Victor Hugo
Han der Isländer. Band 1
Victor Hugo

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XVIII.

Benignus Spiagudry konnte nicht begreifen, was einen gesunden jungen Mann, der noch viele Lebensjahre vor sich hatte, bewegen mochte, aus freien Stücken einen Kampf mit Han dem Isländer zu suchen. Oft hatte er unterwegs auf diesen Gegenstand angespielt, aber der junge Abenteurer beobachtete über die Ursache seiner Reise das tiefste Schweigen. Auch in andern Beziehungen, welche seinen Reisegefährten betrafen, war der vorwitzige Pedant nicht glücklicher gewesen. Einmal hatte er eine Frage nach der Familie und dem Namen seines jungen Herrn, wie er ihn nannte, gewagt. »Nennt mich Ordener!« war die kurze Antwort, und zwar in einem Ton, der sich jede weitere Frage verbat.

Sie waren schon vier Tage unterwegs, ohne viel Weg zurückgelegt zu haben, theils wegen der durch das Ungewitter zerrissenen Straßen, theils wegen der vielen Um- und Querwege, welche der flüchtige Spiagudry machen zu müssen glaubte, um bewohnte Orte zu vermeiden. Nachdem sie Skongen rechts liegen gelassen, erreichten sie am Abend des vierten Tags das Ufer des Svarbosees.

Ordener hielt an und verlor sich in den Anblick dieser alten druidischen Wälder, welche die felsigen Ufer des Sees bedecken.

»Ganz recht, junger gnädiger Herr!« rief ihm Spiagudry zu. »Vor demjenigen der Seeen Norwegens, welcher am meisten Plattfische enthält, muß sich der Geist in Nachdenken verlieren.«

Ordener, in Betrachtung verloren, gab keine Antwort.

Der gelehrte Schwätzer fuhr fort: »So gerecht auch Ihre gelehrte Contemplation ist, so muß ich Sie dennoch derselben entreißen, um Ihnen in Erinnerung zu bringen, daß sich der Tag neigt, und daß wir uns beeilen müssen, wenn wir den Weiler Oelmö vor Einbruch der Nacht noch erreichen wollen.«

Ordener setzte sich wieder in Marsch. Spiagudry folgte ihm, indem er gelehrte Betrachtungen über den Sparbosee anstellte; »Herr Ordener,« sprach er, »wenn Sie den wohlgemeinten Rath Ihres unterthänigst ergebenen Führers und Wegweisers annehmen wollten, so würden Sie Ihr unseliges Unternehmen aufgeben. Ja, gnädiger Herr, und dann würden wir unsern Aufenthalt an den Ufern dieses höchst merkwürdigen Sees nehmen und uns gemeinschaftlich einer Menge gelehrter Untersuchungen hingeben, als z. B. der über die stella canora palustris, welche sonderbare Pflanze, die viele Gelehrte für fabelhaft halten, der Bischof Arngrim an den Ufern des Sparbo gesehen und gehört zu haben versichert. Dazu kommt noch, daß wir das Vergnügen hätten, denjenigen Fleck Europas zu bewohnen, der am meisten Gyps enthält, und wohin die Spürhunde der Themis von Drontheim nicht leicht kommen. Spricht Sie dieser Gedanke nicht an, mein junger gnädiger Herr? Fassen Sie demnach den Entschluß, Ihrer ohne Nutzen gefährlichen Reise, einem periculum sine pecunia, d. h. einem thörichten, in einem unseligen Augenblicke gefaßten Unternehmen, zu entsagen.«

Ordener gab auf alles Geschwätz seines Reisegefährten nur einsilbige, abgerissene und zerstreute Antworten. So kamen sie in den Weiler Oelmö, in welchem eine ungewöhnliche Bewegung stattfand.

Die Einwohner strömten aus ihren Hütten einem kreisförmigen Hügel zu, auf welchem einige Leute standen, deren Einer in das Horn stieß, während er eine kleine schwarzweiße Fahne über seinem Haupte schwang.«

»Das ist ohne Zweifel irgend ein Marktschreier,« sagte Spiagudry, »ambubaiarum collegia, pharmacopolae, irgend ein Quacksalber, der Gold in Blei und Wunden in Geschwüre verwandelt. Laßt uns sehen, welche Erfindung der Hölle er an diese einfältigen Bauern verkaufen wird! Wenn diese Beutelschneider sich noch auf Könige und Fürsten beschränkten, wie der Däne Borichius und der Mailänder Borri, diese Alchymisten, die unsern guten Friedrich den Dritten so vollständig zum Narren hielten; allein diese Menschen haschen nach dem Pfennig des Landmanns, wie nach der Million des Fürsten.«

Spiagudry irrte sich. Als sie näher kamen, erkannten sie an seiner schwarzen Kleidung und runden spitzigen Mütze einen Gerichtsboten, den etliche Häscher umgaben.

Der flüchtige Spiagudry gerieth in Verwirrung und murmelte vor sich hin: »In der That, in diesem einsamen Weiler glaubte ich nicht auf einen Gerichtsboten zu stoßen. Hilf Himmel! Was wird er wohl ausrufen?«

In diesem Augenblicke erhob der Gerichtsbote seine Stimme:

Im Namen Sr. Majestät des Königs und auf Befehl Sr. Excellenz des Generals Levin von Knud, Gouverneurs, läßt der Oberrichter des Drontheimhus allen Einwohnern der Städte, Flecken, Dörfer, Weiler und Höfe der Provinz kund und zu wissen thun:

1) Auf den Kopf Han's, gebürtig von Klipstadur in Island, Mörders und Mordbrenners, ist ein Preis von tausend Thalern gesetzt.

2) Auf den Kopf des Benignus Spiagudry, Schwarzkünstlers und Heiligthumsschänders, gewesenen Aufsehers im Spladgest zu Drontheim, ist ein Preis von vier Thalern gesetzt.

3) Dieses Edikt soll in der ganzen Provinz in allen Städten, Flecken und Dörfern, Weilern und Hoefen verkündigt werden. Diese Menschen sind vogelfrei, und ein Jeglicher mag ihr Leben nehmen.

Der arme Spiagudry verstummte vor Schrecken, und leicht hätten die Umstehenden seine Verwirrung wahrnehmen können, wenn nicht ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Gerichtsboten geheftet gewesen wäre.

»Einen Preis auf Hans Kopf!« rief ein alter Fischer aus. »Eben so gut könnten sie einen Preis auf den Kopf Beelzebubs, des Obersten der Teufel setzen.«

»Ich möchte Hans Kopf sehen,« sagte ein altes Weib, »um mich selbst zu überzeugen, ob seine Augen ein paar brennende Kohlen sind, wie es heißt.«

»Allerdings, daran ist nicht zu zweifeln,« versicherte eine andere Alte, »denn womit anders, als mit den Augen hat er die Kirche zu Drontheim angezündet? Ich möchte dieses Unthier lebendig sehen, mit seinem Drachenschwanz, seinen Bocksfüßen und Fledermausflügeln.«

»Wer hat Euch diese Mährchen erzählt, gute Mutter?« fiel ein Jäger ein, »Ich habe diesen Han den Isländer in den Schluchten von Medsybath mit eigenen Augen gesehen; er ist ein Mensch wie ein anderer, nur ist er so groß, wie ein vierzigjähriger Pappelbaum.«

»Wirklich,« sagte eine Stimme aus der Menge, deren Ton Spiagudry erbeben machte. Sie gehörte einem kleinen Manne an, dessen Gesicht unter einem breitrandigen Bergmannshut versteckt, und dessen Körper mit Seehundsfellen bedeckt war.

»Mag man,« rief ein rußiger Schmied aus, »tausend oder zehntausend Thaler auf seinen Kopf setzen, mag er vier oder vierzig Fuß groß sein, ich einmal will dieses Geld nicht verdienen!«

»Ich auch nicht,« fügte der Fischer hinzu.

»Ich auch nicht! ich auch nicht!« wiederholten alle Anwesenden.

»Wer Lust dazu hat,« sagte der kleine Mann, »kann Han den Isländer morgen in den Ruinen von Urbar, bei Smiassen, übermorgen in der Grotte von Walderhog finden.«

»Wißt Ihr das gewiß, mein lieber Mann?«

So fragte Ordener und zugleich mit ihm ein kleiner schwarz gekleideter Mann, der bei dem ersten Tone des Horns aus der Thüre des nahen Wirthshauses getreten war.

Der kleine Mann sah sie einen Augenblick an und sagte dann in dumpfem Tone: »Ja!«

»Und woher wißt Ihr das so gewiß?« fragte Ordener.

»Ich weiß so gut, wo Han der Isländer ist, als wo sich Benignus Spiagudry befindet. Weder der eine noch der andere sind in diesem Augenblicke weit von hier.«

Spiagudry zitterte an allen Gliedern, zupfte Ordener am Mantel, flüsterte ihm zu: »Herr, gnädiger Herr, im Namen des Himmels, in Gottes und Jesu Namen, aus Mitleid, aus Barmherzigkeit, lassen Sie uns gehen! Herr, hilf uns aus diesem verfluchten Weiler!«

Der kleine Mann kehrte ihnen den Rücken zu und schien sein Gesicht verbergen zu wollen.

»Diesen Benignus Spiagudry,« rief der Fischer, »habe ich im Spladgest zu Drontheim gesehen. Er ist ein langer Mann, vier Thaler hat man auf seinen Kopf gesetzt?«

»Vier Thaler!« wiederholte der Jäger lachend. »Auf den mache ich keine Jagd. Da gilt ein blauer Fuchsbalg mehr.«

Diese Vergleichung, die ihn zu jeder andern Zeit beleidigt hätte, gereichte diesmal unserem guten Spiagudry zur Beruhigung. Um vier Thaler zu gewinnen, dachte er, werden sich die Leute nicht viel Mühe geben. Gleichwohl bat er Ordener aufs Neue, mit ihm den Ort zu verlassen. Ordener willfahrte ihm in der Hoffnung, den Räuber um so bälder aufzufinden.

»Alter Herr,« fragte er im Gehen, »welches ist denn diese Ruine, in der man morgen, nach der Versicherung des kleinen Mannes, Han den Isländer finden wird?«

»Ich weiß es nicht, ich habe es nicht recht gehört,« erwiederte Spiagudry, der diesmal wirklich die Wahrheit sagte.

»Man muß ihn also erst übermorgen in der Grotte von Walderhog aufsuchen,« fuhr Ordener fort.

»Die Grotte von Walderhog, gnädiger Herr, das ist in der That der Lieblingsaufenthalt Hans des Isländers.«

»So wollen wir unsern Weg dahin nehmen.«

»Dann müssen wir uns links ziehen, hinter den Felsen von Delmö; in weniger als zwei Tagen können wir die Grotte von Walderhog erreichen.«

»Kennt Ihr diesen sonderbaren Mann, der Euch so gut zu kennen scheint?«

»Nein, gnädiger Herr!« erwiederte Spiagudry mit zitternder Stimme. »Nur kommt mir der Ton seiner Stimme so seltsam vor.«

Ordener suchte ihn zu beruhigen: »Fürchtet nichts. Dient mir wohl, ich nehme Euch unter meinen Schutz. Wenn ich Han den Isländer überwinde, so verspreche ich Euch nicht nur Eure Begnadigung, sondern Ihr sollt auch die tausend Thaler haben, welche auf seinen Kopf gesetzt sind.«

So sehr Benignus am Leben hing, so sehr liebte er auch das Geld. Ordeners Versprechen hatte eine magische Wirkung auf ihn. Alle Schrecken wichen auf einmal aus seiner Seele, und in der Freude seines Herzens entwickelte er in vollem Maße jene Geschwätzigkeit, die sich in einem Strome pedantischer Redensarten und gelehrter Citate ergoß.

»Gnädiger Herr Ordener,« sprach er, »sollte ich auch über diesen Gegenstand eine Controverse mit Ower-Bilseuth, sonst auch der Schwätzer genannt, bestehen müssen, so sollte mich dennoch solches nicht abhalten, zu behaupten, daß Sie ein ehrenfester und weiser junger Mann sind; denn was ist in Wahrheit ehrenwerther und ruhmwürdiger, quid cithara, tuba, vel campana dignius, als kühn sein Leben einzusetzen, um sein Vaterland von einem Ungeheuer, von einem Räuber, von einem Dämon zu befreien, in welchem alle Dämonen, alle Räuber und Ungeheuer vereinigt erscheinen? Und nicht durch schmutzigen Eigennutz sind Sie getrieben! Der edelmüthige Ordener überläßt den Lohn seiner That seinem Reisegefährten, dem Greis, der ihn bis zur Entfernung einer Meile zur Grotte von Walderhog geleitet hat, denn Sie werden mir erlauben, junger gnädiger Herr, und es ziemt sich für mein Alter, den Ausgang Ihres berühmten Unternehmens in dem Weiler Surb, als welcher eine Meile weit vom Ufer von Walderhog im Walde liegt, abzuwarten! Und nachdem, o Herr, Ihr glänzender Sieg zur Kunde der Menschen gekommen sein wird, so wird durch ganz Norwegen ein Jubel herrschen, demjenigen ähnlich, als Pharamund, der Geächtete, von dem nämlichen Felsen von Oelmö aus, welchen wir jetzt erklimmen, das große Feuer erblickte, das sein Bruder Halfdan auf den Mauern von Munckholm zum Zeichen der Befreiung hatte anzünden lassen . . .«

Bei dem Namen Munckholm unterbrach ihn Ordener lebhaft: »Wie! Vom Gipfel dieses Felsen erblickt man also die Mauern von Munckholm?«

»Ja, gnädiger Herr, zwölf Meilen südlich zwischen den Bergen, welche unsere Väter Friggas Schemel benamsten. Zu dieser Stunde muss man den Leuchtthurm ganz gut erblicken können.«

»Wirklich!« rief Ordener aus. »Es gibt ohne Zweifel einen Fußweg, der auf den Gipfel dieses Felsen führt?«

»Allerdings beginnt in diesem Walde ein Fußweg, der ziemlich verloren bis auf den kahlen Gipfel des Felsen führt.«

»Zeigt mir diesen Fußweg, alter Herr! Wir wollen oben auf dem Felsen die Nacht zubringen.«

»Was fällt Ihnen da ein, mein gnädiger Herr? Die Ermattung dieses Tages . . .«

»Ich fühle mich kräftig genug, Euch zu unterstützen, wenn Ihr ermattet.«

»Gnädiger Herr, die Baumwurzeln in diesem unbetretenen Pfade, sodann die losen Steine, sofort die Finsterniß der Nacht . . .«

»Ich will vorangehen.«

»Ferner die wilden Thiere, kriechendes Gewürm, irgend ein entsetzliches Ungeheuer . . .«

»Ich fürchte die Ungeheuer nicht, sonst hätte ich diese Reise nicht unternommen.«

»Mein theuerster junger Herr, glauben Sie einem alten, erfahrenen, getreuen Diener und Wegweiser, welcher eine Ahnung hat, daß die Ausführung dieses Plans uns Unglück bringen wird . . .«

»Vorwärts, alter Schwätzer, und bedenke, daß Du mir versprochen hast, mir dienstlich zu sein!« rief Ordener ungeduldig aus. »Zeige mir diesen Fußweg, wo ist er?«

»Wir werden sogleich dahin einlenken,« sagte der furchtsame Spiagudry, sich in das unvermeidliche Schicksal ergebend.

Bald kamen sie an den bezeichneten Fußpfad, und Spiagudry bemerkte mit Staunen und Entsetzen, daß das hohe Gras frisch zusammen getreten war, und daß irgend Jemand den alten Fußsteig Pharamunds des Geächteten erst kürzlich passirt haben mußte.


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