Henrik Ibsen
John Gabriel Borkman
Henrik Ibsen

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Erster Akt

Frau Borkmanns Wohnzimmer. Die Einrichtung zeigt den verblichenen Glanz vergangener Tage. Eine offene Schiebetür führt zu einem Gartenzimmer mit Fenstern und Glastür im Hintergrund. Durch sie blickt man in den Garten, wo im Dämmerlicht der Schnee treibt. An der rechten Seitenwand Entreetür vom Hausflur her. Weiter vorn ein großer, alter eiserner Ofen, der geheizt ist. Links, etwas nach hinten, eine einzelne kleinere Tür. Vorn auf derselben Seite ein Fenster mit dichten Vorhängen. Zwischen dem Fenster und der Tür ein Kanapee mit Roßhaarbezug und davor ein Tisch mit einer Decke. Auf dem Tisch brennt eine mit Schirm versehene Lampe. Am Ofen ein Lehnstuhl mit hohem Rücken.

Frau Borkmann sitzt auf dem Kanapee bei ihrer Häkelarbeit. Sie ist eine ältere Dame von kaltem, vornehmem Aussehen, steifer Haltung und strengen, starren Zügen. Ihr üppiges Haar ist stark ergraut. Die Hände sind fein und durchsichtig. Sie trägt ein schweres, dunkles Seidenkleid, das vormals elegant gewesen, aber jetzt ein bißchen zerschlissen und mitgenommen ist. Um die Schultern ein wollener Schal.

Sie sitzt eine Weile aufrecht und regungslos da, mit der Häkelarbeit in der Hand. Von draußen ertönt das Schellengeläute eines vorbeifahrenden Schlittens.

Frau Borkmann horcht auf; in ihren Augen glänzt Freude, und sie flüstert unwillkürlich: Erhard! Endlich!

Sie steht auf und blickt durch den Vorhang hinaus. Scheint enttäuscht und setzt sich wieder aufs Kanapee an ihre Arbeit.

Nach einer Weile kommt das Stubenmädchen durch die Entreetür mit einer Visitenkarte auf einer Tablette.

Frau Borkmann schnell. Der Herr Studiosus – ist er es doch?

Das Stubenmädchen. Nein, gnädige Frau. Aber eine Dame ist draußen –

Frau Borkmann legt die Häkelarbeit beiseite. Ach so, Frau Wilton –

Das Stubenmädchen näher. Nein, – es ist eine fremde Dame.

Frau Borkmann greift nach der Karte. Lassen Sie sehen – liest; steht rasch auf und starrt das Mädchen an. Sind Sie sicher, daß es für mich ist?

Das Stubenmädchen. Ja. Ich habe so verstanden, daß es für die gnädige Frau ist.

Frau Borkmann. Wünschte die Dame Frau Borkman zu sprechen?

Das Stubenmädchen. Ja, freilich wünschte sie das.

Frau Borkmann kurz entschlossen. Gut. So sagen Sie, ich bin zu Hause.

Das Stubenmädchen öffnet der Fremden die Tür und geht selbst ab.

Ella Rentheim tritt ins Zimmer. Sie sieht ihrer Schwester ähnlich; doch hat ihr Gesicht mehr einen leidenden, als einen harten Ausdruck. Es trägt noch Spuren einstiger hoher und charaktervoller Schönheit. Das üppige Haar ist in seiner natürlichen Wellenform von der Stirn aufwärts gestrichen und ist ganz silberweiß. Sie trägt ein schwarzes Sammetkleid mit Hut und pelzgefüttertem Mantel von demselben Stoff. Beide Schwestern stehen eine Weile schweigend da und blicken einander prüfend an. Jede erwartet augenscheinlich, daß die andere zuerst spreche.

Ella, die in der Nähe der Tür geblieben ist. Ja, sieh mich nur erstaunt an, Gunhild.

Frau Borkman steht unbeweglich aufrecht zwischen dem Kanapee und dem Tisch und stemmt die Fingerspitzen gegen die Tischdecke. Hast Du Dich nicht im Weg geirrt? Der Verwalter wohnt doch im Seitengebäude.

Ella. Nicht mit dem Verwalter habe ich heut zu reden.

Frau Borkman. So willst Du von mir etwas?

Ella. Ja. Ich hätte ein paar Worte mit Dir zu reden.

Frau Borkmann etwas vorgehend. Nun, – so nimm Platz.

Ella. Danke; ich kann ganz gut so lange stehen.

Frau Borkman. Ganz nach Belieben. So leg' doch wenigstens den Mantel ab.

Ella knöpft den Mantel auf. Es ist allerdings sehr warm hier –

Frau Borkman. Ich friere immer.

Ella steht eine Weile da und betrachtet sie, während sie den Arm auf dem Rücken des Lehnstuhls ruhen läßt. Ja, – Gunhild, nun sind es bald acht Jahr, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.

Frau Borkman kalt. Jedenfalls seit wir uns das letzte Mal gesprochen haben.

Ella. Richtiger gesagt: seit wir uns gesprochen haben, jawohl. – Denn gesehen hast Du mich wohl zuweilen, – wenn ich meine alljährliche Reise machen mußte hierher zum Verwalter.

Frau Borkman. Ein oder zweimal, glaube ich.

Ella. Ich habe Dich auch einigemal flüchtig gesehen. Am Fenster dort.

Frau Borkman. Das muß hinter den Vorhängen gewesen sein. Du hast gute Augen. Hart und schneidend. Gesprochen aber haben wir uns das letzte Mal hier in meinem Zimmer –

Ella abwehrend. Ja, ja, ich weiß, Gunhild!

Frau Borkman. – eine Woche bevor er, – bevor er herauskam.

Ella geht durchs Zimmer. O, laß doch das ruhen!

Frau Borkman mit fester, aber gedämpfter Stimme. Es war die Woche, bevor er, – der Bankdirektor wieder auf freien Fuß gesetzt wurde.

Ella geht nach vorn. Gewiß, gewiß! Den Augenblick werde ich wohl nicht vergessen! Aber der Gedanke daran ist zu niederschmetternd. Dabei auch nur einen Augenblick zu verweilen, – o!

Frau Borkman dumpf. Und doch dürfen die Gedanken um nichts anderes kreisen! Heftig erregt, indem sie die Hände zusammenschlägt. Nein, ich begreife es nicht! Mein Lebtag nicht! Ich fasse es nicht, wie so etwas – etwas so Entsetzliches über eine Familie kommen kann! Und denk nur, – über unsere Familie! Über eine so vornehme Familie wie die unsere! Wer hätte denken sollen, daß gerade sie davon betroffen würde!

Ella. Ach, Gunhild – da waren noch viele, viele andere Familien, die von dem Schlag betroffen wurden.

Frau Borkman. Nun ja; aber diese andern gehen mich nicht viel an. Denn die, die haben doch nur ein Stück Geld, – oder einige Papiere zu verschmerzen! Aber wir –! Ich! Und dann Erhard –, der doch damals noch ein kleines Kind war! In steigender Erregung. Der Schimpf, der uns Unschuldigen angetan wurde! Die Schande! Die häßliche, gräßliche Schande! Und dann noch obendrein der vollständige Ruin!

Ella behutsam. Sag' mir, Gunhild, – wie trägt er es?

Frau Borkman. Erhard, meinst Du?

Ella. Nein, – er selbst. Wie trägt er es?

Frau Borkman mit bissigem Hohn. Glaubst Du, daß ich danach frage?

Ella. Fragen? Du brauchst doch nicht zu fragen –

Frau Borkman sieht sie erstaunt an. Du glaubst doch nicht etwa, daß ich mit ihm verkehre? Mit ihm zusammenkomme? Ihn jemals sehe?

Ella. Nicht einmal das!

Frau Borkman wie oben. Er, der hinter Schloß und Riegel fünf Jahre hat sitzen müssen! Bedeckt das Gesicht mit den Händen. O, diese drückende Schmach! Fährt auf. Und wenn man nun bedenkt, was seinerzeit der Name John Gabriel Borkman bedeutet hat! – Nein, nein, nein, – ich will ihn nie wieder sehen! – Nie!

Ella blickt sie eine Weile an. Du bist hartherzig, Gunhild.

Frau Borkman. Gegen ihn, ja!

Ella. Er ist doch Dein Mann.

Frau Borkmann. Hat er nicht vor Gericht gesagt, ich wäre es gewesen, die zum Ruin den ersten Anstoß gab! Ich hätte übermäßig viel Geld gebraucht –?

Ella behutsam. War denn nicht etwas Wahres daran?

Frau Borkman. Hat er selbst es nicht etwa haben wollen? Alles sollte so sinnlos luxuriös sein –

Ella. Das weiß ich wohl. Aber eben deshalb hättest Du ihn zurückhalten sollen. Und das hast Du schwerlich getan.

Frau Borkman. Wußte ich denn, daß es nicht sein Eigentum war, – das Geld, das er mir zum Vergeuden gab? Und das er selbst auch vergeudet hat. Zehnmal toller als ich!

Ella ruhig. Na, das wird wohl seine Stellung so mit sich gebracht haben, denk' ich mir. Zum großen Teil wenigstens.

Frau Borkman höhnisch. Freilich, es hieß ja immer, wir müßten »repräsentieren«. Und repräsentieren, das tat er denn auch gründlich! Vierspännig kam er gefahren, – als ob er ein König wäre. Ließ die Leute katzbuckeln, wie vor einem König. Lacht. Und beim Vornamen nannten sie ihn, – im ganzen Lande, – akkurat als wäre er der König selber. »John Gabriel«, »John Gabriel«. Jedes Kind wußte, was für eine Größe »John Gabriel« war!

Ella fest und mit Wärme. Er war auch damals eine Größe, Du.

Frau Borkman. Scheinbar, ja. Niemals aber vertraute er mir auch nur mit einem Worte an, wie es eigentlich um ihn stand. Niemals ließ er verlauten, wo er die Mittel hernahm.

Ella. Mag sein, – die andern ahnten das doch auch nicht.

Frau Borkman. Seine Handlungsweise anderen gegenüber, die mag ihm noch hingehen. Aber mir die Wahrheit zu sagen, das war seine Pflicht. Und das hat er nie getan! Nur mich anlügen tat er, – mich bodenlos anlügen –

Ella unterbrechend. Das war sicher nicht der Fall, Gunhild! Er verschwieg vielleicht. Aber lügen – das tat er sicher nicht.

Frau Borkman. Nenn' es, wie Du willst. Es läuft doch auf eins hinaus. – Dann kam aber auch der Zusammenbruch. An allen Enden. Und schließlich war die ganze Herrlichkeit zum Teufel.

Ella vor sich hin. Ja, alles stürzte zusammen – ihm – und anderen.

Frau Borkman richtet sich drohend auf. Aber das sage ich Dir, Ella, – noch gebe ich es nicht auf! Ich werde mir schon meine Genugtuung verschaffen. Darauf kannst Du Dich verlassen!

Ella gespannt. Genugtuung? Was meinst Du damit?

Frau Borkman. Genugtuung für den Verlust des Namens und der Ehre und des Vermögens! Genugtuung für mein ganzes verpfuschtes Leben, das meine ich! Ich habe nämlich jemand in der Reserve, damit Du's nur weißt – einen, der das alles reinwaschen soll, was – was der Bankdirektor besudelt hat.

Ella. Aber Gunhild! Gunhild!

Frau Borkmann steigert den Ton. Wisse, es lebt ein Rächer! Der alles wieder gutmachen soll, was sein Vater an mir verbrochen hat!

Ella. Erhard!

Frau Borkman. Ja, Erhard, – mein Prachtjunge! Der wird die Familie, das Haus, den Namen schon wieder aufrichten! Alles, was sich aufrichten läßt. – Und vielleicht noch mehr.

Ella. Und wie, meinst Du, sollte das geschehen?

Frau Borkman. Mag es geschehen, wie es will. Ich weiß nicht, wie es geschehen wird. Aber ich weiß, daß es eines Tages geschehen wird und muß. Blickt sie fragend an. Ja, – Ella, – hast Du Dich nicht, schon als er noch klein war, im Grunde mit demselben Gedanken getragen?

Ella. Nein, das kann ich eigentlich nicht sagen.

Frau Borkman. Nicht? Warum hast Du Dich denn seiner angenommen? Als das Ungewitter losbrach über – über diesem Hause.

Ella. Du selbst konntest es damals doch nicht, Gunhild.

Frau Borkman. Ach nein, – das ist nur zu wahr. Und sein Vater, – der hatte einen gewichtigen Abhaltungsgrund, – saß er doch, – so fest verwahrt –

Ella empört. Daß Du so reden kannst –! O Du –!

Frau Borkman mit giftigem Ausdruck. Und daß Du Dich dazu verstehen konntest, Dich des Kindes von einem John Gabriel anzunehmen! So ganz, als ob es Dein eigenes wäre –. Mir es wegzunehmen, – und damit heimzufahren! Und den Jungen zu behalten, jahraus jahrein. Bis er nahezu erwachsen war. Blickt sie mißtrauisch an. Warum hast Du das eigentlich getan, Ella? Warum hast Du ihn behalten?

Ella. Ich gewann ihn mit der Zeit so lieb –

Frau Borkman. Mehr als ich, – seine Mutter!

Ella ausweichend. Das weiß ich nicht. Und überdies war Erhard etwas schwächlich, während seines Wachstums –

Frau Borkman. Erhard – schwächlich!

Ella. Ja, so kam es mir vor – wenigstens damals. Außerdem ist an der Westküste die Luft viel milder als hier, weißt Du.

Frau Borkman lächelt bitter. So, so. Ist sie das? Abbrechend. Ja, Du hast in der Tat gewaltig viel für Erhard getan, Du. In verändertem Tone. Na, Du hast ja allerdings auch die Mittel dazu. Lächelt. Du hattest ja solches Glück, Ella. Gelang es Dir doch, alles zu retten, was Dir gehörte.

Ella gekränkt. Ich habe in der Sache für mich keinen Schritt getan, – das kann ich Dir versichern. Ich hatte – noch lange, lange nachher – keine Ahnung davon, daß die Papiere, die auf der Bank für meine Rechnung lagen, – daß die nicht angetastet waren –

Frau Borkman. Ja, ja. Auf so was verstehe ich mich nicht. Ich sage bloß, Du hattest Glück. Blickt sie fragend an. Als Du nun aber eigenmächtig unternahmst, Erhard großzuziehen an meiner Statt –? Was hattest Du dabei für eine Absicht?

Ella sieht sie an. Absicht –?

Frau Borkman. Ja, – eine Absicht hast Du doch wohl gehabt. Zu was wolltest Du ihn machen? Was aus ihm machen, meine ich.

Ella langsam. Ich wollte Erhard den Weg ebnen, ein glücklicher Mensch zu werden im Leben.

Frau Borkman wegwerfend. Pah, – Leute in unserer Lage haben mehr zu tun, als an das Glück zu denken.

Ella. An was denn sonst?

Frau Borkman blickt sie ernst und ausdrucksvoll an. Erhard muß vor allen anderen Dingen danach streben, so hoch zu steigen und so weit über das Land zu glänzen, daß kein Mensch mehr den Schatten sieht, den sein Vater auf mich geworfen hat – und auf meinen Sohn.

Ella forschend. Sag' mir, Gunhild, – stellt Erhard selbst an sein Leben eine solche Forderung –?

Frau Borkman betroffen. Ja, das wollen wir doch hoffen!

Ella. – oder stellst Du nicht vielmehr diese Forderung an ihn?

Frau Borkman kurz. Die Forderungen, die wir an uns stellen, Erhard und ich, die decken sich.

Ella dumpf und langsam. So sicher bist Du also Deines Jungen, Gunhild.

Frau Borkman heimlich triumphierend. Ja, Gott sei Lob und Dank, – das bin ich. Darauf kannst Du Dich verlassen.

Ella. Dann mußt Du Dich doch eigentlich glücklich fühlen. Trotz alledem.

Frau Borkman. Das tue ich auch. In der Hinsicht, gewiß. Dann aber kommt – jeden Augenblick, siehst Du, – die andere Geschichte auf mich eingestürmt wie ein Ungewitter.

Ella in verändertem Tone. Sag' mir – gerade heraus – denn deshalb bin ich eigentlich zu Dir gekommen –

Frau Borkman. Was?

Ella. Eine Sache, über die ich gern mit Dir gesprochen hätte. – Sag' mir, – Erhard wohnt doch nicht hier draußen bei – bei Euch andern.

Frau Borkman hart. Erhard kann bei mir hier nicht wohnen. Er muß in der Stadt wohnen –

Ella. Das hat er mir geschrieben.

Frau Borkman. Wegen seiner Studien muß er das. Er kommt aber jeden Abend auf ein Weilchen zu mir heraus.

Ella. So könnte ich ihn vielleicht sehen? Und gleich mit ihm reden?

Frau Borkmann. Er ist noch nicht da. Ich erwarte ihn aber jeden Augenblick.

Ella. Doch, Gunhild, – er muß schon da sein. Denn ich höre seine Schritte oben.

Frau Borkman mit einem flüchtigen Blick. Oben im Saale?

Ella. Ja. Ich habe seine Schritte oben gehört von dem Augenblick an, als ich eintrat.

Frau Borkman mit abgewandtem Blick. Das ist nicht er, Ella.

Ella stutzt. Nicht Erhard? Ahnungsvoll. Wer ist es denn?

Frau Borkman. Der Bankdirektor.

Ella leise, in unterdrücktem Schmerz. Borkman. John Gabriel Borkman!

Frau Borkman. So geht er auf und ab. Hin und her. Vom Morgen bis zum Abend. Tagaus tagein.

Ella. Ich habe allerdings dies und das munkeln hören –

Frau Borkman. Das glaube ich gern. Die Leute munkeln gewiß manches über uns hier draußen.

Ella. Erhard hat Andeutungen darüber gemacht. In seinen Briefen. Daß sein Vater sich meistens isoliert halte, – da oben. Und Du hier unten.

Frau Borkman. Ja, – so haben wir's gehalten, Ella. Unausgesetzt, – seit sie ihn freigelassen und nach Hause geschickt haben zu mir. – Die ganzen, langen acht Jahre.

Ella. Nie habe ich mir aber vorstellen können, daß es wirklich wahr sei. Daß es überhaupt möglich sei –!

Frau Borkman nickt. Es ist wahr. Und wird sich auch nicht ändern.

Ella blickt sie an. Ein furchtbares Leben muß das sein, Gunhild.

Frau Borkman. Mehr als furchtbar! Bald nicht mehr zum Aushalten.

Ella. Nur zu begreiflich.

Frau Borkman. Stets und ständig seinen Schritt oben zu hören! Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. – Und wie das hier unten widerhallt!

Ella. Der Widerhall ist allerdings sehr stark.

Frau Borkman. Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich oben im Saal einen kranken Wolf im Käfig. Gerade über meinem Kopf. Lauscht und flüstert: Hör' nur! Hör'! Auf und ab, – auf und ab geht der Wolf.

Ella behutsam. Könnte es nicht anders werden, Gunhild?

Frau Borkman ablehnend. Er hat nie einen Schritt getan zu diesem Zweck.

Ella. Aber könntest Du denn nicht den ersten Schritt tun?

Frau Borkman fährt auf. Ich! Nach alledem, was er an mir gesündigt hat! – Nein, ich danke sehr! Dann soll der Wolf lieber oben weiter rumoren.

Ella. Es wird mir hier doch zu warm. Du mußt mir schon gestatten, abzulegen.

Frau Borkman. Ich habe Dich ja vorhin gefragt –

Ella legt Mantel und Hut auf einen Stuhl bei der Eingangstür.

Ella. Begegnest Du ihm auch nicht gelegentlich außer dem Hause?

Frau Borkman lacht bitter auf. In der Gesellschaft, meinst Du?

Ella. Ich meine, wenn er ins Freie geht. Auf den Waldwegen oder –

Frau Borkman. Der Bankdirektor geht nie aus.

Ella. Auch in der Dämmerung nicht?

Frau Borkman. Niemals.

Ella ergriffen. Er kann es nicht über sich gewinnen?

Frau Borkman. Wird wohl so sein. Sein großer Mantel und sein Filzhut hängen im Wandschrank. Im Hausflur, weißt Du –

Ella vor sich hin. – in dem Schrank, worin wir spielten, als wir noch klein waren –

Frau Borkman nickt. Dann und wann einmal, – spät abends, – da höre ich ihn herunterkommen – um sich anzuziehen und auszugehen. Dann aber bleibt er gewöhnlich mitten auf der Treppe stehen, – und kehrt um. Und dann geht er wieder hinauf in den Saal.

Ella behutsam. Kommt keiner von seinen alten Freunden zu ihm auf Besuch?

Frau Borkman. Er hat keine alten Freunde.

Ella. Er hatte doch so viele – in früheren Tagen.

Frau Borkman. Hm! Die wußte er sich doch auf so hübsche Art vom Halse zu schaffen. Er wurde seinen Freunden ein teurer Freund, – der John Gabriel.

Ella. Ach ja, darin magst Du schon recht haben, Gunhild.

Frau Borkman heftig. Übrigens muß ich sagen, daß es erbärmlich, gemein, elend, kleinlich ist, so großen Wert zu legen auf das bißchen, was sie durch ihn etwa verloren haben. Das war ja doch nur ein Verlust von Geld. Weiter nichts.

Ella, ohne zu antworten. Und so lebt er denn oben mutterseelenallein. Ganz sich selbst überlassen.

Frau Borkman. Ja, das mag wohl sein. Ich habe freilich sagen hören, ein alter Kopist oder Hilfsschreiber käme dann und wann zu ihm hinauf.

Ella. Ach, das ist gewiß der Foldal. Die zwei waren doch Jugendfreunde, soviel ich weiß.

Frau Borkman. Ja, ich glaube, das waren sie. Ich kenne ihn übrigens gar nicht. Denn in unserem Kreis verkehrte er nicht. Als wir noch einen hatten –

Ella. Aber jetzt kommt er zu Borkman?

Frau Borkman. Ja. Er ist eben nicht sehr wählerisch. Aber freilich kommt auch er nur in der Dämmerstunde.

Ella. Dieser Foldal gehört mit zu denen, die beim Bankbruch Verluste erlitten haben.

Frau Borkman leichthin. Ich glaube mich zu entsinnen, daß er auch etwas Geld verloren hat. Das war aber gewiß so unbedeudend –

Ella mit leichtem Nachdruck. Es war sein ganzer Besitz.

Frau Borkman lächelt. Na, Du lieber Gott, – sein Besitz, hör' mal, der war doch wohl verschwindend klein. Nicht der Rede wert.

Ella. Es war auch nicht die Rede davon, – von Foldals Seite, – während des Prozesses.

Frau Borkman. Und überhaupt kann ich Dir sagen, daß Erhard ihn reichlich entschädigt hat für die Kleinigkeit.

Ella verwundert. Erhard! Wie hat Erhard das können?

Frau Borkman. Er hat sich der jüngsten Tochter Foldals angenommen. Hat sie unterrichtet, – so daß vielleicht mit der Zeit noch einmal etwas aus ihr wird, und sie ihr eigenes Auskommen hat. Sieh, – das ist sicher weit mehr, als was ihr Vater für sie hätte tun können.

Ella. Ihr Vater, – der lebt wohl in ärmlichen Verhältnissen, denke ich mir.

Frau Borkman. Und dann hat Erhard durchgesetzt, daß sie Musik studiert. Sie ist nun schon so weit, daß sie hinauf kann zu ihm – zu ihm da oben auf dem Saal, um ihm vorzuspielen.

Ella. Also die Musik liebt er immer noch so sehr?

Frau Borkman. Ach ja, das mag er wohl. Er hat doch das Klavier, das Du geschickt hast – als er hier erwartet wurde –

Ella. Und auf dem spielt sie ihm vor?

Frau Borkman. Ja, – von Zeit zu Zeit. In den Abendstunden. Das hat Erhard auch fertig gebracht.

Ella. Da muß also das arme Mädchen den weiten Weg hier heraus und wieder zurück in die Stadt machen?

Frau Borkman. Nein, das hat sie nicht nötig. Erhard hat es so arrangiert, daß sie bei einer Dame bleiben kann, die hier in der Nähe wohnt. Es ist eine gewisse Frau Wilton –

Ella lebhaft. Frau Wilton!

Frau Borkman. Eine sehr reiche Dame. Du kennst sie schwerlich.

Ella. Der Name ist mir bekannt. Frau Fanny Wilton, glaube ich –

Frau Borkman. Ja, ganz recht.

Ella. Erhard hat sie öfters erwähnt in seinen Briefen. – Sie wohnt jetzt hier draußen?

Frau Borkman. Ja, sie hat hier eine Villa gemietet und ist vor kurzer Zeit aus der Stadt hier heraus gezogen.

Ella etwas zögernd. Es heißt, sie sei von ihrem Mann geschieden.

Frau Borkman. Der Mann ist wohl schon mehrere Jahre tot.

Ella. Ja, – aber geschieden waren sie –. Er ließ sich scheiden –

Frau Borkman. Er verließ sie, – das hat er getan. Die Schuld lag gewiß nicht auf ihrer Seite.

Ella. Kennst Du sie näher, Gunhild?

Frau Borkman. So ziemlich. Sie wohnt ja ganz in der Nähe. Und so spricht sie zuweilen bei mir vor.

Ella. Und sie gefällt Dir?

Frau Borkman. Sie ist ungemein verständig. So merkwürdig klar in ihrem Urteil.

Ella. In ihrem Urteil über Menschen, meinst Du?

Frau Borkman. Ja, hauptsächlich darin. Erhard zum Beispiel, den hat sie förmlich studiert. So recht auf dem ff, – aus dem Grunde seiner Seele. Und darum vergöttert sie ihn auch, – was nur natürlich ist.

Ella etwas lauernd. Dann ist sie am Ende mit Erhard noch besser bekannt als mit Dir?

Frau Borkman. Ja. Erhard ist sehr häufig mit ihr in der Stadt zusammengekommen. Ehe sie herauszog.

Ella unüberlegt. Und doch zog sie aus der Stadt?

Frau Borkman stutzt und blickt sie unwirsch an. Doch! Was meinst Du damit?

Ella ausweichend. Na lieber Gott, – wie soll ich es meinen –?

Frau Borkman. Du sagtest das so sonderbar. Du meintest etwas damit, Ella!

Ella blickt ihr fest in die Augen. Nun ja, – allerdings, Gunhild. Ich meinte wirklich etwas damit.

Frau Borkman. Nun, so sag' es doch nur grade heraus!

Ella. Vor allem will ich Dir das sagen, daß auch ich eine Art Recht auf Erhard habe, wie mir scheint. Oder meinst Du etwa nicht?

Frau Borkman sieht das Zimmer entlang. Natürlich! Das viele Geld, das er Dir gekostet hat –

Ella. Ach was! Nicht deswegen, Gunhild. Sondern weil ich ihn lieb habe –

Frau Borkman mit einem Hohnlächeln. Meinen Sohn? Kannst Du das? Du? Trotz alledem?

Ella. Ja, ich kann es. Trotz alledem. Und ich tue es. Ich habe Erhard lieb. So, wie ich überhaupt einen Menschen lieb haben kann – jetzt. In meinen Jahren.

Frau Borkman. Na ja, mag sein; aber –

Ella. Und da bin ich natürlich bekümmert, sobald ich spüre, daß ihn etwas bedroht.

Frau Borkman. Erhard etwas bedroht! Ja, was bedroht ihn denn? Oder wer bedroht ihn?

Ella. Erstens wohl Du, – auf Deine Art –

Frau Borkman erregt. Ich!

Ella. – und dann auch diese Frau Wilton, – fürchte ich.

Frau Borkman sieht sie eine Weile sprachlos an. Und so etwas traust Du Erhard zu! Meinem Jungen! Ihm, der eine große Mission zu vollbringen hat!

Ella wegwerfend. Ach was, Mission –!

Frau Borkman empört. Und das wagst Du mit solchem Hohn zu sagen?

Ella. Glaubst Du, daß ein Mensch in Erhards Jahren, – jung, frisch und gesund, – glaubst Du etwa, daß der hingeht und sich opfert für – für so etwas wie eine »Mission«!

Frau Borkman stark und fest. Erhard tut es! Ich weiß es sicher.

Ella schüttelt den Kopf. Du weißt es nicht und Du glaubst es nicht, Gunhild.

Frau Borkman. Ich glaube es nicht!?

Ella. Du hast Dich da nur hinein geträumt! Denn wenn Du daran Dich nicht festklammern könntest, so würdest Du sicherlich ganz verzweifeln.

Frau Borkman. Allerdings würde ich dann verzweifeln. Heftig. Und das sähest Du vielleicht am liebsten, Ella!

Ella richtet den Kopf in die Höhe. Ja! Das sähe ich am liebsten, – wenn Du Dir schon nicht zu helfen weißt, ohne daß Erhard darunter leiden muß!

Frau Borkmann drohend. Zwischen uns willst Du treten! Zwischen Mutter und Sohn! Du!

Ella. Ich will ihn befreien von Deinem Einfluß, – Deiner Gewalt, – Deiner Herrschaft.

Frau Borkman triumphierend. Das kannst Du nicht mehr! Du hattest ihn in Deinem Garn – bis zu seinem fünfzehnten Jahr. Aber schau, jetzt habe ich ihn wiedergewonnen!

Ella. So werde ich ihn Dir wieder abgewinnen! Mit heiserer Stimme, halb flüsternd. Wir beide, wir haben schon einmal um einen Menschen auf Tod und Leben gekämpft, Gunhild!

Frau Borkman sieht sie schadenfroh an. Ja, und ich trug den Sieg davon.

Ella mit Hohnlächeln. Bist Du noch immer der Meinung, der Sieg sei ein Gewinn für Dich gewesen?

Frau Borkmann finster. Nein; – darin hast Du grausam recht.

Ella. Es wird auch diesmal kein Gewinn für Dich werden.

Frau Borkmann. Ist das kein Gewinn, die mütterliche Gewalt über Erhard zu behalten?

Ella. Nein –; denn nur die Gewalt willst Du über ihn haben.

Frau Borkmann. Und Du?

Ella mit Wärme. Ich will sein liebendes Gemüt, – seine Seele, – sein ganzes Herz –!

Frau Borkmann ungestüm. In Zeit und Ewigkeit bekommst Du das nicht mehr!

Ella blickt sie an. Hast Du vielleicht dafür schon gesorgt?

Frau Borkmann lächelt. Ja, ich war so frei. Hast Du das aus seinen Briefen nicht herauslesen können?

Ella nickt langsam. Doch. Dein ganzes Wesen war schließlich in seinen Briefen.

Frau Borkmann stichelnd. Ich habe die acht Jahre ausgenützt – seit ich ihn wieder unter meinen Augen habe, meine Liebe.

Ella beherrscht sich. Was hast Du Erhard von mir gesagt? Läßt es sich erzählen?

Frau Borkmann. O freilich!

Ella. So erzähle doch!

Frau Borkmann. Ich habe ihm nur gesagt, was wahr ist.

Ella. Nun also?

Frau Borkmann. Ich habe ihm unablässig eingeschärft, er möchte sich freundlichst gegenwärtig halten, daß wir es Dir verdanken, wenn wir jetzt leidlich anständig leben. Daß wir überhaupt leben.

Ella. Weiter nichts?

Frau Borkmann. O, so etwas tut weh, Du. Das kenne ich aus eigener Erfahrung.

Ella. Aber ungefähr hat Erhard das doch schon früher gewußt.

Frau Borkmann. Als er zurückkam zu mir, da bildete er sich ein, Du tätest das alles aus gutem Herzen. Blickt sie schadenfroh an. Jetzt glaubt er das nicht mehr, Ella.

Ella. Was glaubt er denn jetzt?

Frau Borkmann. Er glaubt, was die Wahrheit ist. Ich fragte ihn, wie er es sich wohl erkläre, daß Tante Ella niemals zu uns auf Besuch käme –

Ella unterbricht sie. Das hat er längst gewußt!

Frau Borkmann. Er weiß jetzt mehr. Du hattest ihm eingeredet, es sei, um mich zu schonen und – und den, der dort oben im Saal geht –

Ella. So war es auch.

Frau Borkmann. Jetzt glaubt Erhard davon auch nicht ein Wort mehr.

Ella. Was für eine Meinung hast Du ihm denn von mir beigebracht?

Frau Borkmann. Er glaubt, was die Wahrheit ist: daß Du Dich unser schämst, – uns verachtest. Oder tust Du das etwa nicht? Gingst Du nicht einmal mit der Absicht um, ihn mir ganz wegzunehmen? Besinne Dich, Ella. Du hast es gewiß nicht vergessen.

Ella ablehnend. Es war in der Zeit des ärgsten Skandals. Als die Sache öffentlich verhandelt wurde. – Ich gehe jetzt nicht mehr mit solchen Gedanken um.

Frau Borkmann. Das würde Dir auch nichts nützen. Denn was würde sonst aus seiner Mission werden! Ich danke schön, Du! Mich hat Erhard nötig, – nicht Dich. Und darum ist er für Dich tot! Und Du für ihn!

Ella kalt, entschlossen. Wir werden ja sehen. Denn jetzt bleibe ich hier!

Frau Borkmann starrt sie an. Hier auf dem Gute?

Ella. Ja, hier!

Frau Borkmann. Hier – bei uns? Die ganze Nacht?

Ella. Hier beschließe ich meine Tage, wenn es sein soll.

Frau Borkmann faßt sich. Nun ja, Ella, – das Gut gehört ja Dir.

Ella. Ach was –!

Frau Borkmann. Alles gehört ja Dir. Der Stuhl, auf dem ich sitze, ist Dein. Das Bett, in dem ich mich schlaflos wälze, gehört Dir. Das Brot, das wir essen, erhalten wir von Dir.

Ella. Das läßt sich eben nicht anders machen. Borkman darf ja nichts besitzen. Denn gleich würden sie kommen und es ihm nehmen.

Frau Borkmann. Ich weiß, ich weiß. Wir müssen uns schon darein finden, von Deiner Gnade und Barmherzigkeit zu leben.

Ella kalt. Ich kann Dir nicht verwehren, die Sache von der Seite anzusehen, Gunhild.

Frau Borkmann. Nein, das kannst Du nicht. – Wann sollen wir ausziehen?

Ella sieht sie an. Ausziehen?

Frau Borkmann erregt. Du bildest Dir doch nicht etwa ein, daß ich hier wohnen bleibe unter einem Dache mit Dir! – Nein, dann noch lieber ins Armenhaus oder auf die Landstraße!

Ella. Gut. Dann gib mir Erhard mit –

Frau Borkmann. Erhard! Meinen Sohn! Mein Kind!

Ella. Ja, – dann fahre ich gleich wieder heim!

Frau Borkmann überlegt eine Weile, dann kurz entschlossen. Erhard soll selbst wählen zwischen uns.

Ella sieht sie zweifelnd und unsicher an. Selbst wählen? Ja, – riskierst Du das, Gunhild?

Frau Borkmann lacht grell auf. Ob ich es riskiere! Meinen Jungen wählen zu lassen zwischen seiner Mutter und Dir! Ja freilich riskiere ich das.

Ella lauschend. Kommt da jemand? Mir ist, als hörte ich –

Frau Borkmann. Es wird wohl Erhard sein –

Es klopft schnell nacheinander an die Eingangstür, die dann ohne weiteres geöffnet wird. Frau Wilton – in Gesellschaftstoilette und Mantel – tritt ein. Hinter ihr das Stubenmädchen, das nicht die Zeit gehabt hat, sie anzumelden, und ratlos dreinschaut. Die Tür bleibt halb offen. Frau Wilton ist eine auffallend schöne, üppige Dame in den dreißiger Jahren. Volle, rote, lächelnde Lippen. Lebhafte Augen. Starkes, dunkles Haar.

Frau Wilton. Guten Abend, liebste Frau Borkman!

Frau Borkman etwas trocken. Guten Abend, gnädige Frau. Zum Stubenmädchen, indem sie auf das Gartenzimmer deutet. Nehmen Sie die Lampe da mit hinaus und zünden Sie sie an.

Das Stubenmädchen holt die Lampe und trägt sie hinaus.

Frau Wilton erblickt Ella. O, ich bitte um Entschuldigung, – Sie haben Besuch –

Frau Borkman. Nur meine Schwester, die heut angekommen ist –

Erhard Borkman reißt die halbgeöffnete Eingangstür ganz auf und stürmt herein. Er ist ein junger Mensch mit hellen, fröhlichen Augen. Elegant gekleidet. Keimender Schnurrbart.

Erhard Borkman an der Schwelle, freudestrahlend. Ja, was ist denn das! Tante Ella hier? Eilt auf sie zu und ergreift ihre Hände. Tante, Tante! Nein, ist's möglich! Du hier?

Ella schlingt die Arme um seinen Hals. Erhard! Mein lieber, guter Junge! Nein, bist Du aber groß geworden! Ach, wie gut das tut, Dich einmal wieder zu sehen!

Frau Borkman in scharfem Ton. Was soll das heißen, Erhard, – Du hältst Dich im Hausflur versteckt?

Frau Wilton schnell. Erhard – Herr Borkman hat mich herbegleitet.

Frau Borkman mißt ihn mit den Augen. So – so, Erhard, Du kommst nicht zuerst zu Deiner Mutter?

Erhard. Ich war nur einen Augenblick bei Frau Wilton, – um die kleine Frida abzuholen.

Frau Borkman. Ist das Fräulein Foldal auch mit?

Frau Wilton. Ja, – sie steht im Hausflur draußen.

Erhard durch die Tür sprechend. Gehen Sie nur hinauf, Frida.

Pause. Ella beobachtet Erhard. Er scheint verlegen und etwas ungeduldig; sein Gesicht nimmt einen gespannten und kühleren Ausdruck an.

Das Stubenmädchen trägt die brennende Lampe ins Gartenzimmer, geht wieder hinaus und schließt die Tür hinter sich.

Frau Borkman mit erzwungener Höflichkeit. Ja, Frau Wilton, – wenn Sie den Abend hier verbringen wollen, so –

Frau Wilton. Tausend Dank, liebe Frau Borkman. Das ist durchaus nicht meine Absicht. Wir sind anderswo eingeladen. Man erwartet uns bei Advokat Hinkel.

Frau Borkman sieht sie an. Uns? Wen meinen Sie damit?

Frau Wilton lachend. Na, eigentlich meine ich nur mich selbst. Die Damen des Hauses beauftragten mich aber, den Studiosus Borkman mitzubringen, – wenn ich zufällig seiner ansichtig würde.

Frau Borkman. Und das war der Fall, wie ich sehe.

Frau Wilton. Ja, glücklicherweise. Da er so liebenswürdig war, bei mir vorzusprechen, – der kleinen Frida wegen.

Frau Borkman trocken. Du, Erhard, – ich wußte gar nicht, daß Du die Familie kennst, – diese Hinkels.

Erhard irritiert. Ich kenne sie auch eigentlich nicht. Etwas ungeduldig hinzufügend: Du weißt doch selber am besten, Mutter, welche Leute ich kenne und welche nicht.

Frau Wilton. Du lieber Gott! In dem Haus wird man bald bekannt! Muntere, lustige, gastfreie Leute. Eine Masse junger Damen!

Frau Borkman mit Nachdruck. Wie ich meinen Sohn kenne, ist das eigentlich keine Gesellschaft für ihn, Frau Wilton.

Frau Wilton. Lieber Gott, aber er ist doch auch jung, Frau Borkman!

Frau Borkman. Ja, Gott sei Dank ist er jung. Es wäre sonst traurig.

Erhard seine Ungeduld schlecht verhehlend. Nun ja, ja, Mutter, – es versteht sich doch von selbst, daß ich heut nicht zu Hinkels gehe. Ich bleibe natürlich bei Dir und Tante Ella.

Frau Borkman. Das wußte ich wohl, mein lieber Erhard.

Ella. Nein, Erhard, – meinetwegen laß Dich nur ja nicht abhalten –

Erhard. Doch, doch, liebe Tante – die Sache ist erledigt. Sieht Frau Wilton unsicher an. Aber was tun wir nun? Wird es sich eigentlich machen lassen? Sie haben ja schon zugesagt – für mich.

Frau Wilton aufgeräumt. Unsinn! Warum sollte es sich nicht machen lassen? Bin ich erst da in den hellen, festlichen Salons, – einsam und verlassen – dann sage ich eben ab – für Sie.

Erhard gedehnt. Ja, wenn Sie meinen, daß es geht, so –

Frau Wilton leicht und flott. Ich habe schon so manches liebe Mal zugesagt und abgesagt – für meine Person. Und Sie wollten Ihre Tante verlassen, wo sie eben angekommen ist? Pfui, Monsieur Erhard, – heißt das wie ein Sohn gehandelt?

Frau Borkman unangenehm berührt. Wie ein Sohn?

Frau Wilton. Oder sagen wir: ein Pflegesohn, Frau Borkman.

Frau Borkman. Das müssen Sie schon hinzufügen.

Frau Wilton. Ach, meines Erachtens hat man einer guten Pflegemutter mehr zu verdanken als der rechten Mutter.

Frau Borkman. Haben Sie selbst diese Erfahrung gemacht?

Frau Wilton. Du lieber Himmel, – meine Mutter habe ich so gut wie gar nicht gekannt. Hätte ich aber auch so eine gute Pflegemutter gehabt, – dann wäre ich vielleicht jetzt nicht so – so unartig, wie die Leute von mir behaupten. Zu Erhard. Nun also hüsch zu Hause geblieben bei Mama und Tante – und Tee getrunken, Herr Studiosus! Zu den Damen. Adieu, liebe Frau Borkman! Empfehle mich, mein Fräulein!

Die Damen erwidern schweigend ihren Gruß. Sie schickt sich zum Gehen an.

Erhard geht hinter ihr her. Soll ich Sie nicht ein Stückchen begleiten –?

Frau Wilton bei der Tür, abwehrend. Keinen Schritt sollen Sie mich begleiten. Ich bin schon daran gewöhnt, meinen Weg allein zu gehen. Bleibt in der Türöffnung stehen, blickt ihn an und nickt. Nun nehmen Sie sich aber in acht, Herr Studiosus Borkman, – das sage ich Ihnen!

Erhard. Wovor soll ich mich in acht nehmen?

Frau Wilton lustig. Je nun – wenn ich jetzt meines Weges ziehe, – einsam und verlassen, wie gesagt, – dann erprobe ich den Runenzauber an Ihnen.

Erhard lacht. Ach so! Das wollen Sie wieder erproben.

Frau Wilton halb im Ernst. Ja, sehen Sie sich vor! Wenn ich jetzt meiner Wege gehe, dann sage ich innerlich, – so recht aus meinem innersten Willen heraus sage ich: Studiosus Erhard Borkman, – gleich nehmen Sie Ihren Hut!

Frau Borkman. Und dann nimmt er ihn, meinen Sie?

Frau Wilton lachend. Und ob –; sofort greift er nach dem Hut. Und dann sage ich weiter: Ziehen Sie hübsch den Überzieher an, Erhard Borkman! Und die Gummischuhe! Vergessen Sie ja die Gummischuhe nicht! Und kommen Sie mir nach! Folgsam, folgsam, folgsam!

Erhard mit erzwungener Heiterkeit. Da können Sie sicher sein!

Frau Wilton mit erhobenem Zeigefinger. Folgsam! Folgsam! – Guten Abend!

Sie lacht, nickt den Damen zu und schließt die Tür hinter sich.

Frau Borkman. Treibt sie wirklich solche Künste?

Erhard. Ach, kein Gedanke. Wie kannst Du glauben? Sie macht nur Spaß. Abbrechend. Aber reden wir jetzt nicht mehr von Frau Wilton.

Er nötigt Ella, in dem Lehnstuhl am Ofen Platz zu nehmen.

Erhard steht eine Weile da und sieht sie an. Daß Du die weite Reise gemacht hast, Tante Ella! Und noch dazu im Winter!

Ella. Sie wurde mir schließlich zur Notwendigkeit, Erhard.

Erhard. Wieso denn?

Ella. Ich mußte endlich einmal Ärzte hier in der Stadt konsultieren.

Erhard. Recht so!

Ella lächelt. Ist Dir das so recht?

Erhard. Daß Du Dich endlich dazu entschlossen hast, mein' ich.

Frau Borkman vom Kanapee her; kalt. Bist Du krank, Ella?

Ella blickt sie mit Härte an. Du weißt ganz gut, daß ich krank bin.

Frau Borkman. Na ja, etwas kränklich, wie Du es seit Jahr und Tag gewesen bist –

Erhard. Als ich noch bei Dir war, habe ich Dir oft genug gesagt, Du solltest mit dem Arzte reden.

Ella. Ach, in meiner Gegend, da ist keiner, zu dem ich rechtes Vertrauen habe. Und dann machte es sich damals auch nicht so arg fühlbar.

Erhard. Geht es Dir denn jetzt schlechter, Tante?

Ella. O ja, mein Junge, es geht mir allerdings schlechter.

Erhard. Aber es ist doch nicht gefährlich?

Ella. Ach, wie man's nimmt.

Erhard eifrig. Ja, aber dann, liebe Tante, – dann darfst Du so bald nicht wieder nach Hause.

Ella. Nein, das will ich auch nicht.

Erhard. Du mußt in der Stadt bleiben. Denn da hast Du die besten Ärzte zur Auswahl.

Ella. Das war auch meine Absicht, als ich die Reise unternahm.

Erhard. Und sieh nur zu, daß Du ein recht gutes Logis bekommst, – so in einem stillen, gemütlichen Pensionat.

Ella. Ich bin heut morgen in meinem alten Quartier abgestiegen.

Erhard. Na, da hast Du's ja auch ganz gemütlich.

Ella. Das schon, – aber ich werde trotzdem auf die Dauer nicht dort bleiben.

Erhard. So? Warum denn nicht?

Ella. Weil ich mich eines Besseren besonnen habe, seit ich hier bin.

Erhard verwundert. So –? Du hast Dich eines Besseren besonnen –?

Frau Borkman häkelt; ohne aufzublicken: Deine Tante will hier auf ihrem Gute wohnen, Erhard.

Erhard sieht die beiden abwechselnd an. Hier! Bei uns! Bei uns andern! – Ist das wahr, Tante?

Ella. Ja, ich habe mich jetzt dazu entschlossen.

Frau Borkman wie oben. Du weißt doch, es gehört alles Deiner Tante.

Ella. Und so bleibe ich hier bei Euch, Erhard. Vorläufig wenigstens. Bis auf weiteres. Ich wohne für mich allein. Drüben im Verwalterhause –

Erhard. Recht so. Da hast Du ja stets Zimmer für Dich bereit stehen. Mit plötzlicher Lebhaftigkeit. Was mir da einfällt, Tante, – bist Du nicht sehr müde von der Reise?

Ella. Etwas müde bin ich allerdings.

Erhard. Na, da müßtest Du doch zeitig zu Bette gehen, sollt' ich meinen.

Ella sieht ihn lächelnd an. Das will ich auch.

Erhard eifrig. Dann könnten wir ja morgen weiter plaudern, nicht wahr, – oder einen andern Tag? Nach Herzenslust. Von allem Möglichen. Du, die Mutter und ich. Wäre das nicht weit besser, Tante?

Frau Borkman erregt, indem sie sich vom Kanapee erhebt. Erhard, – ich sehe es Dir an, Du willst fort von mir?

Erhard zuckt zusammen. Wie meinst Du das?

Frau Borkman. Du willst zu – zu Hinkels.

Erhard unwillkürlich. Ach so! Faßt sich. Ja, meinst Du denn, ich sollte lieber bis tief in die Nacht dableiben und Tante Ella um ihren Schlaf bringen? Tante Ella ist doch krank, Mutter. Bedenke doch!

Frau Borkman. Du willst zu Hinkels, Erhard!

Erhard ungeduldig. Aber mein Gott, Mutter, – mir scheint, ich kann nicht gut umhin. Oder was meinst Du, Tante?

Ella. Das Beste ist, Du handelst in voller Freiheit, Erhard.

Frau Borkman geht drohend auf sie zu. Du willst ihn mir abspenstig machen!

Ella steht auf. O könnte ich nur, Gunhild!

Von oben ertönt Musik.

Erhard windet sich wie in Schmerzen. Ach, das halte ich nicht aus! Sieht sich um. Wo habe ich meinen Hut? Zu Ella. Kennst Du das Stück, das da oben gespielt wird?

Ella. Nein. Was ist denn das?

Erhard. Es ist die »Danse macabre«. Der Totentanz. Kennst Du den Totentanz nicht, Tante?

Ella mit schwermütigem Lächeln. Noch nicht, Erhard.

Erhard zu Frau Borkman. Mutter, – ich flehe Dich an, – laß mich fort!

Frau Borkman blickt ihn mit Härte an. Von Deiner Mutter fort? Also wirklich?

Erhard. Ich komme ja wieder – vielleicht schon morgen!

Frau Borkman in leidenschaftlicher Erregung. Du willst von mir fort! Zu den fremden Menschen willst Du! Zu – zu – nein, ich mag den Gedanken nicht ausdenken!

Erhard. Dort brennen viele Lichter. Und junge, fröhliche Gesichter gibt es da. Und Musik, Mutter!

Frau Borkman deutet nach oben. Da oben, da gibt es doch auch Musik, Erhard.

Erhard. Die Musik, – die treibt mich eben aus dem Hause.

Ella. Gönnst Du Deinem Vater nicht das bißchen Selbstvergessen?

Erhard. Ja, natürlich. Ich gönn' es ihm tausendmal. Wenn ich es nur selber nicht mit anzuhören brauche.

Frau Borkman sieht ihn ermahnend an. Sei stark, Erhard! Stark, mein Junge! Vergiß niemals, daß Du Deine große Mission hast!

Erhard. Ach, Mutter, – verschone mich doch mit solchen Redensarten! Ich tauge nun einmal nicht zum Missionär. – Gute Nacht, liebe Tante! Gute Nacht, Mutter!

Eilig ab durch den Flur.

Frau Borkman nach einer kurzen Pause. Du wirst ihn wohl doch bald wieder haben, Ella.

Ella. Könnte ich's nur glauben.

Frau Borkman. Aber Du sollst sehen: nicht lange, und Du wirst ihn wieder verlieren.

Ella. Durch Dich, meinst Du?

Frau Borkman. Durch mich oder durch – die andere.

Ella. Dann sie noch lieber als Du.

Frau Borkman nickt langsam. Ich verstehe. Das sage ich auch. Sie noch lieber als Du.

Ella. Mag es ihn schließlich auch führen, wohin es will –

Frau Borkman. Das wäre am Ende einerlei, hätte ich fast gesagt.

Ella nimmt ihren Mantel und Hut. Zum ersten Mal im Leben sind wir beiden Zwillingsschwestern einig. – Gute Nacht, Gunhild.

Sie geht durch den Flur ab.

Die Musik oben ertönt stärker.

Frau Borkman steht eine Weile unbeweglich da, fährt dann zusammen, krümmt sich und flüstert unwillkürlich: Der Wolf heult wieder. – Der kranke Wolf. Steht einen Augenblick da, wirft sich dann auf den Zimmerteppich, wo sie sich ächzend windet, und flüstert in ihrem Jammer: Erhard! Erhard, – bleib mir treu! Ach, so komm doch zurück und hilf Deiner Mutter! Denn dieses Leben ertrage ich nicht länger!


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