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II
Onkel Angiëls Tod

Auf der holprigen Landstraße, die von Braila nach dem Weiler Baldovinesti führt, und die von den kürzlich niedergegangenen Frühjahrsregen ganz grundlos geworden war, rüttelte der zweispännige Wagen Onkel Dimis entsetzlich. Adrian, der neben seinem Onkel auf dem Brett saß, klagte über Schmerzen im Leib und bat den Trab einzustellen. Froh, nicht mehr laufen zu müssen, prusteten die Pferde kräftig in die frische Morgenluft und fielen wieder in Schritt. Nun, da das lärmende Geräusch der gelockerten Eisenteile verstummt war, richtete sich Adrian auf seinem Sitz auf und umfing wonnetrunken mit dem Blick die dunkle und schweigende Ebene, die an diesem Tage, Mitte März, noch in der Erstarrung des langen Winterschlafes lag.

Wenn er auch ein biederer, offener und ehrlicher Bauer war, so verhielt sich Onkel Dimi stets schweigsam und hatte die Gewohnheit, verstohlen um sich zu blicken. Seit langem neugierig, diesen merkwürdigen Neffen wiederzusehen, den er bis zum siebten Jahre erzogen hatte, und der kaum erst von einer zweijährigen Reise durch Ägypten und Kleinasien zurückgekehrt war, musterte er ihn heimlich. Adrian merkte es bald und fühlte sich in seinem Behagen gestört.

»Onkel,« sagte er ein wenig gereizt, »wenn du wissen willst, was ich in diesem Augenblick mache, dann brauchst du dich nur mir zuzuwenden und mich nach Belieben zu betrachten, aber nicht wie ein Geheimpolizist. Das ist ekelhaft.«

Als Antwort zog der Angeredete seinen Tabaksbeutel, der aus einer kleinen Schweinsblase gefertigt war, aus der Tasche und begann ruhig, sich eine Zigarette zu drehen. Dann bot er mit listiger Miene den Beutel seinem Neffen an, von dem er wußte, daß er starken Tabak nicht rauchen konnte. Adrian dankte ihm und zündete sich eine gute ägyptische Zigarette an.

»Du bist jetzt keiner von ›den Unseren‹ mehr«, murmelte der Bauer und schlug auf seinen Feuerstein, um den Zunder anzustecken.

»Verzeih, Onkel, ich habe vergessen, dir Feuer zu geben.«

Und den Blick ins Grenzenlose verloren, fügte er hinzu:

»Das kommt daher, weil ich durch mancherlei verwirrt bin. Zuerst meine erlebnisreiche Heimreise, die Mama so viel Sorgen gemacht hat … Dann diese schwarze Erde, die ich vergessen hatte. Und schließlich der Gedanke, Onkel Angiël in dem Zustand wiederzusehen, wie du ihn schilderst … Sag, weißt du übrigens, weshalb er mich ruft?«

»Weiß nicht … Er hat mir gestern durch einen Fuhrmann sagen lassen, daß er dich unbedingt heute früh sehen will.«

»Er hält also seine Schenke offen?«

Dimi sah seinen Neffen höchst erstaunt an.

»Du bist wohl verrückt!« brummte er in den Bart. »Wenn ich dir doch sage, daß er seit drei Jahren im Bett liegt, daß er bei lebendigem Leib von den Würmern gefressen wird, wirst du wohl nicht wünschen, daß er aufsteht, um den Fuhrleuten zu trinken zu geben. Übrigens ist er nur mehr ein Gerippe, und dann hat er auch alles ausgetrunken, alles allein getrunken.«

Adrian überlief ein Schauer des Entsetzens. Er erblaßte. Sein Onkel suchte ihn zu ermutigen:

»Du mußt stark sein, um nach einem Besuch bei ihm nicht krank zu werden. Denn sicher ist es nicht ergötzlich, einen Menschen in solcher Verfassung zu sehen. Er ist schlimmer dran als Hiob. Dieser hat sich, wenn man den Reden des Priesters Stephan glauben darf, von seiner Krankheit erholt und hat seine toten Kinder lebend wiederbekommen und seine geraubten Kühe. Aber Angiël wird nichts mehr wiederbekommen und sich nicht mehr erholen. Die Zeiten haben sich geändert seit Hiob, Gott tut keine Wunder mehr. Wahrscheinlich durch unsere eigene Schuld.«

»Wer pflegt ihn?« fragte Adrian mit zugeschnürter Kehle.

»Niemand … das heißt doch, er hat einen Burschen bei sich, den du nicht kennen wirst. Seit wieviel Jahren bist du nicht mehr in den Weiler gekommen?«

»Seit ungefähr sechs Jahren.«

»Also das ist so zugegangen. Vor etwa vier Jahren hat sich eines Tages ein Kind in unseren Weiler verirrt. Woher es kam? Ja, das weiß Gott allein: der Knabe stottert so stark, daß es nicht möglich ist, von zehn Worten eins zu verstehen. Er kam in Lumpen, den Leib voll blauer Flecke. Man hatte Mitleid mit ihm. Gute Christen boten ihm Zuflucht, verpflegten ihn und gaben ihm Gelegenheit, sein Brot zu verdienen. Aber Gott ist ihm nicht gnädig gewesen: das Kind war unfähig, zwei Schafe zu hüten; es verlor sie und kam mit dem Stock in der Hand nach Hause und schrie und fuchtelte wie ein Besessener. Niemand verstand ein Wort von dem, was er kauderwelschte. So ist der Knabe durch alle Türen gegangen, und sein Hintern hat zärtliche Bekanntschaft mit allen Holzschuhen gemacht. Schließlich fand man ihn im Straßenstaub liegen. Angiël hob ihn auf und behielt ihn bei sich. Er ließ durch die Polizei Erkundigungen einziehen, um etwas über seine Herkunft zu erfahren, aber vergebens. Jetzt läuft das Gerücht, daß er ihm heimlich vermacht hat, was ihm von seinem Besitz geblieben ist; übrigens wenig genug, denn die Fässer sind leer und die Schenke verwahrlost. Aber der Erbe ist der Fässer und der Schenke würdig. Auch die Leistung des kleinen Dieners entspricht den Anforderungen des Herrn, und die sind vielleicht einzigartig auf der Welt. Im Winter wie im Sommer ist der Bursche draußen, um sich die Zeit zu vertreiben, wie auch um nicht neben dem lebenden Leichnam, zu dem der arme Bruder geworden ist, zu ersticken. Angiël, der an sein elendes Lager gefesselt ist, und dessen Körper nur noch eine einzige fühllose Wunde bildet, braucht jemand, der ihm jede Viertelstunde sein Gläschen Schnaps reicht. Er kann die Flasche nicht mehr heben. Da das Kind draußen ist, und da Angiëls Stimme nicht mehr dazu ausreicht, es zu rufen, was hat er da erfunden? Nun, er hat sich ganz einfach mit einem Pfeifchen versehen, ähnlich dem unserer Gendarmen, und wenn ihn das Bedürfnis überkommt, pfeift er. Der Bursche draußen ist pünktlich wie eine Uhr: wenn der Augenblick heranrückt, macht er sich in der Nähe des offenen Fensters zu schaffen, gespannt auf das Pfeifen horchend. So ist es im Sommer. Im Winter sind die Fenster vernagelt und verstopft, und der kleine Schelm, immer im Freien, läuft draußen mit seiner Rodel herum. Was tun? Das fortwährende Herein- und Hinausgehen durchkältet das Zimmer und langweilt den Diener. Da gewahrte der Kranke eines schönen Tages, daß in der Höhe des Fensters ein Loch vom Umfang eines Trinkglases durch die Mauer ging. Aber es bleibt dauernd mit einem Strohwisch zugestopft, den der Krankenwärter von draußen im gegebenen Augenblick herauszieht.

Natürlich versäumt sich der Bursche manchmal ein wenig. Dann muß Angiël, seinem Schicksal überlassen, etwas länger nach seinem Tropfen pfeifen. Aber er kann ihm verzeihen. Und wollte er ihn durch einen anderen ersetzen, so könnte er es nicht. Dieser Findling ist von Gott gesandt, um einen verwesenden Menschen zu pflegen; die Krankheit des Bruders ist geschaffen, um dem kleinen Landstreicher ohne Sprache das Leben zu fristen.

Ich rate dir: wenn du in die Nähe des Hauses kommst, melde dich bei dem Knaben, versuche nicht, gegen seinen Willen einzutreten, dieser Spitzbube haut wie besessen. Ehe man sich versieht, hat man einen Schlag über den Kopf von seinem Knüttel erwischt, der ihn nie verläßt.«

Der Wagen hielt an einer Wegkreuzung.

»Von hier kannst du zu Fuß gehen«, erklärte Dimi.

»Du begleitest mich nicht?«

»Nein, ich habe Geschäfte. Und dann ist es auch besser, du gehst allein.«

Adrian nahm Abschied von seinem Onkel und wandte sich der Schenke Onkel Angiëls zu, die ihn freudloser dünkte als ein Trauerhaus.

Der Weg war schlammig, bei jedem Schritt sank man wie in einen klebrigen Teig ein. Vor ihm und überall um ihn, unermeßlich, breitete sich kalt und naß eine schwarze Öde aus; nur da und dort lagen verstreut ein paar weiße Hütten mit leuchtend blauen Fenstern. Von allen Dächern stiegen lange Rauchsäulen auf.

* * *

Adrian war zu jener Zeit fünfundzwanzig Jahre alt. In den letzten sechs Jahren hatte er alljährlich nur einige Monate in seiner Geburtsstadt zugebracht, die übrige Zeit war er in Bukarest (wo er leichtsinnigerweise an der revolutionären Bewegung teilgenommen hatte) und schließlich im Ausland gewesen. Sein abenteuerliches Leben beunruhigte seine Mutter und den Onkel Angiël, der lebhaften Anteil an dem Geschick seines Neffen nahm.

Der große Alkoholiker hatte wiederholt versucht, mit dem zügellosen Herumtreiber, der alles anfing und bei nichts verweilte, eine Unterredung zu haben, aber es war nicht möglich gewesen. Adrian tauchte auf und verschwand wie ein Gespenst. Dieses Mal hatte der Alte ihn rechtzeitig gerufen; Dimi war am frühen Morgen mit dem Fuhrwerk gekommen, den Neffen zu holen. Da hatte dieser nachgeben müssen.

Ja, nachgeben. Nicht fröhlichen Herzens ging er zu dem Mann mit dem entsetzlichen Schicksal. Seine Angst war noch heftiger als in jener Osternacht, der Nacht der »Versöhnung« der beiden Brüder. Ihm war es, als müsse er vor einem Gerichtshof erscheinen, wo über sein Geschick entschieden werden sollte, und den er als Verurteilter verlassen würde.

»Er verlangt seinen Schluck mit Hilfe einer Pfeife!« Adrian blieb an dieser Einzelheit hängen, die ihm als der Höhepunkt von seines Onkels Unglück erschien.

Während er allerlei Gedanken im Kopfe wälzte und besonders die Frage, warum der Kranke ihn durchaus sehen und sprechen wollte, fand er sich plötzlich auf der andren Seite des Weilers, hundert Schritte von dem Etwas entfernt, das man einstmals eine Schenke hatte nennen können. Da verlangsamte er den Schritt und prüfte den Schauplatz, und sein Atem ging keuchend vor Erregung. Seine Neugier wollte vor allem den berühmten kleinen Krankenwärter und Zerberus entdecken, der immer draußen war. Er suchte mit seinen kurzsichtigen Augen die Umgebung des Hauses ab. Nichts rührte sich. In der Ferne, auf der Landstraße nach Galatz, riefen Fuhrleute einander etwas zu, indes zahllose Raben am bleiernen Himmel kreisten und die Öde noch bedrückender machten.

 

Adrian näherte sich wie ein Verbrecher, wie ein Dieb. Er bemerkte, daß das Dach der Schenke zur Hälfte mit neuem Schilf ausgebessert war. Das große Wetterdach, das einst den Tieren der Fuhrleute Schutz gewährte, war nicht mehr da. An seiner Stelle stand ein kleiner, niedriger und feuchter Strohschober. Das Haus selbst war tiefer als früher in den Boden eingesunken; die Türe und die beiden Fenster waren aus dem Lot geraten und neigten sich nach der einen Seite. Und was die Fensterscheiben anlangte, so waren sie noch schlimmer verschmutzt als zu der Zeit, wo Onkel Angiël sie in dem längst abgebrannten schönen Haus zertrümmert hatte.

»Hier also liegt der Mann im Sterben, der einst die Sauberkeit so liebte!« dachte Adrian.

Da er kein Kind sah, wandte er sich der Türe zu. In diesem Augenblick sprang der sonderbare Wächter hinter dem Schober hervor, fuchtelte mit einem dicken Knüttel und stieß unverständliche Worte hervor, was wie das Heulen eines geprügelten Hundes klang. Adrian blieb ruhig vor dieser ungewöhnlichen Erscheinung stehen. Bekleidet mit einem weiten zerlumpten Rock, der ihm bis zu den Knien reichte, langbeinig wie ein Storch, mit kotbedeckten bloßen Füßen, trug dieser Knabe mühselig auf einem langen dünnen Hals einen riesengroßen Kopf von der Form eines plattgedrückten Kürbis, der unaufhörlich zwischen seinen Schultern hin und her wackelte. Adrian empfand nur Staunen.

»Ich möchte zum Onkel hinein«,sagte er angewidert.

Als Antwort verstellte die Mißgeburt die Tür und schwang den Knüttel; nachdem er sich dann versichert hatte, daß der Fremde nicht vordrang, öffnete er und verschwand im Innern und schob den Riegel vor die Tür.

Adrian entdeckte den Strohwisch in dem Mauerloch, zog ihn heraus und horchte an der Öffnung. Ein kreischendes, tierisches Geschrei schlug atemraubend an sein Ohr, aber Angiëls Stimme war nicht zu erkennen.

Endlich knarrte die Tür, und die wunderliche Gestalt forderte den jungen Mann auf einzutreten, indem sie den Arm in einer lächerlichen und zugleich tragischen Bewegung ausstreckte.

Adrian fand sich in der früheren Schenke, die jetzt nur noch zur Aufbewahrung von Reisig und Brennholz diente. Der einst prächtige eichene Schanktisch lag, aus allen Fugen gegangen, in einer Ecke, zusammen mit Flaschen, Krügen und Henkelgläsern. Durch eine breite Lücke im Schilfdach sah man den Himmel. Der Keller hatte sich gesenkt, Modergeruch erfüllte die Luft, Regen und Schnee hatten den Boden aus festgestampfter Erde in eine Schlammgrube verwandelt. Diese stummen Dinge schrien ihre Not derart zum Himmel, daß Adrian wie angewurzelt stehenblieb. Das Herz erstarrte ihm beim Anblick solchen Verfalls, am liebsten wäre er gleich wieder geflohen.

»Und das ist erst das Vorzimmer!« sagte er zu sich und öffnete nur mit größter Selbstüberwindung die Tür zum Krankenzimmer.

Ein entsetzlicher Leichen-, Kot- und Harngestank schlug ihm entgegen. Seine vom Ammoniakdunst gereizten Augen schlossen sich und ließen ihm gerade noch Zeit, einen Rücken zu sehen, einen Schädel, der wie eine aufgeschwollne Blase glänzte, und einen fleischlosen Arm, der über den Rand eines elenden Lagers aus schmierigen Säcken herunterhing.

Dann sank er zu Boden und lehnte die Stirn an diese Knochenhand. Die Hand war eiskalt. Der Kranke rührte sich nicht.

 

Steh auf … Adrian … und such es zu ertragen.«

Adrian schauderte. Das war nicht die Stimme eines Erwachsenen, die männliche Stimme Onkel Angiëls, das war das näselnde Plärren eines tuberkulösen Kindes, das im Sterben liegt.

Den Hut in der Hand, stand er auf und blieb ehrerbietig in der Mitte des Zimmers stehen, den Blick auf den Kranken gerichtet. Dieser Kranke war nicht sein Onkel Angiël, es war ein Greis mit dem Gesicht eines vertrockneten Gespenstes, riesigen, schneeweißen Augäpfeln ohne Lider, die in zwei unermeßlich tiefen Höhlen lagen, einer langen, messerspitz zulaufenden Nase, ausgedörrten Lippen und einem halboffenen Mund. Ein Kranz weißer Haare umrahmte den Nacken von einem Ohr zum andern. Der einst gelockte und glänzend schwarze Bart war nur noch ein Gewirr von grauweißer Wolle. Dies mit den beiden knochigen Armen, die in den Ärmeln eines schmutzigen Wamses schlotterten, war alles, was aus einem Haufen von Decken, Säcken und abgetragenen »Gebas« Geba: Bauernmantel. herausschaute: der ganze Onkel Angiël.

 

Setz dich … dahin … auf den Stuhl. Macht es dir übel? …«

»Nein, Onkel; es macht mich unglücklich, dich in dieser Verfassung zu sehen …«

»Es macht dich unglücklich … Warum? … Ich bin nicht unglücklich.«

»Aber du mußt doch entsetzlich leiden? …«

»Du bist im Irrtum, Adrian … Ich leide nicht mehr, nur der Kopf lebt noch; das übrige … spüre ich nicht. Es ist erledigt … das übrige. Aber der Kopf! … Welch wunderbare Sache!«

Er schwieg eine Weile, den Blick auf seinen Neffen geheftet, dann sagte er mit Überzeugung:

»Ich sollte schon vor drei Tagen sterben … weil ich nichts mehr zu denken hatte, als Jeremias abends kam und mir sagte, du seiest zurück … Da habe ich mich geduldet und auf dich gewartet.«

»Onkel! Was sagst du da? Man hält den Tod nicht auf, wenn er kommt; er kommt nicht, wenn man will. Es sei denn, daß du dir das Leben hast nehmen wollen?«

»Ja,« stimmte Angiël gutmütig zu, »ja … auch ich kenne dieses Naturgesetz. Aber sage, Adrian, – du, der du so viel Schönes aus den Büchern weißt – bist du sicher, daß die Welt ausgelernt hat?«

»O nein!« sagte Adrian. »Es bleibt noch eine Menge zu lernen!«

»Na also … Und zu dieser Menge rechne das, was dir dein Onkel Angiël sagt: der Gedanke ist so stark wie der Tod; er verjagt ihn nicht, aber er kann ihn foppen.«

Adrian glaubte, der Kranke rede irre; er hörte ihm nachsichtig zu. Er sah die Narben auf dem Kopf des Alten, die von dem schrecklichen Überfall herrührten, dessen Opfer er in seiner eigenen Schenke geworden war, und die wie die Maserung im Marmor den kahlen Schädel nach allen Richtungen durchzogen.

»Du betrachtest diesen zerschmetterten Kopf«, sagte Angiël. »Nun, für einen Menschen mit schwachem Geist wäre Grund genug zum Sterben gewesen, da das Sterben nun einmal vom Geiste abhängt. Wenn die Auflösung naht, widersetzt sich das starke Gehirn, kämpft, liefert dem Tod eine Schlacht, und unter gewissen Umständen schiebt es das Ende für eine Weile hinaus, verzögert es. So wußte ich am Tage meines Aderlasses, daß unfehlbar die Ohnmacht käme und mich in Bewußtlosigkeit zu versetzen drohte. Und obgleich ich anscheinend ohnmächtig war, hielt mein Gehirn stand, hörte ich alles, was die Chirurgen sagten. Nicht eine Minute ließ ich mich von dem Nichts erfassen – es konnte zur Ewigkeit werden – und dachte unaufhörlich an das Leben.«

 

Angiël hielt einen Augenblick inne, um Atem zu schöpfen. Adrian war es, als stände er vor einem jener einbalsamierten Pharaonen im Bulak-Museum zu Kairo, einem Pharao, dessen wiedergeöffnete Augen mit keiner Wimper mehr zuckten. Die ausgetrocknete und durchsichtige Gesichtshaut ließ die ganzen Knochen des Gesichtes sehen, über die sie wie ein dünnes Pergament gespannt war, das bei jeder Bewegung zu brechen drohte.

Und nun hob sich langsam die Hand, die nach der Wand zu versteckt gelegen hatte, und führte ein Zinnpfeifchen zum Mund, das mit einem Bindfaden am kleinen Finger befestigt war. Onkel Angiël pfiff wiederholt in kurzen Stößen. Die Luft kam – wie man deutlich sah – nicht aus der Lunge, sondern einfach aus dem Mund. Der Arm ruhte auf dem Sack, der die Brust bedeckte. Die unheimlich geöffneten Augen starrten so eindringlich auf Adrian, als wollten sie ihn an die Wand spießen.

»Onkel,« sagte Adrian jetzt und stand auf; »du willst etwas?«

»Bleib sitzen, du kannst mir doch nicht helfen.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür der Wirtsstube wie unter einem Windstoß, und der stürmische Krankenwärter drängte ins Zimmer. Ein paar Sekunden lang sahen sich Herr und Diener an; dann ergriff der Knabe eine Branntweinflasche, die am Fußende des Bettes stand, füllte ein Gläschen und leerte es in den Mund des Kranken. Nach dieser Verrichtung verschwand er wieder.

Adrian hatte dem Vorgang stumm beigewohnt. Er erwartete eine Erklärung von seinem Onkel. Dieser aber nahm unerschütterlich seinen Gedanken wieder auf:

»Ich sehe, du bist ungläubig und nachsichtig gegen das, was ich vorbringe. Ich nehme es dir nicht übel: es ist schwierig, zu verstehen, was man nicht selbst erlebt hat. Also höre … Seit drei Jahren habe ich dieses elende Lager nicht mehr verlassen. Drei Winter, drei Lenze, ebenso viele Sommer und ebenso viele Herbste liege ich auf dem Rücken und betrachte diese schwarzgewordene Decke. Es ist die intensivst gelebte Zeit meines Lebens. Seit einem Jahr esse und schlafe ich fast nicht mehr, seit einem halben Jahr überhaupt nicht mehr: kein Bissen Brot, keine Sekunde Schlaf! Aber ich trinke. Ich trinke diesen Branntwein da. Am Tage gießt ihn mir das Kind in den Schlund, wie du eben gesehen hast. In der Nacht, um nicht umzukommen und die arme Kreatur nicht zu wecken, sauge ich an dem Schwamm, den du auf dem Tisch liegen siehst, und den man abends mit Alkohol tränkt. Am Morgen ist er ausgetrocknet und verbrannt von meinen Lippen.«

Adrian bedeckte sein Gesicht mit den Händen:

»Onkel,« rief er aus, »welch entsetzliches Dasein!«

»Entsetzlich nennst du es, lieber Neffe? Vielleicht … Aber es ist folgerichtig, meinem Schicksal entsprechend … Ich wollte ein vollkommenes Glück, ein leichtes Glück, die Befriedigung des eitlen, hoffärtigen Fleisches … Und um es zu erreichen, habe ich mich gehörig abgezappelt. Zwanzig Jahre habe ich gekämpft, um eine schöne Frau zu erringen, die beim Essen einschläft, ein schmuckes Haus, das wie Stroh brennt, Vieh, das verschwindet, Kinder, die sterben, Gold, das Knüttelhiebe auf sich zieht, und ein sauberes Hemd, das am nächsten Tage schmutzig ist. All das für diesen Körper, der sich von meinem Kopf losgesagt hat, der so wenig zu mir gehört wie die Säcke, die ihn bedecken, für diesen Körper, der nun verwest, der nur noch Aas ist! Ich habe ein Menschenleben, ein Vierteljahrhundert als Sklave dieses Leichnams zugebracht, den ich von den Raben gefressen sehen möchte, wie es ihm nun von den Würmern widerfährt, und ich wurde keinen Augenblick inne, daß ich einen Kopf hatte, ein Gehirn, eine Leuchte, der Verwesung und Würmer nichts anhaben können …«

 

Von der Anstrengung ermattet, schwieg der Kranke lange. Adrian, der seinen Blick kaum ertragen konnte, fragte sich, ob sein Onkel ihm etwas vorzuwerfen habe. Und so war es denn auch:

»Adrian! … Ich habe dich gerufen, um dir zu sagen, daß ich unzufrieden mit dir bin!«

Bestürzt über diesen Verweis, sprang der junge Mann auf:

»Unzufrieden mit mir? Und warum, Onkel?«

»Weil du ein Genießer bist. Weil du die Leuchte deines Kopfes und meine Worte von einst vergißt! … Das ist tausenden und Abertausenden gewöhnlicher Sterblicher wie mir erlaubt, aber nicht dir, Adrian, verstehst du mich? Dir nicht, dessen Hirn von frühester Kindheit an erleuchtet war.

Weißt du noch, wie du mit fünfzehn Jahren – in einem Alter, wo andere noch mit Drachen spielen! – Onkel Angiël in seiner sauberen, gastlichen Schenke besuchtest, um ihm von Astronomie zu reden und dich bewundern zu lassen? Erinnerst du dich, wie wir alle, – ich und meine braven Fuhrleute, an deinen Lippen hingen, von denen himmlische Weisheit strömte? Ach! Das waren schöne Zeiten! Mir ist, als ob es gestern gewesen wäre. Draußen Schnee und Sturm, in der Schenkstube wohltuende Wärme, plaudernde Arbeiter, Lebensfreude … Ich schnitt den Räucherspeck herunter, ohne zu wiegen, ohne zu rechnen, ohne Knausern. Und ich schenkte den Wein ein in aufrichtiger Spenderlaune. Man aß, man trank, man lobte Gott und hörte dir zu, dir, der du Gottes Schöpfung auf den Kopf stelltest, neue Welten schufest, die Sterne maßest und dich über die Dummheit der Popen lustig machtest! … Haha! … Das gefiel mir! Den Fuhrleuten auch, und wie! Jemand rief: ›Wer ist dieser Bursche? Er redet wie ein Buch!‹ ›Aber das ist doch mein Neffe, zum Donnerwetter!‹ antwortete ich, stolz auf dich und mich, der ich nichts wußte. ›Es ist der einzige Sohn meiner ältesten Schwester, die viel umworben war und mit zwanzig Jahren ihresgleichen suchte! …‹

Und ich ergriff die mächtige Dekaliterkanne und füllte aus eigenem Antrieb die Terrakottaseidel, die unter Trockenheit zu leiden hatten wie ein Acker, auf den die Junisonne brennt …

Doch halt! Fort, fort von mir, ihr grausamen Erinnerungen! Du aber, Adrian, mein Neffe, sollst auf mich hören, du schuldest mir Gehorsam! Du darfst vom Leben nichts erhoffen, nichts erwarten, von diesem Leben, das den Menschen aufreibt, den Leib auffrißt und ihn den Kopf vergessen läßt. Was soll diese Ausschweifung, der du dich hingibst? Dieser Maßanzug? Dieser lächerliche Stehkragen? Diese anspruchsvollen Manschetten? Was? Wozu braucht ein junger Mann, der vom Himmel erleuchtet ward und seines Onkel Angiëls Unglück kennt, diesen ganzen Firlefanz?«

 

Ehrerbietig senkte Adrian die Stirn. Stichhaltige Erklärungen kamen ihm auf die Zunge, aber der Mut fehlte ihm, etwas zu antworten. Während er sich stillschweigend über die Strenge seines Onkels wunderte, führte dieser das Pfeifchen an die leichenhaften Lippen und pfiff geduldig, langsam und in kurzen Stößen, um seinen Tolpatsch von Diener herbeizurufen, der auch sogleich erschien, das Glas füllte, seinen Inhalt in des Herrn Mund goß, wie in ein Loch, und mit wackelndem Kopf und schlenkernden Händen wieder verschwand.

»Vor drei Jahren«, nahm Angiël seine Rede wieder auf, »wurde mir eine heikle Geschichte zugetragen: Du hast dich in einer deiner Bildung geradezu unwürdigen Weise mit ausschweifenden jungen Leuten eingelassen und bist eines Abends in Braila auf einen öffentlichen Ball gegangen, wo du einem Frauenzimmerchen den Kopf verdreht hast. Noch in derselben Nacht hast du bei ihr geschlafen. Am nächsten Morgen hast du sie sitzenlassen und bist nach Bukarest entwischt. Vierzehn Tage nachher nahmen dich die Polizisten auf Befehl des Untersuchungsrichters fest. Schließlich verbüßtest du einen Monat später eine entehrende Strafe von zwei Wochen Gefängnis wegen ›Entführung einer Minderjährigen‹.«

Adrian wurde rot bis an die Ohren:

»Ich habe nichts ›entführt‹, Onkel. Die Minderjährige ist aus freiem Willen in den Wagen gestiegen, es war entschieden nicht ihr Probestück. Das Opfer dieser Posse bin ich gewesen … Sonst hätte ich ja auch nach dem Gesetz drei Jahre Gefängnis bekommen.«

»Mag sein … Aber wußtest du denn nicht, daß eine Minderjährige keinen ›Willen‹ hat, und daß sie unter der Vormundschaft der Eltern steht?«

»Das Mädchen, mit dem man schlafen möchte, erbittet man doch nicht von dessen Eltern.«

»Zugegeben! Aber man schläft auch nicht bei Mädchen, die einen am nächsten Tage ins Gefängnis bringen.«

Der Onkel wartete auf eine Antwort. Doch Adrian schwieg. Da fuhr er fort:

»Ich hab' dir auch noch andres vorzuwerfen. Ich weiß, daß deine Mutter infolge dieses Abenteuers vor Scham gar ernstlich krank geworden ist. Die Eltern des losen Mädchens kamen mit Heiratsansprüchen. Und während du in Bukarest herumspaziertest, zerriß man sich im ganzen Stadtviertel die Mäuler über die Mutter eines solchen Wüstlings. Du machtest dir darüber wenig Sorgen, so wenig, daß du, als du in der Klemme saßest, in einem Briefe Geld von ihr verlangtest. Kaum von ihrer Krankheit erholt, mußte sie sich an ihrer Waschbütte zuschanden rackern, um ein bißchen Geld zu verdienen und dich in deiner Not zu unterstützen … Wenn du das Sohnesliebe nennst, dann gratulier' ich dir! Aber das ist noch nicht alles. Du wirst sehen, daß ich gut unterrichtet bin … Deine Verhaftung hat deine Mutter gezwungen, ihre Siebensachen zusammenzupacken und mitten im Winter in ein anderes Viertel zu ziehen, wo sie viel höhere Miete zahlen mußte. Als du dann aus dem Gefängnis entlassen warst, hast du neue Streiche ausgeheckt und dich der Arbeiterbewegung angeschlossen, hast dich festnehmen und verprügeln lassen wie ein Pferdedieb. Die Folge davon war: ein Monat Heilanstalt, erschütterte Gesundheit und ein Vorwand, zur Erholung nach Ägypten zu gehen, wo du fast verhungert bist und dich an deine Mutter erinnert hast. Ach! Adrian, an was fehlt es dir mehr: an Herz oder an Verstand? Damals empfing ich den Besuch meiner armen Schwester … Abgezehrt und schwach, kam sie zum erstenmal in ihrem Leben, mich um Geld zu bitten, um es ihrem Sohn zu schicken … Ich hatte Mitleid mit ihr, nicht mit dir, sondern mit ihr, der Dulderin, und hab' ihr meine Börse nach Belieben aufgetan.«

 

Adrian brach in Schluchzen aus, wälzte sich vor dem stinkenden Lager auf dem Boden, ergriff die abgezehrte, kalte Hand seines Onkels und küßte sie inbrünstig:

»Verzeihung! … Verzeihung! … Ich bin ein Schurke!«

»Vortrefflich. Du bereust … Und Reue führt zur Besserung. Versuche dich zu bessern, und ich verzeihe dir von heute an, und du sollst mein Adrian sein, mein Neffe, der geistige Sohn von Onkel Angiël, diesem Onkel, den du hier auf dem Lumpenlager siehst, weil er in seiner Verirrung das allerschönste Weib, das allerblühendste Haus und das allersauberste Hemd besitzen wollte. Aber genug davon!«

»Was soll ich tun, Onkel?« stammelte der Bursche; und indem er seine Tränen trocknete, setzte er sich wieder. Angiël hob schwerfällig seinen knochigen Arm, als ob er einen Fluch aussprechen wollte:

»Dich abwenden von allem, was die Sinne kitzelt, mit den stolzen Wünschen brechen, die Stimme des verweslichen Fleisches zum Schweigen bringen, deine ganze Seele dem Dienst des Geistes widmen, der unser einziger Halt in höchster Not ist. Das ist alles, was ich dir zu sagen habe …«

»Aber Onkel,« wagte Adrian einzuwenden, »du verabscheust heute alles, was du gestern geliebt hast …«

»Sehr richtig! … Die Dinge, die ich gestern geliebt habe, haben mich dahin gebracht, wo du mich heute siehst …«

»Indes man liebt doch grade das, was einem Freude macht: die schöne Frau, das blühende Haus und das saubere Hemd. Unsere Leidenschaften fordern es, und unsere Sinne schreien danach.«

»Scheinwahrheit, Adrian! … Nichts als Schein! Die Leidenschaften und die Sinne machen einen Aufruhr, der gar nicht im Verhältnis steht zu ihrer Fähigkeit, das Leben zu genießen.«

»Es ist der Aufruhr unseres Herzens …«

»Ein Bösewicht ist unser Herz!« schrie der Sterbende in einer äußersten Anstrengung, die ihn erschöpfte. Seine Worte hatten nicht mehr den Klang einer menschlichen Stimme, es war nur mehr ein Pfeifen durch die Nase. Ein langes Schweigen folgte diesem Satz. Der Kopf, zur Wand gedreht, erstarrte in völliger Regungslosigkeit, ebenso die Arme. Adrian glaubte, sein Onkel hauchte jetzt den letzten Seufzer aus.

Nein. Onkel Angiël dachte noch immer. Er besann sich wieder auf Adrian und prüfte ihn mit seinen Schreckensaugen, die besser als alle Worte den tragischen Kampf seines Geistes widerspiegelten. Ohne Adrian aus den Augen zu lassen, pfiff er dann laut und dringlich, als ob er seinem Neffen beweisen wollte, daß er sich um den Tod nicht schere.

Der Bursche kam angetrabt, der Onkel schluckte gierig seine Ration hinunter, leckte sich die bleichen Lippen und lächelte ob seines Sieges über die Vergänglichkeit …

* * *

Unser Herz? Unser Herz? Adrian … Beweinen wir es! Dieses Klümpchen Fleisch, das nicht aufhört zu schlagen. Diese weiße Rübe, diese dicke Erdartischocke, die die Unsterblichkeit in sich trägt, die ewig sich bewegt, von dem Moment an, wo sie mit der Wärme des Frauenleibes in Berührung kommt und sicher noch nicht größer ist als ein Stecknadelkopf; die sich erregt, sich freut, die leidet und unaufhörlich schlägt vom Tag ihrer Erschaffung bis zum Tode. Ach geh! … Seien wir gerecht mit diesem armen Bösewicht. Er fügt uns genug des Schlimmen zu, das ist wahr, aber er tut es aus Freigebigkeit. Oh, da gibt es Erinnerungen … Verdammte Erinnerungen! … Ach was … Laß uns noch eine Minute in dieser schrecklichen Vergangenheit verweilen! …«

 

Wenn der Quell meiner Tränen nicht versiecht wäre, würde ich sie gerne über den Menschen vergießen, der ich vor zwanzig Jahren war … Damals erstieg ich den Gipfel meines Glücks, und mein siedendes Blut ließ mich hundert Leben auf einmal leben. Nichts, was um mich her geschah, war mir fremd, sei's Freude oder Schmerz. Beim Feiern wie beim Streiten war Onkel Angiël zur Stelle. Ich trank das erste und das letzte Glas, ich hielt es bis zuletzt beim Raufen aus! … Bei Gott! – welch Hochgenuß, es in den Schläfen klopfen zu hören, wenn das ›heilige Blut‹ glucksend den glühenden Schlot hinunterrieselt, und welche Freude, einem Unverschämten, der einem ins Gesicht lacht, eins in die Rippen zu versetzen. Und man weiß, daß bei unseren Festlichkeiten das ›Blut Christi‹ sich allzuhäufig mit dem Blute von uns Sterblichen vermischt.

So war's auch bei dem Weihnachtsfest, von dem ich dir erzählen will.

Du mußt dich übrigens noch dran erinnern können, denn du warst damals sechs Jahre alt und wurdest in den Krach hineingezogen …

Ach, unsre hohen christlichen Feste von ehedem! … Der Mensch ist nun einmal ein trauriges Tier! … Die Zeit erlegt ihm Prüfungen auf, ändert sein Gefühl und richtet seine Seele zugrund, viel leichter als es ihr jemals bei Tieren glückt, die der Zeit zum Trotz dieselben bleiben.

Wollte man die Mordskerle meiner Jugend mit den Krüppeln von heute vergleichen, so dürfte man sie mit Berechtigung Löwen nennen! … Es gab auch Schwächlinge, aber um die kümmerte sich niemand, sie zählten einfach nicht. Wenn jemand in einem Wirtshaus in Petroi, in Kasassu oder Nasiru den Namen unsres Weilers nannte, so dachten die Anwesenden sofort an ein paar Männer: vor allem an Jeremias, den Tapfersten der Tapfern, dann … meiner Seel, jawohl, an Angiël! … Sodann an meinen Freund Nikolai, an Wladimir und an den langen Costa und noch an eine Menge andere weniger berühmte; doch alle durch die Bank waren sie ein Haufe, unbesiegbar bei der Arbeit wie beim Fest, im Scharmuzieren wie im Handgemenge! … Indessen heute …

Ach! … Adrian … Spuck aus für mich, denn ich kann nicht mehr spucken! Heute gibt es nur noch Zwerge, die sich vor ihrem eigenen Schatten fürchten und von den Frauen prügeln lassen! …

 

Am heiligen Abend jenes zugleich lustigen und tragischen Weihnachtsfestes ließ ich in mein väterliches Haus ein Hundertliterfäßchen Wein kommen, sechs fette Kapaune und ebenso viele Spanferkel, um sie mit Sauerkraut zu braten.

Du meinst, dies sei zuviel für das Dutzend Mäuler, das sich zu Tisch versammeln sollte. Vielleicht für die Jammerlappen deiner Zeit, denen es schon nach dem dritten Bissen Fleisch übel wird und die von einem halben Glase Wein besoffen sind. Für uns war's grad' das Rechte! …

Ich sehe noch den Vetter Stephan vor mir – den Priester, der die Bibel und die vier Evangelien auswendig konnte –, voriges Jahr ist er gestorben … er war zu jener Zeit geschlagne sechzig Jahre alt, verfügte über ein Gebiß wie ein Schimpanse und war mannbar wie ein Hahn. Die Priesterin, seine Frau – eine Stute mit festen Lenden und einem Gesicht wie eine Pfingstrose –, ging mit ihrem achtzehnten Kinde schwanger, die andern siebzehn waren alle am Leben und gesund. Ach! … Man mußte die Kinnbacken dieses ›göttlichen‹ Paares gleich nach dem Tischgebet sehen, das kurz und eilig ausfiel, weil dem Priester das Wasser schon im Munde zusammenlief! … Sein Unterkiefer mahlte, zermalmte die Schlegel, die Knochen, die Knorpel, als ob es Sonnenblumenkerne wären, wobei sein ansehnlicher Bart sich wie ein kreisender Mühlstein drehend über seiner Brust bewegte …

Neben dem Priester saß meine Mutter – des heiligen Tages sich bewußt und fromm bis in die Fingerspitzen – und kämpfte tapfer mit dem Füllsel unserer ›Krautwickel‹. Der tolle, schlaue Bruder Dimi suchte sich geschickt die besten Stücke aus … Jeremias schlang alles wahllos hinunter, ohne zu kauen, indes der lange Costa seine endlosen Arme über den ganzen Tisch spazieren ließ, alles an sich brachte, wenig sprach und statt dessen die anderen zu sprechen veranlaßte, um ihnen auf diese Weise den Mund zu stopfen.

›Darf man ein Vielfraß sein, Vater Stephan?‹

›Man darf, mein Sohn, man darf.‹

›Ist das keine Sünde?‹

›Was in den Mund kommt, ist keine Sünde, nur was aus dem Munde kommt.‹

›Erzählt uns etwas vom heiligen Abendmahl …‹

›Gleich, gleich …‹

Und das Geräusch der gewaltig arbeitenden Kinnbacken ging im Takt und weckte Erinnerungen an die Futterstunde in einem Schweinestall zusammen mit dem schauderhaften Rülpsen aus den vollen Bäuchen, das die beiden Bankreihen von einem Ende des Tisches bis zum andern zum Wackeln brachte.

Sechs Männer und sechs Frauen nahmen die zwölf Plätze auf beiden Seiten des Rechtecks ein. Am oberen Ende des Tisches, das Gesicht nach Osten, thronte der Priester Stephan und beherrschte die Versammlung mit seiner Mordsgestalt. Man war betroffen, daß wir dreizehn waren, ›die Teufelszahl‹, jedoch man half sich damit, daß man den Zwerg, der das Getränk servierte, als Gast hinzuzog, ein lustiges, witziges, altes Männlein, das nur mit Mühe die ungeheure Dekaliterkanne bis an den Tischrand heben konnte.

Nun da die Mäuler den Fraß bewältigt hatten, wandten sich die Sinne dem Vergnügen und die Gurgeln den Flaschen zu. Der süffige Wein floß in Strömen, und mit ihm kam die Stimmung in Fluß. Bald nahm Dimi seine lange Schalmei in seine wunderbaren Finger, und alsogleich erhob sich die ganze Gesellschaft samt dem Priester. Ein wilder Tanz begann um den mit Bechern und Geschirr beladenen Tisch; das Schreien und Stampfen brachte das ganze Haus zum Zittern. Nach einiger Zeit entfernten sich der Geistliche und seine Frau mit schweißtriefendem Antlitz, um uns ein Beispiel von Mäßigkeit zu geben. Und um dem Beispiel zu folgen, begannen wir aufs neue mit dem tollen Rummel.

 

Aber mir ging es an jenem Abend nicht allein ums Schlemmen … Eine sehr wichtige Sache war zu erledigen, und niemand verkannte ihre Wichtigkeit. Im Gegenteil, diese Sache erregte allgemein Interesse und teilte die Meinung der Anwesenden in zwei fast gleiche Parteien.

Es galt, deine Mutter wieder zu verheiraten; und ich gab meinem Freunde Nikolai, einem Bauern mit hübschem Besitz und kinderlosem Witwer, der auch anwesend war, den Vorzug. Jeremias und Costa waren da, um seine Bewerbung zu unterstützen und mir beizustehen. Nun war deine Mutter nicht ganz frei. Von langer Hand und heimlich war Dimi, dieser Schurke von einem Bruder, bemüht gewesen, seinen Günstling an die Stelle des meinen zu setzen, auch einen Nikolai, einen übrigens recht sympathischen Menschen, der als Fischhändler in Braila klotzig Geld verdiente und sehr üppig lebte. Außer von Dimi wurde seine Kandidatur von unserem Vetter Tudor unterstützt, den wir alle seiner zügellosen Art und seiner herkulischen Kräfte wegen fürchteten. Tudor und sein Nikolai standen wie Brüder miteinander.

Und nun saßen wir uns als entschiedene Rivalen am Tische gegenüber, auf meiner Seite vier, drei auf der andern, doch zählte Tudor ohne weiteres für zwei der Stärksten. Deine Mutter saß drüben, aber bis zu welchem Grade sie eine Neigung zum andern Nikolai verspürte und wieweit sie sich mit diesem Manne eingelassen hatte, kann ich nicht sagen. Man war indessen überzeugt, daß sie in ihrem mühseligen Leben manche Geschenke hatte annehmen müssen, mit denen der Fischhändler sie unaufhörlich bombardierte.

Und welch sonderbares Geschöpf war diese arme Schwester! … Mit dreißig Jahren war sie schön wie eine junge, kaum vermählte Frau, von liebenswürdigem Wesen, fröhlich, fürs Tanzen und Singen hochbegabt, doch wurde sie ungemütlich und verdarb der lustigsten Gesellschaft die Stimmung, sobald man an ihre Unabhängigkeit nur zu rühren wagte, sobald es darum ging, sie an einen Mann zu verheiraten. Und alles das um deinetwillen: der Gedanke, daß der neue Gatte lieblos gegen dich sein könnte, machte sie wild wie eine Löwin. Auf dem Umweg über dich konnte man sie gewinnen oder sie verlieren; so warst du auch an jenem Abend der Stein des Anstoßes.

Mein Freund Nikolai liebte dich und kam oft zu uns, sich mit dir die Zeit zu vertreiben. Ihr wart die besten Freunde, was einen großen Trumpf zu unseren Gunsten bedeutete. An jenem Weihnachtsabend hörte Nikolai nicht auf, dir Zuckerzeug in das Bett zu legen, in dem du schliefst oder erwachtest, je nach dem Grade des Radaus. Das gefiel deiner Mutter und machte den andern eifersüchtig. Und da er nicht wußte, wie er diesem Spiel ein Ende machen sollte, zog er ein Goldstück aus der Tasche und warf's dir mit den Worten zu:

›Da, Adrian, davon kannst du dir zehn Kilo Zuckerzeug kaufen! …‹

›Ja … Aber sie werden nach Fisch riechen! …‹ sagte schnell mein Freund, indem er auf diesen von den jungen Mädchen mißachteten Beruf anspielte.

›Immer noch besser als der Mistgestank! …‹ gab ersterer zurück, indem er auf den Bauernstand abzielte.

Diese giftigen Sticheleien fielen gegen Mitternacht, als nur noch der Wein für unsere Reden verantwortlich war. Tudor geriet leicht in Harnisch. Und was man am meisten fürchten mußte, war, daß er nicht im geringsten betrunken war. Um seinen Zustand zu beurteilen, stellte ich ihm listig ein Bein, als er pissen ging: er fiel nicht.«

Angiël war völlig außer Atem. Das Erzählen strengte ihn an. Er schwieg unvermittelt. Sein Gesicht drückte gar nichts aus, weder Erregung noch Ermüdung. Dieselbe Starrheit, dieselben schrecklich aufgerissenen Augen. Und wieder pfiff er seinem Wasserkopf und ließ sich einen Tropfen bringen. Dann fing er mit erholter Stimme wieder an:

»Wenn ich es heute überlege, wenn ich ruhig die Seltsamkeit menschlicher Leidenschaften überdenke, frage ich mich, ob wir nicht vielleicht die reinen Marionetten sind, die Opfer eines Dämons, der die Fäden führt und uns zu seinem Vergnügen tanzen läßt. Denn wenn wir an jenem Abend auch nur irgendwie vernünftige Menschen gewesen wären, so würde es für uns ein leichtes gewesen sein, zu bemerken, daß deine Mutter ebensoviel Lust hatte, sich zu vermählen wie sich aufzuhängen. Jedoch der Wein und unsere ungestümen Herzen ließen uns das übersehen, und bald wurde man bei jedem weiteren Wort gewahr, daß es sich nicht mehr darum handelte, jemand zu verheiraten, daß es ganz einfach darum ging, sich wie die Narren zu verprügeln.

Deine Mutter ihrerseits, – eine Frau, der es ein teuflisches Vergnügen machte, die Männer aufeinanderzuhetzen, und um derentwillen sich in ihrer Jugend gar viele die Köpfe zerschlagen haben –, stand dem Teufel so gut bei, daß unser Blut in Brand geriet und dieser Brand beinahe sie selbst verzehrt hätte. Da sie die Eifersucht des Fischhändlers kannte, führte sie die beiden Nikolai irr, indem sie einen damals sehr beliebten Gassenhauer sang, in dem nach jeder Strophe der Name Nikolai im Kehrreim vorkam:

›Hei, hei, hei,
Küss mich, Nikolai! …‹

Ja, küss mich, Nikolai, aber welcher von beiden? … Und da jeder das seinige dazu beitrug, möglichst schnell zum Aderlaß zu kommen, hielt mein Nikolai seinen Namensvetter zum Narren, zwinkerte mit dem Auge und berührte unter dem Tisch mit seinem Fuß den Fuß deiner Mutter. Tudor brüllte:

›Herrgott nochmal! … Nun kommt es gleich zum Klappen!‹

›Ja, Vetter! …‹ rief ich aus, ›nun kommt's zum Klappen!‹

Meine Mutter stand auf. Indem sie tat, als ob sie den Tisch in Ordnung bringen wollte, sammelte sie alle Messer ein, die in unsrer Reichweite lagen, als sie aber gewahrte, daß Tudor allein noch mit einem schrecklichen Hirschfänger bewaffnet war, der ihm im Gürtel steckte, trat sie zu ihm und bat:

›Tudor! … Mein Sohn! … Gib mir dein Messer! …‹ Stolz zog Tudor seinen Hirschfänger heraus und schleuderte ihn gegen die Tür. Die gute Alte trug ihn weg, dann kam sie mit Weihwasser zurück, besprengte das Zimmer, verbrannte Weihrauch und betete:

›Allmächtiger Gott! … Jage den Unreinen aus diesem Hause, wo er soeben seinen Schweif aufgepflanzt und Zwietracht unter die Männer gebracht hat! … Sende ihn in die Wüste, Herr! … Habe Mitleid mit uns Sündern im Namen Deines Sohnes, der heute geboren ward!‹

Und sie flehte deine Mutter an:

›Geh hinaus, meine Tochter! … Geh und fache das Herdfeuer an … Und bete … Du bist die Ursache des Übels, wie Eva die Ursache der Erbsünde war …‹

Alle Männer erhoben Einspruch gegen die Entfernung der ›Ursache des Übels‹ … Jeremias psalmodierte:

›Las–set – uns – die – schö–ne – Ur–sa–che – des – Ü–bels! – Was – wür–de – aus – den – Män–nern – oh–ne – die – schö–ne – Ur–sa–che – des – Ü–bels –! …‹

Die Mutter jammerte:

›Jeremias! … Ihr werdet einander die Köpfe einschlagen! …‹

›Las–set – uns – ein–an–der – die – Köp–fe – ein–schla–gen – wenn – uns – das – Freu–de – macht –! …‹

Dimis Flöte erklang teuflisch. Von den Lippen flossen ihm die Töne und die Worte:

›Dudeldu, dudeldu, dudeldu …
Volle Gläser trink' ich gern! …
Dudeldu, dudeldu, dudeldu …
Aber nur mit jungen Herrn! …
Dudeldu, dudeldu, dudeldu …‹

Mit einem Satz sprang alles von den Plätzen auf, und die Sarba ließ die Erde erzittern. Indem er sich dauernd im Tanze drehte, spielte Dimi und brüllte dazu:

›Spring, Opinka! Opinka: Ledersandale der Bauern. … Klopfe fest! …
Daß sie's hör'n im fernsten Nest! …
Dudeldu …‹

Darauf der lange Costa:

›Gut Wein und heilig Müßiggehn
Läßt Disteln unterm Unkraut stehn! …‹

Dann die Schwester, ausgelassen:

›Wie gern seh' ich den mut'gen Held,
Wenn er im Wald sein Schläfchen hält! …‹

Und Tudor, herausfordernd:

›Gern seh' ich's, daß er Prügel kriegt,
Bis daß der Feind am Boden liegt! …‹

Der andre Nikolai schrie:

›Der Wein ist schlecht, das Glas zu klein,
Die Wirtin aber, die ist fein! …‹

Und mein Nikolai blamierte uns, indem er gröhlte:

›Nur nicht zu schnell im Tanz sie schwingt,
Sonst läßt sie einen, und das stinkt.‹

›Laßt uns trinken! Wein her! Wein her! …‹

›Laßt uns Schmollis trinken! …‹

Wir tranken Brüderschaft, zwei und zwei, mit untergefaßten Armen, einander zugeneigten Köpfen, die Weinkrüge an den Lippen. Und kaum hatte ich Zeit, deine Mutter mit meinem Freund Nikolai – der zufällig neben ihr stand – Schmollis trinken zu sehen, als auch schon im selben Augenblick Tudors Krug durch die Luft sauste und am Kopf meines Freundes zerschellte …

Das war das Signal, der zündende Funke …

Im Augenblick kam es zu einer fürchterlichen Schlägerei! … Krüge, Teller und andere Gerätschaften flogen wie Wurfgeschosse … Tische und Bänke stürzten um; die Petroleumlampe fiel zu Boden, zerbrach und verlöschte … Wir waren fast ganz in Finsternis getaucht … Nur im fahlen Widerschein des Schnees und des funkelnden Himmels, die durch die Scheiben leuchteten, konnte man das erbittertste Handgemenge sehen, in dem sieben Männer, sieben Freunde und Verwandte, sich mächtig verprügelten, sich haßerfüllt blutig schlugen, ohne ein Wort, ohne einen Schrei und ohne zu wissen weshalb, – als plötzlich, wie niemand daran dachte, den Kampf aufzugeben, die drollige jedoch zugleich verärgerte Stimme des andern Nikolai ertönte:

›Heiliger Strohsack! … Wollen wir uns denn so bis morgen früh verprügeln! … Ich hab' einen Mordsdurst! …‹

 

Wie durch eine elektrische Entladung hörte die Keilerei auf … Befreites Lachen, begeisterter Beifall antworteten dem unerwarteten Ausruf eines Mitkämpfers, der genug hatte …

›Licht! … Licht! … Und vor allem Wein! … Wo sind die Frauen! … Wo ist der Zwerg? …‹

Die Frauen, die entsetzt geflüchtet waren, kamen mit Kerzen wieder herein, doch deine Mutter war verschwunden, und du mit ihr. Alles Suchen in Hof, Stall und Scheune war vergebens. Dich – ihren einzigen Schatz und ihre einzige Sorge – in den Armen, hatte sie sich mitten in der Nacht zu Fuß auf den Weg nach Braila gemacht. Dem Schnee, der Kälte und den Wölfen zum Trotz strebte sie ihrer bescheidenen Witwenbehausung zu, eifersüchtig auf ihre Unabhängigkeit bedacht und der alleinigen Pflicht bewußt: ihren einzigen Sohn großzuziehen! … Für sie war das Vergnügen zu Ende … Die Mühsal fing am nächsten Tag aufs neue an …

Aber das war schließlich ihre Sache. Unsre Sache war es, ihr Verschwinden schleunigst zu vergessen, das Zimmer aufzuräumen, Wein kommen zu lassen und zum Klange von Dimis Flöte eine ungestüme Kindia zu beginnen. In Hemdsärmeln, mit blutigen Gesichtern, zerrissenen Kleidern tanzten wir nun, da sich unser Haß gelegt und unsere Fröhlichkeit den Höhepunkt erreicht hatte, dicht aneinandergedrängt eine tolle Runde und lachten über unsre Wunden und den Zwerg, der mitten in der Runde gleichfalls tanzte, die eine Hand in die Hüfte gestemmt, indes er mit der andern die mächtige Dekaliterkanne auf seinem Schädel balancierte und den Fußtritten auszuweichen suchte, die wir ihm in den Hintern gaben …

Bei Sonnenaufgang machte ich mich, vollgefressen und stinkbesoffen, allein in meine Geba gehüllt, auf den Weg zu den heimatlichen Penaten, kämpfte mich durch den kniehohen Schnee und ahnte schwerlich diese Tage der Vergeltung.«

 

Der Kranke schwieg … Dann rief er den sonderbaren Diener und schluckte sein Mäßchen Schnaps, derweilen Adrian sich bemühte, in der eben vernommenen Geschichte die Spur eines Vergehens zu finden.

»Ich sehe die Sünde nicht, Onkel, die du begangen haben sollst und die eine göttliche Strafe verdient hätte … Du hast nur nach deinem Empfinden gelebt.«

Angiël versuchte zu lachen, aber es wurde nur eine schreckliche Grimasse.

»Du siehst die Sünde nicht? Armer Freund, wessen bedarf es denn, damit du sie siehst? … Daß ich dir ganz gräßliche Dinge erzähle? … Nun denn, so höre noch etwas, kürzer und überzeugender:

Es war zu der Zeit, als ich noch hoffte, meine Frau dadurch aus ihrem Schlaf aufzurütteln, daß ich sie betrog. Jeremias, der wohl der Sohn jenes stürmischen Feuerkopfes Cosma war, verschaffte mir dazu gar manche verlockende Gelegenheit. Dieser Mann, ein erklärter Feind der Popen, legte es darauf an, seine Geliebten unter den Frauen und Töchtern der Gottesdiener zu suchen; und noch mit sechzig Jahren jung und schön wie eine Eiche, hatte er mehr Erfolg als mancher zwanzigjährige Bursche.

Jeremias zeigte mir den Weg. Und das Liebesnest in Kasassu. Um dorthin zu gelangen, brauchte man bloß eine halbe Stunde zu reiten. Das erstemal begaben wir uns hin, ohne den Anschein zu erwecken, als ob wir etwas suchten, einfach um bei einem Kollegen »einen zu genehmigen«; die Wirte machen sich bekanntlich ein Vergnügen daraus, den Wein ihrer Berufsgenossen zu versuchen und zu bekritteln.

Es war im Herbst … Neuer Wein und gute ›Pastrama‹. Pastrama: Gesalzenes, gedörrtes und nach Belieben auch geröstetes Hammelfleisch. Durch einen Buben der Gemeinde, den die Priesterin als Eilboten benutzte, ließ sie Jeremias wissen, daß ihr göttlicher Gemahl abwesend sei. Er war häufig abwesend. Als einziger Priester in Kasassu hatte er Amtshandlungen zu vollziehen, die ihn weit weg von seiner Behausung, in zahllose Weiler der Nachbarschaft riefen. Die Frömmigkeit, das Vorurteil, der Aberglaube der Bevölkerung verlangten seine Gegenwart. Jeder Vorwand war recht, um den Popen zu rufen: man rief ihn zu einer Taufe, zu einer Hochzeit, zu einem Todesfall; und mit dem nämlichen Ernst rief man ihn sowohl zu einer Frau wie zu einer Kuh, wenn es galt, ihr in Geburtswehen die Schmerzen zu erleichtern; man rief ihn, um die Gespenster aus den verhexten Häusern zu verjagen, ein unfruchtbares Feld zu ›taufen‹, den Totenopfern vorzustehen, die Liturgie zu lesen über einen Brandigen, über die Kleider eines Trunkenbolds von Ehemann, das Haupt eines Fallsüchtigen oder eines Narren. Kurzum, man wußte, daß, sobald der Gottesdienst vorüber war, der arme Pope mit den heiligen Geräten unterm Arm zu Pferde saß, bereit die Hetzjagd zu beginnen, von der er erst des Nachts zurückkam, weil meistens unglückliche Seelen seine Spur verfolgten, um ihn als Glücksbringer der Gegend von Herdstätte zu Herdstätte zu jagen.

 

Brauch' ich dir zu sagen, Adrian, daß dieser lautere, ehrenwerte Mann, dieser nimmermüde Diener seines Glaubens unsere Beleidigung nicht verdiente? … Daß er noch weniger eine Gattin und eine Tochter verdiente, die beide gleich ausschweifend waren?

Das habe ich mich damals nicht gefragt, als ich, geführt von Jeremias – den der Himmel sicher vor seinem Tode bestrafen wird –, stolz wie ein Hahn, gewahrte, daß die schönen Augen der Tochter – ihr Mann war Landbriefträger und auch immer unterwegs – auf meinen schwarzen Bart, mein lockiges Haar, mein sauberes Hemd und meine Glanzlackstiefel verliebte Blicke schleuderten. Ich dachte weder an das Böse, das ich meinem Nächsten zufügte, noch an den, der im Begriff war, meine Seele zu verderben … Und wenn auch meine Seele nicht für diese Art von Freuden gemacht war, fand ich trotzdem daran Gefallen. Ich fand daran so sehr Gefallen, daß ich es immer wieder tat.

Die beiden Schlangen waren übrigens dazu geschaffen, daß man in ihrer Nähe alles vergaß, was nicht fleischliche Lust bedeutete. Gott allein wußte, warum er den Leib eines seiner tugendsamsten Diener mit diesen Geilheitsplagen behaftet hatte. Die Priesterin behauptete mit Kennermiene, Gott selber wüßte nicht, warum, und sie erklärte uns diesen Fehlgriff Gottes auf gar lustige Weise:

›Ihr wißt‹, sprach sie zu uns, ›daß Gott am Tage der Erschaffung des Menschen nicht allein gewesen ist, daß der Unreine zugegen war … Er mischte sich in alles, wollte überall dabei sein und störte den Allmächtigen, der sich wehrte, so gut er konnte, fortgesetzt bei seinem Werk. Als er das blendende Weiß des göttlichen Teiges sah, den der Herr gerade knetete, um draus den Menschen zu erschaffen – das Werk, das er vollkommen vor allen anderen machen wollte –, ergriff den Unreinen eine unwiderstehliche Lust, ihn zu beschmutzen. Aber der Schöpfer hütete ihn sehr. Da täuschte der Böse die Vertrauensseligkeit des Herrn und stellte ihm, indem er dabei auf die Sonne wies, die hinter einer Wolke sich verbarg, unvermittelt diese Frage: Warum hast du, o Herr, der du so weise bist, einer schwachen Wolke die Fähigkeit verliehen, den Schein eines so mächtigen Gestirnes zu verdrängen und die Erde zu verdunkeln und sie in Düsternis zu tauchen? – Das geschieht, erklärte der Schöpfer, auf daß alle irdischen Dinge in verschiedener Beleuchtung gesehen werden; auf daß der Mensch keine Gewißheit habe und an allem zweifle außer an meiner Macht. Der Satan hörte zu und tat, als ob er ganz bestürzt sei, aber inzwischen glückte es ihm, mit seinem Schweif den göttlichen Teig zu berühren, der alsbald grau wurde. Der Herr gewahrte es und war erstaunt darüber. Warum bist du erstaunt? hohnlächelte der Böse; dein Teig ist grau, weil die Beleuchtung gewechselt hat! Gott fühlte sich gefoppt; aber aus Stolz wollte er nicht inkonsequent sein. So tat er den Teig in die Form, gab ihm die Gestalt des Menschen, blies darüber hin und stellte Adam auf die Füße … Aber ach, auch in ihm war die Unreinheit! … Seitdem gehört sie zu uns, und da hätten wir's denn …‹

Da hätten wir's! … Oder besser: da hatten wir's! … Feuchtschimmernde Augen, deren Blick das Herz wie Pfeile durchbohrt, ungeduldige Lippen, die nur auf die Berührung mit dem Schnurrbart und auf den Biß des Männchens warten; Brüste, geschickt verhüllt, um desto besser sich zu zeigen … Da waren zwei Frauen, da waren zwei Männer, da waren vier Geschöpfe, ganz beherrscht vom Schweif des Satans! … Nicht die leiseste Erinnerung an den göttlichen Willen war in uns! … Keine Keuschheit mehr, kein Anstand, keine Haltung, keine Ehrfurcht! … Zwei Frauen und zwei Männer, Brust an Brust, um die sich vom Kopf bis zu den Füßen der ungeheure Schweif des Bösen schlingt! …

Und ich habe in die verbotene Frucht gebissen, Adrian, ich habe hineingebissen! Und sie schien mir gut, so gut, daß ich besser wurde in meinem Verhalten gegen meine Nächsten. Ich verzieh meiner Frau ihren Schlaf und schlug sie nicht mehr. Den Bedürftigen gegenüber verdoppelte ich meine Freigebigkeit, und gegen die, die mich bestahlen, wurde ich nachsichtiger. Und vom Morgen bis zum Abend bebte mein Herz vor Lust …

Aber heute! … Dieses Heute ist ein ander Ding … ›Ein jegliches hat seine Zeit, Weinen, Lachen, Herzen und Fernen von Herzen hat seine Zeit …‹ Diese Zeit kam.

Eines schwülen Sommernachmittags genossen Jeremias und ich das verbotene und flüchtige Vergnügen im Hause des Priesters, das einsam und allein außerhalb der Gemeinde lag. Der Briefträger war im Dienst, und der Pope hatte sich mit dem ersten des Monats auf den Weg gemacht, um die Felder seiner Pfarrkinder zu segnen. Wir glaubten uns sicher vor jeder Überraschung und brachten wollüstig die vom Teufelsschweif berührte Seite des himmlischen Teiges zum Leben, als die rächende Hand Gottes die Türe öffnete und in ihrem Rahmen wie zwei schreckliche Richter der Priester und sein Schwiegersohn erschienen! Aufrecht und drohend, bleich und staubbedeckt, hielt der eine den kleinen Kessel mit dem Weihwasser und dem Wedel in der Hand; der andere einen Knotenstock und den Briefbeutel.

Sie blieben stumm auf der Schwelle stehen, doch wir vier Schuldigen flüchteten in eine Ecke des Zimmers; Jeremias ergriff ein Messer und hielt sich zur Verteidigung bereit; ich war vor Scham wie versteinert; die beiden Frauen dienerten scheinheilig. Und durch den Mund seines beleidigten, jedoch in seinem Unglück starken Dieners erklang die Stimme des Allmächtigen.

 

Er sprach etwa so:

›Friede sei mit euch, ihr Missetäter! … Und Friede sei auch mit euch, ihr lasterhaften Weiber! Du, Jeremias, lege die scharfe Waffe von dir, denn ein Priester – wie groß auch die Beleidigung sei, die man ihm antut – betritt nicht sein Haus noch das eines andern, um dort Rache zu üben! … Gottes ist es zu richten über Gerechte und Ungerechte … Und das ist alles, was ich dir, du Mann ohne Herz, ohne Scham und ohne Mitleid, zu sagen habe. Doch mit dir, Angiël, will ich mehr darüber reden, denn dir gebricht es weder an Herz, noch an Scham, noch an Mitleid. Du, Angiël, bist unglücklich in deiner Ehe, das weiß ich … Aber suchst du darum einen Trost im Unglück anderer? Ich spreche nicht von mir. Ich bin stark genug, ein Kreuz zu tragen, das der Herr von Tag zu Tag schwerer werden läßt, um meinen sündigen Leib dafür zu strafen, daß er ein fleischliches Glück begehrte, und um mich daran zu erinnern, daß »ein schönes Weib ohne Zucht ist wie eine Sau mit einem goldenen Haarband«. Aber sieh diesen jungen Mann hier neben mir, der durch Gottes Zorn mein Schwiegersohn geworden ist und der zittert wie ein dürres Blatt, weil er sich in seinem fleischlichen Glück tödlich getroffen fühlt, getroffen von dir, dem Menschen, dem es weder an Herz, noch Scham, noch Mitleid mangelt … Sieh ihn, Angiël, und wisse, daß eine schwere Strafe dem droht, der den rechten Pfad verläßt! … Ich habe diesen Pfad verlassen, als ich diese Frau, die von Gott dazu bestimmt war, allen zu gehören, für mich allein haben wollte … Und ich empfange jetzt meine Strafe … Dieser junge Mann hat seinen Pfad verlassen, als er eine züchtige Liebe austilgte und seine Arme meiner Tochter öffnete, einem Mädchen, das eine Hure hätte werden sollen … Und er empfängt seine Strafe … Du, Angiël, wirst die deine empfangen! … Ich wünsche dir nichts Böses, aber das Böse ist in dir; denn wenn die Leidenschaft den Menschen auch an die Pest geraten lassen mag, weil er sie für die Reinheit hält, so darf er sich nicht wissentlich daran infizieren. Geht, verlaßt uns! … Friede sei mit euch, aber fürchtet Gott und die nimmer ruhenden Würmer …‹

Hast du's gehört, Adrian? … Die nimmer ruhenden Würmer! … Nun, hier sind sie! … Sie sind hier unter diesen Lumpen, die sie bedecken, sie und meinen lebenden Leichnam. Seit einem Jahr fressen sie mich langsam auf … Und seit einem Jahr lebt nichts mehr an mir als mein Hirn, mein Kopf …

Onkel Angiël ist erledigt! … Alles ist dahin! … Keine Spur mehr von seinem feinen Haus, seinen schönen Kindern, seinem saubern Hemd, seinem schwarzen Bart und seinen lackledernen Stiefeln … Dahin der Leib, der niemals Müdigkeit und Krankheit kannte! … Und was den Mordbuben zu töten nicht gelungen ist, die nimmer ruhenden Würmer haben es getötet! …

Nur das Hirn hält stand … Es dient mir als unauslöschliche Laterne in einer endlosen Nacht, in einer Nacht, die anbrach an dem Abend, als mein Sohn ins Grab stieg … Aber die Laterne hat zu leuchten unternommen … Und es war kein Öl mehr für etwas anderes da … Alles für sie, für ihre Flamme … So kam ich dem Heile nah! …

Hundertfünfzig Pfund unnützer Lehm, der die Erde mit Beschlag belegen wollte! … So viel Bedürfnisse, so viel Wünsche, so viel Unruhe und so wenig Ewigkeit! … Herrgott, warum warst du so ungeschickt mit deinem Meisterwerk! … Der Kopf allein würde uns genügt haben. Wo eher als im Hirn habe ich Unermeßlichkeit gefunden? … Und wenn ich denke, daß diese Unermeßlichkeit, das einzig Ewige in uns, zu einem Nichts verkleinert und wie ein Sandkorn in einem Winkel meines Gerippes untergebracht ist! Das ganze Haus vom Lärm erfüllt … Eine große Trommel, die Tag und Nacht spektakelt … Ein Strohfeuer, das den Tempel erfassen möchte, ihn aber nur einräuchert, mit giftigen Gasen schwängert und unbewohnbar macht … Ich denke seit sieben Jahren über alles nach, worüber man nur denken kann. Das Alte und das Neue Testament habe ich dreimal durchgelesen. Der Prediger Salomo hat im Gespräch einer Stunde alles gesagt, was sich über das Menschenleben sagen läßt; nie wird man Besseres oder mehr darüber sagen können, und wenn man zehnmal tausend Jahre darüber spräche, ohne aufzuhören! Selbst da, wo dieser Weise ein wenig Glück zu finden meint, gibt es keines. Es geht nicht darum, Freude im Leben zu erfahren, sondern der Freude Dauer zu verleihen, und Dauer gibt es nicht im Leben … Das Wesentliche ist, zu wissen, wozu es letzten Endes dienen kann …

Und deshalb habe ich das Leben verlassen und mich dem Tode zugewandt …

Man ist tot, sobald man keinen Genuß mehr empfindet … Ich bin seit drei Jahren tot … Aber frei erst seit sechs Monaten, seit dem Tage, da meine offenen Augen sich auf die Ewigkeit gerichtet haben … Da habe ich Dauerndes gefunden … Tag und Nacht gelten mir gleich … Ich bin überall; ich sehe alles; ich fühle alles; und nichts berührt mich … Freude und Schmerz sind Hindernisse für die Freiheit …

 

Auch mehr als einmal bin ich beinahe ins Nichts hinübergeglitten, aber ich wurde es immer noch beizeiten gewahr. Wenn der Anfang der Ewigkeit sich naht, spürt man einen Brechreiz und eine Leere im Kopf … Eine Sekunde der Unachtsamkeit, und es ist geschehen …

Einst setzte ich mich auf meine Weise mit dem Leben und dem Tode auseinander. Das war vergangenen Winter. Ich wußte nicht, ob es Tag oder Nacht war; seit langem hat das für mich keinerlei Bedeutung mehr … Meine Gedanken schweiften … Eine fröhliche Erinnerung aus meiner Vergangenheit trug mich dem Leben zu, eine traurige schnellte mich dem Tod entgegen. Ein ferner Angstschrei erfüllte mich mit Widerwillen, es waren die Schmerzenslaute eines Schweines, das man im Weiler am heiligen Abend schlachtete … Uah! … Ich dachte daran, auf wieviel Schweine ich mein Knie gestützt hatte; wie oft ich mein langes Messer sachkundig in das Herz gestoßen hatte, das unterhalb der linken Schulter pochte, oder in die weiche Höhlung des Schlunds, je nachdem, was ich gerade treffen wollte … Oft war mir das warme Blut ins Gesicht gespritzt … Das Tier zappelte, dann wurden seine Augen trübe, es war tot; ich gab ihm einen Klaps und versetzte damit dem Leben einen freundschaftlichen Klaps, wie man ihn einer Frau, die man liebt, auf den Hintern gibt …

Das machte mich schwermütig … Die Welt um mich verschwand … Keine Erinnerung, keine Ferne mehr … Mein Hirn war von einer sanften tödlichen Müdigkeit ergriffen. Wie eine Kugel stieg es mir vom Magen auf … Ein Druck zwischen den Augen  … Ich überwand es. Ich sagte: ›Es geht schon wieder! …‹

Da plötzlich erklangen drei Kinderstimmen im Chor vor meinem Fenster:

Guten Morgen, Weihnachtsmann! …
Guten Morgen, Weihnachtsmann! …
Guten Morgen, Weihnachtsmann! …

Dann tat sich die Türe der Kälte und dem Leben weit auf, und von drei Knaben begleitet trat mein Trottel ins Zimmer, in dem noch die Schwingen des Todes rauschten. Er hatte die kleine Kinderschar, die mit dem herkömmlichen Weihnachtswunsch am Christmorgen durch den Weiler zog, zur unheimlichen Schenke gelockt … Seit sieben Jahren nahten sich diese fröhlichen Stimmen meinen Fenstern nicht mehr … Ich konnte ihnen nichts von dem geben, was man ihnen sonst zu geben pflegt: Nüsse, Johannisbrot, Brezeln, Feigen …

So gab ich ihnen Geld … Sie wünschten mir ›baldige Genesung‹, gingen weiter und nahmen den kalten Luftzug und das Leben mit sich …

Als ich sie gehen sah, vergaß ich den Tod und hatte Lust zu weinen … Im Weiler feierte man Weihnachten … Und Onkel Angiël, dieser gute Christ, hatte keine einzige Nuß, keine Feige, keine Brezel, die er den Kindern hätte geben können, die ihm den Weihnachtsgruß geboten hatten.«

* * *

Onkel Angiëls Mund zog sich von einem Ohr bis zum andern in die Breite und ließ das schwarzgelbe Gebiß des Totenkopfes sehen. Adrian wußte nicht, ob der Kranke dem Erlöschen oder ob er nur dem Weinen nahe war. Seine rechte Hand, die über den Rand des Lagers hing, begann in einer unruhigen Bewegung nach der Schnapsflasche zu tasten. Adrian begriff:

»Du willst trinken, Onkel? …«

Er stand auf, um ihn zu bedienen.

»Ja … schnell … ich ersticke …«

Adrian füllte das Gläschen und leerte es in den offenen Mund. Das Glas tanzte zwischen den beiden Zahnreihen, die klapperten, als ob der Kranke von einem starken Frost befallen wäre.

Die Wirkung trat sofort ein. Der Trinker beruhigte sich.

»Ich sterbe gleich, Adrian … Als einziges Erbe gebe ich dir diesen Rat: widerstehe der leichtsinnigen Freude mit allen Kräften und solange es noch Zeit ist. Sie bringt uns die schwersten Leiden … Und wie schlimm ist das! Die leichtsinnige Freude fordert unser ganzes Leben für sich allein. Für das Faß Öl, das sie verbrennt, gibt sie uns eine einzige Olive wieder. Das ist wenig. Allzu wenig. Die Hunde tun es uns an Leidenschaften gleich, doch sind sie uns an Weisheit überlegen.

Ich hätte dir gerne ein Beispiel menschlicher Tollheit gegeben und dir das Leben Cosmas erzählt, der Jeremias' Vater und ein entfernter Verwandter von uns war. Ich fühle mich aber nicht mehr kräftig genug für eine so lange Geschichte. Eines Tages wird Jeremias selbst sie dir erzählen können, und besser als ich …

Doch ich verzeihe Cosma, was ich mir weniger verzeihe und dir gar nicht. Cosma hatte kein Hirn; ich hatte ein halbes; du aber, du wußtest mit zwanzig Jahren, was wir mit fünfzig noch nicht wußten: du wußtest, wie sehr die Freuden uns glauben machen, daß sie das ganze Leben seien, und daß es außer ihnen nichts gebe, daß aber das Gegenteil davon wahr ist. Dieses Gegenteil habe ich zu spät erkannt … Cosma indessen hat es nie erkannt.«

 

Adrian hielt es für gut, seinem Gedanken Ausdruck zu geben:

»Mit keiner Erkenntnis, Onkel, läßt sich eine große Leidenschaft ausrotten, ohne daß damit gleichzeitig der Mensch selbst zerbrochen geht …«

»Was nennst du zerbrochen?« fragte Angiël kraftlos.

»Ich nenne den einen zerbrochenen Menschen, der sich ein anderes Leben als das vom Schicksal ihm bestimmte aufzwingt.«

Angiël schüttelte den Kopf:

»Das soll ein zerbrochener Mensch sein? Und der Mensch, der sich kein anderes Leben aufzwingt als das vom Schicksal ihm bestimmte, wie nennst du den?«

Adrian wagte nicht den Kranken aufzuregen und schwieg deshalb; aber dieser fragte weiter:

»Wie nennst du ihn, Neffe? … Du willst es nicht sagen? … Heißt er nicht Onkel Angiël, dieser Mensch, der sich kein anderes Leben aufzwingt, als das vom Schicksal ihm bestimmte? … Kennst du diesen Onkel Angiël? … Willst du wissen, wohin er gekommen ist, indem er das vom Schicksal ihm bestimmte Leben lebte? … Nun denn, Adrian, deck' mich auf! … Los, nimm diese Lumpen weg, gönne dir den Anblick Onkel Angiëls, der es nicht verstanden hat, sich ein anderes als das vom Schicksal ihm bestimmte Leben aufzuzwingen! Deck' auf und blicke her, mein guter Neffe! Was du sehen wirst, wird dich besser überzeugen als tausend Reden! Deck' auf!«

»Erspar' es mir, Onkel, ich fürchte mich«, stammelte Adrian.

»Ich befehle dir, mich aufzudecken und hinzuschauen!« schrie Angiël mit der allerletzten Kraft.

»Gnade, Onkel, Mitleid!«

Zitternd, unter Anstrengung führte Angiël mit der linken Hand sein Pfeifchen an die Lippen. Der Knabe erschien sogleich und wollte einschenken.

»Nein … Nicht das … Säubere mich zuerst,« befahl ihm der Kranke.

Der Trottel fing an, die Lumpen wie rasend auf den Boden zu werfen, und je mehr der Körper sich enthüllte, desto stärker erfüllte ein Pestgestank das Zimmer. Als die letzte Hülle abgeworfen war, krächzte Angiël:

»Komm näher, Adrian, und sieh her, um der Liebe willen, die ich immer für dich gefühlt habe!«

Von Entsetzen ergriffen, trat Adrian näher; der Wasserkopf machte ihm Platz und pflanzte sich dann wie ein Polizist zu Füßen des Kranken auf. Aber kaum erblickte der junge Mann die beiden schrecklichen leblos nebeneinanderliegenden blauen Oberschenkel und Schienbeine und das seines Inhalts entleerte Becken, kaum erfaßten seine Augen, wie diese Knochen ihre entblößten Enden durch die aufgeplatzte Haut bohrten, als er sich auch schon das Gesicht mit beiden Händen bedeckte und mit dem Ruf zur Türe eilte:

»Grauenhaft! … Grauenhaft! … Das ist Onkel Angiël?«

 

In diesem Augenblick trat ein schöner Greis, bärtig, mit finsterem Gesicht und von kräftiger Gestalt, ins Zimmer. Adrian rannte gegen seine breite Brust. Der Besucher nahm ihn in die Arme:

»Was soll das, Adrian? … Du erschrickst vor deinem Onkel?«

Bei diesen Worten wandte Angiël den Kopf dem Alten zu und rief:

»Jeremias! … Jeremias! … Halt ihn zurück! … Laß ihn nicht gehen! … Ich bitte dich flehentlich … Hier … Hier … auf der Stelle … ich will, daß du ihm das fürchterliche Leben Cosmas schilderst! … Ich will es hören, ehe ich sterbe … Ich will, daß du diesem jungen Menschen die Wahrheit über den Wahnsinn der Leidenschaften sagst … ihm von Cosmas trügerischen Freuden und seinen tatsächlichen Leiden erzählst … von seinen eitlen Lüsten und seinem Zähneklappern … Zeige ihm die Grausamkeit des tollen Gottes, der das Fleisch erschaffen hat um des Vergnügens willen, es zu quälen … das Mißgeschick, das den erwartet, der sich vom Sturm der Sinne fortreißen läßt … Zeig' ihm das alles, Jeremias … Sag' es ihm … Sprich ihm von … von … Cosma! …«

Plötzlich schwieg Angiël. Seine Augen starrten nach der Decke, seine Hände verkrampften sich.

»Sprich … Jeremias … Erzähle, wer Cosma war«, fügte er hinzu, den Blick noch immer nach der Decke gerichtet.

Adrian wollte aufschreien, aber Jeremias legte ihm die Hand auf den Mund. Dann ergriff er seine eine Hand, und aus verstörten Augen bald auf den Sterbenden, bald auf Adrian blickend, begann er mit klangvoller Stimme in gemessenen Worten zu erzählen:

»Cosma ist der leidenschaftlichste Mensch seiner Zeit gewesen. Sein Leben war ein von Blitzen durchzucktes Unwetter … Sein Herz kannte größte Freuden und übermenschliches Leid. Und Cosma wurde für seine Ungerechtigkeiten, seine Gewalttätigkeiten und seine Verirrungen mit dem Tode gestraft …«

Jeremias hielt inne, ließ Adrians Hand los und beugte sich über das strenge Gesicht Onkel Angiëls, das er eine Weile betrachtete. Dann berührte er, den Blick Adrian zugekehrt, mit zwei Fingern die beiden Augäpfel, die starren Blicks nach der Decke sahen. Aber Onkel Angiël hielt seine Augen noch immer weit offen auf die geheimnisvolle Ewigkeit gerichtet.


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