieles; Fennimore wäre unglücklich gewesen, wenn sie gewußt hätte wieviel; es war ja zum Teil die alte Geschichte vom Festgericht der Liebe, das nicht tägliches Brot werden will, sondern fortfährt, Festgericht zu sein, nur fader, Tag für Tag widerlicher, immer weniger nahrhaft. Und der eine kann das Wunder nicht vollbringen, und der andere kann es auch nicht, und da sitzen sie nun noch in ihren Hochzeitskleidern und fahren fort, einander zuzulächeln und feierliche Worte zu gebrauchen, aber im Innern leiden sie Qualen von Hunger und Durst, und ihre Blicke fangen an, einander zu fürchten, denn der Groll beginnt in ihren Herzen zu sprießen. War es nicht zuerst dies; und dann die andere ebenso traurige Geschichte von der Verzweiflung eines Weibes darüber, daß sie sich selbst nicht zurücknehmen kann, als sie entdeckt, daß der Halbgott, dessen Braut sie so fröhlich gewesen, nur ein ganz gewöhnlicher Sterblicher ist? Zuerst die Verzweiflung, die unnütze Verzweiflung, und dann die nützliche Stumpfheit, war es das nicht? Er glaubte, daß es so sei, und er begriff alles, die Härte bei ihr, die herbe Demut und Roheit, die für sie der bitterste Tropfen in dem ganzen Becher war. Nach und nach begriff er auch, wie seine Rücksichten, seine ehrerbietige Huldigung ihr lästig sein und sie irritieren mußten; denn für eine Frau, die von dem Purpurbett ihrer Träume auf das Steinpflaster gestürzt wurde, liegt es nahe, den beinahe zu hassen, der einen Teppich über die Steine breiten möchte; denn in ihrer ersten Bitterkeit will sie gerade die Härte in ihrer ganzen Stärke fühlen, sie will sich nicht damit begnügen, den Weg auf ihren Füßen zu gehen, sie will ihn auf den Knien lutschen, und da gerade dort, wo er am steilsten ist und wo die Steine am spitzesten. Sie will keine Hand und keine Hilfe, sie will das Haupt nicht erheben. Es mag so schwer sein, wie es will; sie will das Angesicht tief in den Staub beugen und diesen mit der Zunge kosten.

Sie tat Niels so leid, aber er ließ sie in Ruhe, wie, sie es wollte.

Es war so hart, sie leiden zu sehen, nicht helfen zu dürfen, weit fort zu sitzen, und sie in dummen Träumen glücklich zu träumen, oder mit kaltem, ärztlichem Scharfsinn abzuwarten und zu berechnen, und sich so traurig, und ruhig sagen zu müssen, daß früher keine Linderung eintreten werde, als bis ihre alte Hoffnung auf den feinen, funkelnden Reichtum des Lebens sich gänzlich verblutet, und ein träger Lebensstrom seinen Weg durch alle Adern ihres Lebens gefunden, und sie stumpf genug gemacht haben würde, um zu vergessen; schwerfällig genug, um zufrieden zu sein, und endlich, endlich roh genug, um sich an einer nebeldichten Seligkeit zu erfreuen, die um viele, viele Himmel niedriger ist als die, die sie erwartet, und um die zu erreichen sie so flehentlich und so angstvoll um Flügel gebeten hatte. – Ekel gegen die ganze Welt erfüllte ihn, wenn er bedachte, daß sie, vor der er einst in seinem Herzen so demütig und anbetend gekniet, daß sie so tief herabgewürdigt, in Sklavenketten gelegt werden mußte, daß sie an der Hecke stehen und frieren mußten während er hoch zu Roß an ihr vorüberritt und das große Geld des Lebens in seiner Tasche klimperte.

An einem Sonntagnachmittag gegen Ende August ruderte Niels über den Fjord. Er fand Fennimore allein zu Hause; als er kam, lag sie im Eckzimmer auf dem Sofa und stieß bei jedem Atemzug jenes kurze, regelmäßige Stöhnen aus, das unsere Schmerzen zu erleichtern scheint, wenn wir krank sind. Sie habe fürchterliche Kopfschmerzen, sagte sie, und es sei niemand zu Hause, um ihr zu helfen. Das Mädchen hätte Erlaubnis bekommen, nach Hadssund zu den Ihren zu gehen, und bald, nachdem sie fort, sei jemand gekommen, um Erik zu holen; sie könne gar nicht begreifen, wohin sie in dem Regenwetter gefahren; seit ein paar Stunden läge sie nun schon hier und habe versucht zu schlafen, aber es sei vor Schmerz gar nicht daran zu denken. Sie habe es noch nie gehabt, und es sei so plötzlich gekommen. – Mittags fehlte ihr noch nichts – zuerst in der Schläfe und dann tiefer und tiefer hinein, gleichsam als wäre es hinter dem Auge; – wenn es nur nicht gefährlich sei! Sie war gar nicht daran gewöhnt, krank zu sein, und war nun ängstlich und unglücklich.

Niels tröstete sie, so gut er konnte; er sagte, sie solle stilliegen, die Augen zumachen und nicht sprechen; er brachte ein dickes Tuch, in das er ihre Füße wickelte, holte Essig aus dem Büfett und richtete einen kalten Umschlag her, den er auf ihre Stirn legte. Dann setzte er sich still ans Fenster und sah dem Regen zu.

Von Zeit zu Zeit schlich er auf den Fußspitzen zu ihr und wechselte den Umschlags ohne zu sprechen. Er nickte ihr nur zu, wenn sie zwischen seinen Händen hindurch dankbar zu ihm aufsah. Zuweilen wollte sie sprechen, aber er schüttelte den Kopf und wehrte allen Worten mit beschwichtigender Miene. Und dann ging er wieder an seinen Platz.

Endlich schlief sie ein.

Eine Stunde verging und noch eine, und sie schlief noch immer. Ein Viertel ging langsam in das andere über, während das schwermütige Tageslicht langsam abnahm, und die Schatten des Zimmers allmählich wuchsen und aus Möbeln und Bänken emporstiegen. Und draußen regnete es beständig und anhaltend weiter und dämpfte mit seinem rieselnden Sausen jeden andern Laut.

Sie schlief noch.

Der Dunst des Essigs und der Vanilleduft des Heliotrops auf dem Fensterbrett flossen zu einem säuerlichen Weingeruch zusammen und erfüllten die Luft, die durch diese Ausdünstungen erwärmt, einen immer dichteren Tau über die grauen Scheiben legte, je mehr die Kühle des Abends zunahm.

Niels war weit fort in Träumen und Erinnerungen, wenn auch während der ganzen Zeit ein Teil seines Bewußtseins Wache bei der Schlafenden hielt und ihren Schlummer behütete. Nach und nach, während die Dunkelheit zunahm, wurde die Phantasie müde, die unaufhörlich aufflackernden und immer wieder erlöschenden Träume zu nähren, geradeso wie das Erdreich müde wird, ewig dieselbe Saat aufzunehmen; die Träume wurden matter, unfruchtbarer, ohne üppige Einzelheiten und verloren ihre langschießenden, seltsam gewundenen Ranken. Und der Sinn ließ alles Ferne fahren und wandte sich heimwärts. – Wie still es war! Als ob sie beide sich auf einer Insel des Schweigens befänden, die aus dem einförmigen Tonmeer des Regens aufstieg; und ihre Seelen waren still, so still und ruhig, während die Zukunft in einer Wiege des Friedens zu schlummern schien.

Wenn sie doch nie erwachen,, und alles so bleiben möchte, wie es jetzt war, kein weiteres Glück als das, welches im Frieden liegt; aber dann auch keinen Kummer, keine tobende Unruhe. Könnte es sich doch schließen, dieses Leben, wie eine Knospe sich in sich selbst schließt – und käme dann kein Frühling mehr! –

Fennimore rief; sie hatte schon eine Weile wach gelegen, so glücklich, die Schmerzen loszusein, daß sie gar nicht daran gedacht hatte zu sprechen. Jetzt wollte sie aufstehen und Licht anzünden, aber Niels fuhr fort, Doktor zu sein, und zwang sie, liegen zu bleiben. Es würde ihr nicht gut tun, sich jetzt schon zu erheben; er habe Streichhölzer und würde die Lampe schon finden.

Als er sie angezündet, stellte er sie auf den Blumentritt in der Ecke, so daß die runde, weißglänzende Glocke von dem seinen, schlummernden Laub einer Akazie zur Hälfte bedeckt war; und jetzt war es gerade nur so hell im Zimmer, daß sie gegenseitig ihre Züge erkennen konnten.

Er setzte sich vor sie, und sie sprachen über den Regen, und wie gut es sei, daß Erik seinen Regenmantel mitgenommen habe, und wie naß die arme Trine werden würde. Dann stockte das Gespräch.

Fennimores Gedanken waren noch ein wenig schläfrig, und die Mattigkeit, die ihr noch in den Gliedern lag, machte es so behaglich, ruhig dazuliegen, und nur halb zu denken ohne zu sprechen. Auch Niels war nicht in gesprächiger Stimmung, er stand noch unter dem Einfluß des langen Schweigens am Nachmittag.

»Gefällt dir dies Haus?« fragte Fennimore endlich.

O ja, es gefiel ihm.

»Wirklich? Erinnerst du dich der Möbel zu Hause?«

»In Fjordby? Ja, sogar sehr deutlich.«

»Wie lieb sie mir sind, und wie oft ich mich nach ihnen sehne. Die wir hier haben, gehören ja nicht uns, sie sind nur gemietet und kümmern uns nicht, sie erinnern uns an gar nichts, wir werden nicht länger mit ihnen leben, als wir hier sind. Dich dünkt vielleicht, daß dies wunderlich ist, aber ich versichere dir, ich fühle mich zuweilen so einsam zwischen all den fremden Möbeln, die so dumm und so gleichgültig dastehen und mich nehmen, wie ich bin, und sich nicht im mindesten um mich kümmern. Und da sie nicht mit mir gehen, sondern bleiben, bis andere kommen und sie mieten, so kann ich mich auch nicht an sie schließen oder mich für sie interessieren, wie ich es könnte, wenn ich wüßte, daß mein Heim immer das Ihre sei, und daß alles, was an Gutem und Bösem kommen würde, mich zwischen ihnen treffen würde. Findest du das kindisch? Vielleicht ist es das, aber ich kann nicht dafür.«

»Ich weiß nicht, was es ist, aber ich habe es an mir selbst erfahren, als ich damals im Ausland allein blieb. Meine Uhr wollte nicht gehen, und als ich sie dann vom Uhrmacher wieder bekam, und sie ging, da war es .. . so, wie du meinst. Es war wohltuend, es lag etwas eigenes in dem Gefühl – etwas wirklich Liebes.«

»Ja, nicht wahr! O, ich hätte sie geküßt, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre.«

»Wirklich?«

»Sag doch,« begann sie plötzlich, »du hast mir nie von Erik als Knaben erzählt. Wie war er eigentlich?«

»Alles, was gut und schön war, Fennimore. Prächtig, brav, in jeder Beziehung eines Knaben Ideal von einem Knaben, nicht gerade das Ideal einer Mutter oder eines Lehrers, aber jenes andere, das soviel besser ist.«

»Wie kamt ihr zusammen aus? Hieltet ihr viel voneinander?«

»Ja, weißt du, ich war ganz verliebt in ihn, und er hatte nichts dagegen, – so ungefähr war es; wir waren so verschieden, mußt du wissen; ich wollte immer Dichter und berühmt werden; aber weißt du, was er eines Tages antwortete, als ich ihn fragte, was er am liebsten werden möchte? – Ein Indianer, ein echter, roter Indianer mit Kriegszeichen und allem, was dazu gehört! Ich erinnere mich noch, daß ich es durchaus nicht verstehen konnte; ich begriff nicht, daß man wünschen konnte, ein Wilder zu sein; so zivilisiert war ich!«

»Aber ist es nicht sonderbar, daß er dann Künstler werden konnte?« sagte Fennimore, und es lag etwas Kaltes, Feindliches in dem Ton, mit dem sie fragte.

Niels merkte es und stutzte. »Ach nein,« sagte er dann, »es ist selten, daß Leute in ihrer ganzen Natur Künstler werden. Und gerade solche frischen, lebensfrohen Menschen wie Erik haben oft eine unendliche Sehnsucht nach dem, was zart und sein ist: das Feine, jungfräulich Kalte, das süß Erhabene, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Nach außen hin können sie robust und vollblütig genug sein, ja, sogar grob können sie sein, und niemand ahnt, was für wunderliche, romantische und gefühlvolle Geheimnisse sie mit sich herumtragen, weil sie so verschämt sind, seelisch verschämt; ich meine diese großen, schwertrabenden Mannsleute, so daß kein bleiches, junges Mädchen schamhafter in seiner Seele sein kann als sie. Begreifst du, Fennimore, daß solch ein Geheimnis, das nicht in einfachen Worten in die gewöhnliche, alltägliche Luft hinausgesprochen werden kann, einen Menschen zum Künstler zu stimmen vermag? Und sie können es nicht aussprechen, hörst du, sie können nicht; man muß daran glauben, daß es da ist und still innen lebt, wie eine Blumenzwiebel in der Erde, die doch einmal ihren duftenden, farbenzarten Blumenschatz zum Licht emporsendet. Begreifst du, verlange nichts von dieser Blütenkraft für dich selbst, glaube nur an sie, sei glücklich, sie nähren zu dürfen und zu wissen, daß sie ist. – Sei nicht böse, Fennimore, aber ich fürchte, daß du und Erik nicht so recht gut gegeneinander seid. Kann es nicht anders werden? Denk nicht daran, wer recht hat, oder an die Größe des Unrechts, du sollst nicht gerecht gegen ihn sein, denn wohin kämen die besten unter uns mit der Gerechtigkeit, nein, sondern denk an ihn, wie er war in der Stunde, wo du ihn am meisten geliebt; glaube mir, er ist es wert. Du darfst nicht messen, nicht wägen. Ich weiß, es gibt in der Liebe Augenblicke voll strahlender, feierlicher Ekstase, in denen man sein Leben für den Geliebten hingeben würde, wenn es sein müßte. Nicht wahr? Denk daran, Fennimore, vergiß es nicht, sowohl um seinet- wie um deiner selbst willen.«

Er schwieg. –

Auch sie sprach nicht, sie lag still da mit schwermütigem Lächeln auf den Lippen, bleich wie eine Blüte.

Dann erhob sie sich und streckte Niels die Hand entgegen.

»Willst du mein Freund sein?« sagte sie.

»Das bin ich, Fennimore,« und er nahm ihre Hand.

»Willst du, Niels?«

»Immer,« entgegnete er und führte ehrerbietig ihre Hand an die Lippen.

Dann erhob er sich, aufrechter dünkte es Fennimore, als sie ihn je gesehen.

Bald darauf kam Trine und meldete, daß sie zurück sei, und dann gab es Tee und schließlich eine Ruderfahrt in dem trübseligen Regen.

Am hellen Morgen kam Erik nach Hause, und als Fennimore ihn in dem kalten, wahrheitsliebenden Tageslicht sah, wie er sich auf das Schlafengehen vorbereitete, schwer und unsicher vom Trunk, glasäugig vom Spiel und schmutzigbleich von der durchwachten Nacht, da erschienen die schönen Worte, die Niels zu ihr gesprochen, ihr ganz phantastisch, und die freundlichen Gelübde, die sie in ihrem stillen Sinn getan, schwanden erbleichend vor dem zunehmenden Tag, nichts als Traumgaukelei und Gedankentand: eine edle Schar von Lügen.

Was konnte es helfen, dagegen zu kämpfen, bei der hoffnungslosen Last, die auf ihnen beiden lag? Es war so nutzlos, sich leicht zu lügen, ihr Leben würde ja doch niemals wieder auf Federn gehen. – Der Frost war gekommen; die wallenden Ranken mit Büscheln von Rosen, die sich um sie geschlungen und sie zusammengehalten, sie hatten jedes kleine Blatt, jede Blüte verloren, und nur noch die kahlen, zähen Weidenbänder waren übrig, die sie zu einem unauflöslichen Gewirr zusammenhielten. Was konnte es helfen, daß sie Gefühle vergangener Tage durch die Wärme der Erinnerungen zu künstlichem Leben erweckte, und ihren Götzen wieder auf seinen Sockel stellte, und den Glanz der Bewunderung in ihre Augen, Worte der Anbetung auf ihre Lippen, die Röte des Glücks auf ihre Wangen brachte, – was konnte es helfen, wenn er es nicht übernehmen wollte, der Priester dieses Götzen zu sein und ihr bei einem frommen Betrug zu helfen! Er! Er kannte ihre Liebe nicht einmal wieder, nicht ein einziges ihrer Worte war in seinem Ohr zurückgeblieben, kein Tag ihrer gemeinsamen Tage in seiner Seele aufbewahrt!

Nein, still und tot war ihrer Herzen schwellende Liebe; ihr Duft, ihr Licht, ihre Töne, alles war verweht; und doch konnten sie noch aus alter Gewohnheit dasitzen, er mit dem Arm um ihren Nacken, sie das Haupt an seine Schulter gelehnt, müde in Schweigen versunken, einander vergessend; sie, um sich an jenen Herrlichen zu erinnern, der er doch niemals gewesen, er, um sie sich wieder als jenes Ideal zu träumen, das er jetzt nur noch in den Wolken hoch über ihrem Haupte strahlen sah. – So war ihr Zusammenleben, und die Tage kamen und gingen und brachten keine Veränderung. Und Tag für Tag starrten sie auf die Wüste des Lebens hinaus und sagten sich, daß es eine Wüste sei, daß keine Blumen dort seien und auch keine Aussicht auf Blumen, auf Quellen oder grüne Palmen.

Je weiter der Herbst vorrückte, desto häufiger wurden Eriks Fahrten zu den Saufgelagen. Was nützte es denn, äußerte er gegen Niels, daß er zu Hause saß und auf Ideen wartete, die nie kamen, bis ihm die Gedanken im Kopf zu Stein wurden, übrigens gewährte ihm Niels Gesellschaft nicht viel Trost, er brauchte Leute, die Leben hatten, Leute, die lärmendes Fleisch und Blut waren, und nicht ein Spielwerk von schwachen Nerven. Niels und Fennimore waren daher oft alleine miteinander, denn Niels begab sich jeden Tag hinüber nach Marianelund.

Der Freundschaftsvertrag, den sie geschlossen, und die Worte, die an jenem Sonntagabend zwischen ihnen gefallen, hatten sie ungezwungener und ganz sicher in ihren Beziehungen zueinander gemacht, und, einsam, wie sie beide waren, schlossen sie eine innige, warme Freundschaft, die bald eine große Macht über sie gewann, und ihren Sinn derartig beschäftige, daß ihre Gedanken, ob sie nun getrennt oder beisammen waren, sich immer diesem Freundschaftsverhältnis zuwandten, wie Vögel, die an demselben Nest bauen, alles, was sie sammeln, und was sie verwerfen mit dem einen heimlichen Zweck vor Augen ansehen, das Nest so recht warm und weich für den andern und für sich selbst zu machen.

Wenn Niels hinüberkam und Erik fort war, so machten sie fast immer, ob es nun regnete oder stürmte, weite Spaziergänge durch den Wald, der an den Garten stieß. Sie hatten sich in diesen Wald verliebt, und je mehr sein Sommerleben zu Ende ging, desto lieber wurde er ihnen. Es waren ja dort auch tausende von Dingen zu sehen. Zuerst wie das Laub rot und gelb und braun wurde, dann wie es abfiel, an einem windigen Tage in gelben Wirbeln stiebend, wenn es still war, Blatt für Blatt auf Blatt leise zwischen den steifen Asten und den schwankenden, braunen Asten herabraschelnd. Und wie nun das Laub von Bäumen und Büschen fiel, wie kamen da nicht die verstecktesten Geheimnisse des Sommers ans Licht, was lag und saß da nicht umher an zierlichen Sämereien, und farbenreichen Beeren, braunen Nüssen, blanken Eicheln und niedlichen Eichelnäpfchen, Korallenbüscheln an den Berberitzen, schwarzglänzenden Schlehen und scharlachroten Urnen an den Hagebuttensträuchern. An den blätterlosen Buchen saßen dicht bei dicht stachlichte Bucheckern, und die Ebereschen beugten sich unter den schweren, roten Trauben, deren Duft säuerlich war wie Apfelmost. Späte Brombeeren lagen schwarz und braun im feuchten Laub am Wege, im Heidekraut wuchsen Preißelbeeren, und die wilden Himbeeren trugen zum zweitenmal ihre mattroten Früchte. Das Farnkraut hatte wohl hundert Farben, jetzt da es verwelkte; und nun erst das Moos, das war eine förmliche Entdeckung; nicht nur das kräftige Erdmoos an Abhängen und in den Gründen, das Ähnlichkeit hatte mit Tannen und Palmen und Straußfedern, sondern auch das seine Moos an Baumstämmen, das so aussah, wie man sich die Kornfelder der Elfen vorstellen mag, das in seinen, seinen Halmen, mit dunkelbraunen Knospen an den Spitzen wie Ähren aufschoß.

Eifrig wie Kinder durchschweiften sie den Wald kreuz und quer, um seine Schätze und Merkwürdigkeiten zu entdecken. Wie Kinder auch wohl zu tun pflegen, hatten sie sich in ihn geteilt, so daß das, was an der einen Seite des Fahrwegs lag, Fennimore gehörte, und das an der andern Seite Niels; oft verglichen sie ihre Reiche miteinander und stritten darüber, wessen Herrlichkeit die größte sei. Auch hatte alles seinen Namen, Klüfte und Hügel, Pfade und Zauntritte, Graben und Dämme. Und wenn sie hier und da einen besonders prächtigen Baum fanden, so bekam der auch seinen Namen. So hatten sie den Wald in jeder nur erdenklichen Weise in Besitz genommen, und so hatten sie sich eine kleine Welt für sich selbst geschaffen, die kein anderer kannte, und in der niemand sich bewegen konnte als sie – und doch hatten sie nicht ein Geheimnis miteinander, das nicht die ganze Welt hätte hören können.

Noch hatten sie keins.

Aber die Liebe war in ihren Herzen und zwar auch, wieder nicht da, gleichwie die Kristalle in einer übersättigten Lösung sind und doch nicht da sind; nicht da sind, bevor ein Splitter oder eine Faser vom Rechten sich in die Flüssigkeit senkt, und gleichsam mit einem Zauberschlag die schlummernden Atome ausscheidet, so daß sie sich entgegenfliegen, sich nach unerforschlichen Gesetzen ineinander keilen, Niete in Niete, und in einem Nu Kristall sind ... Kristall.

So war es auch eine Kleinigkeit, die sie empfinden ließ, daß sie liebten.

Es ist nichts dabei zu erzählen; es war ein Tag wie alle andern, sie waren allein im Wohnzimmer wie hundertmal zuvor, und sie hatten von gleichgültigen Dingen gesprochen, und was nach außen hin geschah, war so gewöhnlich und alltäglich wie möglich; es war nichts weiter, als daß Niels am Fenster stand und hinausblickte, und Fennimore ebenfalls hinkam und hinaussah; das war alles, aber es war genug; denn gleichsam wie durch einen Blitzstrahl verwandelten sich Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft für Niels Lyhne durch die Erkenntnis, daß er das Weib, das an seiner Seite stand, liebte; nicht wie etwas Leichtes und Süßes und Glückliches und Schönes, das ihn zu Glückseligkeit und Entzücken emporzuheben vermochte, – so war seine Liebe nicht; aber er liebte sie wie etwas, ohne daß er ebensowenig sein konnte, wie ohne Lebensodem; und wie einer, der dem Ertrinken nahe ist, um sich greift, so ergriff er ihre Hand und drückte sie ans Herz.

Und sie verstand ihn. Beinahe mit einem Schrei und in einem Ton voll Furcht und Jammer rief sie ihm wie eine Antwort und ein Bekenntnis zu: »O ja, Niels!« und entriß ihm die Hand.

Bleich und zögernd stand sie einen Augenblick da; dann sank sie mit einem Knie auf einen gepolsterten Stuhl, verbarg das Gesicht in der Sammetlehne und schluchzte laut.

Niels war während einiger Sekunden wie blind, und seine Hände suchten zwischen den Blumenzwiebelgläsern nach einer Stütze.

Das dauerte nur wenige Sekunden; dann trat er an den Stuhl, auf dem sie lag, und beugte sich mit der einen Hand auf die Lehne gestützt, über sie, ohne sie zu berühren.

»Sei nicht so verzweifelt, Fennimore, blick auf und laß uns miteinander reden. Willst du nicht? Fürchte nichts, laß es uns zusammen tragen, meine einzig Geliebte, laß uns! Versuche, ob du es kannst.«

Sie erhob den Kopf ein wenig und sah zu ihm auf. »O Gott, was sollen wir anfangen? – Ist es nicht fürchterlich, Niels? Warum mußte es mir so auf dieser Welt gehen? Und wie herrlich hätte es sein können – so glücklich!« und sie schluchzte wieder. –

»Hätte ich schweigen sollen,« klagte er, »arme Fennimore, hättest du es lieber niemals erfahren wollen?«

Wieder erhob sie den Kopf und griff nach seiner Hand. »Ich hätte es erfahren wollen und dann sterben; oh, läge ich im Grabe und wüßte es; das wäre so schön, oh, so wohlig und gut ...!«

»Es ist bitter für uns, Fennimore, daß das erste, was unsere Liebe uns bringt, nur Angst und Tränen sind, meinst du nicht auch?«

»Du darfst nicht hart gegen mich sein, Niels, ich kann ja nicht anders, du kannst es nicht so ansehn wie ich; ich bin's, die stark sein sollte, weil ich es bin, die gebunden ist; könnte ich meine Liebe mit Gewalt nehmen, und sie in die heimlichste Tiefe meiner Seele verschließen, und taub sein gegen all ihr Jammern und Flehen, und dann zu dir treten und sagen, daß du weit, weit fortreisen solltest; aber ich kann nicht, ich habe soviel gelitten; dies kann ich nicht auch noch ertragen, ich kann nicht, Niels, ich kann nicht ohne dich leben, sieh, kann ich es denn? Glaubst du, daß ich es könnte?«

Sie erhob sich und preßte sich an seine Brust.

»Hier bin ich und lasse dich nicht los; ich will dich nicht fortlassen und selbst in der alten Finsternis zurückbleiben. Es ist wie eine grundlose Tiefe von Ekel und Pein, ich will mich nicht hinstürzen, eher springe ich ins Wasser, Niels; und wenn das neue Leben auch Schmerzen bringt, so sind es doch neue Schmerzen, die nicht den stumpfen Stachel der alten haben, und die nicht so sicher treffen können, wie die alten, die mein Herz so grausam genau kennen. Rede ich irre? – Ja gewiß, aber es tut so wohl, ohne Rückhalt mit dir sprechen zu können, ohne mich mehr davor hüten zu müssen, dir all das viele zu sagen, was nicht recht war. Aber jetzt hast du ein Recht vor allen! Wenn du mich nur ganz hinnehmen möchtest, so daß ich ganz dein wäre, ohne daß auch nur das Geringste einem andern gehörte; könntest du mich herausheben aus allen Verhältnissen, die mich umgeben?«

»Wir müssen sie durchbrechen, Fennimore. Ich werde es so gut einrichten; hab' nur keine Angst; eines Tages, bevor noch jemand das Geringste ahnt, sind wir weit fort.«

»Nein, nein, wir dürfen nicht fortlaufen, nur das nicht; lieber alles andere, als daß meine Eltern erfahren sollten, ihre Tochter sei fortgelaufen; das ist unmöglich; und ich tue es nimmermehr, bei Gott im Himmel, Niels, ich tue es nimmermehr.«

»Oh, aber du mußt, mein Kind, du mußt; siehst du denn nicht die Schlechtigkeit und Niedrigkeit, die von allen Seiten um uns emporwächst, wenn wir bleiben, all die widerliche List und Falschheit und Verstellung, die uns umgarnen und zu Boden drücken und uns elend machen würden. Ich will dich nicht von all dem beflecken lassen; es soll sich nicht wie giftiger Rost in unsere Liebe fressen.«

Aber sie war unbeweglich.

»Du weißt nicht, wozu du uns verurteilst,« sagte er betrübt, »es wäre weit besser, wenn wir jetzt mit eisernem Absatz zuträten, statt zu schonen. Glaube mir, Fennimore, wenn wir uns unsere Liebe nicht alles sein lassen, das einzige und erste auf der Welt, das, was vor allem andern gerettet werden muß, so daß wir zuschlagen, wo wir lieber heilen möchten, und Kummer bringen, wo wir viel lieber jeden Schatten eines Kummers fern halten möchten, – wenn wir das nicht tun, so wirst du sehen, wie alles das, wovor wir uns beugen, sich schwer auf unsere Schultern legen und uns auf die Knie niederzwingen wird, unbarmherzig und unerbittlich. – Ein Kampf auf den Knien, du weißt nicht wie schwer der zu kämpfen ist. – Du darfst nicht weinen. Wir werden ihn trotzdem kämpfen, mein Mädchen, Seite an Seite, gegen alles.«

Während der darauffolgenden Tage fuhr Niels noch mit seinen Versuchen fort, sie zur Flucht zu überreden; dann aber begann er sich auszumalen, wie gewaltsam es Erik treffen würde, wenn er eines Tages heimkäme, und Freund und Gattin fort wären; nach und nach bekam das Ganze in seinen Äugen den Stempel der Unmöglichkeit; und er entwöhnte sich, daran zu denken, wie an so vieles noch, daß er anders gewünscht hätte; mit ganzer Seele gab er sich den Verhältnissen hin, wie sie waren, ohne einen bewußten Versuch, sie umzudichten oder durch phantastische Girlanden und Festons die Mängel fortzulügen. Aber wie süß war es auch zu lieben, einmal die Liebe des wirklichen Lebens zu lieben; denn das, was er früher für Liebe gehalten, war ja keine Liebe, weder die schwermütige Sehnsucht des Vereinsamten, noch das glühende Verlangen des Phantasten oder die ahnungsvolle Nervosität des Kindes; es waren Ströme in dem großen Ozean der Liebe, einzelne Reflexe ihres vollen Lichtes, Splitter der Liebe, gleichsam wie die Meteore, die die Luft durchrasen, die Splitter eines Weltkörpers sind; denn die Liebe, sie ist eine Welt, ein Ganzes, etwas Volles, Großes, Geordnetes. Keine wirre, inhaltlose Fahrt von Gefühlen und Stimmungen – die Liebe ist wie die Natur, ewig wechselnd und ewig gebärend, in ihr erstirbt keine Stimmung, welkt kein Gefühl, ohne dem Keim zu etwas noch Vollkommenerem, den sie in sich trägt, Leben zu geben. Ruhig, gesund, mit tiefen Atemzügen, so war es schön zu lieben, von ganzer Seele zu lieben. Und jetzt fielen die Tage neu und blank vom Himmel herunter, sie kamen nicht selbstverständlich aufeinander folgend, wie die abgenutzten Bilder eines Guckkastens; jeder von ihnen war eine Offenbarung, denn an jedem einzigen fand er sich selbst größer und stärker und gewachsener vor. Er hatte eine solche Innigkeit und Macht des Gefühls nie gekannt, und es gab Augenblicke, in denen er sich weit mehr Titan als Mensch dünkte, eine solche Unerschöpflichkeit spürte er in seinem Innern, eine so flügelstarke Zärtlichkeit schwoll in seinem Herzen empor, – so weit war sein Blick – so heroisch und mild war sein Urteil.

Dies war der Anfang und das Glück, und sie waren lange glücklich.

Die tägliche Falschheit und Verstellung, die Atmosphäre von Unehre, in der sie lebten, alles das hatte noch keine Macht, es konnte sie in der verzückten Höhe, zu der Niels das Verhältnis und dadurch sie beide emporgehoben hatte, noch nicht erreichen; denn er war nicht einfach ein Mann, der das Weib seines Freundes verführte, oder besser gesagt, er war es, er sagte voll Trotz, daß er es sei; aber er war auch derjenige, der eine schuldlose Frau erlöste, die vom Leben verwundet, versteinert und besudelt war; eine Frau, die sich bereits niedergelegt, um ihre Seele sterben zu lassen; und ihr hatte er das Vertrauen zum Leben wiedergegeben, den Glauben an seine besten Kräfte; er hatte ihren Geist zu Hoheit und Adel erhoben; er hatte ihr Glück gegeben; was war denn besser, jenes unverschuldete Elend, oder daß er sie errungen hatte? Er fragte nicht mehr, er hatte seine Wahl getroffen.

Ganz so hatte er es nicht gemeint. Der Mensch baut sich oft Theorien auf, in denen er doch nicht wohnen möchte; die Gedanken gehen oft so viel weiter als das Gefühl für Recht und Unrecht Lust hat, ihnen zu folgen. Aber jene Vorstellung bestand für ihn und nahm der fortwährend notwendigen List, Falschheit, Niedrigkeit und Erbärmlichkeit viel von ihrem ewig fressenden Eitergift.

Aber nach und nach mußten sie es doch spüren; es fraß an allzufeinen Nerven, um nicht bald Schaden zu tun und Schmerz zu verursachen; und dieser Zeitpunkt wurde dadurch beschleunigt, daß Erik kurz nach Neujahr meinte, er habe eine Idee, etwas mit einem grünen Überwurf, erzählte er Niels, und eine drohende Stellung. Ob er sich des Grüns in Salvator Rosas Jonas erinnern könne? So etwas Ähnliches.

Obgleich Eriks Arbeit nun zum größten Teil darin bestand, daß er im Atelier auf dem Sofa lag, Shag rauchte und Marryat las, so hielt ihn das doch eine Zeitlang viel zu Hause und zwang die beiden dadurch zu erneuter Vorsicht und machte neue Erfindungen und neue Lügen notwendig.

Daß Fennimore in dieser Richtung so erfinderisch war, brachte die erste Wolke am Himmel hervor. Anfangs war es nichts, nichts weiter als ein flockenflüchtiger vorüberjagender Zweifel bei Niels, ob seine Liebe vielleicht nicht edler sei als die, die er liebte. Aber dieser Gedanke war nicht bestimmt und klar, nur eine unklare Ahnung, die den Weg andeutete, ein undeutliches Schwanken seines Sinnes, das nach dieser Seite neigte. Aber es kam wieder und hatte mehr im Gefolge, zuerst auch vage und unbestimmt; dann aber jedesmal schärfer und schärfer. Und es war erstaunlich, mit welcher rasenden Eile es untergraben, erniedrigen, den Glanz rauben konnte. Ihre Liebe wurde nicht geringer; im Gegenteil, je tiefer sie sank, desto glühender und leidenschaftlicher wurde sie, aber diese Händedrücke, auf Treppen gestohlen, diese Küsse in Vorzimmern und hinter Türen, diese langen Blicke unter den Augen des Betrogenen – das alles raubte ihr den großartigen Stil. Das Glück stand nicht mehr still über ihren Häuptern, sie mußten sein Lächeln und sein Licht erhaschen, wo und wie sie konnten; List und Verschlagenheit waren keine traurige Notwendigkeit mehr, sondern erfreuliche Triumphe; die Falschheit wurde ihr wahres Element und machte sie so klein und gemein. Es gab auch entwürdigende Geheimnisse, über die sie früher getrauert hatten, jeder für sich, weil sie sich gegenseitig unwissend stellten; jetzt mußten sie teilen, denn Erik war nicht schüchtern, und es fiel ihm oft ein, seine Frau in Niels Gegenwart zu liebkosen, sie zu küssen, sie auf den Schoß zu nehmen und sie zu umarmen; und Fennimore wagte nicht, diese Liebkosungen zurückzuweisen, oder sie hatte nicht mehr wie früher die Macht dazu; das Bewußtsein ihrer Schuld machte sie unsicher und ängstlich.

So sank und sank ihrer Liebe hohes Schloß, von dessen Zinnen sie so stolz in die Welt hinabgeblickt, in dem sie sich so stolz und stark gefühlt.

Aber sie waren auch froh zwischen den Ruinen.

Wenn sie jetzt im Walde spazieren gingen, so geschah es meist an trüben Tagen, wo der Nebel in den braunen Zweigen hing und es zwischen den feuchten Stämmen noch dunkler machte, so daß niemand sehen konnte, wenn sie sich hier küßten, dort umarmten, niemand hören konnte, wenn ihre leichtsinnigen Worte in ausgelassenen Lachfanfaren ausklangen.

Jener Stempel von Melancholie der Ewigkeit, den ihre Liebe getragen, war ausgelöscht; eitel Lachen und Scherz herrschte jetzt zwischen ihnen; eine fieberhafte Eile war über sie gekommen, eine Gier nach den hinschwindenden Sekunden der Ewigkeit, als müßten sie sich beeilen zu lieben und hätten nicht das ganze Leben vor sich.

Es führte keine Veränderung mit sich, daß Erik seiner Idee nach Ablauf eines Monats müde wurde, und seine Fahrten von neuem so eifrig begann, daß er selten zwei Tage hintereinander zu Hause war. Wohin sie gefallen, dort blieben sie. Vielleicht daß sie einmal in einsamen Stunden klagend zu jener Höhe hinaufblickten, von der sie herabgefallen; vielleicht auch, daß sie nur verwundert dachten, wie anstrengend es gewesen, sich dort oben zu halten, und daß sie sich dort weicher gebettet dünkten, wo sie jetzt lagen. Keine Veränderung trat ein. Wenigstens keine, die zu den alten Tagen zurückgeführt hätte; jedoch die schlaffe Gemeinheit, die darin lag, daß sie lebten, wie sie lebten und doch nicht miteinander entflohen, kam ihnen mehr und mehr zum Bewußtsein und koppelte sie fester und niedriger in ihrem gemeinsamen Schuldgefühl aneinander; denn keiner von ihnen wünschte die Dinge anders, als sie waren. Ebensowenig verbargen sie dies voreinander, denn es war zu jener zynischen Vertraulichkeit zwischen ihnen gekommen, die leicht unter Mitschuldigen entsteht, und es gab garnichts in ihrem Verhältnis, das mit Worten zu berühren sie etwa gescheut hätten. Mit traurigem Mut nannten sie die Dinge bei dem rechten Namen, blickten ihnen ins Auge, sagten sie, wie sie waren.

Im Februar hatte es ausgesehen, als sei es mit dem Winter zu Ende, aber dann kam Mutter März in ihrem weißen Mantel mit dem losen Futter, und Schneegestöber auf Schneegestöber bedeckte die Erde mit einer dicken Schicht. Später wurde es still mit klingendem Frost, der Fjord trug viertelzolldickes Eis, das lange liegen blieb.

Gegen Ende des Monats saß Fennimore eines Abends nach der Teezeit allein im Wohnzimmer und wartete.

Es war sehr hell da drinnen, das Klavier, dessen Kerzen brannten, war geöffnet, der Schirm war von der Lampe genommen, so daß Goldleisten und alles, was an den Wänden hing, deutlich und wach hervortrat. Die Hyazinthen waren von den Fenstern fortgerückt und auf den Schreibtisch gestellt; sie bildeten jetzt einen Büschel glänzender Farben und erfüllten die Luft mit ihrem reinen, gleichsam kühlend starken Duft. Im Ofen brannte das Feuer mit gedämpftem, behaglichen Schnurren.

Fennimore ging auf und ab im Zimmer und balancierte beinahe auf einem der dunkelroten Streifen des Teppichs. Sie hatte ein etwas altmodisches schwarzes Seidenkleid an, das mit schweren Garnierungen auf dem Boden schleppte und sich, während sie ging, von einer Seite auf die andere legte.

Sie sang leise vor sich hin und hatte mit beiden Händen die Kette mattgelber Bernsteinperlen gefaßt, die sie um den Hals trug, und wenn sie auf ihrem roten Streifen schwankte, hörte sie auf zu singen, fuhr aber fort, die Kette zu halten. Vielleicht sollte ihr Gang ihr prophetisch sein, so, daß Niels kommen würde, wenn sie so und so viele Male durchs Zimmer gehen könnte, ohne von dem Streifen abzuweichen oder die Kette loszulassen.

Er war am Vormittag dort gewesen, als Erik fortgefahren, und war bis gegen Abend geblieben, aber er hatte versprochen, noch einmal herüberzusehen, sobald der Mond hervorkommen und es hell genug werden würde, um die Wuhnen draußen auf dem Fjord vermeiden zu können.

Fennimore war mit ihrer Prophezeiung zu Ende, welches Resultat diese auch gehabt haben mochte, und trat ans Fenster.

Es sah gar nicht aus, als ob der Mond heute abend vorkommen würde, so schwarz war der Himmel, und draußen auf dem graublauen Eise war es noch viel dunkler als am Lande, wo der Schnee lag. Es wäre das beste, wenn er fortbliebe. Mit einem resignierten Seufzer setzte sie sich an das Klavier; sofort stand sie wieder auf, um nach der Stutzuhr zu sehen. Dann kam sie zurück und stellte ganz resolut ein großes, dickes Notenbuch vor sich hin; trotzdem spielte sie nicht, sie blätterte geistesabwesend in dem Buche und versank dann in Gedanken.

Wenn er aber nun doch drüben am andern Ufer stände und seine Schlittschuhe anschnallte und im nächsten Augenblick hier wäre! Sie sah ihn so deutlich vor sich; er atmete ein wenig schwer nach dem Lauf und blinzelte hier im Zimmer ins Licht nach all der Dunkelheit da draußen. Er brachte eine solche Kälte mit sich herein, und sein Bart war voll winzig kleiner, blitzender Tropfen. Und dann würde er sagen – ja, was würde er sagen?

Sie lächelte und blickte zu Boden.

Und noch immer kein Mond.

Sie trat wieder ans Fenster und blieb stehen und sah in die Dunkelheit hinaus, bis diese sich vor ihren Augen mit kleinen weißen Funken und regenbogenfarbigen Ringen füllte. Aber sie waren ganz unbestimmt. Sie wünschte, daß draußen ein Feuerwerk wäre, Raketen, die in langen, langen Streifen aufstiegen und dann zu kleinen Schlangen wurden, die sich in den Himmel bohrten und dann mit einem Knall vergingen –; oder auch eine große, große, matte Kugel, die oben in der Luft erzitterte und dann in einem Regen tausendfarbiger Sterne langsam herabsank; seht doch! Seht! So weich und rund, gleichsam wie ein Neigen, wie ein Goldregen, der sich neigt. – Fahr' wohl, fahr' wohl! Das waren die letzten. – Herrgott, daß er noch immer nicht kam! – und spielen wollte sie nicht. Im selben Augenblick wandte sie sich zum Klavier, schlug hart eine Oktave an und hielt die Tasten nieder, bis der Ton ganz verklungen war, und dann wieder und wieder und wieder. Sie wollte nicht spielen. Nicht spielen, nicht spielen. – Aber dafür tanzen! Einen Augenblick schloß sie die Augen und rauschte in Gedanken durch einen Saal in Weiß und Rot und Gold. – Wie herrlich wäre es, getanzt zu haben, erhitzt und durstig zu sein und Champagner zu trinken. Da fiel ihr ein, wie sie und eine Freundin, da sie noch in die Schule gegangen, Champagner aus Sodawasser und Eau de Cologne bereitet, und dann so krank geworden waren, nachdem sie es getrunken.

Sie richtete sich empor, ging durchs Zimmer und ordnete instinktmäßig ihren Anzug wie nach dem Tanze.

»Wie, wenn ich jetzt vernünftig würde«, sagte sie halblaut, nahm ihre Arbeit und setzte sich in einem großen Lehnstuhl neben der Lampe zurecht.

Aber sie war nicht fleißig, ihre Hände sanken bald in den Schoß, und nach und nach kroch sie in dem ganzen Stuhl zusammen, rollte sich förmlich auf, zog das Kleid um die Füße und stützte die Hand ins Kinn.

Voll Neugierde fragte sie sich, ob andere Frauen auch wohl seien wie sie, ob sie einen Irrtum begangen hätten und unglücklich geworden wären und dann einen anderen geliebt hatten. Der Reihe nach nahm sie die Damen daheim in Fjordby vor. Dann dachte sie an Frau Boye. Niels hatte ihr von Frau Boye erzählt, und es war immer ein irritierendes Rätsel für sie gewesen, dies Frauenzimmer, das sie haßte, und durch das sie sich gedemütigt fühlte.

Erik hatte auch einmal erzählt, daß er rasend verliebt gewesen in Frau Boye.

Wer doch alles über sie wüßte!

Sie lachte beim Gedanken an Frau Boyes neuen Mann. Und während der ganzen Zeit, wo dies sie beschäftigte, sehnte sie sich nach Niels und horchte auf ihn und dachte sich ihn kommend, über das Eis immer näher kommend. Sie ahnte nicht, daß bereits seit zwei Stunden ein kleiner, schwarzer Punkt sich von einer ganz anderen Seite über schneebedeckte Felder zu ihr hingearbeitet, mit ganz anderer Botschaft als die, welche sie über den Fjord her erwartete. Es war nur ein Mann in Fries und Schmierleder, und jetzt klopfte er an das Küchenfenster und erschreckte das Mädchen.

Es sei ein Brief da, sagte Trine, als sie zur gnädigen Frau ins Zimmer trat.

Fennimore nahm ihn, es war eine Depesche. Ruhig gab sie dem Mädchen die Quittung und ließ es gehen; sie war durchaus nicht erschrocken, Erik hatte in der letzten Zeit oft an sie telegraphiert, daß er am nächsten Tage mit ein paar Fremden kommen würde.

Dann las sie.

Plötzlich erblaßte sie, fuhr entsetzt von ihrem Stuhl empor und starrte mit erwartungsvoller Furcht nach der Tür.

Sie wollte es nicht herein haben, sie konnte nicht; mit einem Satz hatte sie sich gegen die Tür geworfen und stemmte ihre Schulter dagegen, sie drehte an dem Schlüssel, bis er ihr tief in die Hand schnitt. Aber wie fest sie ihn auch faßte, er wollte sich nicht drehen lassen. Dann ließ sie ihn los. Es war ja auch wahr –, es war ja nicht hier, weit fort von hier in einem fremden Hause.

Sie begann zu zittern, die Füße trugen sie nicht länger, und sie sank an der Tür zu Boden.

Erik war tot. Die Pferde waren mit ihm durchgegangen, hatten den Wagen an einer Straßenecke umgeworfen, und er war mit dem Kopf an eine Mauer geschleudert. Der Schädel war zermalmt, und jetzt lag er tot in Aalborg. So hatte es sich zugetragen, und das meiste davon stand im Telegramm. Außer dem weißhalsigen Hauslehrer, dem Araber, war niemand mit auf dem Wagen gewesen, und der hatte telegraphiert.

Sie lag auf der Erde und jammerte leise vor sich hin, die beiden Hände hatte sie flach auf den Teppich gestemmt; den ausdruckslosen, starren Blick zu Boden gesenkt, wiegte sie sich hilflos mit dem Oberkörper hin und her.

Vor einem Augenblick noch war es so hell und duftend um sie her gewesen, und wie gern sie auch wollte, so mit einmal konnte sie das alles doch nicht aufgeben um der pechschwarzen Nacht des Schmerzes und der Reue willen. Es war nicht ihre Schuld, aber in ihrem Bewußtsein spukte es noch immer mit strahlenden Funken von Liebesglück und Liebeslust; und mächtige und törichte Wünsche brachen sich Bahn und verlangten nach der Seligkeit des Vergessens oder danach, mit krampfhaft wildem Ruck das Rad der Begebenheiten zurückrollen zu können.

Aber das ging schnell vorüber.

In schwarzen Schwärmen von allen Seiten kamen die düsteren Gedanken wie Raben herangeflogen, angelockt von der Leiche ihres Glückes; Schnabel an Schnabel hieben sie auf sie ein, während des Lebens Wärme noch in ihr weilte. Und sie zerfetzten und zerrissen sie und machten sie widerlich und unkenntlich; jeder Zug wurde entstellt und verzerrt, bis sie ein Aashaufen von Scheußlichkeit und Widerlichkeit geworden.

Sie erhob sich und ging umher, indem sie sich wie eine Kranke auf Tische und Stühle stützte; verzweifelt blickte sie empor wie nach einem Spinngewebe von Hilfe, nach nur einem Trostesblick, einer kleinen, mitleidigen Liebkosung, aber ihr Auge begegnete nur den hellbeleuchteten Familienporträts, all diesen Fremden, die Zeugen ihres Falles und ihres Verbrechens gewesen, schläfrige, alte Herren, Matronen mit verzerrtem Munde, und dann das ewige Gnomenkind, das sie überall hatten, das kleine Mädchen mit den großen, runden Augen und der höckerigen Stirn. An all dies fremde Eigentum knüpften sich nun doch genug Erinnerungen; der Tisch dort, jener Stuhl, der Schemel mit dem schwarzen Pudelhund, die schlafrockähnliche Portiere, all diese Dinge hatte sie mit Erinnerungen gesättigt, buhlerischen Erinnerungen, die sie ihr jetzt entgegenspien und ihr nachwarfen. – Oh, es war fürchterlich, mit all diesen Gespenstern der Sünde und mit sich selbst eingesperrt zu sein; sie schauderte vor sich zurück, sie drohte ihr, der schamlosen Fennimore, die sich zu ihren Füßen krümmte, sie riß ihr das Kleid aus den flehenden Händen fort. Gnade! Nein, keine Gnade, wie konnte es Gnade geben vor jenen toten Augen in der fremden Stadt, die jetzt, wo sie gebrochen, sahen, wie sie seine Ehre in den Staub getreten, wie sie an seinen Lippen gelogen, wie sie treulos gewesen an seinem Herzen.

Sie fühlte, wie sie auf sie geheftet waren, diese toten Augen, sie wußte nicht, woher, sie wand sich unter ihrem Blick, um ihnen zu entgehen, aber sie folgten ihr immer und glitten wie zwei erstarrende Strahlen über sie hin; und während sie so niederstarrte, und jeder Faden des Teppichs und jeder Stich auf den Schemeln in dem starken, scharfen Licht vor ihren Augen unnatürlich deutlich wurden, merkte sie, wie Totenschritte um sie hergingen, wie sie deutlich ihr Kleid streiften, so daß sie voll Entsetzen aufschrie und zur Seite wich; und dann war es vor ihr wie Hände und doch wieder keine Hände, etwas, das langsam nach ihr griff, höhnisch und triumphierend nach ihrem Herzen griff, diesem Wunder von Falschheit dieser Perle an Treulosigkeit! Und sie wich zurück, bis sie gegen den Tisch stieß, aber es war noch immer da, und ihre Brust bot keinen Schutz dagegen; es griff durch Haut und Fleisch wie ... Sie starb beinahe vor Angst, wie sie so dastand und sich wehrlos über den Tisch zurückkrümmte, während sich jeder Nerv in Erwartung verkürzte, und ihre Augen starrten, als sollten sie in ihren Höhlen gemordet werden.

Dann ging es vorüber.

Sie sah mit unsicherem Blick umher, sank auf die Knie und betete lange. Sie bereute und bekannte, wild und rücksichtslos, in stets wachsender Leidenschaftlichkeit, mit demselben fanatischen Haß gegen sich selbst, der die Nonne dazu bringt, ihren nackten Körper zu geißeln. Begeistert suchte sie nach gemeinen Worten und berauschte sich an Selbsterniedrigung und Demütigung, die nach Gemeinheit verlangte.

Endlich stand sie auf. Ihre Brust hob sich heftig und unruhig, auf ihren bleichen Wangen, die während des Gebets voller geworden zu sein schienen, lag ein matter Glanz.

Mit einem Blick, als ob sie sich im stillen etwas gelobte, sah sie im Zimmer umher, dann ging sie in das dunkle Nebenzimmer, schloß die Tür hinter sich, stand einen Augenblick still, um sich an das Dunkel zu gewöhnen, tastete sich hin zu der Tür, die auf die geschlossene Glasveranda führte, und trat hinaus.

Hier war es heller; der Mond, der inzwischen hervorgekommen, schien durch die Kristalle der geschlossenen Glaswand gelblich durch die Scheiben selbst, rot und blau durch das bunte Glas, das den Rahmen um die Scheiben bildete.

Mit der Hand taute sie an einer Stelle das Eis auf und trocknete das Wasser sorgfältig mit ihrem Taschentuch fort.

Noch war niemand draußen auf dem Fjord zu sehen.

Sie begann in ihrem Glaskäfig auf und ab zu gehen. Hier standen keine anderen Möbel als ein Sofa aus gebogenem Holz, und dieses lag voll welker Efeublätter, von den Ranken da oben unter der Decke. Jedesmal, wenn sie vorüberging, raschelten die Blätter leise im Luftzug, und dann und wann fand ihr Kleid auch Laub auf dem Fußboden und zog es mit kratzendem Laut mit sich über die Dielen.

Der Kälte trotzend und die Arme über der Brust gekreuzt, ging sie auf ihrer traurigen Wacht hin und her.

Er kam.

Mit einem Ruck hatte sie die Tür geöffnet und trat mit ihren dünnen Schuhen auf den eisigen Schnee.

Sie gönnte sich dies; barfüßig hätte sie zu dieser Begegnung gehen mögen.

Beim Anblick der schwarzen Gestalt auf dem weißen Schnee hatte Niels seine Fahrt gemäßigt und kam nun mit zögernden, prüfenden Schwenkungen langsam an Land.

Es war, als brenne diese schleichende Gestalt ihr in die Augen. Jede Bewegung, jeder Zug, den sie wiedererkannte, traf sie wie ein schamloser Hohn, gleichsam prahlend mit seinen entwürdigenden Geheimnissen. Sie zitterte vor Haß, ihr Herz quoll über von Flüchen, und sie war ihrer selbst kaum mächtig.

»Ich bin's,« rief sie ihm höhnend entgegen, »die Dirne Fennimore.«

»Aber um Gottes willen, du Liebe?« fragte er verwundert, jetzt nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt.

»Erik ist tot.«

»Tot?! Wie?« Er mußte mit seinen Schlittschuhen in den Schnee treten, um nicht umzufallen. »Aber so sag' doch!«, und eifrig trat er noch einen Schritt näher.

Jetzt standen sie sich Angesicht zu Angesicht gegenüber, und sie mußte sich Gewalt antun, um nicht mit der geballten Faust in diese bleichen, verstörten Züge zu schlagen.

»Ich werde es dir schon sagen,« sprach sie, »er ist tot, wie ich gesagt, die Pferde sind in Aalborg mit ihm durchgegangen, sein Kopf ist zerschmettert, und wir gingen hier umher und betrogen ihn.«

»Das ist schrecklich,« stöhnte Niels und faßte sich an die Schläfen, »wer hätte auch ahnen können ... ah! Wären wir ihm doch treu gewesen, Fennimore. Erik, armer Erik! – Wäre ich es doch gewesen!« Und er schluchzte laut und krümmte sich vor Schmerz.

»Ich hasse dich, Niels Lyhne.«

»Bah! Wir!« stöhnte Niels ungeduldig, »wenn wir ihn nur wiederhätten. Arme Fennimore,« verbesserte er sich dann, »kümmere dich nicht um mich. Du sagst, du hassest mich? Das magst du tun, ja, das magst du.« Plötzlich richtete er sich auf. »Laß uns hineingehen,« sagte er, »ich weiß nicht mehr, was ich sage. Wer, sagtest du, hat telegraphiert?«

»Hinein!« schrie Fennimore, die heftig wurde, weil er ihre Feindseligkeit nicht beachtete. »Dort hinein! Nimmermehr wirst du deinen feigen, ehrlosen Fuß in dieses Haus setzen. Wie wagst du nur daran zu denken, du Elender, du falscher Hund, der du hierhergeschlichen kamst und deines Freundes Ehre stahlst, weil sie schlecht verwahrt war. Wie, hast du sie nicht vor seinen Augen gestohlen, weil er glaubte, du seist ehrlich, du Hausdieb!«

»Still, still, du bist wahnsinnig! Was ficht dich an? Was für Worte gebrauchst du!« Er hatte sie fest beim Arm gepackt und nähergezogen und sah ihr erstaunt ins Gesicht. »Du mußt dich fassen,« fuhr er in milderem Tone fort, »was kann es nützen, Kind, mit so häßlichen Worten um sich zu schlagen.«

Sie riß ihren Arm von ihm los, so daß er auf seiner unsicheren Grundlage zu schwanken begann.

»Hörst du denn nicht, daß ich dich hasse!« jammerte sie, »ist denn nicht soviel vom Gehirn eines ehrlichen Mannes in dir, daß du das begreifst? Wie blind muß ich gewesen sein, als ich dich liebte, du zusammengelogener Mensch, während ich ihn zur Seite hatte, der zehntausendmal besser war als du. Ich werde dich hassen und verachten bis an mein Lebensende. Als du damals kamst, war ich rechtschaffen; ich hatte nie etwas Böses getan, aber da kamst du mit deiner Poesie und deinem Dreck und logst mich hinunter zu dir in den Schmutz. Was hatte ich dir denn getan, daß du mich nicht in Ruhe lassen konntest, mich, die ich dir vor allen andern hätte heilig sein sollen. Tagaus, tagein muß ich nun mit diesem Schandfleck auf meiner Seele leben, und nie kann ich mit der Geringsten einer zusammentreffen, ohne mir sagen zu müssen, daß ich noch geringer bin. All meine Jugenderinnerungen hast du vergiftet. An was kann ich jetzt noch zurückdenken, das gut und rein wäre. Das hast du ausgelöscht, alles! Nicht nur er ist tot, alles, was zwischen ihm und mir Lichtes und Gutes gewesen, ist auch tot und verfault. Oh, Gott helfe mir, ist es gerecht, daß ich keine Rache an dir nehmen kann nach allem, was du mir getan? Mach mich wieder rechtschaffen, Niels Lyhne, mach mich wieder fleckenlos und gut. Nein, nein. – Aber es müßte so sein, daß man dich foltern könnte, bis du dein Unrecht wieder gutgemacht. Kannst du, kannst du es fortlügen? Steh nicht dort und kriech in dich zusammen in deiner Hilflosigkeit; leide hier vor meinen Augen, winde dich in Pein und Verzweiflung, und sei elend; laß ihn elend sein, Herrgott, laß ihn mir nicht auch noch die Rache stehlen. Geh, du Elender, geh, ich werfe dich von mir, aber ich schleppe dich mit mir, glaub es, durch all die Qualen, die ich auf dich herabhassen kann.«

Sie hatte die Arme drohend nach ihm ausgestreckt, jetzt wandte sie sich ab und ging; leise klirrte die Tür der Veranda hinter ihr.

Erstaunt, fast ungläubig, stand Niels da und blickte den Weg entlang, den sie gegangen; ihm war, als stände es noch vor ihm, das bleiche, rachedurstige Antlitz, das so seltsam gemein und roh in seiner Leidenschaftlichkeit und seiner gewohnten formenzarten Schönheit so ganz beraubt war, daß es aussah, als sei es in all seinen Linien von einer schonungslosen, unbarmherzigen Hand umgepflügt.

Er stolperte vorsichtig auf das Eis zurück und begann, mit dem Mondlicht vor sich und dem Wind im Rücken, langsam der Fjordmündung zuzulaufen. Nach und nach, als seine Gedanken die Aufmerksamkeit von der Umgebung ablenkten, lief er schneller, und die Eissplitter vom Eisen seiner Schlittschuhe rasselten, von dem stets zunehmenden Frostwinde getrieben, klirrend mit ihm über die blanke Fläche.

Also das war das Ende! So also hatte er die Frauenseele erlöst und sie emporgehoben und ihr Glück gegeben! Wie schön war es, das Verhältnis zu dem toten Freunde, seinem Jugendfreunde, für den er Zukunft, Leben und alles hatte opfern wollen! Er mit seinem Opfern und Erlösen! Himmel und Erde sollten ihn ansehen, wenn sie einen Mann sehen wollten, der sein Leben auf der Höhe der Ehre erhielt, ohne Flecken und ohne Fehler, damit er nicht auch einen Schatten auf die Idee werfe, der er diente, und die zu verkünden er berufen war!

Er lief weiter.

Das war nun auch so einer von seinen großprahlerischen Gedanken, daß sein erbärmliches Leben Flecken auf die Sonne der Idee werfen könnte. Herrgott! Stets mußte er alles so hoch nehmen! Das war ihm nun einmal angeboren; konnte er nichts Besseres werden, so wollte er wenigstens ein Judas sein und sich in großartiger Unheimlichkeit Ischariot nennen. Das klang doch nach etwas. – Mußte er sich denn stets gebärden, als sei er verantwortlicher Minister bei der Idee und Mitglied ihres geheimen Staatsrates, der alles, was die Menschheit betraf, aus erster Hand hatte! – Ob er niemals lernen würde, in aller Bescheidenheit danach zu streben, seine Pflicht im Garnisondienst der Idee zu tun als Gemeiner niederen Ranges?

Auf dem Eise waren rote Feuer, und er kam so nahe an ihnen vorüber, daß ein riesenhafter Schatten für einen Augenblick aus seinen Füßen herausschoß, sich nach vorwärts drehte und verschwand.

Er dachte an Erik und an den Freund, der er für Erik gewesen. Oh, er! Die Kindheitserinnerungen rangen die Hände über ihn; die Jugendträume verhüllten ihr Antlitz und weinten über ihn; seine ganze Vergangenheit sah ihm mit einem langen, vorwurfsvollen Blicke nach. Diesem allen war er so treulos gewesen um einer Liebe willen, die so klein und niedrig wie er selbst. – Trotzdem war etwas Erhabenes in ihrer Liebe gewesen; auch dem war er treulos geworden. Wohin fliehen vor all diesen Anläufen, die immer im Grabe endeten? Sein ganzes Leben war nichts anderes gewesen, und auch in Zukunft würde es nicht anders werden, er wußte es, er fühlte es so sicher, daß er krank wurde bei all dieser Aussicht auf all diese unnütze Mühe, und von ganzer Seele wünschte, daß er diesem sinnlosen Schicksal entfliehen könnte. Wenn nur das Eis unter ihm brechen wollte, wie er so darüber hinfuhr, und alles mit einem Aufschnappen und Hinabsinken in das kalte Wasser vorüber wäre.

Ermattet vom Lauf blieb er stehen und blickte zurück. Der Mond war fort, und der Fjord lag dunkel und lang zwischen den weißen Hügeln des festen Landes. Nun kehrte er um und arbeitete gegen den Wind an. Dieser war stark, und er war müde. Er suchte windsicher ans hohe Ufer zu gelangen, aber als er so vorwärtsrang, kam er auf eine Windwuhne, und das dünne Eis gab mit knisterndem, zähen Knacken unter ihm nach.

Wie leicht ward ihm aber doch ums Herz, als er wieder auf festes Eis kam! Die Angst hatte die Müdigkeit beinahe verjagt, und kräftig steuerte er vorwärts.

Während er sich draußen mühte, saß Fennimore im hellerleuchteten Zimmer, enttäuscht und zermartert. Sie kam sich wie um ihre Rache betrogen vor, sie wußte nicht, was sie erwartet hatte, aber es war etwas ganz anderes gewesen; ihr hatte etwas Erhabenes und Mächtiges, etwas wie Schwerter und rote Flammen vorgeschwebt, oder auch das nicht, etwas, das sie trug und sie auf einen Thron setzte; und nun war es so kleinlich und alltäglich ausgefallen, und sie war sich mehr wie eine Zänkerin vorgekommen, als eine, die verflucht...

Sie hatte doch etwas von Niels gelernt.

 

Früh am nächsten Morgen, als Niels von Ermüdung überwältigt noch schlief, reiste sie ab.


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