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Vorwort

Die folgende Sammlung von Briefen J. P. Jacobsens dürfte die umfangreichste sein, die im Besitz eines einzelnen Empfängers ist, ja, sie bildet wahrscheinlich den größten Teil der von Jacobsen hinterlassenen Briefe, die sich nach Inhalt und Form zur Veröffentlichung eignen. Jacobsen war kein eifriger, wenn auch ein äußerst sorgfältiger, fast künstlerisch wortwählerischer Briefschreiber. Gerade weil er jeden Ausdruck so vorzüglich wählte und wog, wurde das Abfassen eines Briefes ihm eine Anstrengung ähnlicher Art wie der Schöpferschmerz, den er fühlte, wenn er Gedanken und Träume in seiner Dichtung dem Papier anvertrauen sollte. Man wird in den Briefen sehen, wie häufig er auf seine Angst, mißverstanden zu werden, zurückkommt. Zweifelsohne hat diese Angst ihre Ursache in seinem unendlichen Rücksichtnehmen, in seiner Diskretion. Aber auch noch etwas anderes spielt mit dahinein. Er hatte für sich selbst, für seine Kunst den allesüberragenden Lehrsatz aufgestellt, daß an jeder Stelle in prosaischer oder metrischer Dichtung mit Berechtigung nur ein einziges Wort, oder ein einziger Ausdruck angewendet werden darf. Eines war das Richtige – alles andere fiel daneben, in Farbe, in Stimmung oder Gedanken. Deswegen konnte nichts in seinem Werk mißverstanden oder verbessert werden: es wurde niedergeschrieben, weil gleichsam von Ewigkeit an vorausbestimmt war, daß gerade dieses Wort dort stehen sollte, und Jacobsen würde sich gegen das höchste Gesetz in der Dichtung versündigt haben, wenn er ein anderes Wort benutzt hätte. Daraus – um das gleich von vornherein zu sagen – aus dieser Kunstbetrachtung erwuchs sein außerordentliches Selbstgefühl, gleich weit entfernt von Eingebildetheit und Hochmut, sein schönes und stolzes Selbstgefühl, das ihn nicht wieder verließ von dem Augenblick an, wo er sich für reif hielt, seine Arbeiten zu veröffentlichen.

Doch die Erwägung, die Zeit, das Vertiefen in sich selbst, die ein Dichterwerk forderte, in seinen Briefen anzuwenden, war selbstredend unmöglich. Die Briefe wurden ja auch nicht für die Öffentlichkeit geschrieben. Und doch! Wenn man Briefe schreibenden Schriftstellern auf den Grund der Seele sehen könnte, würde man vielleicht entdecken, daß selbst ein scheinbar gleichgültiger und unbedeutender Brief, wie ausschließlich er auch für den Empfänger bestimmt zu sein scheint, sich doch mit einem kleinen Blinzeln an andere, fremde und spätere Leser wendet. Das ist so natürlich: der, dessen Beruf es wurde, zu den Vielen, zu den möglichst Vielen zu sprechen, findet leicht, ein einziger Zuhörer sei ein zu enges Gefäß. Wenn Sören Kierkegaard wünschte, nur für einen Leser zu schreiben, so war das ja die reine Affektation: er meinte mit seinem einen Leser das ganze große Publikum. Nun sei es einem jeden, der Jacobsen kannte, fern, sich ihn als Briefschreiber vorzustellen, der über einen guten Kameraden oder zufälligen Bekannten hinweg bis zur Nachwelt hinüberschielt, aber eben so sicher ist es, daß er wohl kaum die Feder auf das Papier setzte, ohne die gleiche Verantwortung zu fühlen, mochte es sich um ein Dichterwerk oder nur um einen Brief handeln. Er betete das Wort an, das für ihn Anfang und Ende aller Dinge war, und in seiner ehrerbietigen Scheu vor einer Entweihung, einer schlechten Anwendung des erhabenen und entscheidenden, des bedeutungs-gewichtigen Wortes schrieb er sich ganz, seine Persönlichkeit und sein Wesen selbst in einen munteren oder halb geschäftsmäßigen Brief hinein.

Daher auch die Berechtigung zur Veröffentlichung der Briefe, wenn auch Jacobsen keineswegs jemals daran dachte, daß eine solche stattfinden werde, und ja im übrigen auf ein langes Leben hoffte, das seine Altersgenossen an der Veröffentlichung seiner Privatbriefe gehindert haben würde. Es sollte indessen nicht so sein. Sein Leben wurde kurz: seine Wirksamkeit wurde dem Umfang nach nicht groß. Wäre er einer von jenen gewesen, die ihre Gedanken in alle Winde hinausstreuen, und die in überströmendem Mitteilungstrieb die Worte als menschliche Boten und nicht als göttliche Seeleneroberer hinausflattern lassen, hätte er eine reiche und verschiedenartige und über viele Jahre verbreitete Produktion hinterlassen – ja, da könnte die Berechtigung einer solchen Brief-Ausgabe wohl in Zweifel gezogen werden. Jetzt wird kaum jemand leugnen, daß jedes geschriebene Wort, das von Jacobsen vorliegt, kostbar ist. Er war ja einer der Großen, ein Auserwählter, in dem die Gefühle und die Gedanken seiner Zeit, insofern sie in Dichtung umgesetzt werden konnten, die feinste Verdichtung und die tiefste Wesenseinheit erreichten. Unverstanden, verhöhnt und verketzert im Anfang seiner Wirksamkeit, wird er nach der zehnjährigen Periode, die seine künstlerische Laufbahn umfaßt und die mit seinem Tode abschließt, von der Mitwelt als Dichter und Geist erkannt und steht, wiederum ein Jahrzehnt später, für alle Lesenden als eine der schönsten Gestalten der dänischen Literatur da.

*

Von Kindheit an hatte Jacobsen an seinen Dichterberuf geglaubt und auch nicht einen Augenblick an sich selber gezweifelt. Daß »ein Dichter aus ihm werden sollte«, wie es in Niels Lyhne heißt, das, behauptete er, sei seit seinem zehnten Jahr sein einziges festes Dogma gewesen. Selbst wenn dies nur ein Scherz ist, so ist doch gewiß, daß er in den Jahren 1870/1871 seiner Sache ganz sicher war, obwohl er nichts Dichterisches veröffentlicht hatte. Er hatte angefangen, naturwissenschaftliche Abhandlungen in der »Nyt Dansk Maanedsskrift« zu schreiben, aber niemandem aus dem kleinen Kreise, in dem er damals verkehrte, nicht einmal den vertrautesten Freunden gegenüber, rückte er mit der Sprache heraus. Im Herbst 1871 las Drachmann zum Beispiel in einigen Zusammenkünften, die der Gründung der Literaturselskab voraufgingen, Gedichte wie Engelske Socialister und King Mob vor: Jacobsen, der diese vorlesen hörte und der eifrig an aller Geselligkeit teilnahm, die in dem Kreise stattfand, ließ nie etwas davon verlauten, daß er sich mit ähnlichen Dichteraspirationen trug. Er begnügte sich damit, für seine Bekannten Naturforscher und Darwinist zu sein, damit beschäftigt, eine Abhandlung über einige mikroskopische Wesen, die Desmidiaceen, zu schreiben, von denen man nach seiner Beschreibung in der Unterhaltung schwerlich zu sagen vermöchte, ob sie Pflanzenwesen oder Tiere waren, denn es belustigte ihn, sie mit ganz wunderlichen Kosenamen zu benennen oder anzureden, und er war selbst der erste, der sich über dies ungeheuer spezielle Studium lustig machte. In Wirklichkeit war er gewiß auch auf diesem Gebiet so modern wie nur einer. Seine Desmidiaceen-Untersuchungen standen in enger Verbindung mit dem Bakterien-Studium, das die ärztliche Wissenschaft auf den Kopf stellen sollte.

Jacobsen wohnte damals in der Studiesträde in einer einfachen Studentenpension, wo er jedoch nicht zu Mittag aß. Das Zimmer war ein zweifenstriger Raum, an der einen Seite mit einem Tisch und einem Sofa ausgestattet, während an der gegenüberliegenden Wand ein Bett stand und am Fenster ein Schreibtisch. Rings umher in großer Unordnung Bücher, Flaschen mit Desmidiaceen (die für die Abhandlung für die Goldene Medaille präpariert werden sollten, was jedoch niemals ordentlich geschah), ein Kasten mit weißen Mäusen und um die Weihnachtszeit etwa ein Korb mit Backwerk und andern Leckereien von zu Hause. Dies Zimmer hatte keinen Schimmer von Pracht, von Traulichkeit oder Behaglichkeit, kaum von Reinlichkeit. Und so wie Jacobsen hier wohnte, so war auch seine spätere Wohnung in Kopenhagen, obwohl er zu jener Zeit über zwei Zimmer in der Ny-Adelgade verfügte; ebensowenig hier das geringste, was an Luxus erinnerte, selbst nicht, als ungenannte Freunde ihm eine ordentliche Chaiselongue und einen Stuhl ins Haus geschickt hatten. Schon allein, daß diese Möbel ein Bedürfnis waren und daß die Besucher das fühlten, zeugt von der spartanischen Einfachheit des Zimmers. Auch in Rom, wo er sich wohl außerhalb Dänemarks am längsten aufgehalten hat, war seine Wohnung (Via due Macelli) nicht gemütlicher oder prachtvoller; ja, es sah da eigentlich ganz Kopenhagnerisch ärmlich aus, und weder strahlende Sonne noch hohe Luft füllten die Stube, sowenig wie in der Studiesträde oder der Ny-Adelgade. Wahrscheinlich aber störte das Jacobsen nicht weiter. Man sollte meinen, daß er, in dessen Dichtung so starke Farben strahlen, Sehnsucht nach der Pracht des reichen Daseins um sich her empfinden müsse, aber vielleicht würde das, was Reichtum um ihn hätte beschaffen können, nie dem entsprochen haben, was er mit den Augen der Seele sah und außerdem war er von Kindheit an einfach gewöhnt. Obwohl keineswegs aus ärmlichen Verhältnissen stammend, hatte er doch in seinem Heim eine weit größere Einfachheit gekannt, da ein Anspruch auf Wohlleben bei seinen Eltern überhaupt nicht vorhanden war. Sie waren einfache Leute, die einfach lebten, und der Vater, der als Schiffer und Kaufmann ein großes Vermögen verdient hatte, war daran gewöhnt, ein Geldstück nachdenklich in der Hand zu wägen, ehe es ausgegeben wurde.

Jedenfalls, wenn nun Jacobsen auch auf reichere Weise hätte leben wollen, wäre ihm das unmöglich gewesen. Er wurde als Student von zu Hause unterstützt, bis er als Schriftsteller etwas zu verdienen begann. Er erwarb niemals mehr, als daß es gerade für die bescheidensten Ansprüche ausreichte. Eine Anleihe von zweitausend Kronen, die er mit sechsundzwanzig Jahren bei seinem Freund hatte machen müssen, konnte er erst nach Verlauf von Jahren zurückbezahlen. Es peinigte ihn, daß eine solche Geldangelegenheit zwischen Freunden existierte, obwohl er wußte, daß der Darleiher des Geldes keineswegs bedurfte. Aber er war hierin wie in allem andern so stolz und feinfühlend wie ein Grande d'Espagne, mit dem er sich scherzend in einem Brief vergleicht. Es quälte ihn, Hilfe von daheim anzunehmen, wo sie vielleicht auch nicht so recht verstanden, daß man so langsam arbeiten konnte wie er, und so wenig für das tägliche Brot wie er. Hätte er geahnt, eine wie reichliche Einnahmequelle seine Werke nach seinem Tode werden sollten, so würde er die Sache wahrscheinlich anders aufgefaßt haben. Jetzt litt er darunter, zur Last fallen zu müssen – um so mehr, als er von seinem Vater literarisch und künstlerisch nicht gewürdigt werden konnte. Und er zog seine bescheidene Unabhängigkeit vor, lebte eigentlich sein ganzes Leben und wo er sich auch aufhalten mochte, wie ein Student in einem Dachstübchen, vielleicht die Wirklichkeit über den Träumen vergessend.

Denn er war ein Träumer. Man sehe seine ganze Jugenddichtung, alle Hervert Sperrings Lieder mit Titeln wie Traum, Im Land der Träume, Traumideal, Strahlt ihr Säle meiner Träume usw. Man sehe ferner Niels Lyhne, das Buch, in dem er zu so vielen Merkmalen und Seeleneigenschaften sich selbst benutzt und sich in die Titelfigur umgesetzt hat, die ein ewig werdender und niemals zur Wirklichkeit gewordener Dichter ist. Es war so leicht für Jacobsen, diese Gestalt zu schaffen, er brauchte ja nur sich selbst so zu nehmen, wie er bis hoch in die Zwanziger hinein gewesen: mehr Dichter in Träumen als im Werk. Er war fast dreißig Jahre alt, als Marie Grubbe endlich erschien. Freilich, Jacobsen war nicht an sich selbst verzweifelt, so wenig wie seine Freunde irgend welchen Zweifel gehegt hatten, aber man beachte, daß auch Niels Lyhne nicht zweifelt, und daß er Dichter ist, so wie er fühlt und denkt und künstlerisch will. Es ist sogar ein Fehler an dem Buch, daß Jacobsen nicht erklärt, warum Niels Lyhne die Werke nicht schrieb, die er fertig und reif geträumt hatte.

Und man beachte weiter, welche Bedeutung das Traumleben in diesem Buch einnimmt, das mit der kindlichen Phantasterei der drei kleinen Jungen beginnt, wo die Mutter zusammen mit dem Sohne von der Zukunft und von fernen Ländern träumt, wo Edele ihre Liebe träumt und Bigum sein Genie und seine Liebe träumt – er, der in dem Roman wie eine tragische Karikatur von Niels Lyhne selbst angebracht ist, wenn dieser in Träumen zwischen den Menschen umherwandert, stets ihnen fern. In seiner Jugend gelangt Niels Lyhne niemals weiter als bis zu Träumen von Größe und Liebe, und er vermag nicht einmal die wirkliche Frau Boye zu sehen, sondern muß auch sie zu einem größeren und üppigeren und wollüstig schöneren Weibe träumen als die kleine Kopenhagnerin, die sie ist – auf dieselbe Weise wie Jacobsen sein Modell, eine nicht sehr bedeutende und hübsche Dame, zu der feurig-lebensvollen und weiblich-bezaubernden wunderschönen Frau Boye umformte. Man lese in Niels Lyhne auf fast jeder Seite das Wort Traum! Man lese von Niels Lyhnes Mutter, die

 

»tausenderlei Träume träumte von jenen sonnenhellen Gegenden und von Sehnsucht verzehrt wurde nach ihrem wirklichen reichen Ich und vergaß, was zu vergessen so nahe liegt, daß selbst die holdesten Träume, selbst das tiefste Sehnen dem Wuchs des Menschengeistes auch nicht einen einzigen Zoll hinzusetzen,« und die fortfährt so zu träumen, »denn ein nüchternes Leben – ohne die süße Last der Träume – war nicht wert zu leben,« wenn auch »das Leben nicht mit Träumen rechnet.«

 

Ein Träumer war Jacobsen in seiner Jugend, ehe er seine Werke geformt hatte. Aber sein träges Träumerblut klagt in einem Brief. Es wurde ihm ungeheuer schwer – nicht zu empfangen – sondern zu formen und zu vollführen. Er ging umher mit tausenderlei Gedanken und Einfällen, er schwelgte in Farben, sein klares Auge, seine Forscherfähigkeit, sein von der Literatur der ganzen Welt erschlossener Sinn für Natur und Menschen beobachtete unaufhörlich, aber er gelangte während langer Zeit nicht weiter als bis zu Träumen – oder Gedichten, die nicht mehr wiedergaben als die einfache starke Stimmung oder die reichfarbigen Eindrücke. »Es sollte ja ein Dichter aus ihm werden.« – was fehlte denn nur? Das steht in Niels Lyhne:

 

»Aus Niels Lyhne sollte ja ein Dichter werden, und in seinen äußeren Lebensbedingungen war auch genug gewesen, was seine Neigung nach dieser Richtung hin hatte lenken können, genug, was seine Fähigkeiten auf eine solche Aufgabe hatte aufmerksam machen können; aber bis jetzt hatte er kaum etwas anderes als seine Träume gehabt, woraufhin er Dichter werden konnte, und nichts ist eintöniger, einförmiger als die Phantasterei, denn in dem scheinbar unendlichen und ewig wechselnden Lande der Träume gibt es in Wirklichkeit gewisse kurze, gegebene Wege, auf denen alle verkehren, und über die hinaus sie niemals kommen … darum entdeckt keiner sich selbst in Träumen, wird sich nie seiner Eigentümlichkeit bewußt …«

 

Er, der sich in einem Brief Allerwelt Hahnrei, den Hahnrei derer, die lieben und leiden, nennt – er lebte ungemein wenig außerhalb seiner Bücher und Träume und der ewiglangen Unterhaltungen mit Freunden.

*

Wer in Träumen lebt, wer aus einem einfachen Heim in der Provinz in eine Hauptstadt kommt, wo das Café seine natürliche Zufluchtsstätte ist, der wird leicht schüchtern und unbeholfen. Erziehung und gute Verhältnisse haben ihm nicht die Sicherheit verliehen, die Geselligkeit selbst in kleiner Form verlangt. Bei Fremden in ein Zimmer zu treten, mit munteren und verhätschelten Damen zu verkehren, sich ohne Gedanken an die eigene Person, ihre Vorzüge und Unvollkommenheiten zu bewegen – das erscheint weit schwieriger, gefährlicher und erstrebenswerter als eine Stadt zu erobern oder ein unsterbliches Dichterwerk zu schreiben.

Jacobsen war in seinen jungen Jahren verlegen wie ein Student aus der Provinz.

Er, der sich später vorzüglich ausnahm, so ansehnlich und stattlich und schön, war damals ein großer Bursche mit schlotternden Gliedern, der nicht wußte, was er mit seinen Armen und Beinen anfangen sollte. Von seinem andern Ich, Niels Lyhne, heißt es, als er dreiunddreißig Jahre alt war, daß er »ein wenig gebeugt ging, hübsche Hände und kleine Ohren hatte und ein wenig verzagt war.« Die ein wenig vornübergebeugte Haltung stimmt: Jacobsen war außerordentlich kurzsichtig, und er war ganz unglücklich, wenn er seinen Kneifer nur einen Augenblick verlor; wurde er ihm abgerissen, hatte er ihn beim Ankleiden verlegt, so nahm sein Blick dies Verschleierte, Nicht-Sehende an, wie man es bei Menschen antrifft, die beständig ein Glas tragen. Haltung und Blick verliehen ihm also das Aussehen eines überarbeiteten Studenten.

Hübsche Hände, sogar ganz wunderschöne Hände hatte er, selbst als sie dünn und abgemagert, kraftlos geworden waren infolge von Krankheit. Schöner noch waren sie in seiner Jugend. Auch einen klaren und großen Blick hinter dem Kneifer hatte er und kleine Ohren, ja – das war wohl ein aristokratisches Rassengepräge, ein Ausgleich für die großen, wenngleich wohlgeformten Füße. Sein Gang hatte immer etwas Schlenkerndes. Und er, der sich in lustiger Weise gern selbst karikierte, liebte es, im Scherz dies Schlenkern zu unterstreich, wenn er geschäftig im Zimmer hin und her lief, die Beine umeinanderschlingend und den Kopf schüttelnd. Fiel ihm aber der Kneifer ab, so blieb er stehen und sah mit einem hoffnungslos verwirrten Ausdruck um sich.

Ein wenig verzagt – nein, sehr, sehr verzagt. Er saß stumm da, selbst im Freundeskreis – nur unter vier Augen streifte er die Verlegenheit ab. Waren mehrere Menschen zugegen, so konnte er einen ganzen Abend dasitzen und trotz aller möglichen Neckerei nicht den Mund auftun. Und über den Kreis seiner damaligen Kameraden wagte er sich anfangs garnicht hinaus. Der Verkehr in Familien flößte ihm einfach Chiewitzsche Angst ein, wenn auch nicht aus Chiewitz'schen Gründen. Aber er fühlte sich so tödlich verlegen. Als einer seiner Freunde eines Tages einen gemeinsamen Bekannten treffen sollte und ihn deswegen bei einer verheirateten Schwester aufgesucht und dann mit der Familie gefrühstückt hatte, bewunderte Jacobsen die Unverzagtheit, die dieser Freund dadurch an den Tag gelegt hatte, ungeheuer: »Bist Du wirklich dahingegangen und geradewegs ins Zimmer hinein und hast mit den Fremden gegessen, die Du garnicht kanntest?« Der Freund, der im Gesellschaftssaal auch gerade kein Held war, wurde ganz stolz infolge dieser Bewunderung. Für Jacobsen war es eine Qual, in ein Zimmer hineinzukommen, er wurde rot und blaß, strauchelte über seine langen Beine und flüchtete so schnell wie möglich in eine Ecke, von wo aus er beobachtete, was sich zutrug. Viel später in seinem Leben pflegte er zu sagen, daß in einer Unterhaltung, der er beiwohnte, niemals ein Wort von psychologischer Bedeutung geäußert wurde, das er nicht gehört und aufbewahrt habe. Es mag jedoch sein, daß er in seiner frühesten Jugend von seiner Verlegenheit zu sehr in Anspruch genommen war, um so haarfeine Beobachtungen anzustellen. Mit älteren Damen ging es allenfalls. Waren es aber junge und hübsche Damen, die sich mit so guter Laune bewegten, wie es solche bevorzugte Wesen zu tun pflegen, und die obendrein dem langen, wunderlichen Burschen zulächelten, dem das blonde Haar in die Augen hinabfiel und der sie mit einem entsetzten Blick ansah – so bedurfte es einer ganzen Weile, bis Jacobsen sich beruhigen konnte. Wurde er zu einer größeren Festlichkeit eingeladen, so mußte er im voraus wissen, wen er zu Tische führen sollte, damit er nicht ganz den Mut verlor, wenn die Schlacht begann. Kannte er aber die Schöne ein wenig, so söhnte er sich bald mit seinem Schicksal aus.

In Wirklichkeit war er nämlich bei allen beliebt, nicht zum mindesten bei den Frauen. Er war so außerordentlich einnehmend, mit seinem bezaubernden Lächeln, in dem sich Zärtlichkeit und Gutmütigkeit mit Schelmerei mischten. Wohl nannte man ihn einen Träumer, doch war er keineswegs ein romantisch schwärmerischer Jüngling, der den Fuß nicht auf die Erde setzte, und der, wenn er endlich einmal den Mund öffnete, ernsthaft-strebend feierlich redete. Im Gegenteil, er war immer munter, aufgelegt zu einem guten Scherz, voll der barocksten Einfälle. Er, der die dänische Prosa aus einer zeichnenden in eine malende verwandelte und forderte, daß in der Nußschale eines Wortes eine Welt enthalten sein solle – er konnte es nicht lassen, sich selbst einen eigenen Jargon zu bilden. Für alles, Menschen wie Dinge, hatte er eine besondere Bezeichnung und er drückte sich ungern auf direkte Weise mit den einfachen, alltäglichen Wörtern aus. Selbst noch in den Achtziger-Jahren, als er in der Ny-Adelgade wohnte, hielt er an diesem Jargon fest. Er konnte auf den Einfall kommen, zu jemand, der zu ihm ins Zimmer trat, zu sagen: »Nimm Dir ein Pferd und mache einen Ritt!« – was in gewöhnlicher Redeweise bedeutete: »Nimm Dir einen Stuhl und setze Dich!« Aber man scheut sich beinahe, so etwas zu erzählen und dabei zu verweilen. Der Leser könnte sich leicht die falsche, grundfalsche Vorstellung bilden, daß Jacobsen ein Mensch war, der sich in Affektion gefiel, ähnlich dem gräßlichen Kamma Rahbekschen Hügelhaus-Jargon. Jacobsen war keineswegs affektiert: er war ein eigener Mensch mit einer unverwüstlich echten Gesundheit in seinem ganzen Sein.

Und dann – wenn er redete, so lauschte man unwillkürlich, weil, was er sagte, fein und witzig war, und auch noch aus einem andern Grund:

Er hatte die schönste Stimme mit einem tiefen, volltönenden Klang, in dem auch nicht ein einziger Fehler war; da war kein Lispeln oder Schleppen, kein Laut wurde anders ausgesprochen, als Hochdänisch ausgesprochen werden muß. Obwohl er in Jütland geboren war und lange dort gelebt hatte, war seine Aussprache ganz dialektfrei. Selbst als Jacobsen durch Krankheit geschwächt war, bewahrte er die Schönheit seiner Stimme, wenn auch nicht ihre Kraft. Man sollte nur gehört haben, wie er, als er noch jung war, die ersten Kapitel von Marie Grubbe vorlas, mit der allersichersten Stimmung und Farbe für jedes einzelne Wort. Oder vielleicht noch lieber eines seiner Gedichte: Die Gurrelieder oder die erste Arabeske: schöne, volle Orgeltöne!

*

Es war in einer Winternacht zu Anfang des Jahres 1872, als Jacobsen – die Uhr mochte zwei sein, und er und sein Gast hatten ganze Haufen Literatur in schönster Einigkeit besprochen – plötzlich erzählte, daß er, seit er ein Knabe war, Verse geschrieben habe. Es war in seiner armseligen Stube in der Studiesträde; sie hatten ungarischen Wein getrunken und einige ungeheuer trockene und wenig wohlschmeckende Kuchen gegessen. Der Freund lag, so lang er war, auf dem Sofa, von dem man immer fürchtete, daß es zusammenbrechen würde, und er war ziemlich müde. Jacobsen dahingegen paffte aus seiner langen Pfeife – er rauchte beständig und war verzweifelt, als ihm die Ärzte schließlich das Rauchen verboten – Jacobsen saß wie ein Weiser da, über der Pfeife und dem Glase grübelnd. Nach einigem Hinundherreden wurde beschlossen, daß Jacobsen eins seiner Gedichte vorlesen sollte – nur zum Zeitvertreib. Mit komischem Eifer suchte er ein Blatt Papier hervor, ziemlich nervös, während er sich den Anschein gab, als sei es nur ein Einfall, der keinerlei Bedeutung habe.

Und dann begann Jacobsen zu lesen, anfangs ein wenig ängstlich, dann sicher und von seinem Gefühl getragen, mit seiner schönen Stimme, die stärker klang in der nächtlichen Stille:

»Irrtest Du in dunklen Wäldern?
Kennst Du Pan?
Ich fühlte ihn,
Nicht in den dunklen Wäldern,
Wo alles Schweigende sprach,
Nein, den Pan hab ich nie gekannt,
Doch der Liebe Pan hab ich gefühlt,
Da schwieg alles Redende.«

*

Während dieser Vorlesung, wo zum ersten Male die eigenartigen und schönen Töne eines Saitenspiels erklangen, desgleichen nie in dänischer Poesie gehört worden war, richtete sich der Freund höher und höher im Sofa auf und betrachtete Jacobsen mit wachsendem Staunen. Als dieser geendet hatte, rief er im selben Augenblick aus: »Aber Du bist ja ein Dichter!«

»Ja, das weiß ich sehr wohl!« erwiderte Jacobsen mit einer gewissen Ruhe, »und das habe ich immer gewußt.« Und wirklich, er hatte es immer gewußt, war mit seinem Träumen und Wissen umhergegangen, ohne irgend jemand etwas darüber mitzuteilen.

Es war ganz unmöglich für andere, seine Gedanken zu ahnen; nichts in Jacobsens Rede und Wesen verriet bis dahin, daß er davon träumte, ein Dichter zu werden, und zwar einer der Großen, ein Erneuerer und Grundleger. Sein Auftreten war ebenso bescheiden wie seine Lebensführung einfach erschien, und wollte man es bezeichnen, so glich es mehr dem eines genialen Müßiggängers als dem eines zielbewußten Arbeiters.

Wünschte man, Jacobsen zu besuchen und ganz sicher zu sein, daß man ihn zu Hause antraf, so mußte man gegen zwölf Uhr zu ihm gehen. Denn dann lag er noch im Bett. Doch war man um diese Zeit natürlich nicht sehr willkommen, namentlich, wenn er noch nicht ausgeschlafen hatte. Da war es dann natürlich besser, zwischen eins und zwei Uhr zu kommen. Um die Zeit konnte man freilich Gefahr laufen, daß er ausgegangen war, um noch einige Bücher aus einer der Bibliotheken zu holen oder vielleicht um einen Spaziergang zu machen. Hiermit wartete er indessen in der Regel, bis die Hauptstraßen am belebtesten waren, dann ging er wie andere junge Leute mitten durch die Stadt und betrachtete die hübschen lustwandelnden Menschenkinder. Schon damals zeigte er eine Vorliebe für den hohen schwarzen Zylinderhut (mit dazugehörigem Schutz-Regenschirm), über den er selbst in Briefen spottet, und mit dem er sogar durch Europa reiste. Vom Spaziergang ging er am liebsten geradewegs in den Studentenverein hinauf, wo er ein Mittagessen verzehrte, das billig, wenn auch nicht wohlschmeckend war. Er liebte den Studentenverein nicht, im Gegenteil, er war ein ebenso großer Gegner von dessen Geist und dessen Führern wie seine Kameraden, aber er war ein Gewohnheitsmensch und ein schüchterner Student und ein armer Bursche, und an den Tisch im Studentenverein setzte er sich ohne die geringste Schererei. So ging er auch ferner dorthin, falls er nicht mit dem kleinen Kreis werdender Schriftsteller der Siebziger Jahre aß.

Vom Mittagessen ging er nach Hause, und nun kamen die Stunden, wo er arbeitete, jedenfalls las er immer, wenn er allein war und nicht seine Dichterträume träumte, formte Worte und Stimmungen, die in seinem Gehirn hafteten und die er hervorholen und benutzen konnte, wann er wollte.

Bis die Uhr neun war, saß er zu Hause, und dann ging er, wenn nichts anderes vorlag, regelmäßig in ein Café, wo er einige Freunde traf.

Ein Café an der Ecke der Nygade und des Gammeltorv war zu jener Zeit das Stammcafé für einen ganz anderen Kreis als der, zu dem Jacobsen gehörte. Nämlich für Hoedts Kreis. Abend für Abend sah man diese gefallene – selbstgemordete Größe, den ehemaligen Hofschauspieler, da hineinwandern. Nachdem er seine ewigen Galoschen und einen der vielen Überzieher, mit denen er zum Staunen der jüngeren Generation wechseln konnte, an derselben Stelle angebracht hatte, sah man ihn sich selbst ebenso regelmäßig auf denselben Stuhl setzen, und dann begann er abermals ebenso regelmäßig, dieselben, genau dieselben Geschichten zu erzählen.

Und doch war es nicht langweilig, ihm zuzuhören, keineswegs. Er war schön, redegewandt, zuweilen witzig, und er erzählte nicht nur gut, sondern zur Vollkommenheit, was er beinahe einstudiert hatte. Und es war lehrreich für die Jüngeren, war merkwürdig. Denn da saß der Mann, der Kopenhagen während einer Reihe von Jahren in Atem gehalten, der selbst gegen Johann Ludwig Heiberg und Frau Heiberg gekämpft hatte, und der, wenn auch überwunden, den Sieger besiegt hatte. Nach dem Kampf hatte Heiberg seine Stellung als Leiter des Königlichen Theaters aufgeben müssen, und Frau Heiberg hatte sich bald darauf von der Bühne zurückgezogen. In dieser Periode, in diesem Streit lebte Hoedt noch beständig und während seines ganzen Lebens. Außerdem war er auch, weil er durch seine Tätigkeit als Lehrer und Regisseur noch immer in Verbindung mit dem Theater stand, voller Interesse für die Jugend. Zu jener Zeit besuchte er das Königliche Theater noch – in das er wenige Jahre später keinen Fuß mehr setzte.

Um ihn bildete sich ein Kreis, aus dem in Jacobsens Briefen Magnus erwähnt wird, der Hoedts Schatten war, jeden Abend war er mit ihm zusammen, und ihm lag die Pflicht ob, zu sehr vorgeschrittener Stunde in der Nacht Hamlet nach seiner Wohnung in der Nörregade zu geleiten. Hoedt hatte einen Abscheu davor, allein zu sein – in anderer Beziehung bedurfte er nicht eines Geleites, denn er war der nüchternste, korrekteste Mensch. J. C. Magnus, der Thiers Geschichte übersetzt hatte und ein wenig Journalist im Auslandsfach war, ohne sonderliches Talent, aber ganz aufmerksam, sah mit einer nie nachlassenden Bewunderung zu Hoedt auf und war ihm unentbehrlich. Als Hoedt, der viele Jahre lang nicht im Ausland gewesen war, sich endlich einmal zu einer Reise nach Deutschland entschloß, verlangte er, daß Magnus ihn begleiten sollte. Sie kamen bis Hamburg, da kehrte Hoedt um, weil er sich nicht behaglich fühlte. Er konnte ganz einfach Kopenhagen nicht entbehren, wo, wie er selbst äußerte, alle ihn kannten, alle wußten, wer Professor Hoedt war. Es gefiel ihm nicht, ein ganz gewöhnlicher Reisender zu sein, ein Eisenbahnpassagier, er war gewöhnt, daß man wie zu einem Stern zu ihm aufsah. Er ahnte nicht, daß selbst die jüngere Generation nicht umhin konnte, ihn mit einem leisen ironischen Lächeln zu betrachten, wie liebenswürdig er auch war und wie sehr er auch seinen nächsten Kreis überragte.

Die andern, die zu Hoedts Umgebung gehörten, sahen es sehr ungern, daß er sich mit der jüngeren Generation, den Radikalen, verbrüderte – man mag nun der Ansicht sein, daß dies Hoedt zur Ehre gereichte oder nicht. Er fand vielleicht eine größere Empfänglichkeit und frischere Gedanken bei den Neuangekommenen, mit denen ihn außerdem die gemeinsame Verbitterung gegen das Plough'sche Regiment verband. Im übrigen wurde der Verkehr mit diesen radikalen Leuten dem alten Tierkreis – so nannte man Hoedts Gesellschaft – bald zu heiß; der Tierkreis verzog in ein anderes Café, wo Jacobsen und seine Freunde nicht verkehrten, wenn sie überhaupt noch regelmäßig ein Café besuchten.

Aber noch im Jahre 1872 und zu Anfang des Jahres 1873 war Jacobsen fast jeden Abend in dem Café am Gammeltorv. Und wenn diese Zufluchtsstätte geschlossen wurde, ging er nur ungern nach Hause, ein unverbesserlicher Nachtrabe, wie er war. Dann erst zu Ginderup, der länger offenhielt, um schließlich entweder in einem sehr einfachen Lokal, dem sogenannten Mokka-Meyer, dem Nikolaj-Turm gegenüber zu stranden, oder stundenlange Spaziergänge in den Straßen zu machen, oder auch, wenn das Wetter zu schlecht war und man unter Dach wollte, in das bescheidene Stübchen in der Studiesträde hinauf, wo dann der Strom der Rede bis an den hellen Morgen floß.

Hierauf ging Jacobsen zu Bett und las noch eine Stunde.

Er las alle Bücher, die er nur bewältigen konnte, Schöne Literatur und eine Menge Geschichte. Er las, wie alle damaligen Studenten, Deutsch so leicht wie seine Muttersprache. Auf eigene Faust hatte er vorzüglich Englisch gelernt, was einige Zeit seine Lieblingssprache war, in der er namentlich Dickens und Tennyson las; langsamer eignete er sich das Französische an. Über diese drei Sprachen kam er in der Lektüre nie hinaus – er konnte nicht Isländisch, wohingegen er nach seinem Aufenthalt in Italien recht gut Italienisch verstand. In seiner Jugend gab er von den hervorragenden Schriftstellern der Weltliteratur den großen Naiven, wie man sie mit einer kurzen Bezeichnung nennen kann, den Vorzug, Schriftstellern wie H. C. Andersen und Dickens. Gleichzeitig hielt er sich – zum Erstaunen seiner nächsten Studienkameraden – nicht davon zurück, den ganzen modernen Gouvernantenroman – die Damen Oliphant, Braddon, Florence Marryat, Ouida und wie sie alle heißen – zu durchpflügen: zum Ausruhen, um Gedanken und Träume niederzuhalten. Natürlich kannte er die dänische Literatur bis auf den Grund: damals würde ein sich zum Kampf rüstender junger Schriftsteller es für eine nicht abzuschüttelnde Schande gehalten haben, wenn er nicht den ganzen Oehlenschläger sowie den ganzen Goethe gelesen hätte. – Ob das noch heute so ist?

*

Im Frühling 1872 wurde dann Mogens geschrieben und in der Nyt Dansk Maanedsskrift veröffentlicht – der Mogens, mit dem Jacobsen in die Literatur eintrat und mit dem eine neue Zeit beginnt.

»Sommer war es; mitten am Tage; in einer Ecke des Gehäges.«

Das ist der Auftakt. Und wer ein feines Ohr hatte, konnte in diesen wenigen Worten, die in anderer Schlachtordnung aufgestellt waren, als man es bisher gekannt hatte, die Fanfare der neuen Zeit hören. Bis zu seinem letzten Blutstropfen würde Jacobsen behauptet haben, daß es nur heißen könne: » Sommer war es«, und daß alles zusammenstürzen würde, Sprache und Poesie, Stimmung und Klang, wenn man auf alltägliche Weise: » Es war Sommer« gesagt hätte.

Er hatte Recht, obwohl es offen gestanden damals wenige gab, die das begriffen, und obwohl selbst Leute mit viel Sinn für Literatur nicht gleich begriffen, was diese neue Prosa bedeutete, und lachten, als ein enthusiastischer Freund Jacobsens in intimem Kreise das erste Kapitel aus Mogens vorlas. Freilich währte es nicht lange, bis alle Freunde Jacobsens überzeugt waren von dem großen Talent, das sich in den wenigen Kapiteln von Mogens durch die persönliche und eigentümliche Sprache offenbarte, in der die Novelle geschrieben war.

Jacobsen hatte Recht, wenn er damals schrieb: » Sommer war es« und wenn er mit der jetzt so berühmten Schilderung des Regenwetters fortfährt, das trotz H. C. Andersens Einfluß die erste natürliche Schilderung in der dänischen Literatur ist. Er hatte Recht, jedes Wort so reich und gewichtig zu machen, als spiele er mit goldenem Brettspiel über neugeschaffener Erde. Er war der Erneuerer, der Schöpfer – er sollte alte und neue Wörter zusammensetzen und umformen, vertiefen und von weither holen, durchglühen und ausmeißeln. Er war der Lehrer, und von ihm hat man gelernt, so daß nach ihm nicht auf dieselbe Weise Dänisch geschrieben wird wie vor ihm. Aber man sollte nicht mehr bestrebt sein, die Sprache in seinem Geist zu verdichten und zu durchfärben. Andere Zeiten – andere Rede! Wohl möglich, daß man heutzutage einfacher und natürlicher erzählen soll, wenn auch mit Jacobsens starkem Stil im Gedächtnis.

Wie er seine Sprache formte? Jetzt wissen es alle, wie er den alltäglich abgenutzten, den ungefähren, den nichtmalenden, den klanglosen Ausdruck beiseite schob, wie er jedes Wort wie einen lebenden Organismus, wie eine kleine Welt für sich betrachtete und die Arbeit nicht aufgab, bis das Beste, das Richtigste, das Einzig-Richtige gefunden war.

Aber bestimmter: woher nahm er seinen Wörtervorrat? Die Antwort muß die sein, daß er sich allmählich eine allumfassende Kenntnis der dänischen Sprache erworben hatte – geschöpft aus der Lektüre älterer und neuerer Literatur und vermehrt durch seine Kindheitskenntnisse des Jütischen. Und zu allerletzt entnahm er sein Dänisch direkt den wenigen, mäßigen Wörterbüchern, die in dänischer Sprache vorliegen. In einem der Briefe schreibt er, daß er Molbechs Dansk Ordbog liest. Das ist kein Scherz. Jacobsen hat dies und andere Wörterbücher sorgfältig durchgearbeitet, in seinem Gedächtnis, oder vielmehr auf dem Papier angemerkt, was er an eigenartigen, treffenden, ein wenig veralteten, aber doch verwendbaren Wörtern und Ausdrücken fand. Man wird unter hinterlassenen Aufzeichnungen solche Wörterlisten finden. Er benutzte jedoch keineswegs seine Funde in der Art, daß er seinen Stil mit diesen halb unbekannten Bezeichnungen ausschmückte. Aber er unterstützte dadurch seine Sprachkenntnisse. Jütisch freilich konnte er besser als die meisten. Und im übrigen wurzelt wohl das Jütische gleichsam tiefer in dem Grundwall des Dänischen als die Dialekte der anderen Landesteile.

*

Im Laufe des Frühlings 1872 dichtete also Jacobsen Mogens – schrieb die Novelle auf Oktavseiten, auf vielfarbigem, rotem, gelbem, blauem Papier nieder, so wie bei allen späteren Werken – schrieb sie nicht in einem Zuge, in einem langen Atemzug – sondern in ganz kleinen Stücken, das ihm eins nach dem andern entrissen und in die Druckerei gebracht wurde. Und auf diese Weise verfaßte er auch seine größeren Werke: Seite für Seite, ja, Satz für Satz mit einem Zwischenraum von Tagen. Man sieht das am besten aus den Aufzeichnungen über Niels Lyhne: sechs Seiten geschrieben im Laufe von 1877, siebenundzwanzig Seiten geschrieben vom Juni bis September 1878, sieben Seiten geschrieben in Rom vom November 1878 bis April 1879.

Dies mag ja aussehen wie Trägheit: sieben Seiten in einem halben Jahr, wo doch während seines Aufenthalts in Rom nichts seine Gedanken zerstreute. Aber man braucht die Erklärung seiner Arbeitsweise nicht einmal auf Jacobsens Krankheit zu schieben. Man erinnere sich lieber, daß Henrik Ibsen regelmäßig zwei Jahre gebrauchte, um ein Schauspiel zu schreiben, dessen räumlicher Umfang wohl kaum mehr beträgt als den vierten Teil eines Romans wie Niels Lyhne. Bei beiden Dichtern beruht die langsame Arbeit auf der gewollten und gewohnten Konzentration: will und muß man so viel Gelebtes und Gedachtes in jedes geschriebene Wort legen, so bedarf es einer langwierigen Vertiefung. Wenn man Jacobsen hat arbeiten sehen, so versteht man das sehr wohl. Einmal – gleichgültig aus welchem Grunde – wollte er in Gegenwart eines Freundes eine Erwiderung ausarbeiten, die einer Frau in einer bestimmten Schauspiel-Situation in den Mund gelegt werden sollte. Jacobsen bat den Freund, ein Buch zu nehmen. Darauf setzte er sich in seinen Stuhl – es war in der Ny-Adelgade – schloß seine Augen halb und verschwand aus dem täglichen Leben, Freund, Zimmer, Ny-Adelgade und dem Ganzen, ungefähr wie Muhamed in das Paradies entschwand, während sein Körper auf der Erde zurückblieb. Jacobsen saß zwei Stunden fast regungslos da, ganz in sich selbst versunken, ganz davon in Anspruch genommen, sich in – ja, anders kann man es nicht ausdrücken – in die Seele der gedachten Frau hineinzubegeben. Es war wie in dem Märchen, wo ein von den Feen begnadeter Jüngling in das Dasein anderer Wesen hinein seelenwandern kann. Als Jacobsen fertig war, sagte er mit Anstrengung – fast stöhnend wie ein vom Gotte inspirierter Wahrsager – drei oder vier Sätze, die unleugbar in einer vorzüglichen Form gerade das ausdrückten, was jene Frau hätte sagen müssen. Und doch bildeten diese beiden Stunden nur einen hundertsten Teil von dem Grübeln, das für Jacobsen erforderlich war, wenn es sich darum handelte zu schaffen. Hier war im Grunde nur von einem Scherz die Rede: jene wenigen Sätze sollten in keinem von Jacobsens Büchern gedruckt werden. Nur wenn man sich vergegenwärtigt, daß Jacobsens Arbeit eine so langsam prüfende, so tief eingehende, so stark sich sammelnde war, so versteht man die Worte, die er Niels Lyhne sagen läßt, und die nur auf Jacobsen selbst paßten, nicht auf den Niels Lyhne, der niemals etwas schreiben sollte. Aber das Motto für das künstlerische Wollen von Niels Lyhnes Dichter lautet:

 

»Ich will in dem Kampf um das Größte mit dabei sein, und ich verspreche Dir, daß ich nie verzagen, stets treu sein werde gegen mich selber und gegen das, was ich besitze. Das Beste soll mir gut genug sein und nichts weiter; kein Auf-Akkord-Gehen; kann ich fühlen, daß was ich geschaffen, nicht gewichtig genug ist, oder kann ich hören, daß es einen Sprung oder Riß hat, zurück in den Schmelztiegel damit, stets nur das Alleräußerste, was ich zu geben vermag.«

 

Ist es zu verwundern, daß das Formen eines Satzes wie dieser, in einer so schönen, so gedankenreichen Sprache gedichtet, einem kunstfertig klassischen Gedicht vergleichbar, Stunden und Tage erforderte?

*

Zu Anfang des Jahres 1873 begann Jacobsen mit Marie Grubbe – man kann aus den Briefen ersehen, wann und wie der Plan zu dem Buch sich bei ihm befestigte – aber als die ersten Kapitel geschrieben waren, brach er ab und reiste Ende Juni nach Deutschland. In Dresden traf er einen Freund, mit dem er eine längere Reise machen wollte.

Die Reise gestaltete sich folgendermaßen: Dresden mit selbstverständlichem Ausflug nach der sächsischen Schweiz, München, Prag, Wien, wo 1873 Weltausstellung war, was jedoch Jacobsen weit weniger interessierte als das Hofburgtheater, das damals Lewinsky, Sonnenthal und Frau Wolter in kräftiger Jugend zu seinen Sternen zählte. Dann wieder zurück nach München, aber über Salzburg und mit einer herrlichen Fußtour von einer kleinen Station nach Berchtesgaden. Von München reiste man nach Innsbruck, wo Stadt und Umgegend mit gleicher Gründlichkeit besehen wurden, und wo Jacobsen Gelegenheit hatte, ein kleines Bauern-Passionsspiel zu sehen, das eine Meile von Innsbruck entfernt aufgeführt wurde, ähnlich wie das große Oberammergauer Passionsspiel. Und von dort weiter nach Trient und nach »dem kleinen Riva an den Ufern des Gardasees«, wie es in Niels Lyhne heißt.

Denn es ist eine Erinnerung von jener Reise, wenn Jacobsen Niels Lyhne dort im »Hotel zur Goldenen Sonne« Wohnung nehmen läßt, dessen entzückender Garten sich ganz bis an den schönen, stillen See erstreckt. Gerade hier wohnte Jacobsen, und das Hotel, hat seinen Ursprung nicht aus freier Dichtung. Und 1873 war gerade die Cholera »im Venezianischen, südwärts in Descensano und nordwärts in Trient ausgebrochen« und deswegen waren so wenig Gäste in der »Goldenen Sonne«, wie Jacobsen es beschreibt – nur er und seine Reisegenossen. In sofern hält er sich genau an die Wirklichkeit, sogar die Segelfahrt noch Limone unternahm er hier an einem schönen Sommermorgen.

Aber Madame Odéro? Nein, sie war nicht da. Und vielleicht doch?

In der » Goldenen Sonne« war nämlich eine sehr hübsche Wirtin, eine schwarzäugige Italienerin, groß und breitbusig, die, da das Hotel ganz leer war, teils aus Langeweile, teils wohl um die wenigen Gäste so lange wie möglich zu behalten, diese selbst auf die allertüchtigste Weise bediente. Sie pflegte des Morgens und des Abends unten in dem schönen Garten zu sitzen und dessen »allerschönster Schmuck« zu sein, und sie wurde wohl zu dem umgedichteten Vorbilde der Madame Odéro. Man muß aber nicht glauben, daß Jacobsen ihr auch nur auf unschuldige Reise-Weise den Hof machte. Ach nein, dazu würde er viel zu schüchtern und verlegen gewesen sein, selbst wenn ihn nicht ein unüberwindliches Hindernis zurückgehalten hätte: nämlich die Sprache. Die schöne Wirtin konnte nur Italienisch, und Jacobsen sprach fremde Sprachen nur sehr mangelhaft. Wie vorzüglich er sich auch die Hauptsprachen durch Lektüre angeeignet hatte, war er doch nicht imstande, selbst auf Deutsch zwei zusammenhängende Sätze zu sagen, jedenfalls nicht, als er ganz jung war. Und damals konnte er kein Wort Italienisch. Er war so abgeneigt, auch nur einen Versuch in der ausländischen Sprache zu machen, die Mühe war ihm so zuwider, daß er halb aus Wut die Kellner in den italienischen Restaurants – dänisch anredete. Er behauptete mit komischem Ernst, daß das vortrefflich gehe und war stolz darauf, daß das dänische Suppe als zuppa verstanden werden konnte, und das Fisk einmal richtig als pesce aufgefaßt wurde – wahrscheinlich von einem Kellner, der Deutsch verstand.

Von Riva ging es weiter nach Verona. Dann nach Mailand und durch Pavia, Bergamo, Brescia nach Venedig. Wieder nach Verona, von wo man einen Abstecher nach Mantua machte, und dann nach Florenz mit Ausflügen nach Ravenna und Parma. Und dann blieb Jacobsen in Florenz, bis er krank nach Dänemark zurückkehrte, in großer Eile, um Thisted zu erreichen. Die Reise hatte sich ungefähr über vier Monate erstreckt.

Auf dieser Reise war Jacobsen vom Morgen bis zum Abend jugendlich und begeistert eifrig, alles Sehenswerte zu sehen. Es verhält sich wirklich so, wie er in seinem Brief erwähnt, daß da nicht das kleinste Bild in dem entferntesten Winkel des Galeriesaales war, das er nicht eingehend betrachtet hatte. Als Jacobsen die Reise beendet hatte, kannte er den Stil aller bedeutenden alt-italienischen Maler sehr genau. Die Reise nach Parma wurde ausschließlich unternommen, um Correggio zu studieren, dessen Schöpfung man ja nur dort sehen kann und dessen Anmut man versteht, wenn man durch den Schloßpark wandert und dort von der Brustwehr über die herrliche Ebene hinaus sieht, die die Stadt umgibt. Das Thistedter Kind, der Student, der noch nichts gesehen hatte, genoß die geheimnisvolle Schönheit ebenso leidenschaftlich wie in Ravenna die stolzen Gothen-Ruinen. Vielleicht haben diese letzteren den größten Eindruck auf ihn gemacht.

Angenehm war es auch, daß die Furcht vor der Cholera die ganze Touristenroute von Fremden gesäubert hatte. In Venedig betrachteten die Gondoliere fast mit Bewunderung die wenigen Fremden, die sie nach langer Untätigkeit übervorteilen konnten.

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In Venedig aber geschah es, daß die ersten Krankheitssymptome – ohne daß er selbst oder andere es ahnten – sich bei Jacobsen zeigten.

Als er eines Tages in einer Gondel ausgefahren war, um eine der sehenswertesten Kirchen zu besuchen – es war San Giovanni e Paolo – wurde er plötzlich von heftigen Magenschmerzen und starker Diarrhöe befallen. Es war nicht leicht, ihm zu helfen, ein unpraktischer Reisender, der er war, außerstande, ein paar italienische Worte zu sagen; aber sein Zustand verschlimmerte sich derartig, daß er seine mißliche Lage mit dem besten Willen nicht ein wenig munter aufzufassen vermochte. Er mußte schleunigst ins Hotel zurückkehren. Einige Tage war er recht elend, aber er selber wie auch sein Reisegenosse waren der Meinung, daß wohl die Sommerwärme und die ungewohnte Nahrungsweise ihm dies Leiden zugezogen hätten. Und bald darauf war das Ganze vergessen.

Aber dann, wenige Wochen später, eines Morgens in Florenz, kam sein Reisegefährte zu ihm ins Zimmer. Er saß, nicht ganz angekleidet, auf einem Stuhl, war sehr blaß und sah bitterlich verzagt aus, mit einem Blick voller Angst, fast hoffnungslos.

»Was fehlt Dir nur einmal? Bist Du krank?«

»Nein«, antwortete Jacobsen und bemühte sich, ruhig zu scheinen, »ich bin nicht krank, aber ich habe Blut gespuckt.«

Und auf die Frage des andern erklärte er nun, daß er, als er sich die Zähne bürstete, den Mund voll Blut bekommen habe. Anfangs habe er sich nichts daraus gemacht, weil er glaubte, daß er sich mit der Zahnbürste blutig gerieben habe, aber sehr bald wurde ihm klar, daß diese Auffassung nicht stimmen konnte. Und er zeigte, mit einem Versuch zu lächeln und die Sache ins Scherzhafte zu ziehen, welche Menge Blut er verloren hatte.

Als er das Entsetzen des Freundes sah, nahm er sich zusammen. Er wollte nicht krank sein, wollte nicht, daß der Name der Krankheit genannt wurde, wollte nichts davon wissen, daß sein Zustand gefährlich war – weder damals noch später.

Aber im Oktober 1873 kehrte er dann vom Tode gezeichnet nach Thistedt zurück. Und im Dezember desselben Jahres machte ein Arzt die folgende Beschreibung von seiner Krankheit, von der Aussicht auf Genesung und fortgesetzte Arbeit:

»Als Herr Jacobsen im Herbst von seiner Reise ins Ausland nach Thistedt zurückkehrte, war sein Zustand in hohem Grade beunruhigend. Er war in äußerstem Maße abgemagert, war kurzluftig, hustete, litt in höchstem Grade an Nachtschweiß, es war bedeutende Heiserkeit vorhanden und mittels Stethoskopie wurde eine Verdichtung der rechten Lungenspitze sowie eine Caverne festgestellt. Nachdem eine passende Behandlung angeordnet wurde, hat Jacobsen seit seiner Ankunft dreizehneinhalb Pfund an Gewicht zugenommen, sein Aussehen hat sich gebessert, und die Heiserkeit ist verschwunden. Husten und Nachtschweiß sind auf ein Minimum reduziert. Indessen ist die Stethoskopie unverändert und vor acht Tagen trat in einer Morgenstunde eine nicht unbedeutende Hämotype ein: … Ein Aufenthalt in Aegypten von sehr langer Dauer würde ja allerdings zu empfehlen sein, aber auf der andern Seite kann man ja nicht garantieren, daß hierdurch eine Heilung bewirkt wird, und bisher scheint sein Aufenthalt hier in seinem Heim ihm ja nur förderlich gewesen zu sein. Inwieweit er seine frühere Arbeitskraft wird wiedergewinnen können, ist wohl nicht leicht zu entscheiden.«

Er gewann seine Arbeitskraft wieder. In den elf und einem halben Jahr, die er nach seiner Heimkehr lebte, schrieb er die Werke, die seinen Namen unvergeßlich gemacht haben.

*

Im Laufe von drei Jahren, vom Herbst 1873 bis zum Dezember 1876, wurde dann Marie Grubbe vollendet.

Rein formell gesehen, ist es ein Buch, das von einer Frau handelt, die von vielen Männern umworben ist, und die selbst zu nicht wenigen Männern in Liebe entbrennt. Der historische Stoff gab Jacobsen Marie Grubbe's Gestalt, aber zweifelsohne reizte ihn die Lust, den Wert und das Recht eines leidenschaftlichen und selbst in seinem Fall großen Liebesgefühls zu schildern und zu erklären. Er wollte bis auf den Grund der dänischen Sprache – daher der historische Roman, der so recht ein Schwelgen in alten Wörtern und eigentümlichen Wendungen gestattete. Aus seinen Briefen und Aufzeichnungen lernt man, wie gründlich er zu Werke ging, und mit welcher wissenschaftlichen Genauigkeit er einen Stoff bearbeitet, den er benutzen konnte. In Wirklichkeit ist ja Marie Grubbe der erste historische Roman in Dänemark auf dem Gebiet, welches das unglücklicherweise fremde Wort » Interieurs« auf dem Titelblatt bezeichnet. Aus dem ersten Brief über das Buch (vom 7. März 1873) erfährt man, daß Jacobsen beabsichtigt hatte, » Interieur« in der Einzahl zu schreiben; er wollte mit dieser Bezeichnung die Einwendungen abwehren, die gegen Marie Grubbe's Komposition als Roman gerichtet werden konnten und natürlich gerichtet wurden. Das Buch besteht ja aus einer Reihe von teils um Marie Grubbe gruppierten Auftritten, in denen die Personen kommen und verschwinden, ohne alle in eine große Handlung hineingearbeitet zu sein – und übrigens ist leider Niels Lyhne ganz ebenso komponiert, nur daß hier Szenen und Gestalten an einem liebeträumenden Manne vorüberziehen, statt an einer erotisch vielbewegten Frau.

Indessen, während es leicht und unvermeidlich ist, Jacobsen in Niels Lyhnes Hauptperson zu erblicken, so wird es anscheinend schwieriger, ihn in Marie Grubbe zu finden, denn er ist ja weder Ulrik Frederik Gyldenlove noch Ulrik Christian Gyldenlove, und vielleicht erscheinen diese gerade deswegen weniger lebendig als die Interieurs, die sie umgeben; der wunderbare Auftritt, wie Ulrik Christian stirbt, ist der einzige, in dem seine Gestalt lebt.

Und doch ist Jacobsen in verschiedener Vermummung in dem Buch anwesend.

In erster Linie – was man wunderbarer Weise übersehen hat – als Magister Holberg im Schlußkapitel. Jacobsen hat sich selbst am äußersten Rande des großen historischen Bildes angebracht, auf alter Meister Art. Niemand, der ihn gekannt hat, wird darüber in Zweifel sein, daß er sich selbst in den folgenden Zeilen geschildert hat:

»Magister Holberg war ein sehr stiller Mann mit einem außerordentlich jugendlichen Aussehen; er schien auf den ersten Blick nur achtzehn, neunzehn Jahre alt zu sein, beachtete man aber seinen Mund und seine Hände und den Ausdruck in seiner Stimme, so konnte man wohl erkennen, daß er beträchtlich älter sein mußte. Er hielt sich sehr für sich, sprach wenig und, wie es schien, nicht gern. Doch scheute er keineswegs Gesellschaft, wenn sie nur so beschaffen war, daß man ihn in Ruhe ließ und ihn nicht in die Unterhaltung hineinziehen wollte; und es war ihm offenbar ein Vergnügen, wenn die Fähre Leute hin und her brachte, oder wenn die Fischer mit ihrem Fang an Land kamen, aus der Entfernung ihre Geschäftigkeit zu beobachten und ihrem Wortaustausch zu lauschen.«

Das Aussehen ist das Jacobsens – die große Jugendlichkeit, die bedeutungsvolle Schönheit des Mundes und der Hände – die Lust zu schweigen – und das stille Vergnügen, beobachtend andere sprechen zu hören. Gerade weil es Jacobsen belustigte, sich selbst in der Gestalt des großen Holberg anzubringen, hat er diese im übrigen ein wenig spießbürgerlich und pedantisch gehalten, er wollte nicht, daß man ihn beschuldigen sollte, Holberg als Sprachrohr zu benutzen.

Doch dieses Selbstporträt ist wohl im Grunde als künstlerischer Scherz aufzufassen. Findet man Jacobsen denn nicht noch sonst in Marie Grubbe?

Er meinte selbst, er habe sich als Stig Hög vermummt – als der Ritter, der der Kompagnie der Melancholischen angehört. Man lese, was Stig Hög Marie in ihrer ersten Unterhaltung sagt, und man wird schnell begreifen, daß hier ein Dichter – was Stig Hög nicht sein soll – von seinem eigenen fühlenden und träumenden Naturell redet:

 

»Das sind Leute, denen von Geburt an eine andere Natur und Beschaffenheit gegeben ist als andern: sie haben ein größeres Herz und hurtigeres Blut, sie lechzen und verlangen nach mehr, begehren stärker, und ihre Sehnsucht ist wilder und brennender, als sie bei dem gemeinen Adelshaufen ist. Sie sind flugs wie Sonntagskinder, ihre Augen sind offener, alle ihre Sinne sind subtiler in ihren Empfindungen. Des Lebens Freud und Lust, die trinken sie mit ihren Herzenswurzeln, während die andern, die greifen nur mit ihren plumpen Händen danach.«

 

Wenn jemand nicht davon überzeugt sein sollte, wessen »Natur und Beschaffenheit« Jacobsen hier schildert, so lese man nur weiter – lese, wie »Wollust in Schönheit, Wollust in Pracht, Wollust in den geheimen Trieben und Gedanken« (Worte, die als Motto für Marie Grubbes Farbenreichtum als Zeit- und Seelen-Malerei stehen könnten) wie dies alles für die Melancholischen künstlerischer Balsam ist. Und als Marie Grubbe fragt, weshalb man diese Leute die Melancholischen nennt, dieweil sie doch nur die Freuden und die Lust der Welt in ihren Gedanken haben, da antwortete Stig Hög ungeduldig und mit Verachtung: »Weil alle Wollust, sobald man sie ergreifet, das Kleid wechselt und zum Ekel wird, weil alles Glück ein Glück ist, das zerbricht.«

Man vergleiche hiermit:

»Man büßet für das so manches Jahr,
Was ärmliche Freuden waren,
Man lächelt's hervor in flüchtiger Stund',
Fortweinen muß man's in Jahren.
Es rinnet Leid, rinnet Harm aus roten Rosen.«

Und Stig Hög endet damit, es sich als begehrenswert vorzustellen, in einer einsamen Klosterzelle eingesperrt zu sein oder in einem hohen Turm gefangen gehalten zu werden, wo er an seinem Fenster saß und achtgab, wie das Licht verrinnet und die Dunkelheit hervorquillt, fern von dem, was das Leben ist, obwohl er sich wie Brand und rote Lohe nach dem Leben sehnen würde.

So war es eine von Jacobsen's Phantasien, daß er in einem Leuchtturm Wohnung nehmen und dort die langen Tage und Nächte sitzen wolle, fern von den Menschen und der Schönheit der »Wollust«, und dann – als er in der Klosterkammer von Thistedt sitzt, sehnt er sich doch bitterlich nach dem armseligen Kopenhagen.

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Gehörte Jacobsen der Kompagnie der Melancholischen an?

In ganz jungen Jahren nur insofern, als er das Leben dichtete, es nicht lebte – man ersieht das aus den Klagen in seinen Briefen, wenn er sich, wie oben angeführt, »Jedermanns Hahnrei« nennt. Teils aber war Dichtung ihm hinreichendes Leben, und teils empfand er Furcht vor dem Leben.

Er pflegte von allen Geschehnissen des Lebens zu sagen »man bezahle für jedes Ding genau, was es wert sei«. Er hegte Furcht, einen zu hohen Preis selbst für die besten Stunden zu bezahlen. Er schloß sich absichtlich von jedem Erlebnis aus, das ihn in eine unschöne oder zweifelhafte Situation bringen konnte; er scheute die Stunden, in denen Leidenschaften die Menschen schwach oder unberechenbar machen.

Und dann – er wollte, daß sein Leben fleckenrein sein sollte. Er stellte an sich selbst die Forderung – gerade weil er ein so glühender Freigeist war und wußte, wie die Religionslosen beständig aus dem sogenannten moralischen Hinterhalt angegriffen wurden – daß sein Wandel selbst vor der einfachsten Alltags-Moralität unantastbar dastehen sollte. Er selber verachtete alles das, was das große Publikum als Moral aufstellt – aber es gefiel ihm, unverwundbar zu sein.

Ganz flüchtig darf wohl in diesem Zusammenhang berührt werden, daß er, der so viel von Liebe schrieb, und natürlich auch dummerweise wegen, sagen wir, Sensualismus in seiner Dichtung angegriffen wurde, daß er sich am wenigsten von allen in seinem Leben von Sensualismus anfechten ließ. Er war in seiner frühesten Jugend abgeschreckt worden, weil er ganz gegen seinen Willen eine heftige Neigung bei einem jungen Mädchen wachgerufen hatte, eine so heftige und krankhafte, daß sie in Geisteskrankheit endete, oder vielleicht war die Heftigkeit dieser Liebe nur die Folge einer lauernden Geisteskrankheit. Das Gedicht Ellen, das von dem wahnsinnigen Mädchen handelt, ist sicher aus einer Stimmung hervorgegangen, die ihre Ursache in Jacobsens Kummer über das Schicksal dieses jungen Mädchens hatte.

Aber wie dem auch sein mag, nichts lag Jacobsens Wesen ferner als eine erotische Galanterie. Er war Damen gegenüber von aufmerksamster Courtoisie, im übrigen aber derselbe in seiner Haltung Männern wie Frauen gegenüber.

Nachdem Niels Lyhne vollendet war, ließ er sich im Juni 1881 in Kopenhagen nieder und schrieb dort bis zum Sommer 1884. Vor 1881 hatte er sich zwei Winter im Süden aufgehalten, aber wenn mit aller Macht geschrieben werden sollte, oder wenn es mit der Gesundheit verzweifelt stand, flüchtete er regelmäßig nach Thistedt. Nun kam er nach Kopenhagen, die beiden großen Werke hinter sich, ein anderer Mann als der er acht Jahre zuvor in die Welt hinausgegangen war, mit nur einer kleinen Novelle als einzigem Ballast im Dichterschiff.

Sein Wesen hatte sich verändert. Die Verlegenheit war von ihm gewichen, ebenso alle Unbeholfenheit und Unsicherheit. Im Freundeskreis nannte man ihn die Exzellenz, ein Titel, der die vornehme Ruhe bezeichnen sollte, mit der er sich während der Unterhaltung führte, und die überlegene Art, wie er jedes Verhältnis auffaßte. Obwohl ihn die Krankheit Tag und Nacht quälte – obwohl sie seinen Kopf mit Schmerzen brannte, ihm die Speisen ungenießbar machte, seine Glieder lähmte, seine Brust zusammenpreßte und ihm den Schlaf raubte – hörte ihn niemals jemand sich unmännlichem Jammern hingeben. Seine stolze Seele kannte keine Klage. Er war stets gleichmäßiger Laune, hatte gern einen Scherz zur Hand und interessierte sich – bis zu allerletzt, für alles, was sich in seinem Vaterlande geistig regte. Niemand konnte ein aufmerksamerer Zuhörer, ein liebevollerer Ratgeber sein wie er. Wie eine Frau war er bereit, bei allen, die er Freunde nannte, jede Schwäche zu entschuldigen, und niemand konnte rücksichtsvoller im Fragen, solidarischer im Handeln, mitfühlender im Leiden sein. Man lese den kleinen Brief an seinen Freund, den ein Unglück betroffen hatte:

 

Liebster Freund! Ich wollte Dir so gern schreiben; ich wollte, es gäbe Worte, die schützen und lindern könnten, aber solche Worte gibt es nicht, und ich finde nichts weiter, was ich Dir schließlich sagen kann, als das: Du und Dein Leid Ihr seid beständig in meinen Gedanken. Lieber Freund!

Dein J. P. Jac.

 

Er schien in diesen letzten Jahren ganz Geist zu sein. Sein armer abgezehrter Körper war wie ein durchsichtiges Glas, durch das man seine feine und edle Seele sah. Allmählich bewegte er sich mit großer Mühe: ein Blutsturz, der ihn eines Abends in einem Café überraschte, hielt ihn von dem Besuch öffentlicher Lokale zurück.

Nach Niels Lyhne schrieb und veröffentlichte er nur noch zwei Novellen, » Die Pest in Bergamo« und das wunderschöne Lebewohl an die Welt » Frau Fönß«. Aber er konnte nur schlecht arbeiten. Er vertrug die Gehirnanstrengung nicht, mit der er arbeitete. Er, dessen poetischer Wahlspruch lautete: Eine Dichtung soll ein Fest sein, vermochte, so totschwach, wie er war, die festlichen Träume nicht in eine feste Form zu fassen. Wenn er nur eine einzige Zeile niedergeschrieben hatte – stets in einer Form, die niemals verbessert wurde – mußte er ausruhen, wie jemand, der einen Berg bestiegen hat. Und in Wirklichkeit stieg er auch jedesmal auf die höchste Zinne des Parnasses.

Er hatte den Plan zu einem Schauspiel entworfen, dessen erster Auftritt in » Gedichte und Entwürfe« abgedruckt ist. Es sollte eine moderne Ehe behandeln, wo die Frau, abgestoßen von der ein wenig rohen Natur des Mannes und seinem zu einseitigen Geschäftsinteresse, dem galanten Werben des Jugendfreundes lauscht, jedoch abermals zurückgestoßen wird, gerade als sie sich ihm zur Entführung und Flucht in die Arme werfen will, weil er weder dem Ehemann noch einer so romantischen Entscheidung gegenüber den rechten Mut zeigt.

Das Thema war nicht so originell, wie man es von Jacobsen hätte erwarten sollen, aber die Ausführung wäre sicher glänzend geworden, selbst wenn die Auftretenden – man ersieht das aus dem Fragment – alle Jacobsens Sprache gesprochen hätten.

*

Jacobsens letzte, unvollendete Arbeit, Doktor Faust, zeigt, wie seine Gedanken den Tod umkreisen, den eigenen Tod. Er war beständig stumm in bezug auf die Lebensgefährlichkeit seiner Krankheit. Man hörte kein Wort, keine Andeutung, die – man kann einen Ausdruck wie Todesfurcht gar nicht anwenden – die auch nur eine schwermütige Resignation dem Unvermeidlichen gegenüber verraten hätte. Er war auch nicht Hypochonder.

Im Gegenteil. Er hatte stets eine scherzhafte Wendung bei der Hand, um zu erklären, auf welche neue Erfindung seine Krankheit jetzt verfallen war. Und die Krankheit war Erkältung und Kopfschmerz und schlechte Verdauung, nie aber war es Schwindsucht, niemals war es Tuberkulose, die an seinem feinen Organismus nagten.

Und doch hat der Gedanke an den nahen Tod ihn Jahr für Jahr unabschüttelbar geplagt. Das ersieht man aus Niels Lyhne, dem Roman, der uns als das Tagebuch der modernen Menschen erscheint.

Niels Lyhnes Mutter stirbt einen Frühlingstod. Es ist der Tod des Alters, wenn die Jahre geendet sind. Es soll ihr nicht vergönnt sein, den neuen Lenz zu sehen, obwohl sie ihm weit entgegengereist ist, um ihn zu erleben. Was hilft Reise, was hilft Flucht? Jacobsen wußte das gar wohl, er, der gerade seine Brust in Clarences mildem Blütenhauch gegen Thistedts kaltes Sturmgebraus gehegt hatte. Während er dort unten in der Pension in Montreux saß und mit livländischen Baronen davon sprach, eine Stutenmilchkur zu versuchen, dachte er wohl manch liebes Mal: werde ich diesen Frühling noch erleben? Und die brausende Hymne an den Lenz, die er in Niels Lyhne nach dem Tode der Mutter singt – sie ist seine große Freude darüber, daß er noch einmal die frische, erwachende Natur in ihrer vollen Pracht sehen sollte.

Edele Lyhne stirbt – einen Sommertod. Die Rosen bilden eine Ehrenpforte über der aufregenden Schönheit, die Knaben reift und Männer zu Kindern macht, auf ihrem Wege in die Schatten des Todes. Selbst sie, die in ihrer Erscheinung die höchste Wonne des Lebens umschließt, sie, die über der Triebe lebenskräftigste Schößlinge gebietet, – sie, die Begehrenswerteste, muß sterben, ohne den fernen Geliebten gewonnen zu haben. Was ist da das Leben wert! Die Schönheit stirbt in dieser Blütenpracht einer gefühllosen Natur, unglücklich, unnütz. Edele Lyhnes Tod, das ist das vanitas vanitatum des stummen, vom Tode gezeichneten Dichters.

Und Niels Lyhnes junge Frau und sein Kind sterben – einen Herbsttod. Kurz war der Sommer, flüchtig war die Freude. Du glaubst, Du hast das Glück, klar zu schauen, mit den Händen zu greifen – und im Herbst welkt es in Deiner Hand, zerfällt, stirbt. Ohne Vorahnung, ohne triftigen Grund packt die Krankheit die junge Mutter und ihr Kind. Menschenweisheit scheint nichts zu vermögen, Gott in seinem Himmel nicht mehr. So liegt denn die Axt an der Wurzel des Baumes. Der kranke Dichter denkt daran, wie gleichgültig es ist, ob er den gewissen Untergang in der Brust trägt. In einer Stunde werden die Gesunden weggerissen. Wozu da trauern?

Und schließlich stirbt Niels Lyhne selbst seinen Wintertod. Sein Leben ist öde, und er ist allein in der Welt. Aber männlich und fest in seinem Glauben geht er ein in das große Nichts. Niels Lyhnes schwerer Tod ist Jacobsens Gelübde, in dem letzten Kampf nicht fahnenflüchtig zu werden, sich selbst nicht vor dem durcheisenden Grauen zu beugen.

Als er drei Jahre nach Niels Lyhne sein letztes Buch vollendete, lähmte die Krankheit seinen Geist wochenlang. In winzig kleinen Stücken wurde ihm Frau Fönß von der Druckerei abgerungen, am längsten aber wartete man auf die letzten Seiten. Jacobsen schob es beständig hinaus, sie zu schreiben. Es war Frau Fönß' Abschiedsbrief an ihre Kinder, jenes berühmte Lebewohl, das in der Erinnerung und in dem Gefühl jedes Lesers festgeprägt dasteht. Endlich an einem Vormittag wurde der Brief ohne Aufenthalt geschrieben, aus einem Guß – ohne Tränen. Jacobsen gestand selbst unter vielem Scherzen, daß er »über seine eigenen schönen Worte ganz sentimental geworden sei.« »Aber, es ist auch rührend!« fügte er hinzu. Und die Freunde lachten pflichtschuldigst, obwohl ein jeder wußte, daß Jacobsen hier der Welt sein Lebewohl geschrieben und alle, die ihn lieb hatten, gemahnt hatte, sein Andenken zu bewahren. Doch niemals wandte er die Worte auf sich selbst an oder gestattete andern, es zu tun. Als er an jenem Tage mit der Novelle fertig war und ausging, um zu essen, kam er an den Fenstern eines Freundes vorüber. Er kam langsam daher, vornübergebeugt, mit großer Anstrengung, aber er grüßte strahlend, triumphierend hinauf: eine dichterische Tat war vollbracht.

Doktor Faust ist im April-Mai 1884 geschrieben. Jacobsen war damals entsetzlich krank, konnte nicht essen, nicht schlafen und hatte jeden Tag neue Leiden. Da schrieb er von dem Tod, der durch den Wald geritten kam, so daß der Hufschlag seines Pferdes war wie der einzige Laut in der Welt – eine Albrecht Dürersche Phantasie.

Der Tod kommt, um Doktor Faust zu holen – den Gelehrten, beständig Suchenden, den Menschen. Aber Amor bittet für ihn. Und der Tod schenkt dem vierzigjährigen Faust weitere neue vierzig Jahre.

Dann, nach Verlauf dieser Zeit, kommen die beiden wieder nach Faust's Dachkammer geritten, um ihn zu holen, dem sie ein doppelt so langes Leben geschenkt hatten, als es ihm ursprünglich vergönnt gewesen war. Sie erwarten Dank und ruhige Resignation.

Sie finden einen Greis, dem die Jahre nichts genutzt haben. Faust's Leben war vollführt, als er vor vierzig Jahren die Kraft seines Organismus verbraucht hatte. Das übrige war ein totes Leben gewesen. – – So dachte und tröstete sich Jacobsen oben in den kleinen, niedrigen Stuben in der Ny-Adelgade, wohin die Sonne niemals kam, wo Amor niemals anklopfte, wo die Hufschläge von dem Pferd des Todes jede Nacht in der Stille ertönten, in der eigenen Brust des Dichters hämmernd. Er wußte, daß er seine Zeit gelebt und sein Werk vollbracht hatte. Wenn ihm das Schicksal ein Doppelleben schenkte, was half das, wo Jugend und Kraft entschwunden waren. Es war gut so, wie es war. Der Tod mochte kommen, er war bereit – ohne Widerstand, ohne Klage.

*

Im Juni 1884 kehrte Jacobsen in sein Elternhaus nach Thistedt zurück. Kurz zuvor hatte er zu einem Freund gesagt: »Wenn Du hörst, daß ich von neuem nach Thistedt gereist bin, siehst Du mich nicht wieder.«

Im März 1885 verschlimmerte sich sein Zustand, der sonst seit dem vergangenen Sommer unverändert gewesen war, stark und beunruhigend. Trotzdem ließ er, der nie von der Gefährlichkeit seiner Krankheit gesprochen hatte, auch jetzt in seinem Heim keine Klage über seine Lippen kommen, wie er auch keine Andeutung darüber machte, daß der Tod nahte.

Seine Laune war bisher recht gut gewesen, weil der Appetit besser war. Aber Anfang März wurden die Atembeschwerden so groß, daß er fast nicht mehr schlafen konnte. Das war ihm eine entsetzliche Qual. Und dann war der Arzt eines Tages damit herausgeplatzt, daß die Lunge, die Jacobsen noch gesund glaubte, ebenfalls angegriffen sei. Das war ein harter Schlag für den Kranken. Schwindsüchtige tragen sich ja immer mit großen Hoffnungen. Und Jacobsen, der so vorsichtig wie nur menschenmöglich lebte, konnte mit größerer Berechtigung als sonst irgend jemand hoffen, selbst mit einer angegriffenen Lunge noch ein paar Jahre zu leben. Und wenn man sich täglich selbst sagt: »Noch ein paar Jahre!« – so schiebt man ja die Entscheidung beständig in eine unbestimmte Ferne hinaus.

Arbeiten konnte er natürlich garnicht. Er verbrachte die Zeit mit dem Lesen von englischen Romanen, etwas deutscher und französischer Kulturgeschichte – und mit dem Träumen der großen und schönen Träume, die seine eigene Welt waren. Er wurde mit der liebreichsten und verständnisvollsten Sorgfalt von seiner Mutter und seinem Bruder William Jacobsen gepflegt. Diese waren auch in seinen letzten Stunden um ihn.

Einen Monat später, Mitte April, war sein Zustand noch qualvoller. Seine Beine schwollen und das Wasser sammelte sich ganz oben in den Schenkelwinkeln an. Der Atem war jetzt ganz kurz, nicht einmal kräftig genug zum Aushusten. Die Stimme wurde schwach und heiser, so daß er kaum mehr sprechen konnte. Wenn er sich niederlegte, bekam er Erstickungsanfälle, und auch das Sitzen konnte er nicht ertragen. Er schlief nur, den Kopf vor sich auf dem Tisch in den Händen ruhend, oder indem er ihn im Bett auf die Kniee stützte. Er stand jeden Tag auf, konnte sich aber ohne Hilfe weder ankleiden noch entkleiden. Er war vollkommen ruhig und offenbarte endlich seinen Nächsten gegenüber, daß er sich schon lange ganz klar über die Natur und den Verlauf seiner Krankheit gewesen – und daß er auf den Tod vorbereitet sei. Trotzdem sagte er nur, daß es jetzt scheine, als wenn ein Stillstand in der Krisis eintreten werde, und tat so, als liege nichts Ungewöhnliches vor, nur um seiner Umgebung keinen Kummer zu bereiten. Höchstens bediente er sich einer scherzhaften Wendung, wie zum Beispiel: »Was sagst Du zu solchen Beinen – da muß doch bald eine Veränderung eintreten!«

Die letzten beiden Tage vor seinem Tode litt er entsetzliche Schmerzen, weil seine Kräfte fast ganz versagten. Aber beständig keine Klage, kein Wort über den Tod, obwohl er wußte, daß es jetzt vorbei war. Er war so rücksichtsvoll gegen seine Umgebung, daß er sich auf das bestimmteste dagegen widersetzte, daß man des Nachts bei ihm wache; er wolle schon klingeln, falls das Allergeringste vorliege.

Den letzten Tag, den er lebte, stand er wie gewöhnlich um halb zehn Uhr auf, beim Anziehen von seiner Mutter unterstützt. Er suchte Ruhe auf seiner Chaiselongue, konnte aber keine Ruhe finden – schickte nach dem Arzt und behauptete, er könne seinen Puls nicht finden. Der Arzt sagte, er sei sehr gut (84 Schläge) und veranlaßte ihn, ein Glas Portwein zu trinken.

Mittags konnte er nicht essen, es wurde trotzdem in seinem Zimmer für seine Familie gedeckt. Er trank ein wenig Sodawasser. Die Stimme war jetzt nur das schwächste Murmeln. »Jetzt wollen wir versuchen, ein Schläfchen zu machen,« flüsterte er. Er wurde in einem Lehnstuhl angebracht, sein Bruder (dem wir diesen Bericht verdanken) setzte sich ihm gegenüber auf die Chaiselongue. Einen Augenblick darauf machte er Zeichen, daß sie tauschen wollten. Man half ihm zurecht – er fand jedoch keine Ruhe. Er wechselte oft die Stellung, und dabei sah er mit einem eigenartig trostlosen Blick empor. Seine Mutter bürstete ihm auf seinen Wunsch den heißen und schweren Kopf mit kaltem Wasser – das Fenster mußte geöffnet werden – er hatte ein Bedürfnis nach Luft – sah nach dem Regenwetter. Dann zeigte er: »das Buch!« Es war ein französischer Bilderkatalog. Er blätterte ein wenig darin, legte es hin, bat seine Mutter, sich zu setzen, daß er seinen Kopf gegen den ihren stützen könne, saß so eine halbe Stunde, fragte, ob sie müde werde, trank hin und wieder ein wenig Sodawasser, richtete sich dann ohne Hilfe auf, verlangte ein Glas Portwein, hielt es eine Weile in der Hand, trank, ging ein paar Schritte bis an den Tisch, stand da und stützte sich leicht darauf und setzte sich dann schwer in den Lehnstuhl, der dicht daneben stand, während er mit seinem trostlos brechenden Blick zu seiner Mutter aufsah.

Dann fiel der Kopf zurück, der Blick wurde starr, der Mund öffnete sich und der letzte Todeskampf begann; er währte von halb fünf bis fünf Uhr.

Nach Tische hatte sein Bruder, um die Qual der letzten Stunden zu mildern, ihn gefragt, ob er nicht eine Dosis Morphium haben wolle – er aber schüttelte verstehend und bestimmt den Kopf.

Seine Umgebung beobachtete mit der größten Bewunderung die unüberwindliche Willenskraft, die er bis zuletzt an den Tag legte, und die ihn veranlaßte, eine halbe Stunde vor dem Tode aufzustehen und sich wieder zu setzen, um ruhig zu sterben – ohne die Andern zu ängstigen und ohne die geringste Furcht zu empfinden. Er wollte sein Bewußtsein bewahren, und er wollte sich und Andere überzeugen, daß er bei vollem Bewußtsein war, als er den Bilderkatalog nahm und darin blätterte.

*

Am dreißigsten April starb Jacobsen. Wenige Tage später waren Geistliche und andere Fanatiker darauf erpicht, seine Leiche zu rauben. Er war gestorben, wie er gelebt hatte: ohne Glauben, ohne irgendwelche Religiosität. Es kamen sofort Leute, die seine Freigeisterei bestritten, die bestritten, daß er seine Überzeugung bis zum Augenblick des Todes bewahrt hatte.

Der obige Bericht kann wohl Zeugnis dafür ablegen, daß für Jacobsen in seinen letzten Stunden weder Pfarrer noch Gebet galt. Er wußte, daß er sterben sollte – er kämpfte, um sein Bewußtsein zu bewahren – er wollte sich nicht für besiegt erklären, sondern wie sein Held Niels Lyhne ein denkender, gottloser Mensch sein, selbst angesichts bevorstehender Körperqualen und des allesüberwindenden Schreckens des Todes. Er wollte sich nicht in die Kniee zwingen lassen – nicht indem er Angst verriet, andere ängstigen. Er starb in seinem Glauben – in dem Glauben, den Niels Lyhne ausgesprochen hat: »Es gibt keinen Gott, und der Mensch ist sein Prophet!«

Gar mancher, der im Leben ohne Religion war, hat sich auf dem Sterbebett bekehrt: das ist begreiflich, denn vor der endgültigen Auflösung wird der Verstand geschwächt, der Wille verfault. Jacobsen aber wollte nicht zu diesen gehören. Sein Tod sollte eine Lehre sein – wie sein Leben und sein Werk. Wiederholt sprach er, als er noch gesund war, davon, daß ein Freigeist in der Todesstunde seinen Anschauungen nicht treulos würde; er entschuldigte alle, die körperliche Schwäche und das Grauen vor dem Tode in eine Angst versetzten, die ihre letzte Zuflucht zur Religion nahm – aber er erklärte immer, daß dies mit ihm nicht geschehen sollte.

Trotzdem machten sich die Geistlichen damals ans Werk und tun es vielleicht auch heute noch. Man kann Beweise dafür in der Zeitungspolemik gleich nach seinem Tode finden. So behauptete ein Mann, Jacobsen habe erklärt, die Schöpfungsgeschichte in der Genesis enthalte mehr Wahrheit als Darwins Entwickelungshypothese – so etwas behauptete man, obwohl Jacobsen eher seine eigenen Schriften als gotteslästerlich hätte verbrennen können, als daß er der altjüdischen Sage – die obendrein in zwei grundverschiedenen Berichten vorliegt – eine wissenschaftlich, objektiv wahre Bedeutung beigelegt hätte.

Schon als Kind war Jacobsen mit dem Kinderglauben fertig geworden. Als Erwachsener hatte er sich seine Überzeugung gebildet und blieb in seiner Weltauffassung stets der Mann der Wissenschaft. Er war nachsichtig gegenüber den religiösen Anschauungen anderer, wenn sie Trost darin fanden – wie er allen Menschen gegenüber, die etwas ernstlich meinten, nachsichtig war. Voller Verachtung und Hohn dahingegen äußerte er sich über den Standpunkt, den die konservativen Zeitungen Dänemarks viele Jahre hindurch seinen Bestrebungen und denen seiner Gesinnungsgenossen gegenüber einnahmen. Er haßte die perfide Heuchelei und den schändlichen Überfall, den das » DagbIad« jener Zeit vertrat. Wie er die Annäherung derer aufnahm, die ihn persönlich zu beeinflussen suchten, zeigt ein kleiner Vorgang, der einen Monat vor seinem Tode stattfand. Er erhielt nämlich den Besuch eines Lehrers, eines Konservativen, der Anhänger der inneren Mission war und versuchen wollte, ob Jacobsens Bekehrung jetzt nicht an der Zeit und möglich sei. Die Unterhaltung regte Jacobsen auf und strengte ihn sehr an, sie endete schließlich damit, daß der Lehrer der Hoffnung Ausdruck gab, Jacobsen möge zu einem andern Glauben gelangen, da der, den er jetzt habe, nicht zum Sterben geeignet sei. Worauf Jacobsen erwiderte: »Wünschen Sie nur meinetwegen darauf los, das kann Ihnen niemand verwehren!« Als der Mann gegangen war, rief er aus: »Huh, war das anstrengend! Gut, daß der nicht jeden Tag kommt, dann würde ich bald mein Leben einbüßen.«

Ist diese Geschichte nicht bezeichnend? Einer der größten Dichter Dänemarks liegt krank, halbsterbend – er ist nicht ein haltungsloser Lyriker, der Überzeugung und Festigkeit nur dem Namen nach kennt, – nein, er ist ein Mensch, der von früher Jugend an Naturwissenschaft, Philosophie, Geschichte, die hervorragendsten Schöpfungen der Weltliteratur studiert hat – ein Verehrer Darwins, Goethes, Shakespeares. Er besitzt seine durch Denken und Studium erworbene Lebensanschauung. Und zu ihm ins Krankenzimmer tritt ein gläubiger Konservativer, und nur weil er das Bedürfnis hat zu bekennen, was solche Leute ihren Kinderglauben zu nennen pflegen, reizt er den Todkranken mit seinem vermeintlichen Besserwissen, und in seiner eingebildeten Überlegenheit erklärt dieser taktlose Wichtigtuer, daß Jacobsens, des Dichters und Denkers, Glaube nicht zum Sterben geeignet ist.

Wie kann überhaupt jemand daran zweifeln, was Jacobsen wollte und lehrte, wenn man Niels Lyhne gelesen hat! Hier steht Jacobsens Lehre:

 

»An dem Tage, wo die Menschheit frei jubeln kann: es gibt keinen Gott – an dem Tage wird wie mit einem Zauberschlage ein neuer Himmel und eine neue Sonne geschaffen werden … Welch einen Adel wird es über die Menschheit ausbreiten; wenn sie frei ihr Leben leben und ihren Tod sterben kann, ohne Furcht vor der Hölle oder Hoffnung auf den Himmel, nur sich selber fürchtend, auf sich selber ihre Hoffnung setzend.«

 

Die arme kleine Gerda, sie bekehrt sich zuguterletzt, aber als Hjerrild Niels Lyhne fragt, »ob er einen Pfarrer sehen will,« schüttelt dieser verbittert den Kopf, und er stirbt in seiner Rüstung, sehend – so wie Jacobsen selber starb.

Jacobsens Dichtung war nicht Kunst um der Kunst willen – wenn es überhaupt eine solche gibt – er kämpfte sein ganzes Leben lang in Wissenschaft und Dichtung für eine Idee: für die Idee der stolzen Gottlosigkeit, die reine Irreligiosität, den allen Vorbehalt wegschiebenden Atheismus.

Diese Lehre wollte er für Mitwelt und Nachwelt fortpflanzen, während er den Menschen das Dasein mit seiner farbenreichen Kunst und seiner freigeborenen Lebensanschauung verschönern wollte.

Und es hat kein edlerer Geist in Dänemark gelebt als er.

*

Jetzt steht J. P. Jacobsen vor dem Bewußtsein aller als einer der Großen in der dänischen Literatur da, und seine Bedeutung ist sonnenklar. Seinen Einfluß spürt man über den ganzen Norden in aller literarischen Produktion, nachdem Marie Grubbe die neue Zeit eingeleitet hatte, und noch heute spürt man ihn. Er wird vielleicht zu viel nachgeahmt – er kann nie genug bewundert werden. Er ist nicht nur das leuchtende Genie, er ist als Geist der große Lehrer in Werk und Leben.

Nichts von dem, was er geschrieben und gedacht hat, ist daher gleichgültig. So werden denn auch die umstehenden Briefe, die sein Wesen in Sprache und Ernst zeichnen, sicher allen willkommen sein, die seine Dichtung lieb haben. Und vielleicht dürften auch die obigen zerstreuten Gedächtnisworte dem einen oder andern von Interesse sein.

Edvard Brandes


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