Victor Hugo
Notre Dame
Victor Hugo

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIX.

Wie es gefährlich ist, sein Geheimniß einer Ziege anzuvertrauen

Mehrere Wochen waren verflossen. Man befand sich in den ersten Tagen des März und die Sonne schien schon recht warm und freundlich.

Der Liebfrauenkirche gegenüber, die im Strahl der Mittagssonne glänzte, auf dem Balkon eines gothischen Hauses, saßen mehrere schöne junge Mädchen, lachend und schäkernd. Sie waren in Gold, Sammt und Seide gekleidet, und Alles an ihnen deutete auf Reichthum und hohen Stand. Es waren in der That die adeligen Damen Fleur-de-Lys de Gondelaurier und ihre Gespielinnen Diana de Christeuil, Amelotte de Montmichel, Colombe de Gaillefontaine und die kleine Chanchevrier, lauter Töchter aus guten Häusern, in diesem Augenblicke bei der Wittwe Gondelaurier versammelt, den Prinzen von Beaujeu und seine Gemahlin zu erwarten, die im Monat April nach Paris kommen und die Ehrendamen wählen sollten, die zur Einholung der Dauphine Margarethe bestimmt waren, wenn man sie in der Picardie von den Flamändern übernehmen würde. Alle Junker auf dreißig Stunden in der Runde strebten nach dieser Auszeichnung für ihre Töchter, und Viele hatten sie bereits nach Paris gebracht oder geschickt. Die genannten jungen Damen waren der Hut der ehrwürdigen Dame Aloise de Gondelaurier anvertraut, welche die Wittwe eines Kapitäns der königlichen Bogenschützen war und sich mit ihrer einzigen Tochter in ihr Haus an der Ecke der Straße Parvis, der Liebfrauenkirche gegenüber, zurückgezogen hatte.

Der Balkon, auf welchem die jungen Mädchen waren, öffnete sich gegen ein reich tapezirtes Zimmer. Im Hintergrunde desselben, am Kamin, saß in einem reichen Armstuhl von rothem Sammt die Dame Gondelaurier, deren 55 Jahre in ihrer Kleidung sowohl, als auf ihrem Gesichte zu lesen waren. Neben ihr stand ein junger Mann, dessen Gesicht ziemlich vielen Stolz, auch zugleich keine geringe Dosis von Eitelkeit und Anmaßung aussprach, kurz einer jener schönen Männer, über deren Schönheit alle Weiber einig sind, während der ernste Physiognom die Achsel darüber zuckt. Dieser junge Cavalier trug die glänzende Uniform eines Hauptmanns der königlichen Bogenschützen.

Die Damen saßen theils auf dem Balkon, theils in dem Zimmer; jede hielt auf ihren Knieen den Zipfel einer großen Stickerei, an welcher sie gemeinschaftlich arbeiteten. Sie unterhielten sich unter einander mit jener kichernden Stimme und dem halberstickten Lachen einer Versammlung junger Mädchen, in deren Mitte sich ein junger Mann befindet. Der junge Mann, dessen bloße Gegenwart schon alle diese weiblichen Eitelkeiten in Bewegung setzte, schien sich nur wenig um sie zu kümmern, und während jedes dieser schönen Mädchen seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen suchte, putzte er gleichgültig mit seinem hirschledernen Handschuh die Schnalle an seinem Leibgürtel.

Von Zeit zu Zeit sprach die alte Dame leise mit ihm, und er antwortete ihr, so gut er vermochte, mit einer Art linkischer Höflichkeit. Aus der lächelnden Miene, aus kleinen Zeichen guten Einverständnisses der alten Dame, aus den Blicken, welche sie bisweilen auf ihre Tochter Fleur-de-Lys schießen ließ, während sie leise mit dem Kapitän sprach, ließ sich leicht erkennen, daß von einer bereits vollzogenen Verlobung, von einer ohne Zweifel nahen Heirath zwischen dem jungen Manne und Fleur-de-Lys die Rede war. Aus der verlegenen Kälte des Offiziers ergab sich jedoch, daß es sich, von seiner Seite wenigstens, nicht mehr um Liebe handelte. Sein ganzes Gesicht drückte Verlegenheit und Verdruß aus, und man sah ihm an, daß er hier eine Art Frohndienst verrichtete.

Die gute Dame, ganz vernarrt in ihre Tochter, wie Mütter zu sein pflegen, nahm seinen Mangel an Enthusiasmus nicht wahr, und machte ihm mit leiser Stimme bemerklich, mit welcher unendlichen Vollkommenheit und Grazie Fleur-de-Lys ihre Nadel handhabe.

»Seht doch einmal, Vetterchen,« flüsterte sie ihm ins Ohr, indem sie ihn am Aermel zu sich herabzog, »seht doch, jetzt bückt sie sich über die Arbeit!«

»Wahrhaftig!« antwortete der junge Mann und fiel in sein zerstreutes und kaltes Stillschweigen zurück.

Einen Augenblick darauf mußte er sich aufs Neue zu ihrem Ohre neigen und Dame Aloise sprach zu ihm: »Habt Ihr je ein einnehmenderes und liebreizenderes Gesicht gesehen, als das Eurer Zukünftigen? Kann es etwas Weißeres und Blonderes geben? Sind das nicht vollendete Hände? Und dieser Hals, nimmt er nicht zum Bezaubern alle Biegungen des Schwans an? Wahrhaftig, ich beneide Euch selbst bisweilen! Ihr seid glücklich, ein Mann zu sein, und Ihr verdient es kaum, Ihr lockerer Geselle! Ist nicht meine Fleur-de-Lys anbetungswürdig schön, und seid Ihr nicht ganz rasend in sie verliebt?«

»Allerdings!« erwiederte er und dachte an etwas Anderes.

»So redet doch mit ihr,« sagte die Dame plötzlich und stieß ihn an der Schulter weg, »sagt ihr etwas Schönes! Ihr seid ja gar zu schüchtern.«

Die Schüchternheit war übrigens weder die Tugend noch der Fehler des Offiziers. Er machte nun einen Versuch, dem Genüge zu leisten, was man von ihm verlangte.

»Schöne Base,« sprach er zu Fleur-de-Lys, »welches ist der Gegenstand dieser Stickerei?«

»Schöner Vetter,« antwortete Fleur-de-Lys mit verdrießlicher Betonung, »ich habe Euch schon dreimal gesagt, daß es die Grotte Neptuns ist.«

Augenscheinlich besaß Fleur-de-Lys einen helleren Blick als ihre Mutter, und die Kälte und Zerstreutheit ihres Bräutigams waren ihr nicht entgangen. Er fühlte daher die Notwendigkeit, irgend ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen.

»Und für wen ist diese Stickerei bestimmt?« fragte er.

»Für die Abtei Sanct Anton,« antwortete Fleur-de-Lys, ohne die Augen zu erheben.

Der Kapitän nahm eine Ecke der Tapete in die Hand: »Wer ist dieser dicke Gendarm, schöne Base, der mit vollen Backen in die Trompete bläst?«

»Es ist Trito.«

In den kurzen Antworten der Dame lag eine Betonung, die anzeigte, daß sie sich gekränkt fühle. Der junge Mann sah ein, daß er ihr nothwendig etwas ins Ohr sagen müsse, eine Galanterie, eine Dummheit, gleichviel. Er neigte sich demnach zu ihrem Ohre, aber er konnte mit der ganzen Anspannung seiner Denkkraft keine zärtlichere und innigere Anrede finden, als folgende: »Warum trägt denn Eure Frau Mutter immer noch den alten, mit Wappen gestickten Rock, wie unsere Großmütter zur Zeit Karls VII.? Sagt ihr doch, schöne Base, daß dies nimmer Mode ist, und daß der Harnisch und Lorbeer auf ihrem gestickten Kleide ihr das Ansehen einer wandernden Tapete geben. So kleidet man sich heutzutage nimmer, das schwöre ich Euch.«

Fleur-de-Lys erhob ihre schönen Augen und erwiederte leise im Tone des Vorwurfs: »Ist das Alles, was Ihr mir schwört?«

Die gute alte Dame, als sie so das liebende Paar, flüsternd und kosend, erblickte, sagte zu sich selbst: »Oh, rührendes Bild der Liebe!«

Der Kapitän, immer verlegener, bückte sich auf die Tapete und sprach: »Eine herrliche Arbeit, so wahr Gott lebt!«

Colombe de Gaillefontaine, eine andere schöne Blondine, benützte diesen Ausruf und wagte furchtsam ein Wort, das sie an Fleur-de-Lys richtete, in der Hoffnung, daß der schöne Offizier es ihr beantworten werde: »Meine liebe Gondelaurier habt Ihr die Tapeten des Palastes Roche-Guyon gesehen?«

»Ist das nicht der Palast, der den Garten der Weißzeughändlerin des Louvre einschließt?« fragte lachend Diana de Christeuil, die, weil sie schöne Zähne hatte, bei jeder Gelegenheit lachte.

»Und wo der große alte Thurm der alten Mauer von Paris steht?« fügte Amelotte de Montmichel hinzu, eine niedliche Brünette, welche die Gewohnheit hatte zu seufzen, wie die Andere zu lachen, ohne daß eine von Beiden wußte, warum.

»Meine liebe Colombe,« fiel die alte Dame ein, »Ihr sprecht wohl von dem Palast des Herrn von Bacqueville unter dem König Karl VI.? Es sind wirklich sehr schöne Tapeten darin.

»Karl VI.! König Karl VI.!« brummte der Kapitän zwischen den Zähnen. »Die gute Dame hat ein herrliches Gedächtniß für diese alten Geschichten!«

Die alte Dame fuhr fort: »Schöne Tapeten, beim wahrhaftigen Gott! Sehr seltene Tapeten!«

In diesem Augenblicke rief Bérangère de Champchevrier, ein munteres Kind von sieben Jahren, das vom Balkon auf den Platz hinabgeblickt hatte: »Seht doch, schöne Pathin Fleur-de-Lys! Seht doch die niedliche Tänzerin, die da unten, mitten unter den Bürgern, auf dem Pflaster tanzt und den Tambourin schwingt!«

»Es wird irgend eine Zigeunerin sein!« erwiederte Fleur-de-Lys, indem sie nachlässig den Kopf der Straße zudrehte.

»Laßt sehen! Laßt sehen!« riefen ihre lebhaften Gespielinnen und rannten auf den Balkon, während ihnen Fleur-de-Lys, nachdenklich über die Kälte ihres Bräutigams, langsam folgte. Der Kapitän, den dieser Zwischenfall von einer peinlichen Unterhaltung befreite, zog sich mit der Zufriedenheit eines Soldaten, der von seinem Posten abgelöst wird, in den Hintergrund des Zimmers zurück.

Vor noch nicht langer Zeit war ihm der Dienst bei der schönen Fleur-de-Lys im geringsten nicht als ein Frohndienst erschienen, und er hatte ihn mit Eifer und Neigung verrichtet; aber je näher der Hochzeitstag kam, um so kälter wurde der Bräutigam. Die Aussicht auf die unauflösbaren Bande der Ehe behagte ihm nicht, er war etwas unbeständig und, die Wahrheit zu sagen, von ziemlich gemeinem Geschmack. Obgleich von hoher Geburt, hatte er doch unter dem Harnisch mehr als eine Gewohnheit gemeiner Haudegen angenommen. Die Kneipe und was ihr anklebt, gefiel ihm wohl. Die Soldatensprache, die militärischen Galanterien, die zugänglichen Schönheiten und die leichten Erfolge: das war es, was ihm Freude machte. Er hatte zwar in seiner Familie einige Erziehung erhalten und Manier angenommen; aber er kam allzujung unter den Harnisch, in die Garnison, in das Lager, und der Firniß des Edelmanns verwischte sich bald an dem ledernen Degengehänge des Gendarmen.

Er besuchte zwar, aus einem Ueberrest von Achtung für die gute Gesellschaft, Fleur-de-Lys noch von Zeit zu Zeit, aber die Gegenwart seiner Braut war ihm doppelt peinlich: einmal, weil er um so weniger Liebe für sie übrig behielt, je mehr er von diesem Artikel an öffentlichen Orten verschwendete, und dann, weil er in der Mitte dieser geputzten und anständigen Damen wie auf Nadeln saß und immer befürchtete, daß ihm irgend ein Fluch oder eine Zote aus der Wachtstube entwischen möchte.

Im Uebrigen machte er bei alle dem große Ansprüche auf Eleganz und schöne Kleidung. Er hatte sich eben, an Etwas oder an Nichts denkend, an das Kamin gelehnt, als Fleur-de-Lys plötzlich den Kopf nach ihm umwendete und ihm zurief: »Schöner Vetter, habt Ihr uns nicht von einer Zigeunerin gesagt, die Ihr vor zwei Monaten, als Ihr die Runde machtet, aus den Händen von zwölf Straßenräubern befreitet?«

»Ich glaube ja, schöne Base,« antwortete der Kapitän.

»Nun,« erwiederte sie, »das ist vielleicht die nämliche Zigeunerin, die da unten auf dem Pflaster tanzt. Kommt einmal und seht, ob Ihr sie wieder erkennt, schöner Vetter Phöbus!«

Aus dieser sanften Einladung und aus der traulichen Benennung Phöbus, die sie ihm gab, leuchtete ein geheimes Verlangen der Versöhnung hervor. Der Hauptmann Phöbus de Châteaupers (denn er ist es selbst) näherte sich langsam dem Balkon.

»Seht einmal,« sagte Fleur-de-Lys, indem sie sanft ihre Hand auf seinen Arm legte, »betrachtet diese Kleine, die da unten tanzt! Ist das Eure Zigeunerin?«

Phöbus sah hin und erwiederte: »Ja, ich erkenne sie an ihrer Ziege.«

»Oh, die niedliche kleine Ziege!« sagte Amelotte, und schlug vor Verwunderung die Hände zusammen.

»Sind ihre Hörner von echtem Gold?« fragte Berangere.

Ohne von ihrem Armstuhl aufzustehen, nahm die alte Dame das Wort: »Ist das nicht eine der Zigeunerinnen, die im vergangenen Jahre durch das Thor Gibard eingezogen sind?«

»Frau Mutter,« erwiederte Fleur-de-Lys sanft, »dieses Thor heißt jetzt Höllenthor.«

Fleur-de-Lys wußte, daß sich ihr Bräutigam über die veralteten Benennungen und Redensarten immer ärgerte. Wirklich murmelte er auch zwischen den Zähnen: »Thor Gibard! Thor Gibard! Da könnte der König Karl VI. noch einmal seinen Einzug halten!«

»Pathin,« rief die kleine Berangere, deren stets bewegliche Augen sich gegen den Gipfel der Liebfrauenkirche erhoben hatten, »was ist denn das für ein schwarzer Mann auf dem Thurm da oben?«

Alle die jungen Mädchen wendeten ihre Augen zum Thurme hinauf. Ein Mann in schwarzer Kleidung lehnte sich über die Balustrade des nördlichen Thurms heraus und blickte auf den Greveplatz herab. Es war ein Priester. Man erkannte deutlich seine Kleidung und sein in beide Hände gestütztes Gesicht. Er stand unbeweglich wie eine Bildsäule. Sein Auge starrte unverändert auf den Platz hinab. Er glich einem Habicht, der hoch in der Luft eine Taube erblickt und auf sie herabstoßen will.

»Das ist der Archidiakonus der Liebfrauenkirche,« sagte Fleur-de-Lys.

»Ihr müßt gute Augen haben, daß Ihr ihn von hier aus erkennt!« bemerkte Gaillefontaine.

»Wie er die kleine Tänzerin betrachtet!« fiel Diane de Christeuil ein.

»Die Aegypterin mag sich hüten, denn er liebt Aegyptenland nicht!« sagte Fleur-de-Lys.

»Der Mann da oben,« fügte Amelotte de Montmichel hinzu, »sollte sie nicht mit so bösen Augen ansehen, denn sie tanzt zum Entzücken.«

»Schöner Vetter Phöbus,« sagte plötzlich Fleur-de-Lys, »da Ihr diese kleine Zigeunerin kennt, so ruft sie doch herauf, daß wir einen Spaß haben.«

»Ach ja! Ach ja!« riefen alle Mädchen und klatschten in die Hände.

»Das wäre thöricht,« antwortete Phöbus. »Sie hat mich ohne Zweifel vergessen, und ich weiß nicht einmal ihren Namen. Weil Ihr es aber wünscht, meine Damen, so will ich einen Versuch machen.«

Mit diesen Worten beugte er sich über den Balkon und schrie auf die Straße hinab: »Kleine!«

Die Tänzerin, die in diesem Augenblicke den Tambourin nicht schlug, wendete das Haupt der Gegend zu, woher dieser Ruf kam. Ihre glänzenden Augen hafteten auf Phöbus fest, und sie hörte auf zu tanzen.

»Kleine!« wiederholte der Kapitän und gab ihr mit dem Finger ein Zeichen, zu kommen.

Das Zigeunermädchen betrachtete ihn noch immer; jetzt erröthete sie, als ob ihr eine Flamme ins Gesicht gestiegen wäre, nahm ihren Tambourin unter den Arm und ging, zum großen Verdrusse der Zuschauer, der Pforte des Hauses zu, von dessen Balkon Phöbus sie gerufen hatte: sie ging langsam, schwankend und mit dem angsterfüllten Blicke eines Vogels, der dem Zauberblick einer Schlange gehorcht.

Bald darauf hob sich die Tapete der Eingangsthüre, und das Zigeunermädchen erschien auf der Schwelle des Zimmers; hoch erröthend, verlegen, athemlos, mit niedergeschlagenen Augen, wagte sie nicht einzutreten.

Die kleine Berangere klatschte vor Vergnügen mit den Händen.

Die Tänzerin blieb unbeweglich auf der Thürschwelle stehen. Ihr Erscheinen hatte auf die Gruppe der jungen Mädchen einen sonderbaren Eindruck gemacht. Ein vages und unbestimmtes Verlangen, dem schönen Offizier zu gefallen, belebte sie Alle zumal; seine glänzende Uniform war der Spiegel, in dem alle ihre Koketterien widerstrahlten, und seit seiner Anwesenheit bestand zwischen ihnen eine gewisse geheime Eifersucht, welche sie sich kaum selbst bekannten, die aber gleichwohl jeden Augenblick in ihren Geberden und Reden zum Vorschein kam. Da sie jedoch Alle ungefähr gleich schön waren, so kämpften sie mit gleichen Waffen, und jede von ihnen konnte auf den Sieg hoffen. Das Erscheinen der Zigeunerin störte plötzlich dieses Gleichgewicht. Sie war von einer so seltenen Schönheit, daß sie, als sie die Schwelle betrat, in dem ganzen Zimmer einen ihr eigenthümlichen Schein zu verbreiten schien. In diesem engen Raume, von vier Mauern eingeschlossen, war sie unendlich schöner und strahlender, als auf dem öffentlichen Platze. Sie glich einer Fackel, die man vom hellen Tageslicht in den Schatten bringt. Die adeligen Damen wurden wider Willen von ihr geblendet. Jede fühlte sich in ihrer Schönheit gleichsam verwundet. Auch änderte sich alsogleich ihre Schlachtordnung, ohne daß sie sich mit einem einzigen Worte darüber verständigten. Der weibliche Instinkt versteht sich schneller, als der männliche Verstand. Eine allgemeine Feindin war erschienen: Alle fühlten es, Alle verbündeten sich gegen sie. Ein einziger Tropfen rothen Weins färbt ein ganzes Glas Wasser; um eine ganze Versammlung schöner Weiber mit einer gewissen Laune zu färben, bedarf es nur der Ankunft einer noch schöneren Frau, besonders wenn nur ein einziger Mann in der Gesellschaft ist.

Die so angelegentlich herbeigerufene Zigeunerin wurde eiskalt empfangen. Die Edeldamen betrachteten sie vom Kopf bis zu den Füßen, sahen sich dann untereinander selbst an, und hiermit war Alles gesagt: sie hatten sich wechselseitig verstanden. Inzwischen wartete das arme Mädchen auf eine Anrede und war so bewegt, daß sie kaum die Augen wieder aufzuschlagen wagte.

Der Kapitän brach zuerst das Stillschweigen.

»Auf meine Ehre,« sagte er mit seinem Tone unerschrockener Albernheit, »das ist ein herrliches Geschöpf! Was meint Ihr, schöne Base?«

Diese Bemerkung, die ein gebildeterer Bewunderer wenigstens leise gesagt hätte, war nicht geeignet, die weiblichen Eifersuchten niederzuschlagen, die das Zigeunermädchen umlagert hielten.

Fleur-de-Lys antwortete dem Kapitän in affektirt wegwerfendem Tone: »Nicht so übel!«

Die Andern kicherten.

Die alte Dame, vielleicht die eifersüchtigste von Allen, weil sie es für ihre Tochter war, sagte zu der Tänzerin:

»Tritt näher, Kleine!« »Tritt näher, Kleine!« wiederholte Berangère mit komischer Würde.

Die Aegypterin trat auf die Edeldame zu.

»Schönes Kind,« sagte Phöbus mit Begeisterung und trat ihr einige Schritte entgegen, »ich weiß nicht, ob ich das unaussprechliche Glück habe, von Dir wieder erkannt zu werden?«

Sie unterbrach ihn, indem sie ihn mit einem graziösen Lächeln anblickte und schnell erwiederte: »O ja! O ja!«

»Sie hat ein gutes Gedächtnis,« sagte Fleur-de Lys mit bitterem Lachen.

»Ei,« fuhr Phöbus ungestört fort, »Du bist mir da neulich unter der Hand entwischt. Fürchtest Du mich denn?«

»O nein! O nein!« sagte schnell das Zigeunermädchen.

In diesem O ja und in diesem O nein lag Etwas, was sich nicht beschreiben läßt, und wodurch sich Fleur-de-Lys gekränkt fühlte.

»Du hast mir da an Deiner Stelle, mein schönes Kind,« fuhr der Kapitän fort, dessen Zunge geläufiger wurde, seit er mit einem Straßenmädchen sprach, »einen saubern Vogel zurückgelassen, einäugig und bucklig, den Glöckner des Bischofs, glaube ich. Man hat mir gesagt, daß er der Bastard eines Archidiakonus und von Geburt ein Teufel sei. Er hat einen wunderlichen Namen, Ostertag, Pfingsttag, oder wie Teufels er heißt! Ein Festtag ist es! Der Bursche hat sich also unterstanden, Dich zu entführen, als ob Du für solche Lümmel gemacht wärest! Das ist etwas stark. Was Teufels wollte sie denn von Dir, diese Nachteule? He! was sagst Du?«

»Ich weiß nicht,« antwortete die Zigeunerin.

»Unbegreifliche Unverschämtheit! Ein Glöckner ein Mädchen entführen, wie ein Graf! Ein so gemeines Vieh in das Gehege des Adels einbrechen! Aber er hat es büßen müssen, der Hund! Meister Pierrat Torterue läßt seine Peitsche schwer auffallen, und es wird Dir Freude machen, zu erfahren, daß er Striemen von dem Rücken des unverschämten Glöckners gehauen hat.«

»Armer Mensch!« sagte die Zigeunerin, der diese Worte die Scene am Schandpfahl wieder in Erinnerung brachten.

Der Kapitän wollte sich vor Lachen ausschütten. »Bei den Hörnern aller Ochsen!« rief er aus, »da ist das Mitleid so übel angebracht, als eine Feder am Hintern einer Sau, und mein Bauch soll so dick werden, als der des Pabstes, wenn . . .«

Er hielt plötzlich inne. »Verzeihung, meine Damen! Ich glaube, ich habe einige Dummheiten gesagt.«

»Pfui, mein Herr!« sagte Gaillefontaine.

»Er redet mit diesem Geschöpf ihre Sprache!« fügte Fleur-de-Lys, deren Verdruß von Minute zu Minute stieg, halblaut hinzu.

Dieser Verdruß verminderte sich nicht, als der Kapitän, bezaubert von der Zigeunerin und seiner eigenen Person, sich auf dem Absatz herumdrehte und mit plumper soldatischer Galanterie wiederholte: »Ein schönes Mädchen, auf Ehre und Seligkeit!«

»Wie eine Halbwilde gekleidet,« sagte Diane de Christeuil und bleckte ihre schönen Zähne.

Diese Bemerkung war ein Lichtstrahl für sämtliche Damen. Sie zeigte ihnen die wunde Seite der Ägypterin. Da sie ihrer Schönheit nichts anhaben konnten, so warfen sie sich auf ihren Anzug.

»Das muß wahr sein, Kleine,« sagte die Montmichel, »wie magst Du so ohne Brusttuch und Busenschleier durch die Straßen laufen?«

»Ihr Rock ist so kurz, daß einem Angst und bange wird,« fügte Gaillefontaine hinzu.

»Meine Liebe,« sagte Fleur-de-Lys in bitterem Tone, »die Stadtserganten werden Dich auffangen, weil Du einen goldenen Leibgürtel trägst.«

»Kleine, Kleine,« sagte Diane de Christeuil und warf einen giftigen Blick auf sie, »wenn Du ehrbar deinen Arm mit einem Ärmel bedecktest, so würde er nicht so von der Sonne verbrannt sein.«

Es war in der Tat ein Schauspiel, das eines verständigeren Zuschauers würdig gewesen wäre, als unser Phöbus war, wie diese schönen Edeldamen mit ihren vergifteten Zungen die Straßentänzerin zwickten und stachen; sie betäubten das arme Kind durch ihr Gelächter, durch ihren Spott, durch endlose Demütigungen. Man hätte sie für junge römische Damen halten können, die zu ihrer Ergötzlichkeit den Busen einer schönen Sklavin mit goldenen Nadeln durchstachen, oder für zierliche Windhunde, die mit brennenden Augen und lechzender Zunge ein Reh umkreisen, das der Blick ihres Herrn ihnen anzutasten verbietet.

Eine Straßentänzerin ist freilich ein Nichts und weniger als Nichts in den Augen hochgeborner Damen. Sie taten, als ob sie gar nicht zugegen wäre, und sprachen von ihr, vor ihr, zu ihr, mit lauter Stimme, als von etwas, das ziemlich unreinlich, ziemlich verworfen und ziemlich niedlich sei. Die Tänzerin war nicht fühllos gegen diese Nadelstiche. Von Zeit zu Zeit färbten sich ihre Wangen mit dem Purpur der Scham, ein Blitz des Zorns entflammte ihren Augen; ein höhnisches Wort schien auf ihren Lippen zu schweben; sie warf verachtungsvoll den Mund auf; doch blieb sie ruhig und heftete auf Phöbus einen Blick der Ergebung, sanft und traurig. Es lag auch etwas von Glück und Zärtlichkeit in diesem Blick. Man konnte glauben, daß sie sich bezwang, um nicht fortgejagt zu werden.

Phöbus nahm die Partei der Zigeunerin mit einer Mischung von Unverschämtheit und Mitleid. »Laß sie reden, Kleine,« sagte er, und ließ seine goldenen Sporen klirren; »allerdings hat Deine Toilette etwas Ungewöhnliches und Wildes, aber da Du ein so niedliches Kind bist, so hat das nichts zu sagen.«

»Mein Gott!« rief die blonde Gaillefontaine aus und bog mit einem bittern Lächeln ihren Schwanenhals zurück, »die Herren Bogenschützen des Königs fangen, wie ich sehe, leicht Feuer an den schönen ägyptischen Augen.«

»Warum denn nicht?« sagte Phöbus.

Auf diese Antwort, die der Kapitän nachlässig hinwarf, lachten sämmtliche Damen. Fleur-de-Lys schloß sich nicht aus, aber zu gleicher Zeit perlte eine Träne des Verdrusses in ihren Augen.

Die Zigeunerin, die ihre Blicke zur Erde gerichtet hatte, erhob sie jetzt strahlend von Stolz und Freude. Sie blickte Phöbus mit brennenden Augen an und war wunderschön und reizend.

Die alte Dame, die sich durch diesen Auftritt beleidigt fühlte und doch die Sache nicht recht begriff, schrie jetzt plötzlich: »Heilige Jungfrau! Was kriecht mir denn da unter meinen Füßen! Ah! das häßliche Tier!«

Es war die weiße Ziege, die ihre Herrin suchte und sich mit den Hörnern in dem Schleppkleide der Edeldame verwickelt hatte. Die Zigeunerin machte sie los, ohne ein Wort zu sagen.

»Oh! Da ist die kleine Ziege mit den goldenen Hörnern!« rief Berangère aus und hüpfte vor Freude.

Die Zigeunerin setzte sich auf den Boden nieder und drückte den schmeichelnden Kopf der Ziege gegen ihre Wange. Sie schien sie gleichsam um Verzeihung zu bitten, daß sie auf solche Art von ihr weggegangen sei.

Inzwischen hatte sich Diane zum Ohre der Colombe geneigt.

»Mein Gott!« rief diese. »Warum habe ich nicht bälder daran gedacht! Das ist die Zigeunerin mit der weißen Ziege; man sagt, sie sei eine Hexe, und ihre Ziege mache sehr wunderbare Kunststücke.« Nun wandte sie sich an das Zigeunermädchen: »laß Deine Ziege ein Wunder tun!«

»Ich weiß nicht, was Ihr damit sagen wollt,« erwiderte die Tänzerin.

»Ein Wunder, eine Zauberei, eine Hexerei.«

»Ich verstehe es nicht,« wiederholte die Zigeunerin und liebkoste die Ziege.

In diesem Augenblicke bemerkte Fleur-de-Lys ein Säckchen von gesticktem Leder, das am Halse der Ziege hing.

»Was ist das?« fragte sie die Zigeunerin.

Die Ägypterin erhob ihre großen Augen gegen sie und antwortete ernst: »Das ist mein Geheimnis.«

Ich möchte dein Geheimnis wohl wissen, dachte Fleur-de-Lys.

Inzwischen hatte sich die gute alte Dame erhoben und sagte ärgerlich: »Heda, Zigeunerin! Wenn weder Du noch Deine Ziege uns etwas zu tanzen haben, was macht Ihr da?«

Das Zigeunermädchen, ohne ein Wort zu erwiedern, wendete sich langsam der Türe zu, aber je näher sie ihr kam, um so langsamer wurde ihr Schritt. Ein Magnet schien sie im Zimmer zurückzuhalten. Plötzlich richtete sie ihre in Thränen schwimmenden Augen auf Phöbus und blieb stehen.

»Beim wahrhaftigen Gott,« rief der Kapitän, »so geht man nicht. Komm zurück und tanze uns etwas. Ei! mein schönes Schätzchen! wie heißest Du denn?«

»Esmeralda!« antwortete sie, ohne den Blick von ihm zu wenden.

Dieser ungewöhnliche Name erregte ein tolles Gelächter unter den Mädchen.

»Ein abscheulicher Name für ein junges Mädchen!« sagte Diane.

»Man sieht wohl,« rief Amelotte aus, »daß sie eine Heidin und Zauberin ist.«

»Mein Kind,« sagte feierlich die alte Dame, »Deine Eltern haben Dir diesen Namen sicherlich nicht aus dem Weihkessel der heiligen Taufe geschöpft.«

Inzwischen hatte die kleine Berangère, ohne daß man auf sie Acht gab, mit einem Zuckerbrod die Ziege in einen Winkel des Zimmers gelockt. In einem Augenblicke waren sie gute Freunde geworden. Das neugierige Kind knüpfte das lederne Säckchen vom Halse der Ziege ab, öffnete es und schüttelte den Inhalt auf den Boden aus. Es war ein Alphabet, dessen Buchstaben, jeder einzeln, in Buchsbaum geschnitten waren. Kaum lagen diese Buchstaben auf dem Boden, so sah das Kind mit Staunen, wie die Ziege mit ihren Pfoten gewisse Buchstaben herauszog und sie in Ordnung legte. Bald hatte die Ziege ein Wort gebildet, auf das sie eingeübt schien, so schnell war sie damit fertig, und die kleine Berangère klatschte in die Hände und rief mit Staunen:

»Pathin Fleur-de-Lys, kommt doch und seht, was die Ziege da gemacht hat!«

Fleur-de-Lys kam, blickte hin und schauderte zusammen.

Die auf dem Boden geordneten Buchstaben bildeten das Wort:

Phöbus.

»Hat das die Ziege geschrieben?« fragte sie mit gebrochener Stimme.

»Ja, Pathin,« antwortete die kleine Berangère, und es war auch keinem Zweifel unterworfen, denn das Kind konnte nicht schreiben.

Das ist also das Geheimnis, seufzte Fleur-de-Lys.

Auf den Ruf des Kindes waren Alle herbeigekommen. Die Zigeunerin sah, welche Dummheit ihre Ziege gemacht hatte. Sie wurde bald roth, bald blaß, und zitterte wie eine Schuldige vor dem Kapitän, der sie mit Verwunderung und einem Lächeln befriedigter Eigenliebe betrachtete.

»Phöbus!« kicherten die jungen Mädchen, »das ist der Name des Hauptmanns!«

»Du hast ein wunderbares Gedächtnis!« sagte Fleur-de-Lys zu der Zigeunerin. »Oh!« fügte sie hinzu, indem sie in Thränen ausbrach und ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckte, »es ist eine Zauberin!«

Ein bitteres Gefühl in ihrem Innern, das sie nicht laut werden lassen wollte, sagte ihr, es sei eine Nebenbuhlerin! Sie fiel in Ohnmacht.

»Mein Kind! Mein Kind!« rief die erschrockene Mutter; »fort Du höllische Zigeunerin!«

Esmeralda raffte schnell die unglücklichen Buchstaben zusammen, gab der Ziege ein Zeichen, und entfernte sich durch die eine Thüre, während man die ohnmächtige Fleur-de-Lys zur andern hinaustrug.

Phöbus, der allein zurückgeblieben war, zeigte sich einen Augenblick unschlüssig zwischen den beiden Thüren, dann folgte er dem Zigeunermädchen.


 << zurück weiter >>