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Zwölftes Kapitel

Den größten Teil der nächsten beiden Jahre schweifte Niels Lyhne im Auslande umher.

Er war so einsam. Er hatte keine Verwandten, keinen Freund, der seinem Herzen nahestand. Aber es war eine größere Einsamkeit in ihm als diese; denn wohl kann der klagen und sich verlassen fühlen, der auf der ganzen ungeheuren Erde nicht einen einzigen kleinen Fleck hat, den er segnen und dem er Gutes wünschen, dem er sein Herz zuwenden kann, wenn das Herz übervoll ist, nach dem er sich sehnen kann, wenn die Sehnsucht ihre Schwingen ausbreiten will; aber glänzen die klaren, festen Sterne eines Lebensziels über ihm, da ist keine Nacht so einsam, daß er ganz allein wäre. Aber Niels Lyhne hatte keine Sterne. Er wußte nicht, was er mit sich selber und mit seinen Fähigkeiten anfangen sollte. Es war ja recht gut, daß er Talent besaß; er konnte es nur nicht gebrauchen, sondern ging einher und fühlte sich wie ein Maler ohne Hände. Wie beneidete er die andern, die Kleinen wie die Großen, die, wohin sie auch in das Dasein hineingreifen mochten, stets irgendeinen Henkel zu fassen bekamen – denn er konnte gar keinen Henkel finden. Er konnte nur, so erschien es ihm, die alten romantischen Lieder nochmals singen, und alles, was er geschaffen hatte, war denn auch nichts andres gewesen. Es war, als wenn sein Talent etwas Abseitsliegendes in ihm sei, ein stilles Pompeji oder gleichsam eine Harfe, die er aus einem Winkel hervorholen konnte. Es war nicht allgegenwärtig, lief nicht die Straßen hinab mit ihm, saß ihm nicht in den Augen, kribbelte nicht in seinen Fingerspitzen, gar nicht; es hatte ihn nicht packen können, sein Talent. Zuweilen war es ihm, als sei er ein halbes Jahrhundert zu spät geboren, manchmal wiederum, als sei er zu früh gekommen. Das Talent in ihm stand mit seinen Wurzeln in etwas Vergangenem und lebte nur darin, konnte keine Nahrung aus seinen Meinungen, seiner Überzeugung, seinen Sympathien ziehen, konnte es nicht in sich aufnehmen und ihm Form verleihen; sie flössen auseinander, diese beiden Dinge, wie Wasser und Öl; sie konnten zusammen geschüttelt, aber sie konnten nicht vermischt, konnten niemals eins werden.

Allmählich begann er dies einzusehen, und das machte ihn grenzenlos mißmutig und ließ ihn sich und seine Vergangenheit mit einem spöttischen, mißtrauischen Blick betrachten. Es müsse ein Fehler an ihm sein, sagte er sich selbst, ein unheilbarer Fehler müsse in dem innersten Mark seines Wesens liegen; denn ein Mensch konnte sich zusammenleben, das glaubte er.

In dieser Gemütsverfassung befand er sich, als er sich während des letzten Jahres im Ausland Anfang September in dem kleinen Riva an den Ufern des Gardasees niederließ.

Gleich nachdem er gekommen war, schloß sich das Land rundumher mit einem Wall von Umständlichkeiten und Reiseschwierigkeiten ab, der alle Fremden fernhielt. Die Cholera war nämlich im Venezianischen, südwärts in Desenzano und nordwärts um Trient herum ausgebrochen. Unter diesen Verhältnissen war Riva nicht besonders lebhaft, die Hotels leerten sich bei den ersten Gerüchten, und die Italienreisenden machten einen Umweg. Um so näher schlossen die wenigen Zurückbleibenden sich aneinander an. Die merkwürdigste Erscheinung unter ihnen war eine berühmte Opernsängerin, deren wirklicher Name Madame Odéro war. Ihr Theatername hatte einen weit berühmteren Klang. Sie und ihre Gesellschafterin, Niels und ein tauber Doktor aus Wien waren die einzigen Gäste im Hotel »Zur goldnen Sonne«, dem ersten Hotel der Stadt.

Niels schloß sich eng an sie an, und sie gab jener Innerlichkeit in seinem Wesen nach, wie das so oft der Fall ist bei Leuten, die im Unfrieden mit sich selber leben und die deshalb darauf angewiesen sind, Geborgenheit bei andern zu suchen.

Madame Odéro lebte hier schon im siebenten Monat, um sich in vollständiger Ruhe von den Nachwehen eines Halsleidens zu erholen, das ihre Stimme bedroht hatte; und der Arzt hatte ihr für ein ganzes Jahr jegliches Singen verboten und, damit sie nicht in Versuchung geführt werden sollte, überhaupt jegliche Musik. Erst nach Verlauf von einem Jahr wollte er ihr erlauben, den Versuch zu machen, zu singen, und wenn es sich dann zeigte, daß nicht die geringste Müdigkeit einträte, so würde sie geheilt sein.

Niels übte eine Art zivilisierenden Einflusses auf Madame Odéro aus, die eine heftige, feurige Natur mit sehr wenigen Nuancen war. – Es war ja für sie ein schreckliches Urteil gewesen, daß sie ein ganzes Jahr still leben sollte, weit fort von Bewunderung und Vergötterung; und anfangs war sie ganz verzweifelt und starrte, von Schreck gelähmt, in diese zwölfmonatige Zukunft hinaus, als sei es ein tiefes, schwarzes Grab, in das sie lebend hineingelegt werden sollte; aber alle Menschen schienen zu meinen, daß es etwas Unvermeidliches sei, und dann flüchtete sie eines schönen Morgens plötzlich nach Riva. Sie hätte sehr gerne an einem belebteren, besuchteren Ort leben dürfen, aber das wollte sie gerade nicht. Sie schämte sich, und ihr war zumute, als ginge sie mit einem äußerlichen, sichtbaren, körperlichen Schaden umher, und meinte, es den Leuten ansehen zu können, wie sie sie ihres Gebrechens wegen bemitleideten und miteinander davon sprachen. Sie hatte deshalb an ihrem neuen Aufenthaltsort allen Verkehr gemieden und zum großen Teil auf ihren Zimmern gelebt, dessen Türen viel Böses ertragen mußten, wenn diese freiwillige Einsperrung gar zu unerträglich wurde. Jetzt, da alle Menschen fortgezogen waren, tauchte sie wieder hervor und kam dadurch mit Niels Lyhne in Berührung; denn ihr war ja gar nicht bange vor den einzelnen Menschen.

Man brauchte gar nicht oft mit ihr zusammen zu sein, um Klarheit darüber zu erlangen, wie weit sie einen leiden konnte oder nicht, denn sie zeigte es deutlich genug. Das, was Niels Lyhne zu sehen bekam, war sehr ermunternd, und sie hatten noch nicht viele Tage miteinander in diesem prächtigen Hotelgarten mit seinen Granaten und Myrten, seinen Lauben und blühenden Oleandern und seiner herrlichen Aussicht gelebt, so waren sie schon sehr vertraut miteinander.

Es war gar nicht die Rede davon, daß sie sich ineinander verliebt hatten, jedenfalls nicht sehr; es war eins jener unbestimmten, angenehmen Verhältnisse, wie sie zwischen Männern und Frauen entstehen können, die über ihre erste Jugend mit ihrem Aufflackern und Sehnen nach dem unbekannten Glück hinaus sind. Es ist eine Art fliegender Sommer, wo man zierlich Seite an Seite lustwandelt und sich selbst zu einem Strauß aufliest, sich selbst mit der Hand eines andern streichelt, sich selbst mit den Augen eines andern bewundert. All die hübschen Geheimnisse, die man hat, all die niedlichen, gleichgültigen Dinge, die man aufbewahrt, alle Nippgegenstände der Seele werden hervorgeholt und gehen von Hand zu Hand und werden, in einem artistischen Suchen nach dem besten Licht, prüfend in die Höhe gehalten, während man vergleicht und erklärt.

Natürlich findet man für diese Art von Sonntagsverhältnis nur dann Ruhe, wenn das Leben gute Stunden hat; aber hier an dem schönen See hatten die beiden ja Zeit genug. Niels war es, der das Verhältnis einleitete, indem er mit Wort und Mienen Madame Odéro in eine vorteilhafte Melancholie kleidete. Anfänglich war sie mehrmals nahe daran gewesen, den ganzen Putz abzureißen und als die Barbarin, die sie war, zum Vorschein zu kommen; aber da sie fand, daß sie sie so vornehm kleidete, ergriff sie die Melancholie wie eine Rolle und beschränkte sich nicht nur darauf, nicht mehr die Türen zuzuschlagen, sondern suchte in sich selbst nach solchen Stimmungen und Regungen, die zu dem neuen Gewand passen konnten; und zu ihrem Erstaunen entdeckte sie allmählich, wie wenig sie sich selbst gekannt hatte. Ihr Leben war ja gar zu bewegt und wechselnd gewesen, als daß sie früher Zeit hätte finden können, in sich selbst aufzuräumen; und eigentlich näherte sie sich ja erst jetzt dem Alter, wo die Frauen, die viel gelebt und ein gut Teil von der Welt gesehen haben, anfangen, ihre Andenken zu bewahren, auf sich selbst zurückzusehen und sich eine Vergangenheit zu sammeln. Aus dieser Einleitung heraus entwickelte sich das Verhältnis bald schnell und bestimmt, und sie wurden einander ganz unentbehrlich. Man lebte nur halbwegs, wenn man allein war.

Eines Morgens, als Niels hinaussegelte, hörte er Madame Odéro im Garten singen. Im ersten Augenblick wollte er umkehren und sie schelten, aber ehe er sich noch besonnen hatte, war er außer Hörweite geglitten; außerdem war der Wind so einladend zu einer Fahrt nach Limone, und er konnte zu Mittag zurück sein. So segelte er denn.

Madame Odéro war ungewöhnlich früh in den Garten hinabgekommen. Der frische Duft, der hier draußen herrschte, die runden Wellen, wie sie glasklar und blank unter der Gartenmauer stiegen und fielen, und diese ganze Farbenpracht zu allen Seiten, blauer See und sonnenverbrannte Berge und weiße Segel, die über den See dahinglitten, und rote Blumen in Wölbungen über ihrem Haupt, all dies und dann ein Traum, den sie nicht vergessen konnte, sondern der nicht aufhörte, gegen ihr Herz zu wiegen... sie konnte nicht schweigen, sie mußte in all diesem Leben mit dabei sein.

Und so sang sie denn.

Voller und voller klang der Jubel ihrer Stimme; sie berauschte sich in ihrem Wohllaut, sie zitterte in einem wollüstigen Gefühl ihrer Macht; und sie sang fort, sie konnte nicht aufhören; dazu trug sie sie gar zu wunderleicht davon, dahin durch himmlische Traume und kommende Triumphe.

– Und es war keine Müdigkeit da; sie konnte reisen, sofort reisen, all dieses Nichts der vielen Monate sofort abschütteln, wieder hinaustreten und leben.

Um die Mittagszeit war alles zur Abreise bereit.

Dann, gerade als der Wagen vorfuhr, fiel ihr Niels Lyhne ein. Sie riß ein jämmerliches kleines Taschenbuch, das sie bei sich trug, hervor und schrieb es voll von Abschiedsworten an Niels; denn die Blätter waren so klein, daß nur drei, vier Wörter auf jedem stehen konnten; sie legte es in einem Briefumschlag hin und fuhr von bannen.

Als Niels am Nachmittag – er war von der Gesundheitspolizei in Limone aufgehalten worden – zurückkehrte, hatte sie schon längst Mori erreicht und saß auf der Bahn.

Er wunderte sich nicht, war nur traurig, gar nicht böse; er hatte sogar ein kleines, resigniertes Lächeln für diese neue Feindseligkeit des Schicksals. Aber als er dann am Abend in dem leeren, mondhellen Garten saß und dem kleinen Knaben des Wirts die Geschichte von der Prinzessin erzählte, die ihr Federkleid wiedergefunden hatte und von ihrem Geliebten wegflog, zurück in das Land der Feen, da packte ihn eine unendliche Sehnsucht nach Lönborghof, danach, zu fühlen, daß sich etwas wie ein Heim um ihn schloß, ihn an sich zog und ihn festhielt, gleichviel wie. Er konnte die Gleichgültigkeit des Daseins nicht länger ertragen, dies: an allen Ecken und Enden losgelassen und stets auf sich selbst zurückgeworfen zu werden. Kein Heim auf der Erde, keinen Gott im Himmel, kein Ziel draußen in der Zukunft! Er wollte wenigstens ein Heim haben; das würde er zu sich heranziehen, diesen Fleck, im Großen wie im Kleinen, jeden Stein, jeden Baum, das Leblose und das Lebende; er wollte sein Herz unter dies alles teilen, so daß es ihn niemals wieder loslassen konnte.


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