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I
Onkel Angiël

Bei Einbruch der Dunkelheit feierte man Anfang April im Weiler Baldovinesti, etwa fünf Kilometer von Braila, den ersten Tag der Auferstehung des Herrn. In allen Höfen entzündeten die Bauern Garben dürren Schilfs; überall ertönten Freudenschüsse, eine ländliche Huldigung der Rechtgläubigen zum Gedächtnis dessen, der der beste aller Menschen war.

In der Hütte von Onkel Dimi – dem Jüngsten der Familie – hatte sich Mutter Zoïtza eingefunden, die älteste Schwester der vier Brüder, die mit ihrem einzigen Sohn Adrian, einem Burschen von achtzehn Jahren, aus der Stadt gekommen war, um hier die drei Ostertage zu verbringen. Sie war einige Monate, nachdem sie ihr Kind in die Welt gesetzt hatte, Witwe geworden, hatte sich nicht wieder verheiratet und lebte von ihrer Hände Arbeit.

Es war nicht viel Platz bei Dimi. Der arme Bauer sah sich trotz seiner Jugend schon von einer zahlreichen Familie umgeben, aber die gute Schwester begnügte sich mit einer Ecke des Zimmers, während Adrian, glücklich über jede Abwechslung, ohne Umstände mit dem Onkel auf dem Heuboden schlief, vergnügt dessen Geschichten anhörte und ihm solche aus der Stadt erzählte.

Zuweilen wunderte sich Adrian über diese Lebensweise:

»Du schläfst auf dem Heuboden und deine Frau bei den Kindern: das ist kein Leben! …«

»Muß schon sein, mein Bester; sonst, ja – wie soll ich dir das sagen? Sonst kommen die Kinder zu schnell …«

»Das ist eine Erklärung! Und wenn du vom Heuboden heruntersteigst?«

»Dann geh' ich ans Moor Schilf schneiden …«

»Und wenn du vom Moor heimkommst?«

»Dann steig' ich auf den Heuboden …«

»Und deine Kinder? Wo kommen die her?«

»Gott schickt sie …«

 

Sobald das nach überlieferter Sitte aus »Borsch« Borsch: gesäuerte Kleiensuppe., Lammbraten, »Kosonak« Kosonak: eine Kuchenart. und Ostereiern bestehende Essen vorüber war, ging Dimi auf den Hof, die Garben in Brand zu stecken und Gewehrschüsse abzufeuern. Die ganze Kinderschar folgte und selbst die Großen.

Die Nacht war sternenhell. Dimi lauschte dem Geräusch des in der Richtung nach Galatz fahrenden Zuges und sagte:

»Der Neun-Uhr-Expreß!«

Und er zündete das Schilf an. Alsbald züngelten die schwelenden Flammen zum Himmel unter dem betäubenden Geschrei der Kleinen, die wie rote Teufelchen ums Feuer tanzten. Hierauf entlud er die beiden Läufe seines Jagdgewehrs in die Luft und sagte nach jedem Schuß mit der Überzeugtheit des guten, gläubigen Christen:

»Christus ist auferstanden!«

Da nahm Adrians Mutter den Sohn am Arm, zog ihn beiseite und befahl ihm in gebieterischem, zugleich aber angstvollem Ton:

»Geh schleunigst zu unserm Vetter Stephan, dem Priester, und bitte ihn in meinem Namen, gleich zu uns zu kommen. Dann lauf weiter zu deinem Onkel Angiël und bringe ihn hierher.«

Adrian zuckte zusammen, als ob seine Mutter von ihm verlangt hätte, er solle eine Schlange mit der Hand anfassen:

»Aber Mama, du weißt doch, daß Onkel Angiël böse auf uns ist und niemand mehr sehen will!«

» Gerade darum soll er kommen; sage ihm, daß ich, seine älteste Schwester, ihn bitten lasse. Lauf schnell!«

Adrian rief den Hund Sultan, nahm einen Stock und verschwand in die Nacht, ohne daß jemand sein Weggehen bemerkte.

* * *

In dieser Familie der vom Glück Enterbten war Onkel Angiël der Zweitgeborene.

Ein tragisches Geschick war über ihn hereingebrochen; aus einem frohen und gläubigen Menschen hatte es einen unfrohen und gottlosen gemacht. Als leibeigene Bauernkinder besaßen die vier Brüder und Schwestern nur die Balken der väterlichen Hütte, die Obstbäume und den Weinberg. Der Boden gehörte ihnen nicht. Sie zerstreuten sich nach allen Himmelsrichtungen, außer dem Jüngsten, der bei der verwitweten Mutter blieb. Die beiden Schwestern zogen zuerst fort, um mit zwei wohlhabenden Griechen, die sich den Teufel um die gesetzliche Ehe scherten, im Konkubinat zu leben. Der Knabe Angiël ging mit neun Jahren in die benachbarte Stadt Braila und verdingte sich bei einem Weinhändler. Er hatte von Kindheit an eine unüberwindliche Abneigung dagegen, den Boden andrer zu bearbeiten.

Zehn Jahre blieb er bei demselben Brotherrn, einem rechtschaffenen Mann, der ihn reichlich für seine Dienste entlohnte. In sein Heimatdorf zurückgekehrt, verliebte er sich sterblich in das schönste und ärmste Mädchen der Gegend und heiratete sie alsbald. Er wurde wegen seiner Kurzsichtigkeit vom Militärdienst befreit, kaufte ein wenig Boden und ließ sich als Schankwirt an der großen Straße nach Galatz am Ausgang des Dorfes nieder.

Er hatte Glück in seinem Geschäft. Die günstigen Folgen des Krieges von 1877 gegen die Türken kamen ihm sehr zustatten. In zehn Jahren gelang es ihm ein Vermögen anzusammeln, das ihm erlaubte, ein andres Grundstück, fünfhundert Meter von seiner Wirtschaft entfernt, zu erwerben; dort pflanzte er die besten Obstbäume, einen Weinberg, der bald berühmt wurde, und errichtete das schönste Haus des Dorfes mit Stallung, Zuchtvieh, Hühnerhof, Schäferei, Schweinezucht usw.

Aber viel weniger Glück hatte er mit seinem Familienleben; ja geradezu Pech. Nach Verlauf von weiteren zehn Jahren bereitete ihm das Schicksal einen schweren Schlag. Seine Frau war dumm, heimtückisch, unfähig, eine solche Wirtschaft instand zu halten, und schmutzig bis zum Ekel. Sie saß stundenlang im Schatten und schlief, den offenen Mund voller Mücken, während das Kind neben ihr im eignen Kot herumpatschte. Das Vieh wurde fast toll vor Durst. Adrian erinnerte sich, gesehen zu haben, wie sein Onkel eines Sommerabends alle Scheiben im Hause zertrümmerte, weil sie so voller Fliegenschmutz waren, daß das Tageslicht nicht mehr hindurchscheinen konnte. Und während dieses ganzen Krachs wachte die Frau nicht auf. Als ihr Mann an ihr vorbeikam und sah, wie sie schnarchend im Schlaf lag, spuckte er ihr eine mächtige Ladung ins Gesicht und ging seiner Wege. Sie schlief ruhig weiter. Im Glauben, er könne durch Strenge Besserung schaffen, schlug er sie häufig. Er stumpfte sie dadurch nur noch mehr ab. Dann verkaufte er den ganzen Viehbestand und mied das Haus; er ging nur noch einmal im Monat hin.

 

Um den Kindern, die sie in die Welt setzte, das Schauspiel einer solchen Mutter zu ersparen, nahm er sie ihr weg, sobald sie ihr fünftes Lebensjahr erreicht hatten, und gab sie in Pflege zu einem Verwandten nach Galatz, wo er sie fünf- bis sechsmal im Jahr besuchte, um ihre Erziehung genau zu verfolgen. Schließlich zerriß er die letzten Bande, die ihn noch an die Frau fesselten, die leiblichen Bande. Das Haus, das das blühendste der ganzen Gegend hatte werden sollen, war nur noch ein wahrer Saustall für Menschen.

Als er so in seiner Liebe gescheitert war, hielt er sich zunächst Mätressen, aber nicht weil die Neigung ihn dazu trieb, sondern einfach, um sich zu rächen, um seine Frau zu reizen, um sie »aufzuwecken«. Sie hörte davon reden, sah es mit ihren eignen Augen, machte sich nichts daraus. Der Schlaf war ihr lieber. Sie gab sich sogar nicht mehr die Mühe, sich das Gesicht zu waschen, und schlief überm Essen ein.

Aber die Leute, die mit gehässigem Neid das Emporkommen des unermüdlichen Arbeiters sahen, gaben sich mit seinem häuslichen Kummer noch nicht zufrieden; das Mißgeschick des Gatten genügte ihnen nicht. Eines Nachts legten sie ohne Angst vor Entdeckung mit roher Hand Feuer an das schöne Haus. Von den Fenstern seiner Wirtsstube aus sah Onkel Angiël, wie die Flammen sein mit einem blechgedeckten Dach versehenes Haus ergriffen. Er blieb taub gegenüber dem Schreien der Leute, die ihn zur Rettung seines Besitzes aufriefen.

»Wenn sie nur mit verbrennt!« sagte er vor sich hin.

Sie verbrannte nicht; sie schlief weiter im Schatten dessen, was von den Nachbarn aus der Feuersbrunst gerettet worden war, bis zu dem Tage, an dem der Schöpfer, der sie in die Welt gesetzt hatte, um den Männern die Kehrseite so vieler weiblicher Reize zu zeigen, sie mit einer heftigen Lungenentzündung schlug und zu sich rief, um die Sünder seines Fegefeuers in Schrecken zu versetzen.

 

Onkel Angiël stand, wenngleich man es hätte glauben können, ihrem unerwarteten Tod nicht empfindungslos gegenüber.

Sein Neffe Adrian, der, als er ungefähr fünfzehn Jahre alt war, oft zu ihm kam, ihm mit Begeisterung vorlas, ihm vom »Ursprung der Welten« oder von der »Entstehung der Erde« erzählte, und für den der wackere Mann eine grenzenlose Liebe empfand, war häufig Zeuge seiner Traurigkeit.

Wie oft sah er ihn das Taschentuch ziehen und die Tränen trocknen, wenn sie bei wundervollem Mondlicht zusammen auf der Unheilstätte umherstreiften! Das zusammengestürzte Holzwerk faulte im Regenwasser, das Pfützen in den Zimmern bildete. Möbelstücke lagen in dem Wirrwarr angebrannter Balken. Sonst waren nur noch Mauerreste da. Der große Stall, der unversehrt geblieben war, rief sehnsüchtig nach einem Viehbestand, dem der Neid allzuvieler Menschen weiterzuleben nicht vergönnt hatte. Zyperngras, Ginster und Schierling, die in dem einst schönen Hof wild wucherten, erreichten Manneshöhe.

»Siehst du, Adrian,« sagte der arme Teufel mit schmerzerstickter Stimme, »siehst du diesen Friedhof? Halb ist er das Werk der Menschen und halb das Werk des Schicksals. Wenn ich diesen Besitz von meinem Vater geerbt hätte, würde ich den Menschen das Recht eingeräumt haben, ihn mir zu mißgönnen und ihn mir zu zerstören, wenngleich sie auch kein Feuer an die Paläste der Reichen legen. Aber dieses Haus war aus dem Schweiß meines Angesichts nach zwanzigjähriger Mühsal erstanden. Es war kein Prachtbau, es war nur zweckmäßig, so wie es jedermann haben sollte, um mit seiner Frau als Mensch und nicht als stumpfes Tier zu leben. Und man wird mir nicht vorwerfen können, daß ich jemals engherzig gewesen bin: der Hungrige fand bei mir stets etwas, seinen Hunger zu stillen, und wenn die hohen Festtage nahten, gedachte ich der schutzlosen Witwen und ihrer Kinder; ich brachte ihnen Ostereier, Gebäck und ein Lammviertel, wie auch Speck und Schweinskeule an Weihnachten. Ich teilte keine Almosen aus, ich tat meine Pflicht. Gott hatte mir gegeben, nun gab ich von meinem Überfluß und rühmte mich dessen nicht. Ich hatte kein Recht dazu, denn ich sah andere, die mich im Wohltun überboten, die ihr Brot mit dem ersten Hungrigen teilten, den sie auf der Straße trafen …

Man wird mir auch nicht nachsagen können, ich hätte meinen Kunden das Fell über die Ohren gezogen, um mich zu bereichern. Ich folgte dem Beispiel der Redlichkeit, das ich bei meinem Lehrherrn gesehen hatte. Wenn mein Nutzen groß war, so kam es daher, weil ich meine Weine und meine Branntweine an ihrem Ursprungsort holte, zu Zeiten, da sie förmlich in Strömen flossen. Aber in dem Fuhrmann, der zur Winterszeit mit Eiszapfen am Schnurrbart bei mir eintrat, sah ich stets nur den Bruder. Ich drückte ihm die erfrorenen Hände und machte ihm Platz an meinem Ofen. Für seine Tiere hatte ich ein Schutzdach gebaut, wie es nicht zwei im Umkreis von zwanzig Meilen gab; und für die Hand voll Heu, die ich ihnen hinwarf, forderte ich niemals Geld. Der Wein und der Schnaps, den ich ausschenkte war vom besten, und ich kann beim Licht meiner Augen beschwören, daß ich ihn niemals mit einem Tropfen Wasser verlängerte, wie man es allerorten macht. Und wenn ich sah, daß einer sein Quantum getrunken hatte und, von Leidenschaft getrieben, es überschreiten, sich um den Verstand trinken und sein Geschäft versäumen wollte, dann schenkte ich ihm noch ein Glas auf meine Kosten ein und riet ihm, seines Weges zu ziehen. Sehr oft war ich gezwungen, ihm den Weg zu zeigen. So bin ich gewissermaßen sein Diener gewesen, denn ich war auf den Beinen von Tagesanbruch bis Mitternacht, um ihn zu erwarten. Und wenn einer nach Torschluß anklopfte, vergaß ich, daß ich einen Bösewicht vor mir haben könnte, stand vom Bett auf und öffnete ihm.

Aber das gute Beispiel nützt nicht viel, und wenn es auch nicht nur Undankbare auf dieser Erde gibt, so bedarf das Böse nur der Hand eines einzigen Ruchlosen gegen hundert Tugendsame, um unermeßlichen Schaden anzurichten. Diese Hand lauerte mir im Schatten auf, bereit, mich zu schlagen. Sie konnte mir mein Glück nicht verzeihen, sie ertrug es nicht, daß ich nicht eine solch krätzige Hand war wie sie, gut zum Betteln oder bereit zum Schlagen. Und sie schlug mich. Es war leicht, denn meine Frau schlief.

Oh, Adrian, hier begegnete die zerstörende Hand des bösen Menschen der noch viel schlimmeren Hand des Schicksals, und sie vereinigten sich zur Vollendung des Zerstörungswerkes. War es eine Sünde, das schönste Mädchen des Dorfes geliebt zu haben? Liebt man jemals das häßlichste? Ich weiß es nicht. Was ich heute weiß, ist, daß ich blind war in meiner Liebe, daß ich es nicht verstanden hatte nachzusehen, ob unter ihrem Bett gefegt, ob sie sauber hinter den Ohren war und ob sie ihre Füße gewaschen hatte. Adrian, wenn eines Tages das heilige Feuer in deiner Brust brennt, das in meiner brannte, gedenke meiner Worte und, ehe du dich mit Leib und Seele der menschlichen Fäulnis auslieferst, tue, was ich nicht getan habe: schau unter das Bett deiner Schönen, hinter ihre Ohren und sieh dir ihre Füße an, die in Lackschuhen versteckt sind. Und wenn du meine Worte vergißt, so erinnere dich des Friedhofs, den du hier siehst, versenke deine Augen in diesen Trümmerhaufen, sieh dir diese wilden Gewächse an, die wuchern, gleichwie ein Fluch gegen menschliche Verwahrlosung geschleudert, diesen Stall, der nach seinem Vieh weint, diese Mauerreste, die ihre Verzweiflung zum Himmel schreien, diese Riesenhaufen von verrostetem und verbogenem Eisenblech, das einst wie ein Spiegel in der Sonne auf einem Dach funkelte, das sich stolz über eine Menge von Hütten erhob, das Recht des Menschen verkündend, in Wohlstand und Sauberkeit zu leben, und nicht wie der Maulwurf, der das Licht scheut. Präge dir das Bild ein, das du hier siehst. Und wenn dein Blut dich vor dem schönsten Mädchen des Landes auf die Knie zwingen will, widerstehe, rufe diese Trümmer zu Hilfe und sage dir:

Onkel Angiël hat sein Leben zerbrochen, weil er blind verliebt war in das schönste Mädchen des Dorfes und weil er nicht unter ihr Bett, nicht hinter ihre Ohren geschaut und nicht die Zehen ihrer Füße angesehen hat!

Und halte dir das erbarmungslose Schicksal fern! …«

 

Nach dem Tode seiner Frau ließ Onkel Angiël einige Jahre lang den Wohnsitz ohne Aufsicht weiter verwahrlosen. Er behielt sich vor, ihm seinen Glanz wiederzugeben an dem Tage, wo die Kinder fähig sein würden, ihn zu verwalten. Nachdem er alles, was er an Wertsachen besaß, von dort weggenommen und es in seiner Schänke untergebracht hatte, fing er das Leben eines Einsiedlers an, aber eines Einsiedlers, der die Gepflogenheit annahm, seine Zunge zu netzen mit dem Alkohol, den er feilbot. Der große, stattliche, sehnige, hübsche Mann, von stolzer Haltung, mit vollem Bart, schönem lockigen angegrauten Haar imponierte allen. Dadurch, daß seine Kurzsichtigkeit ihn zwang, jedem Besucher Brust an Brust gegenüberzutreten, um ihn zu erkennen, machte er nur um so größeren Eindruck. Er war von Grund aus gutmütig, vertrug aber nicht viel Widerspruch, wie alle, die aus eigner Kraft zu etwas gekommen sind. Und er verzehnfachte seine Kraft, um zu seinem Ziel zu gelangen, nämlich, wie er sagte, »die Trümmer in einen Palast zu verwandeln« an dem Tage, wo seine Kinder würdig wären, ihn zu beziehen. So galt er trotz seines Mißgeschicks für einen reichen Mann.

Aber sein wirklicher Reichtum, sein Glück, sein Hoffen, bestand in seinen drei Kindern, einem Knaben von siebzehn und zwei Mädchen von acht und zehn Jahren. Der Knabe sollte im kommenden Jahr seine Abiturientenprüfung machen.

»Dann werde ich weiter sehen«, sagte Angiël zu Adrians Mutter. »Sobald er aus der Schule entlassen ist, wird er sein Jahr beim Militär dienen. Wenn er Neigung für die Waffe hat, würde ich gern einen Offizier aus ihm machen, einen starken und gewandten Arm zur Verteidigung des Vaterlandes; wenn nicht, mag er den Beruf ergreifen, der ihm zusagt.«

Aus seinen Töchtern wollte er nur »gute Hausfrauen« machen, sie ausstatten und in die Stadt verheiraten.

Aber der Mensch denkt …

An einem furchtbar kalten Wintertag, da er einsam seinen Plänen nachsinnt, während der Nordwind über die weite verlassene Ebene fegt, treten vier Männer in die Wirtschaft, vier Unbekannte. Nach seiner Gewohnheit geht er dicht an sie heran, um sie zu erkennen; aber sein Herz zieht sich zusammen wie die Hörner der Weinbergschnecke, wenn sie Gefahr wittern. Die Gesichter gefallen ihm nicht.

»Wenn das rechtschaffene Männer sind, dann glaube ich meinem Herzen nicht mehr«, sagte er sich und umklammerte in seiner Tasche den Revolver, der ihn nie verließ.

»Guten Tag, Angiël!« sagten sie, »bei dir ist gut sein!«

»Seid willkommen, Fremde! Schlechtes Wetter, was?«

Aber bei sich fügte er hinzu: »Ich bin verloren. Das sind die Stimmen von Mördern.«

»Wir haben Hunger, Angiël, und wir wollen was zu trinken. Man sagt, daß dein Wein das Eis zum Schmelzen bringt.«

»Mag sein, Freunde, aber ich weiß, daß es ein Eis gibt, das er nicht zum Schmelzen bringt.«

»Haha, du bist geistreich, Angiël! Und was für ein Eis wäre das?«

»Na, ihr solltet es kennen: man nennt es ›Hundeseele‹, aber das ist schlecht ausgedrückt; denn man beleidigt damit diese armen Tiere, die wahrhafte Freunde sind«, sagte er und zeigte dabei neben sich auf zwei große Schäferhunde, die keinen Schritt von ihm wichen.

»Geh, du hast trübe Gedanken. Die Menschen sind nicht so schlecht.«

»Vielleicht, aber wenn man Pächter an der Heerstraße ist wie ich, sieht man deren in allen Farben, und man schläft nachts mit offenem Auge.«

Diese Warnung ließ die Kunden merken, mit wem sie es zu tun hatten. Sie bekamen Speck, Brot und Wein vorgesetzt.

» Angiël, willst du uns nicht frischen Wein im Keller abziehen?« sagte einer von ihnen, sich einen harmlosen Anstrich gebend.

Angiël lachte gezwungen und dachte: »Aha, ihr wollt mich in die Falle locken!«

»Gerade vor einer Minute habe ich eine Fünfliterkanne voll abgezogen,« gab er zur Antwort, »wenn eure Zunge sich darauf versteht, werdet ihr es schmecken.«

Das brachte ihren Plan ein bißchen in Verwirrung. Aber es waren zielbewußte Räuber. Einen Augenblick später ging einer von ihnen hinaus, »um zu pissen«, und der Onkel merkte, daß dies das Zeichen zum Angriff sei: der Mann sollte Schmiere stehen. Er erbleichte und machte sich auf das Schlimmste gefaßt. Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, den Revolver zu ziehen und »Hände hoch!« zu rufen. Aber er sagte sich, daß vielleicht der Schein trüge.

Wenige Minuten danach schon bedauerte er, es nicht getan zu haben. Die Männer sprachen mit lauter Stimme über eine fingierte Angelegenheit. Sie verlangten Streichhölzer. »Nun ist's so weit!« sagte sich Angiël.

Mit entschlossenem Herzen und entschlossenen Schritten, die eine Hand tief in der Manteltasche an der Waffe, trat er auf sie zu und reichte mit der linken Hand die Schachtel. Der Kräftigste der drei streckte langsam seine Hand aus, um sie zu nehmen, indem er zerstreut weiterredete; aber als er sie beinahe schon berührte, hielt er Angiël mit jähem Griff das Handgelenk fest wie in einem Schraubstock; und wenn er auch im selben Augenblick durch den Schuß, der aus der Tasche seines Opfers kam, zusammenbrach, so ließen doch die andern Angiël keine Zeit, die Waffe zu ziehen. Mit Knüttelhieben zerschlugen sie ihm den Schädel, und der arme Mann sank zu Boden, während die Hunde heftig aber erfolglos an den Waden der Angreifer zerrten. Sie wurden niedergeschlagen. Das Geld, das sich in der Kasse befand, ward eiligst entwendet, und die Räuber verschwanden unter Zurücklassung ihres leblosen Gefährten.

 

Dank dem Schuß, der einen der Verbrecher verletzt hatte, und dank den beiden geopferten Hunden blieb Onkel Angiël am Leben. Die Hunde hatten den Beinen von zweien der Räuber so übel mitgespielt, daß diese fürchteten, nicht mehr fliehen zu können.

Fuhrleute, die eine Stunde später vorbeikamen, fanden das Opfer des Angriffs und einen Angreifer in ihrem Blute liegen, den einen mit zerschmettertem Schädel, den andern mit einer Kugel im Bauch, beide noch lebend; sie brachten sie nach Braila, wo einer wie der andere gerettet wurde.

Nach siebenwöchigem Aufenthalt im Krankenhaus kam Onkel Angiël geschwächt wieder heraus; aber er hatte nur Blut verloren. Ein halbes Jahr später sollte er etwas verlieren, das köstlicher war als sein Leben: er verlor seine beiden Töchterchen durch einen Unglücksfall auf der Donau, wo gelegentlich einer Wasserfahrt, bei der die Boote umschlugen, noch viele andere ertranken.

Jetzt sah er deutlich die unheilvolle Hand eines erbarmungslosen Schicksals. Doch dieser Mann war von seinem Schicksal dazu ausersehen, alle Schrecken kennenzulernen, die das rumänische Wort einschließt: »Der liebe Gott häuft auf die Schultern eines Menschen nur so viel, als er tragen kann.« Und wieviel Unglück kann nicht ein starker Mensch auf seinen Schultern tragen!

Aus der Kirche heimgekehrt, wo er eine Messe für den Seelenfrieden der beiden ohne Grab gebliebenen Töchter hatte lesen lassen, schloß er sich in seine Höhle ein und ging, die Hände in den Taschen, stundenlang auf und ab. Dann öffnete er die Tür ganz weit, trat auf die Schwelle, spuckte kräftig gerade aus, als ob er einem Menschen ins Gesicht spucke, und sagte:

»Pah, du elendes Schicksal! Du beugst mich nieder, aber ich richte mich auf und spucke dir ins Angesicht. Pah!«

Und er spuckte noch einmal.

Es blieb ihm sein Sohn als letzte Flamme, die Nacht seines von Schmerz und Alkohol besessenen Kopfes zu erhellen. Das Schicksal blies in die Flamme und löschte sie aus …

Elf Monate, nachdem sein Sohn in ein Reiterregiment eingetreten war, und vierundzwanzig Stunden, nachdem Angiël von ihm den Brief bekommen hatte, in dem er den Wunsch aussprach, dabeizubleiben, schloß der Unglücklichste unter den Menschen, noch im Gefühl des Glücks, seinen Laden ab und stieg aufs Pferd, um in die Stadt zu reiten und Handwerker anzuwerben, die das verfallene Anwesen wieder aufrichten sollten. Er war noch keine zweihundert Meter weit gekommen, als ein reitender Briefbote ihm auf der Landstraße begegnete und ihm eine Depesche überreichte. Sein Herz sagte ihm nichts. Gelassen öffnete er das Papier und las:

»Ihr Sohn Alexander Angiël ist bei einer Attacke gestürzt und starb, ehe …«

Das Papier entglitt seinen Händen; in den Steigbügeln stehend, stieß er ein Wutgebrüll aus – und fiel vom Pferd wie eine stürzende Säule.

So leerte Onkel Angiël sein Glas bis zur Neige.

 

Man hatte geglaubt, daß dieses Übermaß von Unglück des Unglücks Ende sein würde.

Dem war nicht so. Was für ihn als Erlösung hätte angesehen werden können, der Tod, kam nicht, und niemand begriff, warum dieser Mensch sich nicht selbst getötet hatte.

Er tötete sich nicht, doch er starb täglich, indem er unablässig von seinem stärksten Schnaps ein Gläschen nach dem andern zu sich nahm. Er wurde sein bester Kunde.

Der Vernichtungsprozeß dieses Mannes, des liebenden Vaters, guten Bürgers und lauteren Menschen ist die grausigste Tragödie, die der Verfasser dieser Zeilen je kennengelernt hat. Hier ist nur vom Anfang die Rede. Das Ende – ein herzbrechendes Leid – soll an anderer Stelle erzählt werden.

Nach dem Tod des Sohnes wünschte Angiël, daß das Leichenbegängnis und die Beerdigung in seinem Dorfe stattfinden sollten. Alle Einwohner gingen mit, und als in dem Augenblick, wo der Sarg heruntergelassen wurde, die Gewehre die Salve abfeuerten, warfen sich alle unter Tränen auf die Knie. Die Soldaten und der Offizier, die die Ehren erwiesen, weinten. Ein Einziger weinte nicht: der Vater. Aufrecht, barhäuptig, den Hut in der Hand, blieb er am Rand des Grabes stehen und blickte auf den Sarg in der Tiefe. In diesem Moment trat ein Mann aus der Menge, warf sich ihm zu Füßen, umklammerte seine Beine und schrie:

»Angiël! Angiël! Ich flehe dich um Verzeihung an: ich bin es, der Feuer an dein Haus gelegt hat! … Richte mich! Aber vergib mir zuvor!«

Angiël drehte den Kopf und sah lange auf den Mann, der sich zu seinen Füßen krümmte und wie auf glühenden Kohlen wand und schrie:

»Vergib mir und töte mich, wirf mich ins Gefängnis!«

»Ich vergebe dir«, sagte Angiël und ging. Niemand wagte ihm zu folgen.

Als er nach Hause kam, riß er das mit Königskraut umwundene Heiligenbild, das die Jungfrau mit dem Jesusknaben in den Armen darstellte, von der Wand herunter, ebenso die Bildnisse des Königs, der Königin und des Kronprinzen. Er nahm eine Hacke, machte im Garten ein Loch, warf alles hinein und deckte es mit Erde wieder zu.

Dann vergrub er sich in seine Schenke und ergab sich mit Leib und Seele dem Alkohol. Vom Tage der Beerdigung an wußte ein Jahr lang niemand, ob das Haus leer oder ob irgendwer darin war. Dorfbewohner, die vorbeikamen, beugten das Knie vor den Fenstern mit den herabgelassenen Vorhängen und zogen ihres Weges. Er ging nachts aus in Begleitung eines Hundes, trieb sich zwischen den Trümmern seines Hauses herum und kehrte wieder heim. Tagsüber trank er sein Gläschen, ohne betrunken zu werden, und durch den Spalt zwischen den Vorhängen stierte er, das Kinn in die Hände gestützt, auf die Mauerreste seiner niedergebrannten Behausung.

Als das Jahr dieser unheimlichen Trauer vorüber war, machte er die Wirtschaft wieder auf. Das heißt, dem einen schenkte er aus, dem anderen nicht, ohne daß man jemals wußte, auf was sich seine Zurückweisung und seine Bevorzugung gründeten. Die Vorübergehenden achteten seinen Willen, sein Unglück war fünf Meilen im Umkreis bekannt. Im übrigen ließ er keine neue Ware mehr kommen, da der Keller mit Wein- und Schnapsfässern vollgepfropft war.

Adrian war neben seiner Mutter das einzige menschliche Wesen, mit dem zu sprechen sich Angiël nicht weigerte. Mit Angst im Herzen besuchte er ihn zweimal im Laufe des Jahres, das auf die Wiedereröffnung folgte. Der Onkel saß immer bei verschlossener Tür am Fenster, die Flasche und das Gläschen vor sich, den Hund neben sich, und blickte hinaus. Ein Wagen kam vorüber, die beiden Männer, die ihn fuhren, stiegen ab und klopften an die Tür. Er rührte sich nicht, und sie fuhren weiter. Ein zweiter Wagen hielt, ohne abzusteigen, rief ein Mann:

»Angiël, kann man ein Glas bekommen?« Ihm wurde ausgeschenkt.

* * *

Während Adrian nach der Mutter Weisung Onkel Angiël holen ging, überdachte er dessen Unglück und sagte sich:

»Mama täuscht sich, wenn sie glaubt, daß ich den Onkel bestimmen könnte, aus seinem Bau herauszukommen.«

Die Sache war nicht einfach. Es handelte sich nicht nur um einen Besuch, sondern um eine Versöhnung. Die beiden Onkel hatten sich bei dem vor acht Jahren plötzlich erfolgten Tod ihrer Mutter einer elenden Erbschaftsangelegenheit wegen überworfen. Im Eifer der Auseinandersetzung hatte Onkel Angiël wider den Willen seiner älteren Schwester, die gegen eine Erbteilung war, den Fehler begangen zu sagen: »Ich will ein richtiges Erbteil von meiner Mutter haben, um mir davon einen Rosenkranz zu kaufen und ihn am Heiligenbild aufzuhängen, im Bewußtsein, daß er von meiner Mutter stammt.« Onkel Dimi regte sich darüber auf und antwortete ihm mit einer Beleidigung; der Bruder ohrfeigte ihn, da verging sich der Jüngere so weit, seinen älteren Bruder mit einem Stock ins Gesicht zu schlagen. Dieser verließ das väterliche Haus mit den Worten:

»Ich werde nicht mehr hierher kommen, noch du zu mir, bis zu dem Tage, wo du vor aller Welt meine Schuhsohle küssen wirst!«

Seitdem waren sie verfeindet. Vor seines Sohnes Tod, der Onkel Angiël den letzten Stoß gab, hatte sich der Jüngere starrköpfig gegen alles Flehen seiner Schwester gesträubt, seinen Bruder um Verzeihung zu bitten. Nach diesem schrecklichen Tod hatte niemand gewagt, Angiëls Stille wegen einer Geringfügigkeit zu stören.

Nun wollte Adrians Mutter durchaus die beiden Brüder versöhnen. Indem sie den, der geschlagen worden war, rief, anstatt zu ihm zu gehen, baute sie auf seinen Schmerz, der seinen Stolz gebrochen hatte, ebenso wie auf den Einfluß, den sie stets auf ihre Brüder gehabt und den sie besonders auf ihn, den Reichsten der Familie, gewonnen hatte, als sie seinem Wunsch nach Erbteilung eine selbstlose Weigerung entgegensetzte.

Es war acht Uhr abends, als Adrian vor dem Hause seines Onkels ankam. Das Südfenster, das auf den Weiler hinausging, war erleuchtet. Adrian schauderte, als er des Mannes hinter diesen herabgelassenen Vorhängen gedachte. Er trat dicht zum Fenster und legte sein Ohr daran. Kein Lebenszeichen außer der brennenden Petroleumlampe. Der Hund Sultan bellte ungeduldig. Der Hund des Onkels gab Antwort, aber der Vorhang rührte sich nicht. Adrian wußte, daß es nutzlos war zu klopfen. Er drückte seine Nase gegen die Scheibe und sagte schüchtern:

»Onkel! Ich bin es, Adrian, ich möchte dich sprechen.«

Eine Minute des Wartens, dann schob sich ein Vorhang zur Seite, die Hand des Onkels bedeutete ihm, an die Tür zu kommen, die er mit der Lampe in der Hand öffnen kam. Adrian trat mit Sultan ein.

Beim ersten Blick, den er in den schlecht erleuchteten Raum warf, krampfte sich sein Herz noch mehr. Schwermut der Dinge, die die wundervolle Hand des Menschen nicht länger spüren, wie eindringlich ist deine Sprache. Keine Gläser mehr auf dem Schanktisch, kein Brot mehr auf der langen Wirtstafel, kein Räucherspeck mehr wie aus dickem Holz geschnitten an der Decke aufgehängt, keine Kringel mehr an der langen Stange aufgereiht. Nur Staub, Verwahrlosung, Vergessen, Totenstille …

Inmitten dieses neuen Friedhofs, den Mantel auf den Schultern, noch immer stattlich, doch gebeugt, ach, so gebeugt, betrachtete der Mann, der noch vor kurzem den wundervollen Kopf und die Brust wie ein Löwe trug, seinen Neffen mit ruhiger Miene. Dieser ergriff mit beiden Händen seine freie Hand und küßte sie der Sitte gemäß. Er war dem Weinen nahe. Wortlos führte ihn der Onkel in sein Zimmer. Hier die nämliche Verwahrlosung. Die kahlen und vergilbten Wände strömten nicht mehr den Duft von frischem Kalk aus. Ein ungemachtes, schmutziges Bett, ein wahres Lumpenlager, schien sich selbst dagegen aufzulehnen, daß dieser Leib, auf dem das Unglück lastete, es allnächtlich niederdrückte. Der Backsteinofen zeigte seine von Rauch schwarzen Risse. Die Querbalken der Decke waren ebenfalls geschwärzt. Zwei Holzstühle und der Tisch sowie eine Doppelflinte, die mit ihrem Riemen an einem Nagel aufgehängt war, vervollständigten die Einrichtung. Auf dem Tisch die Schnapsflasche und ein Glas, die Bibel, ein kleines Notizbuch, an dem mit einem Faden ein Bleistift befestigt war, ein Messer und ein angeschnittenes Brot. Adrian brach in Tränen aus.

Der Onkel, der auf einem Stuhle saß, zog ihn an sich, und zum erstenmal seit jenem Schicksalsschlag küßte er ihn. Mit kräftiger, doch gebrochener Stimme, die des einstigen Wohllauts entbehrte, sagte er freundlich:

»Es freut mich, dich zu sehen, Adrian … aber warum weinst du?«

» Onkel … es ist nicht möglich! … du ißt trockenes Brot … an Ostern … das … nein … selbst die Hunde kriegen heute ihren Kuchen …«

Adrian trocknete seine Tränen, und als er dem Onkel ins Gesicht blickte, sah er ihn gütig lächeln, mit der nicht zu ertragenden Güte der Kreatur, die vom Schmerz vernichtet wurde. Das Haupt war fast kahl. Bart und Haare ganz weiß. Das Hemd und die Kleider waren schmutzig, ohne Knöpfe. Er antwortete seinem Neffen in noch klangloserem Ton:

»Wenn nichts anderes dich weinen macht, so beruhige dich und sage mir den Zweck deines Besuches.«

»Ich komme, um dich zu fragen, ob du Onkel Dimi noch immer hassest.«

»Ich hasse niemand mehr.«

»Kannst du ihm seine Schuld verzeihen?«

»Ich habe niemand mehr etwas zu verzeihen«, antwortete der Onkel mit der nämlichen Gelassenheit, mit der er gesagt haben würde: »Das Brot steht auf dem Tisch« oder »Draußen ist es dunkel«.

»Nun also,« sagte Adrian zögernd, »Mama schickt mich, dich zu bitten, du möchtest heute abend zum Onkel kommen.«

»Deine Mutter schickt dich«, wiederholte der Ärmste und schüttelte den Kopf. »Deine Mutter ist eine Heilige, Adrian.«

Er schien einen Augenblick nachzudenken, dann fügte er hinzu:

»Und du, was meinst du dazu?«

»Aber Onkel, das kannst du dir doch denken: ich will es von ganzem Herzen.«

»Und die anderen? Wollen die es auch?«

»Sicher will es jedermann, Onkel.«

»Nun, dann will ich so wie ihr.«

Wie schrecklich das »Dann will ich so wie ihr« von diesen Lippen mit dem Todeslächeln kam, welch völlige Vernichtung jedes Willens. Adrian wurde angst.

Sie gingen, begleitet von ihren Hunden.

* * *

Der Priester Stephan, den Adrian im Vorbeigehen benachrichtigt hatte, war ein Achtziger, der nicht mehr in der Kirche amtierte, aber in seinem Dorf noch wichtige Dienste als Schiedsrichter oder Anwalt leistete. Seine Sehkraft war ein wenig geschwächt, doch seine Beine gaben denen eines Jünglings nichts nach. Er wohnte in unmittelbarer Nachbarschaft von Onkel Dimis Haus. Ohne Zögern griff er zu seinem Stock und ging hinüber.

Als sein Apostelkopf mit dem elfenbeinfarbigen Bart sichtbar wurde, erhoben sich alle und küßten ihm die Hand, die er seit fünfzig Jahren den Lippen der Sünder darbot.

»Christus ist auferstanden, Kinder!« sagte er mit seiner im Kirchendienst geübten Stimme.

»Er ist in Wahrheit auferstanden!« antwortete man ihm im Chor.

Adrians Mutter bot ihren Platz dem Priester an, den dieser ohne Umstände annahm, als ob er ein Recht darauf habe. Sie blieb stehen, lehnte sich mit dem Rücken gegen die weiße Wand und legte die Hände übereinander.

Durch diesen unvorhergesehenen Besuch ein wenig aus der Fassung gebracht, richteten die Anwesenden ihre Blicke auf die ältere Schwester, wie um von ihr eine Erklärung zu erbitten. Hager, mit müden Gesichtszügen stand sie aufrecht da, ließ einen gütigen Blick über die Versammlung schweifen und sagte:

»Ich habe Euch rufen lassen, Vater Stephan, weil ich Eure Hilfe erbitten möchte, um heute abend meine beiden Brüder Dimi und Angiël, der hoffentlich gleich kommt, miteinander zu versöhnen. Wie Ihr wißt, haben sie sich seit acht Jahren nicht mehr die Hand gereicht, meiden einander und lassen die heiligsten Feste vorübergehen, ohne Brot und Wein gemeinsam zu kosten. Das ist unerträglich. Ich will vor Euren Augen nicht als untadelige Frau gelten. Ich habe meine Sünden, und meine schwerste ist, ein Kind in die Welt gesetzt zu haben, das keinen Vater hat, nachdem ich zehn Jahre ohne den Segen der Kirche mit einem Manne gelebt habe. Aber die traurigste der Sünden, glaube ich, ist der Haß, jeder Haß zwischen den Menschen, um so mehr der zwischen zwei Brüdern …«

»Ich hasse meinen Bruder Angiël nicht mehr« sagte Onkel Dimi mißmutig.

»Das freut mich zu hören,« meinte der Priester, »aber du hast dir Zeit dazu genommen, Dimi.«

»Ja, er war ungerecht gegen mich.«

»Ja, er war ungerecht gegen dich,« bestätigte der Diener des Rechts, »aber du warst ruchlos gegen ihn, du hast ihn geschlagen und hast das Blut deines älteren Bruders vergossen. Du hast den heiligen Glauben unserer Väter vergessen, wonach der Jüngere, der den Älteren schlägt, ihn im ewigen Leben auf dem Rücken tragen muß; und sie glaubten, sein Bild so im Vollmond zu sehen.«

Dimi schwieg. Seine Schwester fuhr fort:

»Angiël war ungerecht, das ist wahr. Er hat vergessen, daß unser Bruder Dimi im Hause geblieben ist und jahrelang die Mühe mit unserer alten Mutter gehabt hat, während wir übrigen drei Brüder und Schwestern sie im Stich ließen und unserer Tätigkeit nachgingen. Deshalb habe ich mich, obgleich ich die Ärmste von uns vieren war, der Erbteilung widersetzt. Diese Erbteilung hätte unseren jüngsten Bruder mit seiner Frau und seinen beiden Kindern auf die Straße gesetzt. Aber Angiël, der wohlhabend war, wollte ihm helfen, sich wieder einen Hausstand zu gründen. Und hier beginnt Dimis Unrecht. Er war stolz und wollte seinem Bruder nichts zu verdanken haben. Ich glaube sogar, daß er ihn schon haßte. So schliefen der Streit und die Schläge in seinem Herzen wie Feuer unter der Asche. Und schließlich haben sie sich geprügelt. Jetzt hat sich der arme Angiël von allen seinen Sünden losgekauft, das Unglück hat alles von ihm genommen, was an Menschlichem in uns ist, und heute zählt er nur mehr zu den Lebenden durch die Bande seines Körpers, der sich noch auf dieser Erde schleppt. Ich für mein Teil sähe es lieber, wenn er tot wäre, denn was er jetzt tut, ist schlimmer als Tod. Er trinkt, aber der Schnaps ertränkt ihn, ihm hat er seine Seele verschrieben. Ich bin seit Weihnachten nicht mehr bei ihm gewesen, und er geht zu niemand mehr. Ich habe ihm einmal gesagt, wenn es ihm nicht gelänge, davon loszukommen, wäre es besser für ihn, tot zu sein. ›Das bin ich‹, lautete seine Antwort. Aber noch hoffe ich, ihn mit eurer Hilfe dem Trunk zu entreißen. Vielleicht könnte Vater Stephan einen heilsamen Einfluß auf ihn ausüben. Wenn Angiël heute abend kommt, wollen wir ihn künftighin ein wenig öfter besuchen. Deshalb ersuche ich Dimi inständigst, ihn in aller Demut um Verzeihung zu bitten …«

 

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür ganz weit, ohne daß vorher angeklopft wurde, und in ihrem Rahmen erschien Onkel Angiël, Adrian hinter sich. Er wollte sich aufrecht halten und glaubte zu lächeln. Mit seinen zerrissenen Kleidern, dem zerknäulten Mantel, den er über die Schultern geworfen hatte, den mit Straßenkot bespritzten Schuhen, die Lammfellmütze in der Hand, wirkte er wie ein greiser Bettler. Er grüßte nach alter Art:

»Guten Abend, geehrte Versammlung!«

Sein plötzliches Erscheinen in dieser traurigen Verfassung ergriff alle. Onkel Dimi und seine Schwester brachen in Tränen aus: er warf sich seinem unglücklichen Bruder zu Füßen und küßte ihm die Schuhe, sie weinte auf seine Hände, die nach Alkohol rochen.

»Armer Bruder! … Armer Bruder! Was ist aus dir geworden!«

Onkel Angiël hob ohne jede Erregung seinen Bruder auf und umarmte ihn und seine Schwester. Dann küßte er die Hand des Geistlichen, reichte seinen Altersgenossen die Hand und ließ sich von den Jungen die Hand küssen.

Danach setzte er sich auf den Platz, den man ihm anwies, an das andere Ende des Tisches, dem Priester gegenüber. In der Stille, die folgte, hörte man nur das Schluchzen des Bruders und der Schwester, die noch immer weinten.

Sobald er saß, erlosch sein Lächeln, sein Blick wurde starr.

»Warum weint ihr?« sagte er, »das nutzt gar nichts.«

Es trat wieder Ruhe ein, aber niemand wagte zu sprechen. Der alte Priester sah mit klugem Blick seinen unglücklichen Vetter an, der fast so alt wirkte wie er; und mit fester, gütig klingender Stimme sagte er:

»Angiël, ich erlaube mir, dich daran zu erinnern, daß du hier am heiligen Ostertag hereingekommen bist, ohne den Gruß jedes rechtgläubigen guten Christen zu sprechen.«

Als ob er aus fernen Landen käme, sichtlich ohne sich des Vorwurfs bewußt zu werden, fragte Angiël:

»Welchen Gruß, Vater?«

Der Priester zeigte Verständnis für diesen Zustand der Unbewußtheit und sagte ruhig:

»Nun, unser heiliges Wort: Christus ist auferstanden.«

Angiël senkte den Kopf, tippte mit dem Finger an ein Brotrestchen, das vor ihm auf dem Tisch lag, dann hob er die Stirn und entgegnete:

»Ich glaube nicht daran, daß Christus auferstanden ist! Die Toten stehen nicht auf.«

»Angiël! … Du bist gottlos! Christus ist kein ›Toter‹, sondern Gottes Sohn und Gott selbst! …« rief der Mann der Kirche aus, immer noch ruhig, aber mit etwas zitternder Stimme.

»Davon weiß ich nichts«, antwortete Angiël ohne jede Erregung.

Und indem er dies sagte, zog er aus der einen Manteltasche eine Halbliterflasche, aus der andern ein Gläschen, füllte es ruhig vor aller Augen und steckte die Flasche wieder an ihren Platz. Aus dem Glas nahm er einen kleinen Schluck, spülte sich den Mund damit, ehe er ihn durch die Kehle rinnen ließ, dann stellte er mit aller Vorsicht das Glas vor sich auf den Tisch, als fürchte er, es könne umfallen.

Alle Anwesenden waren aufs äußerste betroffen. Adrians Mutter bedeckte mit der Hand die Augen und weinte still vor sich hin. Angiël blieb unerschütterlich, er begriff nichts von dem Entsetzen, das er hervorgerufen hatte. Er ließ einen ruhigen Blick über die Anwesenden gleiten, als ob er das Natürlichste von der Welt getan hätte. Und für ihn war es das tatsächlich geworden, da er es seit drei Jahren hundertmal am Tag vornahm, allein und außerhalb des Bereichs jeden Vorwurfs.

»Armer Angiël!« rief der Priester aus. »Ich beklage dich. Du hast nicht nur aufgehört, Christ zu sein, sondern auch Mensch!«

Als einzige Antwort griff Angiël wieder zum Glas, führte es an die Lippen und nahm von neuem ein Schlückchen, worauf er mit verdrießlicher Miene, unter kaum merkbarem Stöhnen, wie zu sich selber sagte:

»Ich weiß nicht, warum ihr mich habt hierher kommen lassen …«

Da trocknete seine Schwester, die ihm zur Rechten saß, ihre Tränen, ergriff seine Hand und sprach zu ihm wie zu einem Kinde:

»Lieber Bruder, ich habe dich gerufen, weil wir dich zu uns zurückführen möchten, dich lieben und dich lieben lehren wollen … Liebst du das Leben nicht mehr? Liebst du gar nichts mehr? …«

»Ob ich liebe oder ob ich nicht liebe, ist einerlei … und tut nichts zur Sache … Aber warum befassest du dich mit mir, Schwester?«

»Wie, Angiël? Ich bin deine ältere Schwester, und dein Unglück ist mein Unglück …«

»Das ist nicht wahr. Du littest und leidest dein Unglück, aber nicht meines.«

»Nein, Angiël, wir leiden durch die Bande unsres Blutes.«

»Es gibt keine Blutsbande: wenn ich mir ein Bein abschneide, fließt mein Blut und nicht deines.«

»Trotzdem gibt es seelische Leiden, die uns gemeinsam sind.«

»Es gibt nichts von alledem. Möge es nie zu dem kommen, was ich jetzt sage: aber wenn du morgen deinen Sohn verlierst, werde ich darunter leiden, du aber wirst daran sterben.«

Von seiner Logik schmerzlich überzeugt, schwieg die Schwester. Und er trank noch ein Gläschen.

 

Der Priester griff das berühmte biblische Beispiel auf:

»Angiël, erinnere dich an Hiob! Sein Mißgeschick war dem deinen zum mindesten gleich, aber er war unerschütterlich in seinem Glauben. Bedenke, daß wir Sterblichen die göttliche Absicht nicht kennen. Wer weiß, ob deine Heimsuchungen nicht ebenso viele Prüfungen sind, die unser Herr dir schickt, um aus dir zu guter Letzt einen seiner Auserwählten zu machen?«

Angiël richtete sich auf seinem Sitz auf und seine Augen funkelten. Er schien dem Priester etwas entgegnen zu wollen, aber er verschluckte die Antwort. Er rief Adrian, der in einer Ecke des Zimmers stand, und hieß ihn zu seiner Linken niedersitzen, zwischen ihm und Onkel Dimi; dann sagte er mit einigem Nachdruck:

»Vetter Stephan, es muß viel traurige Lügen in euren frommen Geschichten geben. Mein Kopf ist nicht in der Verfassung, um dir zu antworten (er duzte den Priester), aber hier, dieser Knabe, unser Neffe, weiß mehr als wir …«

»Onkel,« unterbrach Adrian, »ich möchte heute abend nicht in euren Streit gezogen werden; ich bin noch nicht alt genug, und meine Überzeugungen könnten Vater Stephan verletzen.«

Onkel Angiël legte ihm eine Hand auf die Schulter und suchte ihm gut zuzureden:

»Liebes Kind, du wirst niemand verletzen. Wir sind hier sozusagen im Familienkreis. Und mir zuliebe sollst du von dem sprechen, was du aus den Büchern gelernt hast. Ich lebe jetzt nur noch für die Wahrheit. Aber seit den zwei Jahren, wo ich so gut, als ich kann, in der Bibel lese, gerate ich nur in die Irre. Wie erklärst du es, Adrian, daß sich in diesem Buche neben soviel Weisheit so viele Märchen breitmachen, zum Beispiel diese unwahrscheinliche Geschichte von Hiob?«

Adrian, den der durchdringende Blick des Priesters einschüchterte, antwortete:

»Das kommt daher, weil die biblischen Gestalten der historischen Nachprüfung entgehen. Die Bibel ist ein Buch des Glaubens, den Gläubigen zum Gebrauch; sie fordert von dir, daß du glaubst, nicht forschst.«

»Aber sage mir, ob du an einen Gott glauben kannst, der einem Vater alle seine Kinder nimmt, um des Vergnügens willen, ihn zu prüfen? Er muß ja eine wahre Räuberseele haben!«

Bei diesem Wort fuhr der Prälat von seinem Stuhl auf, als ob ein Feuer ihn verbrannt hätte.

»Ich verlasse euch,« sagte er, »mein Platz ist nicht mehr in einem Hause, wo man Gott lästert.«

»Das ist der ganze Beistand, den du einem Hiob wie mir leistest?« fragte Angiël. »Drei Kinder habe ich gehabt, und alle drei habe ich verloren. Was für ein Verbrechen habe ich begangen, daß Gott mich dermaßen straft?«

»Unglückseliger! Die göttliche Gnade hatte dich dazu ausersehen, dich in die Schar ihrer Märtyrer zu reihen, die das ewige Leben genießen.«

»Deine göttliche Gnade hätte besser daran getan, mich das irdische Leben genießen zu lassen, das mir gefiel, und nicht einen Säufer aus mir zu machen, einen Säufer ohne Familie und ohne Gott!«

»Niemand ist würdig, Gottes Handlungen zu richten!«

Mit diesen Worten gab der Priester seinen Segen und verließ die Stube.

 

Angiël,« sagte seine Schwester, sobald der Vetter gegangen war, »du bist nicht ehrerbietig gegen Vater Stephan gewesen, du hast vergessen, daß er Priester ist.«

»Im Gegenteil, Schwester, ich habe mich erinnern müssen, daß er Priester ist, um ihm zu sagen, daß ich den Worten der Priester nicht glaube. Ihre Schuld ist es, wenn ich kein Vertrauen mehr zu ihrem Gott habe. Warum geben sie uns einen allmächtigen Baumeister, der sich jeden Augenblick in unser Leben mischt? Es ist nichts Wahres an dieser Geschichte. Aber die Wahrheit muß woanders sein. Wo? Das weiß ich nicht. Was ich aber weiß, ist, daß wir stumpfsinnig leben, leiden und sterben, ohne zu wissen, wie und warum. Außerdem weiß ich, daß unser größter Irrtum darin besteht, uns das Glück zu sehr zu wünschen, während das Leben unseren Wünschen gegenüber fühllos bleibt: wenn wir glücklich sind, so ist das Zufall. Und wenn wir unglücklich sind, so ist es ebenso Zufall. In diesem Meer voll Klippen, wie es das Leben ist, ist unser Schiff den Winden preisgegeben, und unser Tun kann nur wenig verhüten. Und es ist nutzlos, jemand anzuklagen oder seine Hoffnung an etwas zu hängen: man ist zum Glück bestimmt oder zum Unglück, bevor man aus dem Leib seiner Mutter kommt. Glücklich ist der, der möglichst wenig oder gar nichts fühlt. Das bißchen, das er fordert, gibt ihm das Dasein. Und unglücklich ist der, der fühlt und will: denn er hat nie genug.«

Adrian führte den Onkel in seine Klause zurück. Angiël blieb vor seiner Türe stehen und sagte beim Abschied zu Adrian:

»Adrian, ich sterbe bald, meine Gedärme sind vom Alkohol verbrannt. Sieh mich genau an und erinnere dich jedesmal, wenn du einen Säufer anspeien möchtest, daß ich, dein Onkel Angiël, der ein anständiger Mensch war und der ein anständiges Leben liebte, zum Säufer geworden bin, und daß ich als Säufer sterbe, ohne daß irgend jemand die Schuld daran trägt.«


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