Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel

Ungefähr ein Jahr hatte Niels Lyhne auf Lönborghof gewohnt und die Bewirtschaftung geleitet, so gut wie er es vermochte und so viel wie sein Verwalter es ihm gestattete. Er hatte seinen Schild herabgenommen, die Devise ausgelöscht und resigniert. Die Menschheit mochte sich ohne ihn zurechtfinden; er hatte das Glück kennen gelernt, das in der rein körperlichen Arbeit liegt, dies: den Haufen unter seinen Händen wachsen zu sehen; dies: wirklich fertig werden zu können, so daß man selbst fertig ist; dies: wenn man müde weggeht, zu wissen, daß die Kräfte, die man dabei zugesetzt hat, dort hinter einem in der Arbeit lagen, und die Arbeit würde bleiben, würde nicht des Nachts vom Zweifel aufgefressen, nicht von der mürrischen Kritik einer Morgenstunde auseinandergeweht werden. In der Landwirtschaft gab es keine Sisyphussteine.

Und dann, seinen Körper müde gearbeitet zu haben; der Genuß, der darin lag, sich zur Ruhe zu begeben und sich neue Kräfte heranzuschlafen, um sie wieder zuzusetzen, regelmäßig, wie Tag und Nacht aufeinanderfolgen, ohne von den Launen des Gehirns gehindert zu werden, ohne sich selbst vorsichtig anzufassen, wie eine gestimmte Gitarre mit verschlissenen Schrauben.

Er war so recht gleichmäßig glücklich, und oft konnte man ihn auf einem Zaun oder einem Grenzpfahl sitzen, wie sein Vater gesessen hatte, und in seltsam vegetativer Benommenheit über den goldenen Weizen oder den fruchtschweren Hafer hinausstarren sehen.

Noch pflegte er keinen weiteren Verkehr mit den Familien der Gegend. Das einzige Haus, das er einigermaßen häufig besuchte, war das des Kanzleirats Skinnerup in Barde. Sie waren noch zu Lebzeiten seines Vaters in die Stadt gezogen, und da der Kanzleirat einer von Lyhnes alten Universitätsfreunden war, hatten die beiden Familien viel verkehrt. Skinnerup, ein sanfter, kahlköpfiger Mann mit scharfen Zügen und milden Augen, war jetzt Witwer, und er hatte das Haus mehr als voll genug von vier Töchtern, von denen die älteste siebzehn, die jüngste zwölf Jahre alt war.

Niels mochte sich gerne mit dem sehr belesenen Kanzleirat über allerlei ästhetische Themata unterhalten; denn weil er angefangen hatte, seine Hände zu gebrauchen, war er deshalb doch keineswegs plötzlich ein Bauer geworden. Er hatte auch die etwas komische Vorsicht gern, mit der er sich ausdrücken mußte, sobald die Rede auf einen Vergleich zwischen dänischer und ausländischer Literatur fiel, und überhaupt auch sonst, wenn Dänemark mit etwas, das nicht dänisch war, gemessen werden sollte; denn es war ganz notwendig, vorsichtig zu sein; der sanfte Kanzleirat gehörte nämlich zu diesen guten, wütenden Patrioten, die es damals gab, Leute, die man dazu bringen konnte, daß sie mürrisch einräumten, Dänemark sei nicht die bedeutendste Großmacht, die aber dann auch nicht mehr ein einziges weiteres Zugeständnis machten, wodurch das Land oder irgend etwas, das dem Lande angehörte, einen andern Platz als an der Spitze erhalten konnte. – Was er auch bei diesen Gesprächen liebte, aber ganz unbestimmt und ohne das geringste Gewicht darauf zu legen, war die frohe Bewunderung, zu sehen, mit der die Augen der siebzehnjährigen Gerda ihm folgten, wenn er sprach, und sie versuchte immer zugegen zu sein, jedesmal, wenn er da war, und nahm so innigen Anteil, daß er sie manch liebes Mal vor Entzücken erröten sehen konnte, wenn er etwas gesagt hatte, was ihr besonders schön erschien.

Er war nämlich ganz unverschuldeterweise das Ideal dieser jungen Dame geworden, ursprünglich hauptsächlich, weil er, wenn er reitend zur Stadt kam, einen ausländischen, grauen Radmantel von sehr romantischem Schnitt trug. Und dann war auch das, daß er zum Beispiel Milano und nicht Mailand sagte, und dann, daß er einsam in der Welt dastand und einen etwas traurigen Gesichtsausdruck hatte. Es war so viel, durch das er sich von allen andern Menschen sowohl in Barde wie auch in Ringköbing unterschied.

An einem heißen Sommertage kam Niels durch die kleine Straße hinter dem Garten des Kanzleirates. Die Sonne brannte herab auf die ziegelbraunen kleinen Häuser. Dort im Fluß lagen die Schuten, Binsenmatten hingen an den Seiten herab, damit der Teer nicht aus den Fugen schmelzen sollte; und ringsum hatte man alles geschlossen, um eine Kühle zu erhalten, die sich da draußen nicht vorfand. Innerhalb der offnen Haustüren saßen die Kinder, lernten laut an ihren Aufgaben und summten um die Wette mit den Bienen drüben im Garten, und ein Schwarm von Spatzen schwirrte schweigend von Baum zu Baum, alle auf einmal aufwärts und alle zusammen abwärts.

Niels trat in ein kleines Haus, das an den Garten stieß, und wurde von der Frau, die zu dem Nachbar lief, um ihren Mann zu holen, in eine reine, nette, kleine Stube eingelassen, wo es nach Stärkewäsche und Goldlack roch.

Als er mit den Bildern, den beiden Hunden auf der Kommode und den Muscheln auf dem Nähkastendeckel fertig war und an das offne Fenster trat, hörte er Gerdas Stimme ganz dicht nebenan, und da standen denn auch alle vier Fräulein Skinnerup unmittelbar neben dem Hause auf der Bleiche des Kanzleirats.

Die Balsaminen und die andern Blumen im Fenster versteckten ihn, und er bereitete sich darauf vor, zu lauschen wie auch zu sehen.

Offenbar herrschte ein Streit unter ihnen, und die drei jüngeren Schwestern machten gemeinsame Sache gegen Gerda. Alle hatten sie zitronengelbe Reifenstöcke in der Hand, und die jüngste hatte sich drei, vier von den rotumwundenen Reifen wie eine Art Turban auf den Kopf gesetzt.

Sie war es, die jetzt sprach.

»Sie sagt, er gleiche Themistokles drinnen auf dem Ofen im Bureau,« rief sie ihren beiden Verschworenen zu und setzte ein schwärmerisches Gesicht mit zum Himmel emporgewandten Augen auf.

»Bah,« antwortete die mittlere, eine bissige kleine Dame, die im Frühling konfirmiert worden war, »ob Themistokles wohl einen runden Rücken hatte?« und sie ahmte Niels Lyhnes ein wenig vornübergebeugte Haltung nach. »Themistokles, ein schöner Stiefel!«

»Es liegt etwas so Männliches in seinem Blick, er ist wirklich ein Mann!« zitierte die zwölfjährige.

»Der!« es war wieder die mittlere. »Er geht ja umher und parfümiert sich; ist das männlich? neulich lagen seine Handschuhe da und rochen schon von weitem nach Millefleur.«

»Alle Vollkommenheiten!« rief die zwölfjährige in mattem Entzücken aus und schwankte herzergriffen hintenüber. Und sie taten, als richteten sie all diese Repliken an sich untereinander und nicht an Gerda, die etwas abseits dastand, glühendrot, und ihren gelben Stock in die Erde bohrte. Plötzlich richtete sie sich auf. »Ihr seid ungezogene Gören,« sagte sie, »daß ihr so von einem sprecht, von dem beachtet zu werden ihr nicht einmal verdient.«

»Er ist doch wohl nur ein Mensch wie wir andern«, wandte jetzt die älteste von den dreien sanft ein, als wolle sie Frieden stiften.

»Nein, das ist er gar nicht«, antwortete Gerda.

»Er hat doch auch seine Fehler«, fuhr die Schwester fort, indem sie sich stellte, als habe sie nicht gehört, was Gerda sagte.

»Nein!«

»Liebe Gerda, du weißt doch, daß er nie zur Kirche geht.«

»Was sollte er wohl auch dort! er ist viel klüger als der Pfarrer.«

»Ja, aber er glaubt ja leider gar nicht an einen Gott, Gerda.«

»Ach, du kannst davon überzeugt sein, mein Kind, daß, wenn er das nicht tut, er auch seine guten Gründe dafür hat.«

»Pfui Gerda, wie kannst du das sagen!«

»Man sollte fast glauben ...« unterbrach die Konfirmierte sie.

»Was sollte man fast glauben?« fragte Gerda hastig.

»Nichts, nichts, beiß mich nur nicht!« antwortete die Schwester und tat plötzlich ungeheuer friedlich.

»Wirst du nun sofort sagen, was du meintest!«

»Nein, nein, nein, nein, nein; ich sollte doch meinen, daß ich meinen Mund halten kann, wann ich will.«

Sie ging fort, begleitet von der zwölfjährigen, sie hielten sich in schwesterlicher Eintracht umschlungen.

Ihnen folgte die ältere, strotzend vor Empörung.

Gerda blieb allein zurück und sah trotzig vor sich hin, während sie ihren Reifenstock durch die Luft sausen ließ.

Es währte eine kleine Weile, dann klang vom anderen Ende des Gartens her die heisere, singende Stimme der zwölfjährigen:

»Du fragst, mein Schatz,
Wozu das welke Veilchen.«

Niels verstand die Neckerei wohl; er hatte nämlich neulich Gerda ein Buch geschenkt mit einem getrockneten Weinblatt aus dem Garten in Verona, wo Julias Grab liegt. Er konnte sich kaum des Lachens enthalten. Dann kam inzwischen die Frau mit ihrem Mann, den sie endlich gefunden hatte, und Niels bestellte die Tischlerarbeit, weswegen er gekommen war.

Von dem Tage an beobachtete Niels Gerda mehr, und von einem Mal zum andern gingen ihm die Augen dafür auf, wie süß und prächtig sie war; und allmählich suchten seine Gedanken dies vertrauensselige kleine Mädchen immer häufiger auf.

Sie war auch wirklich allerliebst und besaß so viel von dieser weichen, rührenden Schönheit, die einem fast die Tränen in die Augen zwingt. In ihrer ganzen frühentwickelten Gestalt war das weiblich Üppige durch eine kindliche Fülle gleichsam unschuldig gemacht. Ihre kleinen, weichgeformten Hände, die im Begriff standen, die rosenrote Farbe der Übergangsjahre zu verlieren, waren auch so unschuldig und besaßen nichts von der nervösen, zitternden Neugierde dieses Zeitpunkts. Sie hatte so einen starken kleinen Hals, so weich sich rundende Wangen, eine so niedrige und träumende kleine Frauenstirn, in der die Gedanken, die groß sind, selten kommen und fast weh tun, so daß die vollen Augenbrauen sich dabei zusammenziehen; und das Auge, wie das dalag! so dunkelblau und tief, aber nur tief wie ein Wasser, dessen Grund man sieht, zwischen vollen weichen Augenwinkeln, wo das Lächeln Ruhe fand und so geborgen unter den Lidern saß, die sich in langer Verwunderung hoben. So sah sie aus, die kleine Gerda, weiß und rot und blond, mit all ihrem kurzen goldenglänzenden Haar, ehrbar zu einem zierlich geordneten Knoten aufgesteckt.

Sie sprachen oft miteinander, Niels und Gerda, und er wurde immer mehr von ihr eingenommen; ruhig, fein und anfänglich offen; bis dann eines Tages eine Veränderung in der Luft um sie her eintrat, ein kleiner Schimmer von dem, was Sinnlichkeit zu nennen zu plump wäre, aber was doch trotzdem die Hände, den Mund und die Augen dazu treibt, nach dem zu greifen, was das Herz nicht nahe genug an sein Herz pressen kann. Und dann eines andern Tages, kurze Zeit darauf, ging Niels zu Gerdas Vater, weil Gerda so jung und er ihrer Liebe so sicher war. Und der Vater gab sein Ja, und Gerda gab das ihre.

Und als es Frühling wurde, heirateten sie.

Es erschien Niels, als sei das Dasein so unendlich klar und schlicht geworden, als sei das Leben so einfach zu leben, das Glück so nahe und ebenso leicht zu gewinnen wie die Luft, die er mit einem Atemzug einsog.

Er liebte sie, die junge Gattin, die er ja gewonnen hatte, mit der ganzen Feinheit der Gedanken und des Herzens, mit all der großen, zärtlich tiefen Sorgfalt, die in einem Manne lebt, der die Neigung der Liebe zum Sinken kennt und an die Fähigkeit der Liebe, zu steigen, glaubt. Er ging so behutsam mit dieser jungen Seele um, die sich in namenlosem Zutrauen zu ihm hinneigte und die sich an ihn anschmiegte mit der gleichen liebkosenden Zuversicht, derselben geborgenen Überzeugung, daß er nichts anderes als Gutes wollen konnte, wie jenes Lamm in dem Gleichnis seinem Hirten gegenüber empfand, wenn es aus seiner Hand fraß und aus seinem Becher trank. Er brachte es nicht übers Herz, ihr ihren Gott zu nehmen, nicht all jene weißen Engelscharen zu verbannen, die den ganzen Tag singend durch den Himmel schweben und gegen Abend auf die Erde herabkommen und sich in treuer Wacht von Lager zu Lager begeben und die Dunkelheit der Nacht mit einem beschützenden, unsichtbaren Licht erfüllen. Er wollte so ungern, daß seine schwerere, bilderlose Lebensanschauung sich zwischen sie und das milde Blauen des Himmels schieben und ihr das Gefühl von Unsicherheit und Verlassensein geben sollte. Aber sie wollte es anders, sie wollte alles mit ihm teilen; es sollte keine Stätte im Himmel und auf Erden geben, wo ihre Wege auseinandergingen; und was er auch sagen mochte, um sie zurückzuhalten, sie widerlegte alles, wenn auch nicht mit den Worten jenes moabitischen Weibes, so doch mit demselben eigensinnigen Gedanken, der in den Worten lag: dein Volk soll mein Volk und dein Gott mein Gott sein. Und jetzt begann er allen Ernstes, sie zu belehren, und er entwickelte ihr, wie alle Götter Menschenwerk seien und wie alles, was von Menschenhand gemacht war, nicht für ewige Zeiten bestehen konnte, sondern verfallen mußte, Göttergeschlecht auf Göttergeschlecht, weil die Menschheit sich ständig entwickelt und verändert und an ihren Idealen emporwächst. Und ein Gott, in den die ältesten und größten der Geschlechter nicht ihren reichsten, geistigen Inhalt hineingelegt haben, ein Gott, der sein Licht nicht von der Menschheit erhielt, sondern der durch sich selber leuchten sollte, ein Gott, der sich nicht in der Entwicklung befand, sondern in dem historischen Kalk der Dogmen erstarrt war, – der war kein Gott mehr, sondern ein Götze, und deshalb hatte das Judentum Baal und Astarte gegenüber recht, und das Christentum Jupiter und Odin gegenüber; denn ein Götze ist nichts auf der Welt. Von einem Gott zum andern war die Menschheit vorwärts gegangen, und deshalb konnte Christus einerseits, zu dem alten Gott gewandt, sagen, daß er nicht gekommen sei, um das Gesetz aufzulösen, sondern um es zu vollziehen, und andrerseits über sich selbst hinaus nach einem noch höheren Gottesideal zeigen, mit jenen mystischen Worten von der Sünde, der nicht verziehen werden kann, der Sünde wider den Heiligen Geist.

Er lehrte sie ferner, wieder Glaube an einen persönlichen Gott, der alles zum besten leitet und in einem andern Leben straft und belohnt, wie das eine Flucht sei weg aus der rauhen Wirklichkeit, ein ohnmächtiger Versuch, der trostlosen Wirklichkeit des Daseins den Stachel zu nehmen. Er zeigte ihr, wie es das Mitleid der Menschen mit den Unglücklichen erschlaffen, sie weniger bereit machen müßte, alle Kräfte daran zu setzen, um zu helfen, wenn sie sich bei dem Gedanken beruhigen könnten, daß alles, was hier in diesem kurzen Erdenleben erduldet wurde, dem Leidenden den Weg zu einer Ewigkeit in Herrlichkeit und Freude bahnen sollte.

Er hob hervor, welche Kraft und Selbständigkeit es dem Menschengeschlecht geben müßte, wenn sie im Glauben an sich selbst ihr Leben im Einklang mit dem zu leben suchten, was der einzelne in seinen besten Augenblicken bei sich selbst am höchsten schätzte, statt es außerhalb seines Bereichs in eine kontrollierende Gottheit zu legen. Er machte seinen Glauben so schön und so segensreich, wie er es nur vermochte; aber er verbarg auch nicht vor ihr, wie erdrückend schwer und trostlos die Wahrheit des Atheismus in den Stunden des Kummers zu tragen sein könne, im Vergleich zu jenem hellen, glücklichen Traum von einem himmlischen Vater, der lenkt und herrscht. Aber sie war mutig; zwar erschütterten viele seiner Lehren sie bis in das Innerste der Seele, und oft gerade die, von denen man es am allerwenigsten geglaubt haben würde; aber ihr Zutrauen zu ihm kannte keine Grenzen, ihre Liebe flog mit ihm fort ans allen Himmeln, und sie liebte es, sich überzeugt zu wissen. Und als mit der Zeit das Neue ihr vertraut und heimatlich erschien, wurde sie im höchsten Grade intolerant und fanatisch, so wie es immer mit den neuen Jüngern ergangen ist, die ihren Meister heiß liebten. Niels tadelte sie oft; aber das konnte sie nie verstehen, daß, wenn das Ihre wahr sei, das andere nicht abscheulich und lasterhaft sein müsse.

Drei Jahre lebten sie ein glückliches Leben zusammen, und viel von dem Glück strahlte von einem kleinen Kindergesicht aus, von einem kleinen Knaben, den sie im zweiten Jahr nach ihrer Verheiratung bekommen hatten.

Das Glück macht gewöhnlich die Menschen gut, und Niels war auf jede Weise ehrlich danach bestrebt, ihr Leben so edel, schön und nützlich zu gestalten, so daß niemals eine Pause entstand in dem Wachstum ihrer Seelen empor zum Menschheitsideal, an das sie beide glaubten. Aber für ihn war nie mehr die Rede davon oder ein Gedanke daran, daß er die Form der Idee unter die Menschen hinaustragen wollte; ihm genügte es, ihr zu folgen. Wohl geschah es hin und wieder, daß er die alten Versuche hervorholte, aber er wunderte sich stets darüber, daß er es sei, der all diese schönen kunstfertigen Dinge geschrieben hatte, und regelmäßig traten ihm Tränen in die Augen, wenn er seine eigenen Gedichte las. Er hätte indessen für nichts in der Welt mit dem Ärmsten tauschen mögen, der sie geschrieben hatte.

Plötzlich, als es Frühling wurde, erkrankte Gerda und konnte nicht leben.

Eines Morgens früh – es war der letzte – wachte Niels bei ihr. Die Sonne war im Begriff aufzugehen und warf einen roten Schein auf die weißen Zuggardinen, während das Morgenlicht, das neben der Gardine hereinsickerte, noch blau war und den Schatten zwischen den weißen Falten des Bettes und unter Gerdas bleichen, dünnen Händen, wie sie da auf dem Bettuch gefaltet lagen, blau färbte. Das Häubchen war herabgeglitten, und sie lag da, den Kopf weit hintenüber gelehnt, ganz verändert, so wunderbar geadelt durch die scharfen, spitzen Züge der Krankheit. Sie bewegte die beiden Lippen, als wolle sie sie anfeuchten, und Niels griff nach dem Glas mit dem dunkelroten Trank. Aber sie wiegte verneinend den Kopf. Dann wandte sie plötzlich ihr Gesicht ihm zu und starrte angsterfüllt in seine sorgenschweren Züge. – Je länger sie all diese tiefe Trauer sah, die sie zur Schau trugen, und all diese Hoffnungslosigkeit, die sie ausdrückten, desto mehr ging ihre angstvolle Ahnung in die fürchterlichste Gewißheit über.

Sie versuchte sich aufzurichten, vermochte es aber nicht.

Niels beugte sich schnell über sie, und sie ergriff seine Hand.

»Ist das der Tod?« sagte sie und dämpfte ihre schwache Stimme, als wenn sie es nicht so ganz geradezu aussprechen wollte.

Er sah sie nur an, indem er den Atem in einem klagenden Seufzer ausstieß.

Gerda umklammerte fest seine Hand und warf sich in ihrer Angst zu ihm hinüber. »Ich wage es nicht!« sagte sie.

Er ließ sich vor dem Bett auf die Knie gleiten und legte seinen Arm unter das Kopfkissen, so daß er sie fast an seiner Brust hielt. Die Tränen blendeten ihn, so daß er sie nicht sehen konnte, und liefen eine nach der andern über seine Wange herab. Er führte ihre Hand mit einem Zipfel des Lakens an seine Augen, dann hatte er wieder seine Stimme in der Gewalt. »Sag mir alles, liebe Gerda,« sagte er, »kümmre dich nicht um mich. Ist es der Pfarrer?« Er konnte es sich nicht denken, daß es das sei, es lag ein kleiner Zweifel in seinem Ton.

Sie antwortete nicht; sie schloß die Augen und zog den Kopf ein wenig zurück, als wollte sie mit ihren Gedanken allein sein.

Es währte eine Weile. Das lange, weiche Flöten einer Drossel erklang unter dem Fenster, dann flötete eine zweite, eine dritte; eine ganze Reihe von Flötentönen schossen durch das Schweigen da drinnen.

Dann sah sie wieder auf. »Wenn du mit mir gingest!« sagte sie und lehnte sich schwerer gegen das Kissen, das er stützte. Es lag eine Liebkosung darin, und er fühlte es. »Wenn du mit mir gingest! aber allein!« und sie zupfte leise an seiner Hand und ließ sie dann los; »ich wage es nicht.« Ihre Augen wurden ängstlich. »Du mußt ihn holen, Niels, ich wage nicht, allein so da hinaufzukommen. Wir hatten ja nie daran gedacht, daß ich zuerst sterben sollte; du warst es immer, der voranging. Ich weiß wohl, ... aber wenn wir uns nun doch geirrt hätten, es wäre doch möglich, Niels, wäre es nicht möglich? Du glaubst nein; aber es müßte doch seltsam zugehen, wenn alle Menschen sich irrten und sie so gar nichts zu bedeuten hätten, all die großen Kirchen ... und wenn sie sie begraben, die Glocken ... ich fand immer, daß die Glocken ...« Sie lag still da, als lausche sie ihnen und höre sie.

»Es ist unmöglich, Niels, daß es mit dem Tod vorbei sein sollte; du kannst es nicht fühlen, der du gesund bist; du findest, es muß uns ganz totschlagen, weil man so matt ist und alles entschwindet; aber das betrifft nur die äußere Welt; drinnen ist da ebensoviel Seele wie früher; ganz sicher, Niels; ich habe es alles hier drinnen, alles, was ich erhalten habe, dieselbe unendliche Welt, nur stiller, mehr allein für sich, so wie wenn man die Augen schließt. Es ist nur wie ein Licht, du, es geht auch von dir fort, in das Dunkel hinein, in das Dunkel hinein, und es erscheint dir schwächer und schwächer, du kannst es nicht sehen, aber trotzdem leuchtet es dort hinten, wo es ist. – In weiter Ferne – – Ich hatte stets geglaubt, daß ich so eine alte, alte Frau werden würde und bei euch allen bleiben könnte, und nun darf ich nicht mehr; sie nehmen mich weg von Haus und Heim und lassen mich ganz allein gehen. Ich fürchte mich, Niels; dort, wohin ich soll, herrscht der liebe Gott, und der fragt nicht nach unserer Klugheit hienieden, er will das Seine und nichts andres, und es ist so weit weg von mir, all das Seine. Ich habe nicht viel Böses getan, nicht wahr? Aber das ist es nicht ... hole mir den Pfarrer, ich möchte ihn so gerne haben.«

Niels erhob sich sofort und holte den Pfarrer; er war dankbar dafür, daß dies nicht im allerletzten Augenblick gekommen war.

Der Pfarrer kam und blieb allein mit Gerda. Er war ein schöner Mann in mittleren Jahren mit seinen, regelmäßigen Zügen und großen, braunen Augen. Natürlich kannte er sowohl Niels Lyhne wie auch Gerdas Verhältnis zur Kirche, und ihm waren ja auch hin und wieder verschiedene kirchenfeindliche Äußerungen, die von dem Fanatismus der Frau zeugten, übermittelt worden; aber es fiel ihm gar nicht ein, zu ihr wie zu einer Heidin oder Abtrünnigen zu sprechen; er verstand so gut, daß es allein ihre große Liebe war, die sie auf Irrwege geführt hatte, und er verstand auch dies Gefühl so gut, das jetzt, da die Liebe sie nicht länger begleiten konnte, sie dazu brachte, sich voll Angst nach einer Versöhnung mit ihrem Gott zu sehnen, den sie ehemals gekannt hatte; und er versuchte deshalb, in seiner Rede hauptsächlich ihre schlummernden Erinnerungen zu wecken und ihr solche Stellen aus den Evangelien und solche Gesänge vorzulesen, von denen er sich denken konnte, daß sie sie am besten kannte.

Wie heimatlich festlich klangen nicht diese Worte, gleich Glockenklang an einem Weihnachtsmorgen; wie lag nicht sofort vor ihrem Blick das Land ausgebreitet, in dem unsre Phantasie zuallererst heimisch wurde, wo Joseph träumte und wo David sang und wo die Leiter steht, die von der Erde zum Himmel führt. Mit Feigen und Maulbeeren lag es da, und der Jordan glitzerte silberklar durch den Morgennebel hindurch, Jerusalem lag rot und traurig in der Abendsonne, aber über Bethlehem stand eine herrliche Nacht mit großen Sternen in dem Dunkelblau. Wie quoll der Kinderglaube nicht wieder hervor! sie wurde wieder dasselbe kleine Mädchen, das an der Hand ihrer Mutter zur Kirche ging und dasaß und fror und sich darüber wunderte, weshalb die Menschen so viel sündigten. Dann wuchs sie wieder heran unter den hohen Worten der Bergpredigt, und als kranke Sünderin lag sie da, als der Pfarrer von den heiligen Mysterien, von der Taufe und dem Sakrament des Altars sprach. Da gewann der rechte Drang in ihrem Herzen die Oberhand, jenes tiefe Knien vor dem allmächtigen, dem richtenden Gott, jene bittren Reuetränen dem verratenen, verspotteten und gematteten Gott gegenüber und jenes demütige kühne Sehnen nach dem neuen Bund des Weines und des Brotes mit dem geheimnisvollen Gott.

Der Pfarrer ging. Im Laufe des Vormittags kehrte er zurück und reichte ihr das Sakrament. Die Kräfte nahmen schnell in einem seltsamen Flackern ab, aber noch in der Dämmerung, als Niels sie zum letztenmal in seine Arme schloß, um ihr Lebewohl zu sagen, bevor die Schatten des Todes allzu nahe kamen, war sie bei vollem Bewußtsein. Doch die Liebe, die das beste Glück seines Lebens bedeutet hatte, war in ihrem Blick erloschen; sie war schon jetzt nicht die Seine mehr, die Schwingen hatten zu wachsen begonnen, sie sehnte sich nach ihrem Gott.

Um Mitternacht starb sie.

Es waren schwere Zeiten, die jetzt folgten; die Zeit schwoll zu etwas Ungeheurem und Feindlichem an. Jeder Tag war eine unendliche Wüste von Leere, jede Nacht eine Hölle der Erinnerungen. Erst nach Monaten, als der Sommer zur Neige ging, hatte der reißende, schäumende Strom der Trauer sich ein Flußbett in seine Seele gegraben, so daß er wie ein murmelnder, schwerwogiger Strom von Entbehrung und Tiefsinn dahinfließen konnte.

Dann geschah es eines Tages, daß er, als er vom Felde heimkehrte, seinen kleinen Knaben schwererkrankt vorfand. Er hatte während der letzten Tage ein wenig gekränkelt und war in der voraufgehenden Nacht unruhig gewesen; aber niemand hatte geahnt, daß dies etwas zu bedeuten habe. Jetzt lag er fieberheiß und fieberkalt in seinem kleinen Bett und stöhnte vor Schmerz.

Der Wagen wurde augenblicklich nach Varde zum Arzt geschickt; aber es war keiner zu Hause, und der Kutscher mußte viele Stunden warten. Noch um die Schlafenszeit war er nicht gekommen.

Niels saß am Lager des Knaben; wenigstens jede halbe Stunde schickte er einen hinaus, um zu lauschen und nach dem Wagen auszuspähen. Ein reitender Bote wurde auch ausgesandt, er sollte den Wagen treffen, aber er traf keinen Wagen und ritt ganz bis nach Varde hinein.

Dieses Warten auf Hilfe, die nicht kommen wollte, machte es noch unerträglicher, Zeuge zu sein, wie das kranke Kind litt. Und die Krankheit nahm schnell zu. Gegen elf trat der erste Krampfanfall ein, und nach dieser Zeit wiederholten sich die Anfälle in kurzen und immer kürzeren Zwischenräumen.

Bald nach eins kam der reitende Bote zurück mit dem Bescheid, daß der Wagen für die nächsten Stunden noch nicht zu erwarten sei, da keiner der Ärzte, als er aus der Stadt fortritt, heimgekehrt war.

Da brach Niels zusammen; er hatte der Verzweiflung standgehalten, solange es möglich war zu hoffen; jetzt konnte er es nicht länger, er trat in das dunkle Zimmer neben der Krankenstube und starrte durch die schwarzen Scheiben, während seine Nägel sich in das Holz des Fensterpfostens bohrten; seine Augen fraßen sich gleichsam durch das Dunkel nach einer Hoffnung hindurch, sein Gehirn krümmte sich zum Sprung, dem Wunder entgegen; dann wurde es einen Augenblick klar und still, und in dieser Klarheit trat er vom Fenster weg und warf sich über einen Tisch und schluchzte ohne Tränen.

Als er wieder in die Krankenstube trat, hatte das Kind Krämpfe. Er starrte es an, als wolle er sich dadurch töten, – diese kleinen Hände, die sich zusammenballten, weiß mit blaßblauen Nägeln; diese starren Augen, die sich aus ihren Höhlen herausrollten; dieser verzerrte Mund, in dem die Zähne, mit einem Laut von Eisen in Stein, knirschten; das war schrecklich und doch nicht das Schlimmste. Nein, aber als dann die Krämpfe aufhörten und der Körper wieder weich und biegsam wurde und sich dem Glück über die abnehmenden Schmerzen hingab, und dann die Angst, die in den Blick des Kindes trat, wenn es von weitem spürte, daß die Krämpfe wiederkehrten. Das sich steigernde Flehen um Hilfe, während die Pein näher und näher rückte, nein dies, und dann nicht helfen zu können, nicht mit seinem Herzblut, nicht mit allem, was er besaß und hatte: – er erhob die geballten Hände drohend gen Himmel, er griff nach seinem Kinde in dem wahnsinnigen Gedanken an Flucht; und dann warf er sich auf die Knie und flehte zu Gott im Himmel, der das Erdreich durch Prüfungen und Zucht in Angst hält, der Not und Krankheit schickt, Leiden und Tod, der will, daß alle Knie sich mit Zittern beugen sollen, und von dem weg es keine Flucht gibt, weder nach dem äußersten Meer noch in die Abgründe hinab. Er, der Gott, der, wenn es ihm gefällt, den zu Boden treten wird, den du am meisten liebst, und ihn unter seinem Fuß zu Staub zurückquälen wird, aus dem er ihn selbst gemacht hat.

In solchen Gedanken betete Niels hinauf zu Gott und warf sich in seiner Ohnmacht nieder vor dem Himmelsthron, bekennend, daß die Macht sein sei, sein allein.

Aber das Kind litt noch immer.

Gegen Morgen, als der alte Kriegsrat, der Arzt des Gutes, zum Tor hineinfuhr, war Niels allein.


 << zurück weiter >>