Jens Peter Jacobsen
Niels Lyhne
Jens Peter Jacobsen

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6. Kapitel

Student Lyhne – Frau Boye; Student Petersen – Frau Boye.«

Es war Erik, der vorstellte, und zwar in Mikkelsens Atelier, einem großen, hellen, zwölf Ellen hohen Raum mit festgestampftem Lehmboden, an der einen Wand zwei große Tore, die ins Freie führen und in den anderen Türen zu den dahinterliegenden kleinen Ateliers. Der Staub von Ton und Gips und Marmor hatte alles da drinnen grau gefärbt; er hatte die Spinnweben an der Decke dick wie Bindfaden gemacht und Flußkarten auf die großen Scheiben gezeichnet; er lag in den Augen, Mund und Nasen, in den Muskelstreifen, Locken und Gewändern der unzähligen Abgüsse, die sich wie ein Fries von der Zerstörung Jerusalems auf langen Borden rings um den Raum zogen; und die Lorbeerbäume in der Ecke an der Eingangstür, die hohen Lorbeerbäume in ihren großen Kübeln hatte er grauer gepudert als graue Oliven.

Erik, in Bluse und die Papiermütze auf dem dunkeln lockigen Haar, stand mitten im Atelier und modellierte; er trug jetzt einen Schnurrbart und sah sehr männlich aus im Vergleich zu seinen bleichen, durch das Examen abgespannten Freunden, die so provinzhaft brav aussahen in ihren allzu neuen Kleidern und dem zu kurz geschorenen Haar unter den fast zu großen Studentenmützen.

Nicht weit von Eriks Gerüst saß Frau Boye auf einem niedrigen, hochlehnigen Holzstuhl, ein feines Buch in der einen Hand, einen kleinen Klumpen Ton in der andern. Klein war sie, ein wenig zu klein und leicht brünett, mit klarbraunen Augen und weißem Teint, der im Schatten der Rundungen mattgolden wurde und gut zu dem glanzvollen Haar paßte, dessen Dunkel im Licht den Ton braungebrannter Blondheit annahm.

Sie lachte, als sie kamen, wie ein Kind lachen kann, so erleichternd lange und lustig laut, so vergnügt und befreiend, und der offene Blick eines Kindes lag in ihren Augen, das aufrichtige Lächeln eines Kindes spielte um ihren Mund, der dadurch noch kindlicher wurde, daß die zu kurze Oberlippe die milchweißen Zähne fast nie verdeckte und der Mund stets ein wenig geöffnet war.

Aber sie war kein Kind.

War sie wohl schon dreißig?

Die volle Form des Kinnes sagte nicht nein, ebenso wenig wie die glühende Reife der Unterlippe; sie war voll von Wuchs mit reichen, festen Formen, die stark betont wurden durch ein dunkelblaues Kleid, das in der Taille, um Brust und Arme fest anschloß wie ein Reitkleid. Um Hals und Schultern lag faltenreich ein dunkles blutrotes Seidentuch, dessen Enden in dem spitzen Ausschnitt des Kleides verschwanden; im Haar trug sie Nelken in der Farbe des Tuchs.

»Ich fürchte, wir unterbrechen Sie in einer angenehmen Lektüre«, sagte Frithjof mit einem Blick auf das feine Buch.

»Nicht im geringsten, o nein; über das, was wir lasen, haben wir uns seit einer Stunde gestritten,« antwortete Frau Boye und sah Frithjof mit großen, unausweichlichen Augen an; »Herr Refstrup ist solch ein Idealist in allen Dingen der Kunst, und ich finde das alles so langweilig, das mit der rauhen Wirklichkeit, die geläutert und geklärt und wiedergeboren und was sonst noch alles werden soll, bis nichts mehr davon übrigbleibt; tun Sie mir den Gefallen und sehen Sie jene Bachantin von Mikkelsen an, die der taube Traffelini dahinten kopiert; wenn ich sie in einen beschreibenden Katalog aufführen sollte. ... Herr du meine Güte! »Nr. 77. Eine junge Dame im Negligé steht nachdenklich auf ihren Beinen und weiß nicht, was sie mit einer Weintraube anfangen soll.« – Sie sollte die Weintraube zerquetschen, wenn ich zu sagen hätte, so daß der rote Saft ihr über die Brust liefe, was? nicht wahr? Habe ich nicht recht?« und mit kindlichem Eifer faßte sie Frithjofs Arm und beinahe heftig rüttelte sie ihn.

»Ja«, gab Frithjof zu, »ja, das möchte ich auch sagen, es fehlt das – Frische – Unmittelbare – – – –«

»Ach, das Natürliche fehlt, Herr Gott, warum können wir denn nicht natürlich sein? Oh, ich weiß es sehr gut, nur der Mut fehlt uns dazu. Weder die Künstler noch die Dichter haben den Mut, vom Menschen auszusagen, wie er ist. – Shakespeare, der hatte ihn.«

»Ja, Sie wissen doch schon«, sagte Erik hinter seiner Figur hervor, »Shakespeare, mit dem kann ich nicht auskommen, er tut darin zu viel; mir ist, als jage er mit einem herum, bis man zuletzt gar nicht mehr weiß, was eigentlich was ist.«

»Das möchte ich nicht sagen«, wandte Frithjof tadelnd ein, »aber«, fügte er mit entschuldigendem Lächeln hinzu, »ich kann allerdings die Berserkerwut des großen englischen Dichters nicht wirklich bewußten und verständigen Künstlermut nennen.«

»Nicht! – ach Gott, wie amüsant Sie sind!« und sie lachte, was sie lachen konnte, indem sie aufstand und durch das Atelier ging. Plötzlich wandte sie sich um, streckte die Arme gegen Frithjof aus und rief: »Gott segne Sie!« und dabei krümmte sie sich vor Lachen bis zur Erde.

Frithjof war fast beleidigt, aber es war so umständlich, im Zorn fortzugehen; überdies hatte er ja vollständig recht in dem, was er gesagt, und dann war die Frau auch so hübsch. Er blieb also und ließ sich mit Erik in ein Gespräch ein, wobei er im Hinblick auf Frau Boye einen Ausdruck überlegener Nachsicht in seine Stimme zu legen suchte.

Inzwischen streifte Frau Boye am andern Ende des Ateliers umher, mit einem leisen, nachdenklichen Summen, das sich bald zu schnellem, kichernden Trillern steigerte, bald in langsam-feierlichem Rezitativ einherschwebte.

Auf einer großen Holzkiste stand ein junger Augustuskopf; von dem begann sie den Staub abzuwischen, dann nahm sie ein Stückchen Ton und machte ihm daraus Schnurrbart und Kinnbart und Ringe, die sie ihm in die Ohren schob.

Während sie sich damit beschäftigte, war Niels unter dem Vorwand, die Abgüsse auf den Regalen zu betrachten, ganz nahe an sie herangekommen. Sie hatte nicht nach ihm hingesehen; trotzdem mußte sie ihn nahe wissen, denn ohne sich umzusehen, streckte sie ihm die Hand hin und bat ihn, Eriks Hut zu holen.

Niels gab ihr den Hut in die immer noch ausgestreckte Hand und sie nahm ihn und setzte ihn dem Augustuskopf auf.

»Alter Shakespeare«, sagte sie zärtlich und streichelte die Wange der travestierten Büste, »dummer, alter Bursche, der nicht wußte, was er tat. – Saß da und stocherte in der Tinte und rührt einen Hamletkopf zurecht, ohne sich etwas dabei zu denken, nicht wahr?« Sie lüftete den Hut der Büste und ließ ihr mütterlich die Hand über die Stirn gleiten, als wolle sie ihr das Haar zurückstreichen. »Alter, glücklicher Kerl trotzdem. Alter, gescheiter Dichterjunge! Denn nicht wahr, Herr Lyhne, das muß man doch zugeben, daß er ein gescheiter Literat war, dieser Herr Shakespeare!«

»Ja, nun, ich habe meine eigene Ansicht über den Mann«, entgegnete Niels ein wenig beleidigt und errötete.

»Herr Gott! Haben Sie auch eine eigene Ansicht über Shakespeare! – was meinen Sie denn? Sind Sie für uns oder gegen uns?« Und dabei stellte sie sich lächelnd neben die Büste und legte den Arm um ihren Nacken.

»Ich kann nicht sagen, ob die Meinung, über deren Vorhandensein bei mir Sie sich wundern, das Glück hat, dadurch Bedeutung zu erlangen, daß sie mit der Ihren übereinstimmt; aber ich glaube doch, sagen zu können, daß sie für Sie und Ihren Protegé ist; jedenfalls meine ich bestimmt, daß er wußte, was er tat, erwog, was er tat und wagte, was er tat. Manches Mal hat er es im Zweifel gewagt, so daß man den Zweifel heute noch spürt, manchmal hat er es auch nur halb gewagt und mit neuen Zügen das verwischt, was er so, wie es war, nicht stehenzulassen wagte. ...«

Und in dieser Art sprach er weiter.

Während er sprach, wurde Frau Boye immer unruhiger; nervös blickte sie bald nach der einen, bald nach der andern Seite und spielte ungeduldig mit den Fingern, während ein bekümmerter und schließlich leidender Ausdruck ihr Gesicht mehr und mehr verfinsterte.

Endlich konnte sie sich nicht länger beherrschen.

»Vergessen Sie nicht, was Sie sagen wollten!« unterbrach sie, »aber ich bitte Sie, Herr Lyhne, lassen Sie endlich das mit der Hand, – diese Bewegung, als ob Sie Zähne ziehen wollten; ja, bitte, lassen Sie das?! Und nun lassen Sie sich nicht stören, ich bin wieder aufmerksam, und ich bin ganz einig mit Ihnen!«

»Gut, dann brauch ich ja nichts mehr zu sagen!«

»Weshalb?«

»Nun, wenn wir einig sind!«

»Ja – wenn wir einig sind!«

Keiner von ihnen meinte etwa besonderes mit den letzten Worten; aber sie sprachen sie mit einer bedeutungsvollen Betonung aus, als läge eine Welt von Feinheit darin verborgen, und sie blickten einander mit einem geistreichen Lächeln auf den Lippen an – Widerschein des Geistes, der soeben geleuchtet hatte – während sie beide darüber nachgrübelten, was der andere mit seinen Worten gemeint haben könne, ein wenig ärgerlich darüber, so schwerfällig von Begriff zu sein.

Langsam gingen sie zu den andern, und Frau Boye setzte sich wieder auf den niedrigen Stuhl.

Erik und Frithjof hatten sich einander müde geredet und waren froh, wieder Gesellschaft zu bekommen. Frithjof näherte sich sofort der Dame und war sehr liebenswürdig, während Erik sich mit der Bescheidenheit des Wirtes zurückhielt.

»Wenn ich neugierig wäre«, sagte Frithjof, »würde ich fragen, über welches Buch Sie und Refstrup stritten, als wir kamen.«

»Fragen Sie?« sagte Frau Boye.

»Ich frage«.

»Ergo?«

»Ergo«, entgegnete Frithjof mit einer demütig bescheidenen Verbeugung.

Frau Boye hielt das Buch in die Höhe und sagte feierlich verkündend: »Helge, Oehlenschlägers Helge. – Welcher Gesang es war? – Also: »Die Meerfrau besucht König Helge.« – Und welche Verse? Die, wo Tankjär sich an Helges Seite gelagert hat, und er seine Neugierde nicht länger bezähmen kann, sondern sich umdreht.«

... ... ... blickt hin und sieht
schwellende Arme sich breiten,
die schönste Frau, die auf Erden erblüht,
die ruht an seiner Seiten.

Kein dunkles Gewand verhüllt das Weib
und verbirgt die Schönheit der Glieder
durchscheinende Schleier umwallen den Leib
und rieseln silbrig hernieder.

Und das ist alles, was wir von der Schönheit der Meerfrau zu sehen bekommen, und damit war ich nicht zufrieden. Da möchte ich eine üppig glühende Schilderung haben, ich möchte etwas so blendend Schönes sehen, daß es mir den Atem raubt. Ich will in die eigenartige Schönheit eines solchen Meerweibkörpers eingeweiht werden, und nun bitte ich Sie, was soll ich dann mit weißen Armen und herrlichen Gliedern und einem Stück Flor darüber anfangen? – Herrgott, nein! – Nackt sollte sie sein wie eine Welle, und die wilde Schönheit des Meeres müßte sie ausströmen. Auf ihrer Haut müßte der Phosphorglanz des Sommermeeres liegen, in ihrem Haar der schwarze, wilde Schrecken eines Tangwaldes. Nicht wahr? – Ja, die tausend Farben des Wassers müßten in blinkendem Wechsel in ihren Augen kommen und gehen; die bleiche Brust muß kalt sein von einer wollüstig kühlenden Kälte, der wogende Lauf der Wellen muß durch all ihre Formen rieseln, ihr Kuß hat die saugende Gewalt des Strudels, und weich wie der Schaum der Wellen ist ihre Umarmung.«

Sie hatte sich ganz heiß geredet und stand noch ganz erregt von ihrem Thema da und sah ihre jungen Zuhörer mit großen, fragenden Kinderaugen an.

Aber die sagten nichts. Niels war feuerrot geworden, und Erik höchst verlegen. Frithjof war ganz hingerissen und starrte sie mit unverhohlener Bewunderung an, und doch war er derjenige, der am wenigstens sah, wie berauschend schön sie war, wie sie da hinter ihren Worten vor ihnen stand.


Nach Verlauf weniger Wochen waren Niels und Frithjof ebenso häufige Gäste in Frau Boyes Haus, wie es Erik Refstrup war. Außer der bleichen Nichte der Hausfrau trafen sie hier zahlreiche junge Menschen, Dichter, Maler, Schauspieler und Architekten, alle mehr Künstler durch ihre Jugend als durch ihr Talent, alle voller Hoffnungen, mutig, kampflüstern und sehr leicht zu begeistern. Unter ihnen gab es wohl auch einzelne stille Träumer, die wehmütig nach den verschwundenen Idealen entschwundener Zeiten jammerten, aber die meisten waren von dem erfüllt, was damals war, berauscht von der Theorie, geblendet von der Morgenklarheit, wild gemacht von der Kraft des Neuen. Neu waren sie, erbittert neu, neu bis zur Übertreibung, und das vielleicht um so mehr, weil sie tief innen eine seltsame, instinktstarke Sehnsucht trugen, die betäubt werden sollte; eine Sehnsucht, die das Neue nicht zu stillen vermochte, war es auch weltengroß, allumfassend, allmächtig und alles erleuchtend.

Aber das war gleichgültig; es war der Jubel des Sturms in den jungen Seelen, und Glauben an das Licht großer Gedankensterne und Hoffnungen, unendlich wie Meere; Begeisterung trug sie wie auf Adlerflügeln, und tausendfacher Mut schwellte ihnen das Herz.

Das Leben nahm ihm später wohl den Glanz und verpfuschte das meiste; Klugheit hatte davon abgebröckelt, und Feigheit trug dann wohl die Reste fort, aber was tut das! Die Zeit, die in Gutem vergangen ist, kehrt nicht mehr in Bösem zurück: und nichts im späteren Leben kann einen einzigen Tag welken machen oder eine einzige Stunde auslöschen von dem Leben, das gelebt ist.

Für Niels bekam die Welt in diesen Tagen ein ganz anderes Gesicht. Seine geheimsten, vagen Gedanken von zehn verschiedenen Mündern ausgesprochen zu hören, seine eigentümlichen, wunderlichen Anschauungen, die wie eine dunstige Landschaft vor ihm gelegen, mit nebelverlorenen Linien, mit unbestimmten Tiefen und verschwommenen Tönen; diese Landschaft jetzt plötzlich entschleiert zu sehen, in hellen, scharfen, tagklaren Farben, jede Einzelheit offenbart, von Wegen durchfurcht, und Scharen von Menschen auf diesen Wegen – es lag etwas seltsam Phantastisches darin, daß dieses Phantastische so wirklich geworden.

Er war also nicht mehr ein einsamer kindlicher König, der über Ländern herrschte, die er sich erträumte; nein, er war einer in der Menge, ein Mann in der Menge, ein Soldat im Solde der Idee und des Neuen. Er hatte ein Schwert in der Hand und eine Fahne flatterte ihm voran.

Eine wunderliche, verheißungsvolle Zeit, da er, seltsam genug, mit eigenen Ohren das undeutlich geheimnisvolle Flüstern seiner Seele in der Luft der Wirklichkeit erklingen hörte wie wild herausfordernden Posaunenklang, wie Krachen von Keulenschlägen gegen Tempelmauern, wie pfeifendes Sausen von Davidsteinen gegen Goliathschädel, wie siegessichere Fanfaren. Es war, als hörte man sich selbst in fremden Zungen, mit fremder Kraft und fremder Klarheit über das reden, was einem im tiefsten Innern zu eigen war.

Nicht nur von den Lippen der Altersgenossen erklang das neue Evangelium vom Auflösen und vom Vervollkommnen; es gab auch ältere Leute, Männer mit Namen von Gewicht, die einen Blick für das Neue und seine Herrlichkeit hatten; sie hatten breitere Worte dafür als die Jungen, waren festlicher in ihrer Auffassung; die Namen vergangener Jahrhunderte waren in ihrem Gefolge; sie hatten die Geschichte auf ihrer Seite, die Weltgeschichte, die Geschichte des Menschengeistes, die Odyssee des Gedankens. Es waren Männer, die in ihrer Jugend in gleicher Weise ergriffen gewesen, wie die, die jetzt jung waren und die Zeugnis abgelegt hatten für den Geist, von dem sie jetzt ergriffen waren; als sie aber ihre Stimme gehört hatten und hörten, daß es ein Ruf in der Wüste gewesen: – daß sie allein geblieben, da waren sie verstummt. Aber die Jungen dachten nur daran, daß diese Männer gesprochen hatten, und nicht daß sie verstummt waren, und daher warteten sie mit Lorbeerkränzen und Märtyrerkronen, bereit zu bewundern, glücklich, bewundern zu dürfen. Und die, denen die Bewunderung galt, wiesen diese spätgeborene Anerkennung nicht zurück, sondern drückten sich die Kronen in gutem Glauben auf, sahen sich als große und historische Persönlichkeiten, dichteten das weniger Heroische aus ihrer Vergangenheit fort – und deklamierten ihre alte Überzeugung, die die Ungunst der Zeitverhältnisse abgekühlt hatte, wieder in Glut.

Niels Lyhnes Familie in Kopenhagen, besonders der alte Etatsrat, hatte keinen Gefallen an dem Umgang, den der junge Student sich erwählt. Es waren nicht so sehr die neuen Ideen, die ihnen Kummer machten, als die Ansicht einiger dieser jungen Menschen, daß eine leichte Unsauberkeit, langes Haar und hohe Jagdstiefel der Idee von Nutzen seien; und wenn auch Niels in dieser Beziehung nicht fanatisch war, so war es seinen Verwandten doch unangenehm, ihm zusammen mit diesen Jünglingen zu begegnen, und noch unangenehmer, daß ihre Bekannten ihn in dieser Gesellschaft trafen. Aber das war immerhin nebensächlich im Vergleich dazu, daß er so viel bei Frau Boye verkehrte, und mit ihr und ihrer bleichen Nichte ins Theater ging.

Nicht, daß man Frau Boye Bestimmtes hätte nachsagen können.

Aber man sprach über sie.

In mancher Beziehung.

Sie war aus guter Familie, eine geborene Konneroy, und die Konneroy waren eine der ältesten und feinsten Patrizierfamilien der ganzen Stadt. Trotzdem hatte sie mit ihnen gebrochen. Einige sagten, wegen eines ausschweifenden Bruders, den man nach den Kolonien geschickt hatte. Gewiß war nur, daß der Bruch ein vollständiger war, und man hatte sogar davon geflüstert, daß der alte Konneroy sie verflucht und darauf einen Anfall seines schlimmsten Frühlingsasthmas bekommen habe.

Alles dies war geschehen, nachdem sie Witwe geworden.

Boye, ihr Mann, war Apotheker gewesen, Assessor pharmaciae und Ritter. Als er starb, war er sechzig und Besitzer von anderthalb Tonnen Gold. Soviel man wußte, hatten sie sehr gut miteinander gelebt. Anfangs, während der ersten drei Jahre war der alternde Mann sehr verliebt gewesen; später lebte jeder für sich, er mit seinem Garten und der Aufrechterhaltung seines Rufs als großer Mann in Herrengesellschaft beschäftigt, sie mit Theater, Romanzenmusik und deutscher Poesie.

Dann starb er.

Als das Trauerjahr zu Ende, machte die Witwe eine Reise nach Italien und blieb ein paar Jahre da unten, meistens in Rom. Es war durchaus nichts Wahres daran, daß sie in einem französischen Klub Opium geraucht, ebensowenig wie an der Geschichte, daß sie sich genau wie Paulina Borghese habe modellieren lassen; und der kleine russische Fürst, der sich in Neapel erschoß, während sie dort war, hatte sich keineswegs um ihretwillen erschossen. Richtig jedoch war, daß die deutschen Künstler ihr unermüdlich Ständchen brachten, und richtig war es, daß sie sich eines Morgens, in der Tracht eines albanischen Bauernmädchens auf eine Kirchentreppe oben in die Via sistina gesetzt und sich von einem der ankommenden Künstler hatte engagieren lassen, ihm mit einem Krug auf dem Kopfe und einem kleinen, braunen Knaben an der Hand Modell zu stehen. Wenigstens hing ein solches Bild in ihrer Wohnung.

Auf der Heimreise von Italien traf sie einen Landsmann, einem bekannten tüchtigen Kritiker, der lieber Dichter gewesen wäre. Man nannte ihn eine negativ skeptische Natur, einen scharfen Kopf, der seine Mitmenschen hart und unbarmherzig anfaßte, weil er mit sich selbst hart und unbarmherzig war und seine Brutalität deshalb für gerechtfertigt hielt. Aber er war eigentlich nicht ganz das, wozu ihn die Leute machten. Er war nicht so unangenehm aus einem Guß oder so rücksichtslos konsequent, wie es aussah; denn obgleich er mit der idealen Richtung der Zeit ständig auf dem Kriegsfuß stand und sie mit anderen verurteilenden Namen benannte, so hatte er doch für das Ideale, Träumerische, für das blaublau Mystische, das unbegreiflich Hohe und schwindend Reine eine Sympathie, die er der mehr erdgeborenen Richtung gegenüber nicht empfand, für die er kämpfte, und an die er in der Hauptsache glaubte.

Widerstrebend verliebte er sich in Frau Boye, sagte es ihr aber nicht, denn es war keine junge und offene, keine hoffnungsfreudige Liebe. Er liebte sie wie ein Wesen einer anderen, feineren und glücklicheren Rasse als seine eigene, und daher lag ein Groll in seiner Liebe, eine instinktive Erbitterung gegen das, was Rasse in ihr war.

Mit feindlichen, eifersüchtigen Augen sah er auf ihre Neigungen und Meinungen, ihre Geschmacksrichtung und ihre Lebensanschauung; und mit allen Waffen, mit feiner Beredsamkeit, mit herzloser Logik, mit barscher Autorität und mitleidigem Spott erkämpfte er sie, gewann er sie für sich und seine Anschauung. Aber als nun die Wahrheit gesiegt hatte, und sie geworden war wie er, da sah er, daß allzuviel gewonnen war, und daß er sie mit ihren Illusionen und Vorurteilen, ihren Träumen und ihren Irrtümern geliebt hatte, und nicht so, wie sie jetzt war.

Unzufrieden mit sich selbst, mit ihr und mit allem, was die Heimat bot, reiste er fort und blieb fort.

Aber da hatte sie gerade begonnen, ihn zu lieben.

Aus diesem Verhältnis konnten die Leute natürlich viel machen, und das taten sie auch. Die Etatsrätin sprach darüber mit Niels, so wie alte Tugend von jungen Irrungen spricht, aber Niels nahm dies in einer Weise auf, die die Etatsrätin beleidigte und erschreckte; denn er widersprach und redete in hohen Tönen von der Tyrannei der Gesellschaft und der Freiheit des einzelnen, von der plebejischen Rechtschaffenheit der Menge und dem Adel der Leidenschaft.

Von diesem Tage an kam er nur noch selten zu seinen besorgten Verwandten; Frau Boye aber sah ihn um so häufiger.


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