Henrik Ibsen
John Gabriel Borkman
Henrik Ibsen

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Dritter Akt

Frau Borkmans Wohnzimmer. Die Lampe auf dem Kanapeetisch brennt noch immer. Im Gartenzimmer ist es finster.

Frau Borkman, das Tuch über den Kopf geworfen, tritt in heftiger innerer Erregung durch die Entreetür ein, geht ans Fenster und zieht die Vorhänge ein wenig zurück, darauf geht sie zum Ofen hin und setzt sich, springt aber bald wieder auf und zieht die Klingel. Sie bleibt am Kanapee stehen und wartet eine Weile. Niemand erscheint. Sie klingelt wieder, diesmal heftiger.

Bald darauf kommt das Stubenmädchen vom Hausflur herein. Sie macht einen verdrossenen, schlaftrunkenen Eindruck und sieht aus, als ob sie sich in aller Eile in die Kleider geworfen habe.

Frau Borkman ungeduldig. Wo stecken Sie denn, Malene? Ich habe schon zweimal geklingelt!

Das Stubenmädchen. Hab' es schon gehört, gnädige Frau.

Frau Borkman. Und doch kommen Sie nicht.

Das Stubenmädchen mürrisch. Na, ich habe mich doch erst ein bißchen anziehen müssen.

Frau Borkman. Ja, ziehen Sie sich ordentlich an. Und dann laufen Sie rasch und holen Sie meinen Sohn.

Das Stubenmädchen blickt sie erstaunt an. Den Herrn Studiosus soll ich holen?

Frau Borkman. Ja. Sagen Sie ihm nur, er möchte gleich herkommen; ich hätte mit ihm zu reden.

Das Stubenmädchen maulend. Dann ist es wohl das Beste, ich wecke beim Verwalter drüben den Kutscher.

Frau Borkman. Warum das?

Das Stubenmädchen. Damit er den Schlitten anspannt. So 'n scheußliches Schneewetter, wie heut nacht ist.

Frau Borkman. Ach, das tut nichts. Beeilen Sie sich nur und gehen Sie! Es ist ja hier gleich um die Ecke.

Das Stubenmädchen. Aber gnädige Frau, gleich um die Ecke ist das doch nicht.

Frau Borkman. Ach freilich. Wissen Sie denn nicht, wo die Villa Hinkel liegt?

Das Stubenmädchen anzüglich. Ach so, – da ist der Herr Studiosus heut abend?

Frau Borkman betroffen. Ja, wo sollte er denn sonst sein?

Das Stubenmädchen lächelt. Na, ich meinte bloß, er wäre da, wo er gewöhnlich ist.

Frau Borkman. Wo, meinen Sie?

Das Stubenmädchen. Bei dieser Frau Wilton oder wie sie heißt.

Frau Borkman. Bei Frau Wilton? Zu der pflegt doch mein Sohn nicht so oft zu gehen.

Das Stubenmädchen halb murmelnd. Ich habe von den Leuten gehört, er kommt jeden lieben Tag hin.

Frau Borkman. Das ist lauter dummes Zeug, Malene. Jetzt laufen Sie nur zu Hinkels hinüber und sehen Sie zu, daß Sie ihn sprechen können.

Das Stubenmädchen wirft den Kopf in den Nacken. Gott im Himmel, ja – ich gehe schon.

Sie schickt sich an, durch den Flur hinauszugehen. In demselben Augenblick öffnet sich die Eingangstür. Ella Rentheim und Borkman erscheinen auf der Schwelle.

Frau Borkman wankt einen Schritt zurück. Was soll das bedeuten?

Das Stubenmädchen, erschrocken, faltet unwillkürlich die Hände. Jessus! Jessus!

Frau Borkman flüstert dem Mädchen zu: Sagen Sie ihm, er möchte augenblicklich herkommen!

Das Stubenmädchen leise. Schön, gnädige Frau.

Ella und nach ihr Borkman treten ins Zimmer. Das Stubenmädchen schleicht sich hinter ihnen hinaus und macht die Tür hinter sich zu.

Kurze Pause.

Frau Borkman, die ihre Fassung wiederfindet, wendet sich zu Ella. Was will er hier unten bei mir?

Ella. Er will versuchen, mit Dir zu einer Verständigung zu gelangen, Gunhild.

Frau Borkman. Den Versuch hat er noch nie gemacht.

Ella. Er will es jetzt.

Frau Borkman. Das letzte Mal, daß wir uns gegenüber standen, – das war vor Gericht. Als ich vorgeladen war, um auszusagen –

Borkman nähert sich. Und heute bin ich es, der auszusagen hat.

Frau Borkman blickt ihn an. Du!

Borkman. Nicht über meine Vergehungen. Denn die kennt ja die ganze Welt.

Frau Borkman mit einem bitteren Seufzer. Ja, das ist ein wahres Wort. Die ganze Welt kennt sie.

Borkman. Aber sie weiß nicht, warum ich mich vergangen habe. Warum ich mich vergehen mußte. Die Menschen begreifen nicht, daß ich das mußte, weil ich eben ich war, – weil ich John Gabriel Borkman war, – und nicht ein anderer. Und Dir darüber Aufschluß zu geben, das will ich jetzt versuchen.

Frau Borkman schüttelt den Kopf. Nützt nichts. Antriebe sprechen nicht frei. Und Eingebungen auch nicht.

Borkman. Vor sich selbst können sie den Menschen freisprechen.

Frau Borkman macht eine abwehrende Handbewegung. Ach, laß doch das! Ich habe mehr als genug nachgedacht über diese Deine dunkeln Geschichten.

Borkman. Ich auch. Während der fünf endlosen Jahre in der Zelle – und anderswo – hatte ich Zeit dazu. Und in den acht Jahren oben auf dem Saal hatte ich noch mehr Zeit. Ich habe den ganzen Rechtsfall wieder aufgenommen, zu erneuter Prüfung – vor mir selber. Zu wiederholten Malen habe ich ihn wieder aufgenommen. Ich bin mein eigener Ankläger gewesen, mein eigener Verteidiger und mein eigener Richter. Unparteiischer als sonst irgend ein anderer, – das darf ich wohl sagen. Im Saale da oben bin ich hin und her gegangen und habe prüfend jede meiner Handlungen nach allen Seiten gedreht und gewendet. Habe sie von vorn betrachtet und von hinten – ebenso schonungslos, ebenso unbarmherzig wie nur ein Advokat. Und der Rechtsspruch, zu dem ich immer wieder komme, lautet so: der einzige, gegen den ich mich vergangen habe, – das bin ich selbst.

Frau Borkman. Und gegen mich etwa nicht? Nicht gegen Deinen Sohn?

Borkman. Du und er, Ihr seid mit einbegriffen, wenn ich von meiner Person rede.

Frau Borkman. Und die vielen hundert andern? Die Du ruiniert haben sollst, wie die Leute sagen?

Borkman heftiger. Ich hatte die Macht! Und dann das unbezwingbare Gebot in meinem Innern! Da lagen die gefesselten Millionen übers ganze Land, in der Bergestiefe, und riefen nach mir! Schrieen zu mir um Befreiung! Keiner von all den andern hörte es. Nur ich allein.

Frau Borkman. Ja, zu Schimpf und Schande des Namens Borkman.

Borkman. Ich möchte nur wissen, ob die andern, wenn sie die Macht gehabt hätten, nicht genau so gehandelt hätten wie ich.

Frau Borkman. Keiner, keiner außer Dir hätte es getan!

Borkman. Vielleicht. Doch nur deshalb nicht, weil sie nicht meine Fähigkeiten besaßen. Und hätten sie es getan, so hätten sie eben bei ihrem Tun meine Zwecke nicht vor Augen gehabt. Die Tat wäre dann eine andere geworden. – Kurz und gut, – ich habe mich selbst freigesprochen.

Ella weich und bittend. Darfst Du das aber auch so zuversichtlich sagen, Borkman?

Borkman nickt. Ich habe mich freigesprochen in dem Punkte. Nun aber kommt die große, erdrückende Selbstanklage.

Frau Borkman. Und die wäre?

Borkman. Da oben bin ich herumgegangen und habe volle acht kostbare Jahre meines Lebens vergeudet! Denselben Tag, da ich freikam, hätte ich hinaustreten sollen in die Wirklichkeit, – hinaus in die Wirklichkeit, die hart wie das Eisen ist und das Träumen nicht kennt! Ich hätte von unten wieder anfangen und mich von neuem emporschwingen sollen hinauf zu den Höhen, – und höher hinauf als je zuvor, – allem, was dazwischen lag, zum Trotze.

Frau Borkman. Ach, das wäre nur ganz dasselbe Leben wieder geworden wie früher, – glaube mir.

Borkman schüttelt den Kopf und sieht sie belehrend an. Es geschieht nichts Neues. Aber was geschehen ist, – das wiederholt sich auch nicht. Das Auge ist's, was die Taten wandelt. Das neugeborene Auge wandelt die alte Tat. Abbrechend. Aber das verstehst Du nicht.

Frau Borkman kurz. Allerdings nicht.

Borkman. Ja, das eben ist der Fluch, daß ich bei keiner Menschenseele je Verständnis gefunden habe.

Ella blickt ihn an. Bei keiner, Borkman?

Borkman. Vielleicht bei einer ausgenommen. Vor langer, langer Zeit. In den Tagen, da ich keines Verständnisses zu bedürfen glaubte. Sonst, später, bei gar niemand! Ich habe keinen gehabt, der voll Wachsamkeit und immer in Bereitschaft gewesen wäre, mich zu rufen, – mir zu läuten wie eine Morgenglocke, – mich wieder aufzumuntern zu fröhlicher Arbeit –. Und dann mir beizubringen, daß ich nichts verübt hätte, was nicht wieder gutzumachen wäre.

Frau Borkman lacht spöttisch. So, das muß Dir also doch von andern beigebracht werden?

Borkman zornentflammt. Jawohl, wenn die ganze Welt im Chorus mir entgegenkläfft, ich sei ein unrettbar verlorener Mann, so können wohl Augenblicke über mich kommen, wo ich nahe daran bin, es selbst zu glauben. Richtet den Kopf in die Höhe. Dann kommt aber mein innerstes Bewußtsein wieder siegreich nach oben. Und das spricht mich frei!

Frau Borkman sieht ihn mit Härte an. Warum bist Du nie gekommen, um bei mir das zu suchen, was Du Verständnis nennst?

Borkman. Hätte das genützt, – wenn ich zu Dir gekommen wäre?

Frau Borkman macht eine abwehrende Handbewegung. Du hast immer nur Dich selbst geliebt, – das ist die ganze Geschichte.

Borkman stolz. Ich habe die Macht geliebt –

Frau Borkman. Die Macht, ja!

Borkman. – die Macht, Menschenglück zu schaffen weit, weit um mich her!

Frau Borkman. Es stand einmal in Deiner Macht, mich glücklich zu machen. Hast Du sie dazu verwendet?

Borkman, ohne sie anzusehen. Eins muß gewöhnlich unterliegen – bei einem Schiffbruch.

Frau Borkman. Und Dein eigener Sohn! Hast Du Deine Macht dazu verwendet – oder hast Du dafür gelebt und geatmet, ihn glücklich zu machen?

Borkman. Ihn kenne ich nicht.

Frau Borkman. Ja, das ist wahr. Du kennst ihn nicht einmal.

Borkman mit Härte. Dafür hast Du, – Du, seine Mutter, gesorgt.

Frau Borkman blickt ihn an und sagt mit Hoheit im Ausdruck: O, Du weißt nicht, wofür ich gesorgt habe!

Borkman. Du?

Frau Borkman. Ja, ich. Ich allein.

Borkman. So sag' es doch.

Frau Borkman. Für Dein Andenken habe ich gesorgt.

Borkman mit kurzem, trockenem Lachen. Für mein Andenken? Sieh mal an! Das klingt ja beinah, als ob ich schon tot wäre.

Frau Borkman mit Nachdruck. Das bist Du auch.

Borkman langsam. Da hast Du vielleicht recht. Auffahrend. Aber nein, nein! Noch nicht! Ich war nahe, sehr nahe daran. Aber jetzt bin ich erwacht. Bin wieder munter geworden. Noch liegt das Leben vor mir. Ich sehe es, dieses neue, schimmernde Leben, das da gärt und harrt –. Und auch Du wirst es noch zu sehen bekommen.

Frau Borkman mit erhobener Hand. Träume Du nicht mehr vom Leben! Bleib ruhig, wo Du liegst!

Ella empört. Gunhild! Gunhild, – wie kannst Du nur –!

Frau Borkman, ohne auf sie zu achten. Ich will das Denkmal errichten über dem Grabe.

Borkman. Die Schandsäule, meinst Du wohl?

Frau Borkman in wachsender Erregung. O nein, kein Denkmal von Stein oder Metall soll es werden. Und niemand soll eine höhnende Inschrift in dieses Denkmal eingraben dürfen, das ich errichte. Es soll sein wie ein Gehege, wie ein natürlicher Zaun von Bäumen und Büschen, dicht, ganz dicht gepflanzt um Dein Grabesleben. Verdecken soll es alles Dunkle, das einmal war. Und vor den Augen der Menschen Vergessenheit breiten über John Gabriel Borkman!

Borkman mit heiserer und schneidender Stimme. Und dieses Liebeswerk willst Du üben?

Frau Borkmann. Nicht durch eigene Kraft. Daran darf ich nicht denken. Aber ich habe mir einen Helfer auferzogen, daß er sein Leben einsetze für dieses Eine. Er soll ein Leben führen in Reinheit und Hoheit und lichtem Glanz, so daß Dein eigenes Leben unter dem Tage getilgt ist aus der Erinnerung der Menschen!

Borkman finster und drohend. Wenn Du Erhard meinst, so sag' es nur gleich!

Frau Borkman sieht ihm fest in die Augen. Ja, Erhard ist es. Mein Sohn. Er, auf den Du Verzicht leisten willst – als Sühne für Deine eigenen Taten.

Borkman mit einem Blick auf Ella. Als Sühne für meine schwerste Schuld.

Frau Borkman absprechend. Für das, was Du an einer Fremden verschuldet hast. Denk an das, was Du an mir verschuldet hast! Blickt beide triumphierend an. Aber er gehorcht Euch nicht! Wenn ich ihn rufe in meiner Not, dann kommt er! Denn bei mir will er sein! Bei mir und bei niemand sonst – hält lauschend inne und ruft aus: Da hör' ich ihn! Da ist er, – da ist er! Erhard!

Erhard Borkman reißt eilig die Entreetür auf und tritt ins Zimmer. Er hat den Überzieher an und den Hut auf dem Kopf.

Erhard bleich und ängstlich. Aber Mutter, – um Gotteswillen, was –!

Er erblickt Borkman, der an der Türöffnung zum Gartenzimmer steht, fährt zusammen und nimmt den Hut ab.

Erhard schweigt eine Weile; dann fragt er: Was willst Du von mir, Mutter? Was ist hier vorgefallen?

Frau Borkman breitet die Arme nach ihm aus. Ich will Dich sehen, Erhard! Du sollst bei mir sein – immer!

Erhard stammelnd. Bei Dir –? Immer! Was meinst Du damit?

Frau Borkman. Dich haben, Dich haben will ich! Denn da ist jemand, der Dich mir nehmen will!

Erhard prallt einen Schritt zurück. Ah, – Du weißt also!

Frau Borkman. Gewiß. Weißt Du es auch?

Erhard stutzt und sieht sie an. Ob ich es weiß? Ja, natürlich –

Frau Borkman. Aha, ein abgekartetes Spiel! Hinter meinem Rücken! Erhard, Erhard!

Erhard schnell. Mutter, sag' mir, was weißt Du?

Frau Borkman. Ich weiß alles. Ich weiß, daß Deine Tante hier ist, um Dich mir abspenstig zu machen.

Erhard. Tante Ella!

Ella. So hör' nur mich erst einen Augenblick!

Frau Borkman fortfahrend. Sie wünscht, ich soll Dich an sie abtreten. Sie will Dir Mutter sein, Erhard! Du sollst ihr Sohn sein und nicht meiner fortan mehr. Du sollst alles erben, was sie besitzt. Deinen Namen ablegen und den ihren annehmen!

Erhard. Tante Ella, ist das wahr?

Ella. Ja, es ist wahr.

Erhard. Keine Silbe habe ich davon bis jetzt gewußt. Warum willst Du mich denn wieder bei Dir haben?

Ella. Weil ich fühle, daß ich Dich hier verliere.

Frau Borkman mit Härte. Durch mich verlierst Du ihn, – jawohl! Und das ist nur in der Ordnung.

Ella sieht ihn bittend an. Erhard, ich darf Dich jetzt nicht verlieren. Denn Du mußt wissen, daß ich ein einsamer, – sterbender Mensch bin.

Erhard. Sterbender –?

Ella. Ja, ein sterbender Mensch. Willst Du bei mir bleiben bis zum letzten Augenblick? Dich ganz an mich anschließen? Mir sein wie ein leiblich Kind –

Frau Borkman unterbricht sie. – und Deine Mutter im Stich lassen und Deine Lebensaufgabe vielleicht auch? Willst Du das, Erhard?

Ella. Es ist mir bestimmt, daß ich bald sterbe. – Antworte mir, Erhard.

Erhard bewegt und mit Wärme. Tante Ella, – Du bist unsagbar gut zu mir gewesen. In Deinem Hause habe ich aufwachsen dürfen in einem so sorglosen Glücksgefühl, wie es schöner dem Leben keines Kindes beschert sein kann –

Frau Borkman. Erhard, Erhard!

Ella. Ach, wie das wohltut, daß Du immer noch so denkst!

Erhard. – aber ich kann mich jetzt nicht für Dich opfern. Es ist mir unmöglich, Dir ein Sohn zu sein und in einem solchen Dasein ganz aufzugehen –

Frau Borkman triumphierend. O, ich wußt' es wohl! Du bekommst ihn nicht! Du bekommst ihn nicht, Ella!

Ella schwermütig. Ich seh' es. Du hast ihn zurückerobert.

Frau Borkman. Ja, ja, – mein ist er und mein bleibt er! Erhard! – nicht wahr, Du, – wir beide, wir werden noch eine gute Strecke Weges zusammen gehen.

Erhard mit sich selber kämpfend. Mutter, – ich sag' es lieber gerade heraus –

Frau Borkman gespannt. Nun?

Erhard. Die Strecke Weges, Mutter, die wir zusammen gehen, wird wohl nur kurz sein.

Frau Borkman steht da wie vom Schlag gerührt. Was soll das heißen?

Erhard ermannt sich. Lieber Gott, Mutter, – ich bin doch jung! Mir ist, als müßte ich in der Stubenluft hier noch rein ersticken.

Frau Borkman. Hier – bei mir!

Erhard. Ja, hier bei Dir, Mutter!

Ella. So geh mit mir, Erhard!

Erhard. Ach, Tante Ella, es ist um kein Haar besser bei Dir. Anders ist es da. Aber darum nicht besser. Nicht besser für mich. Nach Rosen und Lavendel riecht es, – Stubenluft dort wie hier!

Frau Borkman erschüttert, aber mit erkämpfter Fassung. Stubenluft bei Deiner Mutter, sagst Du!

Erhard mit wachsender Ungeduld. Ja, ich weiß nicht, wie ich es anders nennen soll. Diese ganze krankhafte Fürsorge und – und Vergötterung – oder was es sonst sein mag. Ich halt' es nicht länger aus!

Frau Borkman sieht ihn mit tiefem Ernst an. Vergißt Du die Aufgabe, der Du Dein Leben geweiht hast, Erhard?

Erhard ungestüm. Ach, sag' doch lieber: der Du mein Leben geweiht hast! Du, Du bist mein Wille gewesen! Selber habe ich nie einen haben dürfen! Aber ich kann dieses Joch jetzt nicht länger ertragen! Ich bin jung! Bedenke das doch, Mutter! Mit einem höflichen, rücksichtsvollen Blick auf Borkman. Ich kann nicht mein Leben einsetzen, um die Schuld eines andern zu sühnen. Dieser andere sei, wer er mag.

Frau Borkman, von wachsender Angst erfaßt. Wer hat Dich so verwandelt, Erhard?

Erhard betroffen. Wer –? Könnte ich es denn nicht selbst sein, der –?

Frau Borkman. Nein, nein, nein! Du bist unter fremde Einwirkungen geraten. Deine Mutter hat keinen Einfluß mehr auf Dich. Und auch nicht Deine – Deine Pflegemutter.

Erhard in erzwungenem Trotz. Ich stehe unter meinem eigenen Einfluß, Mutter! Und auch unter der Kraft meines eigenen Willens!

Borkman nähert sich Erhard. Dann ist vielleicht auch meine Stunde endlich einmal gekommen.

Erhard kühl und mit abgemessener Höflichkeit. Wie –? Wie meint Vater das?

Frau Borkman spöttisch. Ja, das möchte ich wirklich auch wissen.

Borkman unbeirrt fortfahrend. Höre, Erhard, – möchtest Du denn nicht mit Deinem Vater gehen? Durch den Lebenswandel eines andern kann nicht einem Menschen aufgeholfen werden, der zu Fall gekommen ist. Das sind alles leere Träume, die man Dir vorgefabelt hat – hier unten in der Stubenluft. Auch wenn Du ein Leben führtest wie alle Heiligen zusammengenommen, – es würde mir nicht das geringste nützen.

Erhard mit abgemessener Ehrerbietung. Ein sehr wahres Wort.

Borkman. Jawohl. Und ebensowenig würde es nützen, wenn ich so hinvegetieren wollte in Reue und Zerknirschung. Mit Träumen und Hoffnungen habe ich versucht mir durchzuhelfen – in allen diesen Jahren. Aber so etwas ist nicht meine Sache. Und jetzt will ich heraus aus den Träumen.

Erhard mit einer leichten Verbeugung. Und was will – was will Vater demnach tun?

Borkman. Mich aufraffen will ich. Wieder von vorn anfangen. Nur durch seine Gegenwart und durch seine Zukunft kann der Mensch seine Vergangenheit sühnen. Durch Arbeit, – durch unablässige Arbeit für all das, was in der Jugend mir vor Augen stand, als wär' es das Leben selbst. Aber jetzt in tausendmal höherem Maße als damals. Erhard, – willst Du mit mir sein und mir helfen in diesem neuen Leben?

Frau Borkman erhebt warnend die Hand. Tu es nicht, Erhard!

Ella mit Wärme. Doch, doch, tu es. Hilf ihm, Erhard!

Frau Borkman. Und das rätst Du ihm? Die Einsame, – die Sterbende!

Ella. Mit mir mag es gehen, wie es will.

Frau Borkman. Wenn nur ich es nicht bin, die ihn Dir nimmt.

Ella. Nun ja, Gunhild.

Borkman. Willst Du, Erhard?

Erhard in peinlicher Verlegenheit. Vater, – ich kann nicht mehr. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Borkman. Aber was willst Du denn eigentlich?

Erhard auflodernd. Ich bin jung! Ich will auch einmal leben! Mein eigenes Leben will ich leben!

Ella. Nicht einmal ein paar kurze Monate willst Du opfern, um ein armes, erlöschendes Menschendasein zu erhellen?

Erhard. Tante, ich kann nicht, so gern ich auch wollte.

Ella. Auch nicht einem Wesen zuliebe, das Dir so unsäglich gut ist?

Erhard. So wahr ich lebe, Tante, – ich kann es nicht.

Frau Borkman faßt ihn scharf ins Auge. Und auch Deine Mutter kann Dich nicht mehr halten?

Erhard. Ich werde Dich immer lieb haben, Mutter. Aber ich kann fortan nicht mehr für Dich allein leben. Denn das hier ist für mich kein Leben.

Borkman. Nun so komm und schließ Dich doch mir an. Denn leben heißt arbeiten, Erhard. Komm, laß uns Hand in Hand ins Leben hinauswandern und arbeiten!

Erhard leidenschaftlich. Aber ich will jetzt nicht arbeiten! Denn ich bin jung! Bis heute habe ich nicht gewußt, daß ich es bin. Aber jetzt fühle ich, wie es mich durchglüht! Ich will nicht arbeiten! Nur leben, leben, leben!

Frau Borkman ruft ahnungsvoll aus: Erhard, – wofür willst Du leben?

Erhard mit funkelnden Augen. Für das Glück, Mutter!

Frau Borkman. Und wo glaubst Du das zu finden?

Erhard. Ich habe es schon gefunden!

Frau Borkman schreit auf. Erhard –!

Erhard geht rasch zur Eingangstür und öffnet sie.

Erhard ruft hinaus: Fanny, – jetzt kannst Du kommen!

Frau Wilton, im Mantel, erscheint auf der Schwelle.

Frau Borkman mit erhobenen Händen. Frau Wilton –!

Frau Wilton ein wenig scheu, mit einem fragenden Blick auf Erhard. Ich darf also –?

Erhard. Ja, jetzt kannst Du kommen. Ich habe alles gesagt.

Frau Wilton tritt ins Zimmer. Erhard schließt die Tür hinter ihr zu. Sie macht eine abgemessene Verbeugung vor Borkman, der schweigend ihren Gruß erwidert.

Kurze Pause.

Frau Wilton mit gedämpfter, aber fester Stimme. Das Wort ist also gesprochen. Und ich begreife recht wohl, daß ich hier angesehen werde wie eine, die im Haus ein großes Unglück angerichtet hat.

Frau Borkman langsam, indem sie sie starr anblickt. Sie haben den letzten Rest von dem vernichtet, wofür ich noch leben konnte. Ungestüm. Aber das, – das ist ja doch ganz unmöglich!

Frau Wilton. Ich verstehe sehr wohl, daß es Ihnen unmöglich erscheinen muß, Frau Borkman.

Frau Borkman. Sie müssen sich doch selbst sagen können, daß es unmöglich ist. Oder wie –?

Frau Wilton. Ich möchte eher sagen, es sei ganz widersinnig. Aber es ist nun einmal so.

Frau Borkman wendet sich an Erhard. Ist das Dein voller Ernst, Erhard?

Erhard. Es ist für mich das Glück, Mutter. Das ganze große, herrliche Lebensglück. Weiter kann ich nichts sagen.

Frau Borkman zu Frau Wilton, indem sie die Hände zusammenpreßt. Ach, wie haben Sie meinen unglücklichen Sohn betört und verführt.

Frau Wilton wirft stolz den Kopf in den Nacken. Das habe ich nicht getan.

Frau Borkman. Sie hätten das nicht getan, sagen Sie?!

Frau Wilton. Nein. Ich habe ihn weder betört noch verführt. Aus eigenem Antrieb ist Erhard mir näher getreten. Und aus eigenem Antrieb bin ich ihm auf halbem Wege entgegengekommen.

Frau Borkman mißt sie mit einem verächtlichen Blick. Sie, ja! Das glaube ich gern.

Frau Wilton beherrscht sich. Frau Borkman, – über dem Menschenleben walten Mächte, die Sie nicht sonderlich gut zu kennen scheinen.

Frau Borkman. Was für Mächte, wenn ich fragen darf?

Frau Wilton. Die Mächte, die zweien Menschen gebieten, ihren Lebensweg untrennbar – und rücksichtslos zu vereinen.

Frau Borkman lächelt. Ich dachte, Sie wären schon untrennbar vereint – mit einem andern.

Frau Wilton kurz. Jener andere hat mich verlassen.

Frau Borkman. Aber er lebt doch, sagt man.

Frau Wilton. Für mich ist er tot.

Erhard eindringlich. Ja, Mutter, für Fanny ist er tot. Und was geht mich überhaupt dieser andere an!

Frau Borkman wirft ihm einen strengen Blick zu. Du kennst sie also, – diese Geschichte mit dem andern?

Erhard. Ja, Mutter, ich kenne sie von Anfang bis Ende.

Frau Borkman. Und doch sagst Du, sie ginge Dich nichts an!

Erhard in abweisendem Übermut. Ich weiß nur das eine, daß ich glücklich sein will! Ich bin jung! Ich will leben, leben, leben!

Frau Borkman. Ja, Du bist jung, Erhard. Zu jung für dergleichen.

Frau Wilton ernst und nachdrücklich. Glauben Sie nur, Frau Borkman, ich habe ihm genau dasselbe gesagt. Meine ganzen Lebenverhältnisse habe ich ihm dargelegt. Immer wieder habe ich ihm vorgestellt, daß ich volle sieben Jahre älter bin als er –

Erhard unterbricht sie. Aber, Fanny, – das war mir ja längst bekannt.

Frau Wilton. – aber nichts, – nichts hat gefruchtet.

Frau Borkman. So? Wirklich nicht? Warum haben Sie ihn denn nicht ohne weiteres abgewiesen? Ihm Ihr Haus verboten? Sehen Sie, das hätten Sie rechtzeitig tun sollen!

Frau Wilton blickt sie an und sagt mit gedämpfter Stimme. Das konnte ich einfach nicht, Frau Borkman.

Frau Borkman. Warum konnten Sie nicht?

Frau Wilton. Weil auch für mich nur in diesem Einen, diesem Einzigen das Glück sich verkörperte.

Frau Borkman geringschätzig. Hm, – das Glück, das Glück –

Frau Wilton. Ich habe bis jetzt nicht gewußt, was es heißt: glücklich zu sein im Leben. Und ich kann doch unmöglich das Glück von mir weisen, bloß weil es so spät kommt.

Frau Borkman. Und wie lange, glauben Sie, wird das Glück währen?

Erhard unterbrechend. Ob kurz, ob lang, Mutter, – das ist einerlei!

Frau Borkman zornig. Verblendeter Mensch, Du! Siehst Du denn nicht, wohin das alles führt?

Erhard. Was geht mich die Zukunft an. Mag nicht vorwärts noch rückwärts schauen! Nur auch einmal zu leben verlange ich!

Frau Borkman schmerzlich. Und das nennst Du leben, Erhard!

Erhard. Ja, siehst Du denn nicht, wie schön sie ist!

Frau Borkman ringt die Hände. Und diese erdrückende Schande soll ich also auch noch tragen!

Borkman im Hintergrund mit schneidender Härte. Ha, – Du bist's ja gewohnt, Gunhild, so etwas zu tragen.

Ella flehentlich. Borkman –!

Erhard ebenso. Vater –!

Frau Borkman. Ich soll tagtäglich mit eigenen Augen sehen, wie mein leiblicher Sohn zusammen mit einer – einer –

Erhard unterbricht sie mit Härte. Nichts wirst Du sehen, Mutter! Hab' nur keine Furcht! Ich bleibe nicht länger hier.

Frau Wilton rasch und entschlossen. Wir, wir reisen, Frau Borkman.

Frau Borkman erblassend. Sie reisen auch! Am Ende miteinander?

Frau Wilton nickt. Ich gehe nach dem Süden. Ins Ausland. Zusammen mit einem jungen Mädchen. Und Erhard geht mit.

Frau Borkmann. Mit Ihnen und – einem jungen Mädchen?

Frau Wilton. Ja. Es ist die kleine Frida Foldal, die ich zu mir ins Haus genommen habe. Sie soll in die Welt, um Musik zu studieren.

Frau Borkman. Und so nehmen Sie sie mit?

Frau Wilton. Ja, ich kann doch das junge Ding nicht allein hinausschicken.

Frau Borkman unterdrückt ein Lächeln. Was sagst Du denn dazu, Erhard?

Erhard etwas verlegen, zuckt die Achseln. Ja, Mutter, – wenn Fanny es durchaus haben will, so –

Frau Borkman kalt. Darf man fragen, wann die Herrschaften reisen?

Frau Wilton. Wir reisen sofort, noch heute Nacht. Mein Schlitten hält unten auf der Straße, – vor der Hinkelschen Villa.

Frau Borkman blickt sie von oben bis unten an. Aha, – das war also die Abendgesellschaft!

Frau Wilton lächelt. Es waren allerdings nur Erhard und ich dort. Und die kleine Frida – selbstverständlich.

Frau Borkman. Und wo ist die jetzt?

Frau Wilton. Sie sitzt im Schlitten und wartet auf uns.

Erhard in peinlicher Verlegenheit. Mutter, – Du begreifst –? Ich wollte Dir diesen Auftritt ersparen – Dir und den andern.

Frau Borkman blickt ihn tief gekränkt an. Du wolltest reisen, ohne mir Lebewohl zu sagen?

Erhard. Ja, ich fand, es wäre so besser gewesen. Besser für beide Teile. Alles war fix und fertig. Die Koffer waren gepackt. Als Du dann aber nach mir schicktest, da –. Will ihr die Hände reichen. Also, leb' wohl, Mutter.

Frau Borkman macht eine abwehrende Handbewegung. Komm mir nicht nahe!

Erhard zaghaft. Ist das Dein letztes Wort?

Frau Borkman mit Härte. Ja.

Erhard wendet sich zu Ella. Leb' wohl, Tante Ella.

Ella drückt ihm die Hände. Leb' wohl, Erhard! Und genieße Dein Leben, – und werde so glücklich, so glücklich, – wie Du kannst!

Erhard. Ich danke Dir, Tante. Verbeugt sich vor Borkman. Leb' wohl, Vater. Flüstert Frau Wilton zu. Mach', daß wir fortkommen, so schnell wie möglich.

Frau Wilton leise. Ja, gehen wir.

Frau Borkman mit einem bösen Lächeln. Frau Wilton, – Sie meinen gewiß, klug zu handeln, wenn Sie das junge Mädchen mitnehmen?

Frau Wilton erwidert das Lächeln halb ironisch, halb ernsthaft. Die Männer sind so unbeständig, Frau Borkman. Und die Frauen auch. Ist Erhard mit mir fertig, – und bin ichs mit ihm, – so wird es für beide Teile gut sein, wenn der arme Junge etwas in der Reserve hat.

Frau Borkmann. Aber Sie selbst?

Frau Wilton. Ach, ich arrangiere mich schon – da seien Sie unbesorgt. Ich empfehle mich den Herrschaften!

Sie grüßt und geht durch die Entreetür ab. Erhard steht einen Augenblick da, als ob er unschlüssig sei; darauf wendet er sich um und folgt ihr.

Frau Borkman, die gesenkten Hände gefaltet. Kinderlos.

Borkman gleichsam zu einem Entschluß erwachend. Gut denn! Allein denn ins Unwetter hinaus! Meinen Hut! Meinen Mantel!

Er geht eilig zur Tür.

Ella tritt ihm angstvoll in den Weg. John Gabriel, wo willst Du hin?

Borkman. Hinaus ins Unwetter des Lebens, hörst Du. Laß mich, Ella!

Ella hält ihn fest. Nein, nein, Du darfst mir nicht hinaus! Du bist krank. Ich sehe es Dir an!

Borkman. Laß mich gehen, sage ich!

Er reißt sich los und geht in den Hausflur hinaus.

Ella in der Tür. Hilf mir ihn zurückhalten, Gunhild!

Frau Borkman steht mitten im Zimmer; kalt und hart: Ich halte keinen Menschen zurück, wer es auch sei. Sie mögen von mir gehen, allesamt. Einer wie der andere. Sie mögen ziehen, so weit – soweit sie nur wollen. Plötzlich, mit einem gellenden Aufschrei. Erhard, geh nicht fort.

Sie stürzt mit ausgebreiteten Armen auf die Tür zu. Ella tritt ihr in den Weg.


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