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Der Anfang

In einem Turmzimmer der Feste Wolfstein saß der Kaplan und las seinen Virgil. Er nannte sich Magister Vulpesius und war ein Italiener.

Der Graf vom Wolfstein hatte eine Pilgerfahrt nach Rom gemacht und eine Römerin aus adeligem Geschlechte heimgeführt. Sie war in geistigen Bestrebungen aufgewachsen und wollte ihren Lehrer nicht missen. So war er aus der Sonne Italiens in den Nebel der Harzberge übergesiedelt, wo er den blauen Himmel im Hochsommer seltener sah als im römischen Dezember. Die Stelle eines Kaplans war ohnehin offen gewesen, es wurde nicht gesagt, seit wie lange.

Zwei Jahre später lag die junge Edelfrau unter der Steinplatte. Ein Jahr vor ihrem Tode hatte sie einen Sohn geboren, der war nun zwanzig Jahre alt. Er hatte ihn unterrichtet wie vordem seine Mutter.

Der junge Graf Otto war außer seinem jüngeren Halbbruder Theodulf der einzige auf dem Wolfstein, der an Künsten des Friedens mehr gelernt hatte als Lesen und Schreiben. Der blonde Theodulf hatte die Wissenschaften zwar gemächlich betrieben, aber doch betrieben. Lieber als die Bücher waren freilich auch ihm sein Schwert und seine Armbrust, nicht zu vergessen der volle Humpen. Der Kaplan fühlte sich insgeheim noch immer als ein Ovidius unter den Barbaren. Nur sein Schüler Otto war ihm ans Herz gewachsen. –

Es war ein schwüler Septemberabend.

Die Burg lag auf einem Vorberge. Nach Norden hin war offenes Land, Felder und Wiesen der Herrschaft Wolfstein. Die Sonne stand schon hinter den Bergen. Es wurde zu dunkel zum Lesen.

Der Alte stand auf und blickte zu den Bergen hinüber, die ihm von der kargen Sonne dieses Landes im Laufe der Jahre so viel noch entzogen hatten. Das Gebirge war ihm nie etwas anderes gewesen als getürmte Finsternis.

Nun kamen die Monate ohne Licht. Unten die Ritter schlugen den kleinen Teil der Zeit, den man nicht verschlief, mit Lärmen und Zechen tot. Er war auf seine Bücher und seinen Schüler angewiesen. Der Winter lag vor ihm wie ein graues Schweigen.

Aus dem dunkeln Wald trat eine helle Gestalt, der junge Graf Otto. War also wieder in den Wäldern umhergelaufen. Er schüttelte traurig den Kopf. Wie konnte ein Mensch von gesunden Sinnen und gar von höherer Bildung, wie konnte sein, des Magisters Vulpesius Schüler, so völlig von allen Genien verlassen sein, daß er zu seinem Vergnügen auf die Berge stieg!

Er gedachte seiner eigenen Jugend. Vanitas, omnium vanitatum vanitas! Aber auf die Berge war er denn doch nicht gestiegen …

»Woran dachtet Ihr, lieber Magister?« fragte der junge Mann.

Der Magister betrachtete ihn mit Wohlgefallen. Eine schlanke Gestalt, ein bartloses Gesicht, die Züge regelmäßig wie der Marmor der Antike, die Gesichtsfarbe gelblich getönt, schwarze wellige Haare, große leuchtende Augen. So mochte der Fernhintreffer Apollo dastehen, nur daß der Junker statt des edlen Bogens die fade neuzeitliche Armbrust führte.

Man durfte den Knaben nicht eitel machen.

»An Rom dacht' ich,« sagte er, »und an die Torheit meiner Jugend. Mir war das höchste Glück des Sterblichen beschieden, ich atmete die Luft der ewigen Roma, des Hauptes der Welt. Es erschien mir aber nur wie ein Restlein Asche von der alten Herrlichkeit, da über das Forum die Stimme des göttlichen Cicero hallte. Ach und weh, was soll ich heute sagen?«

»Wir zwei treten wohl zu guter Stunde die Pilgerfahrt an,« tröstete der Junker.

Näher ging er für jetzt auf das Thema nicht ein. Unzählige Winterabende hatten sie mit dem Ausmalen der Romfahrt hingebracht, und die Sehnsucht hatte sich auch ihm tief ins Herz gelegt. In der warmen Jahreszeit gab es doch auch hier so manches, das ihn freute. Er nahm von dem Gesimse einen Zinnbecher. Auf dem Tische stand ein gefüllter Wasserkrug. Er goß Wasser in den Becher und tat einen Strauß kleiner dunkelblauer Glockenblumen hinein.

Der Alte fragte verwundert: »Was treibt Ihr für Allotria, Junker Otto?«

Der setzte sich auf die Bank, betrachtete die Blumen und sagte träumerisch: »Taten mir leid, die Blümlein. Hoch oben fand ich sie, wo einst ein Kohlenmeiler gestanden hat. Ihrer tausend und mehr. Blühten da still und einsam. Warum läßt Gott sie so holdselig erblühen, da doch niemand kommt und sich ihrer freut?«

Dem Alten war wunderlich zu Sinne. Sein Junker war anders als er und alle, die er kannte.

»Ihr seid der Blumen doch froh geworden,« warf er ein.

Otto schüttelte den Kopf: »Nein, sie haben mich traurig gemacht. Möcht' wissen, warum.«

Der Magister setzte sich zu ihm. Er sann. Zuletzt sagte er leise: »Eure Mutter brachte im ersten Sommer zuweilen Blumen in die Burg und setzte sie auf Simse und Tische. Blümlein, wie diese und andere. Wußte sie kunstvoll nach Form und Farbe zusammenzubinden. Euer Vater sah sie nicht. Da ließ sie am Ende davon ab.«

»Sie hatte wohl auch sonst wenig Freude?« sagte der Junker düster.

Der Alte erwiderte wehmütig: »Sie sang zur Laute, las in Büchern und betete. Die Laute ließ sie freilich bald liegen, und das Singen hörte noch eher auf.«

Der Junker sagte still verbissen: »Möcht' wissen, weshalb sie ihm gefolgt ist?«

»Hatt' ihn eben lieb,« meinte der Alte.

Sie saßen beide und schwiegen. Es war ganz dunkel geworden. Endlich sagte der Magister in Erinnerung versunken: »Er schritt gewaltig unter den Römern, wie ein Kriegsmann aus dem Geschlechte der Fabier, der Wölfe der alten Roma. Die Ritter des Vatikans waren spielende Knaben neben ihm. Er sprach selten und lachte nie.«

»Die Jahre haben ihn nicht wortreicher noch fröhlicher gemacht,« sagte der Junker.

Der Alte nickte: »Er war auch damals eher zum Fürchten als zum Lieben. Aber der Frauen Liebe ist ein tiefes Wasser. Niemand sieht den Grund.«

Der Junker wühlte in seinem Groll: »Wollte Gott, die vom Wolfstein wären doch mindest zu fürchten. Der Vennburger hat sich losgesagt. Konnt nicht anders kommen. Wer läßt sich wie ein Hans Narr behandeln?

Nun hält noch der dicke Beuchter zu uns, daß Gott erbarm! Wie stets mit pro memorian, das Reichskammergericht, Herr Magister?«

Die Herrschaft war einem Nachbar, dem Grafen von Stapelburg, verpfändet. Der Gläubiger nahm das Recht des Fischens und Jagens in Anspruch. Das gab Händel. Nun wollte der Wolfsteiner das eben eingesetzte Reichskammergericht anrufen.

Der Alte lächelte säuerlich: »Ei, das steht nicht schlechter als der dicke Beuchter, daß Gott erbarm! Bin kein Rechtsgelehrter, kenne die Floskeln nicht, die Curialia. Kann auch nicht mit ganzem Herzen bei der Sache sein, denn ich weiß wahrhaftig nicht, ob das Recht so klar – o horcht, Junker, Eure Brüder und ihr Troß! So treiben sie's Tag für Tag und wollen christliche Ritter heißen!«

Eine Stimme, heiser vom Schreien und Trinken, überjohlte die anderen: »Hüpf, Jörge, hüpf! Ausruh'n darfst hernach, die ganze Ewigkeit!«

Ein brausendes Gelächter. Der Junge sprang auf und stürzte die steile Treppe hinunter.

Der Magister trat ans Fenster. Rote Fackeln. Da stießen sie den alten Jörge über die Zugbrücke. Hatten ihn also endlich gefaßt, den alten Wilddieb. Der hatte sein Schicksal verdient.

Was wollte der Junker Otto, der Zögling der Musen, unter dieser Rotte Korah? Der Magister kehrte mißmutig zu seinem Virgil zurück.

Unten standen die Brüder feindselig widereinander.

Man wußte noch nicht, was Otto wollte, nur das eine sah man, daß er den Spaß wieder irgendwie stören wollte.

Otto wußte selbst nicht, welches Weh und welcher Zorn ihm die Seele zerschnitten. Die Brüder waren im Rechte, und daß ein Gefangener nicht ohne peitschende Hohnworte ins Verlies gestoßen wurde, war Brauch.

Dennoch wußte er nur zu sagen: »Tut mit ihm, was Rechtens ist, aber das ist nicht Rechtens, daß ein armer Sünder verhöhnt wird.«

Die Brüder fragten unwirsch, weshalb man zu einem Schelm nicht Schelm sagen sollte?

»Deshalb nicht, weil wir christliche Rittersleute sind,« sagte Otto unzufrieden.

Er hatte ein Gefühl, als hätte er sich verrannt. Da sagte der bedächtige Theodulf: »Wenn dein Spruch lautet, weil wir Edle sind und Jörge ein Höriger, sprichst du wahr. Hol' einer den Vater, daß ein Ende wird.«

Der, den dies alles am nächsten anging, ein gebückter weißhaariger Bauer, mit einer Haut wie zerschlissenes Pergament, regte sich nicht. Nur die scharfen Augen, Pupillen nicht größer als Nadelknöpfe, blickten rastlos von einem zum anderen. Nichts von allem, was vorging, bewirkte die geringste Änderung in seinen Mienen.

Der Burgherr trat vor ihn. Er war sein vollkommener Gegensatz; eine aufrechte Hünengestalt mit lang herabhängendem Doppelbart.

»Das drittemal, Jörge,« sagte er stirnrunzelnd. »Was hab' ich dir verkündet?«

Es dauerte lange, bis Jörge ein Wort herausbrachte. Der Burgherr wartete. Er kannte das und hatte keine Eile.

Die Antwort klang nicht leise noch ängstlich, aber mühsam, als wäre die Zunge aus Mangel an Übung steif geworden.

»Weiß nicht, gnädiger Herr Graf. Ist lange her. Das erstemal noch länger. Wurde noch vor den gnädigen Herrn Vater gebracht.«

Der Burgherr strich den Bart, ein Zeichen, daß er zur Milde geneigt war. Auch deshalb, weil ein Schütze wie dieser in der Not gute Dienste leisten konnte.

»Wohlan,« sagte er, »es ist lange her, das hat dich sicher gemacht. Die Wahrheit will ich wissen. Bei deiner Seele Seligkeit, Jörge, es war nicht der erste Schuß unter diesem Neumond?«

Es zuckte wie Rattenschlauheit über das graue Gesicht.

»Ho,« sagte er zwinkernd, »meiner Seele Seligkeit ist wohl aufgehoben. Brauch' keinem Pfaffen zu beichten. Hab' ich ein Wild geschossen, gehört's dem von Stapelburg.«

Der Graf ballte die Faust und rief mit dröhnender Stimme: »Hinab mit ihm! Der Hund soll die Sonne nicht sehen!«

Er ging mit schweren Schritten hinein.

Theodulf sagte ernst: »Hast es vernommen, Jörge? Die Sonne geht auf zwischen der fünften und sechsten Stunde. Bringt ihn hinab, sorgt, daß es um die fünfte Stunde getan ist. Verfahrt aber säuberlich mit ihm, er schadet nicht mehr.«

Sie stießen ihn hinab. –

Der arme Sünder kauerte auf dem harten Steinboden in einer Finsternis, die auch sein adlerscharfes Auge nicht durchdrang. Das hatte nichts auf sich, er sollte vor Sonnenaufgang das ewige Licht sehen, ohne Beichte und Absolution. Das verdankte die Welt dem Doktor Martinus, daß man ohne die Pfaffen selig wurde, wenn man den rechten Glauben hatte. Den hatte er. – Eine Stunde war herum, – noch sieben. – Er schreckte auf. – Wenn der Doktor Martinus ein Betrüger war? – Das fuhr ihm in die Glieder.

Wenn er an das Himmelstor pochte und Sankt Petrus schnaubte ihn an: »Jörge, du Narr, hast du dem Luther geglaubt, so siehe, wo du bleibst, ich öffne dir nicht!«

Der kalte Schweiß brach ihm aus.

Wenn der Doktor Martinus ein Betrüger war! Er hörte kommen. Zwei Knechte.

Wollten sie ihn abtun wie ein Tier, ohne Beichte und Absolution?

Er schrie auf.

Die Knechte lachten: »Was heulst, Jörge, pfeif dir ein Lied, wir bringen's dazu. Herrschaftlich Brot und was Besseres als Wasser. Junker Theodulf schickt's, sollst dich lustig machen die letzte Nacht.«

Sie steckten einen Kienspan in den Ring und ließen ihn allein.

Recht hatte der Junker Theodulf, das schwüle Wetter machte durstig.

Wein, wahrhaftig! Jörge kannte sich aus, er hatte zweimal Wein getrunken, auf den beiden Hochzeiten des gnädigen Herrn. Der Junker Theodulf! Der wußte, was sich schickte.

Ohne Beichte und Absolution?

Der Jörge war nicht von gestern.

Er hämmerte an die Tür und schrie. Die Knechte kamen und fragte«, ob er schon voll sei.

»Wollt ihr mich abtun wie ein Vieh?« fragte er dagegen. »Der Herr Kaplan soll kommen.«

Die Knechte lachten ihn aus, allein sie besannen sich, daß sie säuberlich mit ihm umgehen sollten. Man konnte nicht wissen, was der Junker Theodulf sagen würde. Einer ging, um den Kaplan zu suchen.

Jörge blieb vergnügt bei seinem Wein. Ihm konnte nichts geschehen. War der Doktor Martinus ein Betrüger, so hatte er vorgesorgt, und sprach er die Wahrheit, so schadete es doch nicht.

Der Kaplan und Otto ergingen sich im Burghofe. Vom Saal her tönte Lachen und Jauchzen.

»Sie toben wie die Heiden,« sagte der Alte. »Daß mich mein Unstern in diese Wüstenei geführt hat! Wär's nicht um Euch, morgen schnürt' ich meinen Ranzen. In Rom, Junker Otto, da vergeudet kein adliger Herr die Stunden mit Zechen, da ergötzt er sich mit klugen und gelehrten Gesprächen. Da sitzt er nicht um diese Zeit im dumpfen Saal, wo Fackelrauch die Augen beißt. Da braucht er sich freilich auch nicht im kahlen Burghof zu ergehen; da wandeln edle Frauen und weise Männer in herrlichen Gärten, unter Palmen und Rosen, da plätschern die Brunnen – was gibt's?«

Der Knecht bestellte das Ansinnen des Verurteilten.

Der Magister sagte gemessen: »Im Dorfe rast die Pest der lutherischen Ketzerei. Dieser Jörge war einer der ersten, die abfielen. Hat ihn Reue erfaßt?«

Der Knecht grinste: »Mehrenteils Wein, Hochwürden!«

»Hinweg,« zürnte der Magister. »Gibt sich ein frommer Knecht zum Boten eines trunkenen Ketzers her?«

Der Junker sagte leise: »Er sieht die Sonne nicht aufgehen.«

»Das Himmelslicht geht auch dem Schlachtvieh auf ewig unter,« erwiderte der Magister kalt. »Er bekehre sich oder fahre dahin.«

Der Knecht verschwand.

Der Magister wollte das Gespräch über die Wonnen Italiens fortsetzen. Der Junker hörte ihn nicht. Da kam's.

Ein langgezogenes Heulen, unten aus der Tiefe, als öffnete sich die Erde, und ein Schrei aus der ewigen Verdammnis tönte herauf.

»Hört seine arme Seele,« sagte der Junker angstvoll. »Bitt' Euch, gebt ihr den Frieden!«

Der Magister wurde unruhig, allein er blieb dabei, mit einem Ketzer habe er nichts zu schaffen.

»Ich will mit ihm reden,« erklärte der Junker. Die Knechte leuchteten ihm die Stufen hinab. Einen Augenblick zögerte er und lauschte.

Aus dem Heulen war ein Winseln geworden. Er trat hinein.

Der Verurteilte kauerte in der Ecke. Er rührte sich nicht.

»Hast wohl Ursache zum Weinen,« sagte der Junker streng. »Ehe die Sonne aufgeht, stehst du da, wo kein Heulen und Winseln mehr frommt.«

»Der Kaplan soll kommen,« winselte der Alte.

»Wie darf er kommen, solange du ein Ketzer sein willst?«

Jörge hörte auf zu wimmern. Ein Mensch war bei ihm, er war nicht mehr allein mit seiner Angst.

»Bin ich ein Ketzer,« sagte er hinterhältig, »so gibt's ihrer vieltausend in Deutschland. Ihr seid gelehrt, Junker Otto. Habt Ihr es urkundlich, daß der Doktor Luther ein Betrüger ist?«

Otto antwortete feierlich: »Auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen, spricht der Herr. Der Felsen war Petrus. Petrus war der Erste der Päpste. Jörge, Jörge, es ist an der Zeit! Sorge für deine arme Seele!«

Jörge duckte sich wie vor einem Blitz aus Wetterwolken. Zog nicht schon der Donner des Weltgerichtes herauf?

Der Junker hatte recht, es war an der Zeit. Aber wenn der Doktor Martinus doch kein Betrüger war?

Wenn er gerade den verleugnete, den Gott gesandt hatte!

In der höchsten Not kam Rat. Er sagte schlau: »Wär' ich ein Ketzer, wie verlangte ich nach Beichte und Absolution? Schafft mir den Pfaffen! Will's Euch danken in der Ewigkeit, Junker Otto.«

Der sah ihn mit seinen großen Augen an und sagte mitleidig: »Jörge, du sorgst, fürcht' ich, schlecht für deine arme Seele. Sollst aber deinen Willen haben, wenn ich etwas vermag.«

Dem Kaplan leuchtete die Beweisführung des Armensünders ein, vielleicht aus einem tiefinnerlichen Verständnis für dialektische Kunststücke in Sachen des Glaubens.

Die feuchten Mauern, schwärzlich glänzend in dem düsteren Feuer des Kienspanes, hallten von der eintönigen Litanei.

Das kümmerliche Menschenwesen, das morgen ausgelöscht sein sollte, kniete ergeben auf dem Steinboden. Jörge war beruhigt, er hatte vorgesorgt. Nach der Plage und Dürftigkeit dieses Lebens wartete sein die ewige Freude im goldenen Himmelssaal.

Die Handlung war bald beendet, der Kaplan hatte es eilig, aus diesem greulichen Loche zu kommen. Otto zögerte.

»Wohlan, Junker Otto,« mahnte der Kaplan, »hier ist nicht gut sein!«

»Ich folge Euch,« sagte der Junker.

Der Kaplan machte, daß er hinauskam.

»Jörge,« sagte Otto, »des Priesters Werk ist getan. Nun sorge du, daß es nicht in den Wind getan sei!«

Jörge sah ihn mit seinen scharfen Augen an und erwiderte bedächtig: »Ein Geweihter, und hätte sein Werk in den Wind getan? Wundert mich, daß Ihr so redet, Junker Otto. Hier sind zwei Fälle. Nummer eins: Der Doktor Luther spricht die Wahrheit. So wär' ich ein Narr, wollt' ich ihn im letzten Stündlein verleugnen. Nummer zwei: Der Doktor Luther ist ein Ketzer. So hat der Kaplan meine Seele kraft Amtes losgesprochen. Ob er daran wohlgetan hat oder übel, was geht das mich an? Bin nur ein Bauersmann, kein Geweihter Gottes. Sehe jeder, wie er seines Amtes walte vor dem Herrn.«

Otto sagte bekümmert: »Das ist das Übel, daß viele unter uns meinen, des Priesters Werk täte alles, wie auch die Seele in Sünden beharre. Was hilft's aber, daß ich mit dir rechte? Ehe die Sonne aufgeht, wirst du mehr wissen als ich. Armer Jörge, ich fürchte sehr, wenn du mir im Traum erscheinst, und wir halten Zwiesprach miteinander, wirst du seufzen: Weh', Junker Otto, daß Ihr recht hattet!«

»Ho,« sagte Jörge unruhig, »Ihr werdet mich nicht sehen. Gibt wem anders, dem ich erscheinen möchte. Bitt' Euch, holt mir mein Enkelkind, den Heinz. Nur auf ein Viertelstündlein.

Hab' nichts Böses vor, Junker Otto. Glaubt ihr, der Jörge wäre so dumm, daß er sich zu guter Letzt noch mit Sünde belüde, nach Beichte und Absolution?« – – –

Der Kaplan wandelte unter den Sternen und wartete auf seinen Schüler. Nun begab er sich enttäuscht in seine Kammer. Dies war von allen Seltsamkeiten des Junkers die unbegreiflichste. Für den gebildeten Geist konnte doch nur der Wahlspruch des Horatius gelten: Odi, profanum volgus et arceo!

»Seht Euch vor, Junker,« sagte der Torwächter. »Die im Dorfe sind aufsässig.«

»Mir geschieht nichts,« antwortete er.

Es wehte kein Luftzug. Der Mond stand in roter Glut über den dunklen Bergen.

Von dem Wirtshause, dem ersten Hause des Dorfes, ertönte ein surrendes Geräusch. Es schwoll im Näherkommen an zu einem Gewoge von erregten Stimmen. Einer schrie etwas, worin das Wort Junker Otto vorkam.

Eine Stille. Ein wilder Schrei. Heftige Worte hin und wider.

Es war sein Leben, um das sie stritten. Die Verblendeten! Sie tobten nur widereinander. Was vermochten sie wider Gott? Sein Werk war fromm, es war ein Werk der Liebe.

Der Weg war lang. Etwas beklemmte ihm die Brust.

Er wußte, was es war.

Das taten nicht die Bauern, das tat der Mond, der so riesengroß und blutigrot am schwarzen Himmelsgewölbe hing. – – –

Jörge hauste in seinem einstöckigen Anwesen mit einer Schwiegertochter und Enkelkindern. Seine Frau und seine Kinder hatte die Pest geholt.

Aus dem kleinen Gehöfte ertönte das Heulen eines Hundes.

Vielleicht litt das Tier unter der Schwüle des Abends, vielleicht witterte es den Jammer des Hauses.

Der Junker gedachte, daß der, dem dies Häuschen gehörte, dem Henker verfallen war. Und daß er dann vor einem Richter stehen würde, besten Grimm fürchterlicher war als die grausamste Menschenfolter, grenzenlos wie seine Gnade.

Der Hund schlug an.

Die Haustür öffnete sich. Der sechzehnjährige Heinz, den er holen wollte, erschien auf der Schwelle. Er prallte zurück, verschwand und sprang wieder vor mit gespannter Armbrust.

Der Junker sagte ruhig: »Heinz, dein Ahn verlangt nach dir. Er hat gebeichtet und ist losgesprochen. Tu' die Waffe ab, sie möcht' ihm unfromme Gedanken erregen.«

Der Knabe blickte finster.

Seine Mutter trat aus der Tür und sagte kurz: »Heinz, laß ab!«

Sie stand vor dem Junker und rang nach Worten. Rauh kam es heraus: »In Salzburg hat ein Mann des Bischofs einen Hirsch gewildert. Der Bischof hat ihn in das frische Fell gesteckt. Des Bischofs Hunde haben ihn zerrissen. Den Mann im Hirschfell. Des Bischofs Hunde. Welchen Todes laßt ihr Vater Jörge sterben?«

Der Junker flüsterte mit bleichen Lippen: »Weib, lästere nicht! Das ist eine Lüge der Lutherischen!«

»Herr, welchen Todes laßt Ihr den Vater sterben?«

Er sagte erschüttert: »Sei ruhig, dein Vater Jörge soll keine Marter dulden. Mein Bruder Theodulf will es nicht und ich auch nicht.«

Die Frau wandte sich ab und weinte.

Er hatte sie gekannt, als sie eine blutjunge Frau gewesen war. Das war lange her. Wie bald hatten Dürftigkeit und harte Arbeit sie häßlich gemacht!

Der Gedanke kam ihm, dem armen Volke wäre zuviel auferlegt.

Er entsetzte sich. War das nicht ein Frevel gegen den Allgütigen?

Da sagte er düster: »Ihr fragt und jammert um Zeitliches. Was wiegt alle Todesnot gegen die ewige Verdammnis?

Besser fragtet ihr, wie es um seine Seele bestellt ist.«

Die Frau sah ihn an und sagte ruhig: »Ihr seid jung, Herr, Ihr wißt nicht, wie uns Armen zumute ist. Will der Vater den Heinz sehen, und wollt Ihr ihn zu ihm führen, sollt Ihr Dank haben. Heinz, gib mir die Armbrust, sie gedeiht dir nicht.«

Unterwegs fragte der Junker: »Du weißt mit der Armbrust umzugehen, du magst wohl auch lernen, wie man die Hakenbüchse richtet. Ich kenne dich schlecht, wenn du nicht zuweilen im Traum die Werbetrommel hörst?«

Es flog wie ein Leuchten über das Gesicht des Knaben. Er wollte reden, besann sich und kniff die Lippen zusammen.

»Wollte Gott,« fuhr der Junker fort, »euer Luther hätt' uns den Krieg wider den Türken nicht vereitelt. Weiß einen, der wär' auch nicht zu Hause geblieben.«

»Das ist nicht wahr,« brauste Heinz auf. »Doktor Martinus hat das nicht getan!«

Der Junker sagte kalt: »So weißt du mehr als ich von den Händeln der Welt.«

Er blieb stehen und zog sein Schwert: »Hei, wollt ihr blutige Köpfe?«

Die Bauern waren mit Piken und Stangen aus dem Wirtshaus gestürmt und verlegten ihm den Weg. »Gebt den Heinz heraus,« schrien sie, »oder Ihr sollt sterben!«

»Ihr Narren,« rief der Junker. »Fragt ihn, ob ihm ein Zwang geschieht!«

Der Knabe schüttelte den Kopf.

Sie zögerten. Ein Raunen ging hindurch, dann schrien sie: »Jörge! Gebt den Jörge frei!«

Der Haufe verschob sich seitwärts; sie wollten ihn umgeben. Offenbar gedachten sie, sich seiner als Geisel zu bemächtigen.

Er zog den Knaben an sich, hielt sein Schwert über ihm und rief: »Gebt Raum, oder dieser ist des Todes, beim ewigen Gott!«

Sie wichen zur Seite. In seinen Augen war etwas, das sie bestürzt machte.

»Voran, Heinz!« befahl er.

Das Wirtshaus lag hinter ihnen. Er war außer Gefahr; wenn er rief, waren die aus der Burg bald unten. Doch war ihm noch schwerer zu Sinne als vorhin. Es machte ihm Pein, daß er den unschuldigen Knaben im Zorn hatte umbringen wollen. Denn es war ihm ernst gewesen, was ihm selbst auch geschehen wäre. Am Ende tröstete er sich damit, daß er unwillkürlich, ohne Besinnen gehandelt hatte, also auf göttliche Eingebung. Gott war mit ihm gewesen, nicht mit den aufrührerischen Bauern. –

Der finstere, auch bei diesem trockenen Wetter feuchte Raum war von Weindunst erfüllt. Den leeren Krug im Arm, lag Jörge auf dem Steinboden und schlief.

Der Junker sah mit zusammengezogenen Brauen auf die trostlose Gestalt hinab.

Fünf Stunden diesseits der Ewigkeit!

Unwillkürlich wandte er sich um.

Der Knabe war in dieser Minute alt geworden. Aus seinen Augen starrte ein Grauen, wie es das Entsetzliche des Lebens einschreibt.

»Nicht wecken,« bat er mit schwerer Zunge.

Der Junker fühlte eine Erleichterung. Das war wirklich das richtigste.

Dennoch, es mußte geschehen. Sonst verfolgte ihn bis an sein Ende das Gespenst eines kümmerlichen Alten mit einem Strick um den Hals und winkte den Leuten zu: Graf Otto vom Wolfstein hat einem armen Sünder sein Ritterwort gebrochen!

Jörge erwachte von selbst. »Ei was,« brummte er noch im Traum, »ich habe meine Absolution.«

Otto sagte hart: »Auch für den Weinrausch?«

»Bin nicht berauscht,« erwiderte Jörge. Er war ganz wach geworden und stand auf: »Bin fest auf den Füßen!«

»Du hättest sollen wachen und beten,« sagte der Junker düster.

Der Alte sah ihn an. Es war derselbe ruhige Blick, mit dem ihn vorhin die Frau angesehen hatte.

»Ist das Euere Meinung,« sagte Jörge, »so meint wohl Euer Bruder Theodulf anders. Dem Bauern von Wolfstein tut Reue und Buße nicht not, dieweil ihm Gott der Herr sein elend Leben zugute rechnen wird.«

Der Junker fuhr auf. Er wollte heftig erwidern. Jörge stand in seiner gebückten Haltung vor ihm und sah ihn mit dem seltsam ruhigen Blicke an, der so schwer zu ertragen war.

Der kümmerliche Alte richtete sich auf, wuchs riesenhaft in die Höhe, sprengte die Mauern und stürzte den Wolfstein zu Trümmern. Ringsum züngelten die Flammen …

Das Gesicht war vorüber.

Der Junker sagte betroffen: »Was hilft's, widereinander zu eifern? Drücken wir euch über die Maßen, so wird uns Gottes Mühle zermahlen. Wüßt' aber nicht, daß die Leute vom Wolfstein übler daran waren als anderswo.«

Der Alte zwinkerte: »Dünkt Euch das nicht übel genug? Schickt sich wohl mit der Zeit, daß Ihr ausfahrt in die weite Welt. Dringt wohl gar bis ins Türkenland. Da mögt Ihr finden, daß man Christenmenschen übler schindet. Oder auch nicht, wie's trifft. Was rollt Ihr die Augen, Junker Otto? Glaubt Ihr, der Jörge belüd' sich mit Lüge, fünf Stunden vor der Ewigkeit?«

Den Junker überlief ein Schauder. Dieser Mensch stand im Begriffe, Klage vor dem Weltenrichter zu erheben wider das Geschlecht derer vom Wolfstein. Die vor ihm gestorben waren und die nach ihm sterben würden, alle Hörigen vom Wolfstein, alle, alle würden ihre Geisterstimmen erheben und klagen.

Da richtete er sich auf und sagte stolz: »Was hab ich mit dir zu schaffen? Der Ewige richte zwischen euch und uns! Mach ein Ende! Hast du mit deinem Enkel zu reden, was niemand hören soll, auch das sei dir gewährt.«

»Habt Ihr's eilig,« erwiderte der Alte, »so hab' ich's eiliger. Bin müde, will schlafen. Will mich stärken fürs Weltgericht. Hör' an, Heinz. Wer hat dich gelehrt mit der Armbrust hantieren, dem Wilde den Wind abfangen? Brauchst nicht bang' zu sein. Junker Otto überantwortet dich nicht um das, was getan ist. Hinfort aber sollst du die Bolzen ruhen lassen, außer zur Übung im Hof und im Dorf, daß du die Kunst nicht verlernst. So sollst du sieben Jahre lang. Ich, dein Ahn, will nicht, daß du auch dem Henker verfallest. Wenn aber sieben Jahre um sind, sollst du schießen nach Herzenslust. Wird ein großes Jagen sein. Der Bauer zieht zur Pirsch, sagt ein Edelwild, desgleichen keiner vom Adel nie eins erlegt hat. Brichst du mein Gebot, so will ich dich warnen sechsmal. Hast du den siebenten Schuß getan, steig' ich heraus und hol' dich, ehe der Henker dich holt. Geh nun heim, Kind Heinz, der Ahn will seine Ruhe haben.«

In der Burg war der Tag verstummt. Die weinschweren Mannen schliefen eng zusammengepfercht, wie es der karge Raum verlangte. Die Schwüle lag bleiern über der Erde.

Otto stand am Fenster im Turm, wo er mit seinem alten Lehrer hauste. Auch der lag im tiefen Schlafe. Der Mond hing in der schwarzen Ode des Raumes. Durch das Schweigen der Nacht klang ein fernes Wimmern. Es war Jörges Hund, der nach seinem Herrn heulte.

Der Druck auf der Brust war nicht mehr zu ertragen. Otto riß das Wams auf, warf sich aufs Bett und fiel in bleiernen Schlaf. –

Auf der Wiese zwischen der Burg und dem Dorfe waren Rehe. Der Knabe, der in wilder Hast den Weg hinablief, blieb stehen.

Die Wiese lag rechts vom Wege.

Rechts, von Osten, kam der Wind.

Er schlich sich heran.

Die Rehe ästen ruhig fort.

Nahe, immer näher.

Die Armbrust! Oh, wenn er seine Armbrust hätte!

Der Ahn lebte noch, könnt' ihm nicht erscheinen.

Die Mutter würde ihm die Waffe verweigern.

Morgen war es zu spät, da würde der Ahn aus dem Grabe steigen und ihn toll machen.

Christel Hage würde den Bock holen. Mit dem hatte er auch immer zu stechen beim Vogelschießen.

Er scheuchte und hetzte das Rudel, daß es aufstäubte und im Walde verschwand. –

Auch über Jörge lag der bleierne Schlaf.

Ja, nun ging es zum Himmel.

Vorüber an tausend Sternen.

Der große war der Mond.

Dieser mußte die Sonne sein, er blendete.

»Auf, Jörge, hier hilft kein Sperren!«

Heiser klangen die Stimmen, die Augen waren blutunterlaufen.

Sie rissen ihn die Treppe hinan.

An der Eiche stand die Leiter.

»Eil dich, Jörge, die Sonne will aufgehen!«

Was war es groß; er hatte seine Absolution.

»Sollen wir dir Beine machen?«

Hurtig kletterte er hinauf.

Jählings blitzte eine schreckhafte Klarheit in ihm auf, die Gewißheit, daß all sein Denken über den Tod falsch war.

Er hob die Arme …

In der zweiten Hälfte der Nacht hatte sich die Luft abgekühlt. Die Sonne kam hinter einem zarten Schleier. Leise legte sie ihn ab und stand golden am Himmel.

Jedes Blatt und jedes Steinchen glitzerte festlich im Tau.

Wie frisch gebadet lagen die Fluren um den Burghügel. Allenthalben lösten sich feine Silberwölkchen und zergingen in der klaren Luft.

Auch die alte Eiche am Saume des Waldes dampfte und glitzerte.

Der Morgenwind wehte so linde, daß er kaum zuweilen die Kleider des Gehängten leise blähte.

Der Graf stand im Kreise seiner Söhne und betrachtete ihn. Nur Otto fehlte.

»Wohlan, Jörge,« höhnte er grimmig, »denkst du auf meiner Eiche Drosseln zu fangen? Muße ist dir gegeben. Du sollst hangen, bis der Strick reißt, den Winden zum Spiel, den Raben zum Fraß!«

»Den Bauern zum Schimpf,« ergänzte einer der Knaben, und ein anderer machte den Schluß: »Dem Stapelburger zum Trotz!«

»Hallo,« rief der Graf, »da kommt der Bußprediger. Nun sollt ihr hören, wie der seinen Vater vornimmt. Sieh an, Otto, der Sünder da oben soll mir hangen, bis ihn die Raben fressen. Wie dünkt dich das?«

Otto kam langsam aus dem Walde. Er trug einen Psalter in der Hand, der seiner Mutter gehört hatte, eine wertvolle Handschrift, in dunkelblauen Samt gebunden.

»Mir steht nicht an, über euch zu befinden,« sagte er düster.

»Es steht dir an, da ich's will,« beharrte der Graf. Otto schwieg und hielt den Blick gesenkt. Als er die Augen hob, war dem Grafen sein Ansinnen gereut.

Otto begann mit leiser Stimme: »Ich sprach in der Nacht mit Jörge, denn mich erbarmte seiner, nicht wegen der Not des Sterbens, sondern wegen der ewigen. Da er nun vor mir stand, wurde er ein Riese und stürzte unsere Feste zu Trümmern. Das Gesicht verschwand. Jörge stand kümmerlich, und ich sah den Strick um seinen Hals.

Vorhin aber, da ich ihn hangen sah im Sonnenlicht, ward mir schwer. Diese Seele steht jetzt da, wo Fürsten gelten wie Bettler. Ihr kann aber nicht Recht gesprochen werden, es sei denn, daß der ewige Richter auch befindet über diesen Handel, ob er nach seiner Schuld bestraft ist, oder ob ihm zuviel geschehen ist. Verzeiht, Herr Vater, es liegt mir auf dem Herzen, wie bald aus Richtern Verklagte werden. Meine Rede ist Euch ärgerlich. Erlaubt, daß ich hineingehe.«

Der Graf sah ihm finsteren Blickes nach. Er wandte sich zu den anderen: »Was dünkt euch nun, daß mit dem da geschehe?«

Er wies mit der Hand nach dem Gehängten, vermied es aber, ihn zu sehen.

»Laßt hangen,« riefen sie.

Theodulf sah nach dem Horizont und bemerkte: »Der Wind weht von Sonnenaufgang, aber es hangen Wolken im Niedergang. Gegen Abend wird ein Gewitter sein, danach ein Landregen. Es wird gut sein, wenn wir vom Weizenkorn einbringen, was möglich ist.«

Der Graf stutzte und sah nach Westen hin. Theodulf hatte recht. Die Bauern mußten Spanndienste leisten, aber es schaffte nicht, wenn sie böswillig waren.

Theodulf bemerkte: »Desgleichen wollen wir unsern Rehbock zu Nacht speisen, denn das Fleisch verwest bei solchem Wetter schnell. Auch von Jörge wird der Wind üble Dünste zum Wolfstein tragen.«

Der Graf strich seinen Bart. »Wohlan, Theodulf,« sagte er, »deine List hat kurze Beine, aber ich lobe deine Meinung. Laß die Bauern den Leib herunterholen. Sollen aber wissen, daß ich mit dem nächsten nicht glimpflich verfahren will. Bin der Spitzbüberei voll satt. Wer mir hinfort beim Wildern ergriffen wird, der soll mit ausgestochenen Augen im Verliese vergehen, so Gott meiner Seele helfe!«

*

Der Wetterumschlag tat ganze Arbeit. Unerschöpflich war der westliche Horizont an schweren Regenwolken. Nebelballen schlichen träge um die Berge, und wenn sie sich für kurze Zeit im Luftmeer auflösten, zeigte sich der Bergwald schwarz von der Nässe.

So war es November geworden. Die Tage wurden kurz. Die Geschöpfe dieses trüben Erdenwinkels mußten sich darein ergeben, daß der Traum von der Sonne nicht unterbrochen, sondern wieder einmal ausgeträumt war.

Die Feldarbeit mußte wohl oder übel beendet sein. Die Öde des leeren Daseins lag wie der immer graue Himmel über dem Dorfe und der Herrenburg. Die Bauern betäubten ihre dumpfe Hoffnungslosigkeit durch das Wahnbild eines goldenen Zeitalters, um dereinst zu einer Wirklichkeit voller Blut und Folter zu erwachen, mit dem Ausblick auf eine trostlosere Lage als je zuvor.

In der Burg schleppten sich die Stunden hin mit den Hantierungen des Tages und soldatischen Übungen, die ohne rechte Lust getan wurden, weil man keine Gelegenheit sah, Ernst damit zu machen. Die Zeiten waren längst dahin, wo die Grafen vom Wolfstein als eine Macht im Lande gesessen hatten. Bei dem Braunschweiger Herzog Dienste zu nehmen, war der Graf zu stolz.

Mit demselben unfruchtbaren Stolze sah er auf die geistige Bewegung der Zeit hinab. Das Leben verging im Zeichen der Zwecklosigkeit. Niemand wollte aussprechen, und jeder fühlte, daß der Weltlauf am Wolfstein vorbeirollte. Es war Sinnbild und Wirklichkeit in eins, daß ein großer Teil des Lebens in der Burg verschlafen wurde.

Der Drang, sich zu betätigen, machte sich Luft in Wüstheit und kleinlichen Händeln. Besonders wurde aus die Bauern gedrückt. Die Hinrichtung Jörges war im Grunde eine Tat der Gewalt, denn der Herzog bestritt den Grafen die eigene Gerichtsbarkeit, und sie hatten wohl oder übel nachgegeben. Die Sache wäre nicht ohne Folgen geblieben, wenn es sich nicht um einen Wilderer gehandelt hätte. Da fühlten sich die Herren solidarisch.

Die Angelegenheit mit, dem Stapelburger wurde aber dringend. Die Einfälle in das Wolfsteiner Jagdrevier nahmen überhand.

Mit Gewalt war nichts auszurichten. Auf einen Bruch des Landfriedens wäre es nicht angekommen, aber der Stapelburger war der Mächtigere. Da der Magister mit seiner Klageschrift nicht zustande kam, wurde er beauftragt, einen Rechtsgelehrten von der Universität Helmstedt zu verschreiben.

Der Graf, der sonst das Turmzimmer des Kaplans nicht betrat, fragte ihn bei dieser Gelegenheit, ob er. etwas über das verstörte Wesen Ottos auszusagen vermöchte. Der nahm seit der Hinrichtung Jörges weder an den ritterlichen Übungen, noch an den Jagdausflügen, noch an den Gelagen teil. Was er statt besten betrieb, war noch beunruhigender als die Teilnahmslosigkeit: er streifte über Berg und Tal.

Das war schon zur Sommerszeit gefährlich, jetzt verhängnisvoll.

Was trieb er in der Wildnis? Da ihm kein Mensch mit gesunden Sinnen glauben würde, daß er zum Vergnügen auf die Berge kletterte, was sollte er antworten, wenn man ihn des Verkehrs mit unsauberen Geistern beschuldigte? Die Scheiterhaufen wurden wohl in Hauptsache, aber doch nicht ausschließlich für Hexen geschichtet. Einen Adeligen, der am alten Glauben festhielt, würde das Volk mit besonderem Vergnügen brennen sehen.

»Ei,« sagte Vulpesius vergnügt, »da ist Erlaucht vor die rechte Schmiede gekommen. Weiß einen Heiltrank, der wird unseren Junker schnell gesund machen; heißt Italia. Entlaßt ihn gen Rom!«

»Und gebt ihm den Magister Vulpesius mit,« ergänzte der Graf. »Verlangt Euch nach der Heimkehr, so reist mit Gott. Will Euch ausstatten, so gut ich's vermag, seid manches Jahr in meinem Dienst. Ein Wolfsteiner fährt aber nicht ins Welschland, solang' ich Atem hab'. Ihr kennt mich, Herr Magister.«

Er ging wuchtig hinaus.

Vulpesius stand betrübt am Fenster. Ja freilich, er kannte seinen gestrengen Herrn. Dem artete Otto schon viel zu viel nach der feinen Mutter. Darum wollt er ihn gern los sein.

Es war zwischen ein und zwei Uhr. Die Berge lagen im Nebel. Trotzdem der nächste kaum fünfhundert Schritt entfernt war, unterschied das Auge nichts einzelnes. Ein Nebelmeer, schwarz wie das Grab und kalt wie die Toten.

Nun war der kurze Tag schon über seine Höhe hinüber. Bald mußte sich der Magister den Kienspan holen. Dann wurde es rauchig in dem dürftigen Stüblein.

Zu derselben Zeit glühten die Paläste der ewigen Roma wie rotes Gold in der Abendsonne.

Eine Schwester von ihm lebte in Rom. Sie war als junges Ding mit der verstorbenen Gräfin nach Deutschland gekommen und hatte einen Arzt geheiratet. Auf Anraten der Gräfin war sie mit dem nach Rom gezogen. Er hatte als gewissenhafter Arzt viel Geld verdient, war aber früh an der Pest gestorben. Nun lebte sie mit einer Tochter in Rom. Sie würde ihn gern aufnehmen, zumal er sich von seinem geringen Solde doch einige Goldstücke zusammengespart hatte.

Hurtig mußte er seine Reise betreiben, damit nicht der Winterschnee die Alpenpässe verwehte. Dann mochte er die heilige Weihnacht in Rom feiern. Dieser Gedanke erschien Herrn Vulpesius dermaßen wunderlich, daß ihm sein Herz klopfte.

Nun fiel ihm ein, daß er seinen Junker nicht verlassen dürfe. Da beruhigte er sich. –

Junker Otto stieg um diese Zeit einen Jägerpfad hinan, der steil aus dem Flußtal aufwärts führte.

Man konnte nicht zehn Schritte im Umkreise sehen. Es tropfte unaufhörlich von allen Zweigen in den Waldboden. Das gab ein Rauschen und Zischen.

Auf dem Berge war vorzeiten eine Opferstätte der Heiden gewesen. Die Klippen oben hießen die Feuersteine. Nun hausten hier böse Geister. Niemand außer ihm hätte sich allein hergewagt.

Ihm konnte nichts geschehen. Er trug seiner Mutter Gebetbuch auf dem Herzen, und er fühlte sich rein von Schuld.

Nur seiner Heftigkeit mußte er wohl noch Herr werden. Als der junge Heinz unter seinem Schwerte war, da hätte ihn der Zorn fast zu schwerer Tat hingerissen.

»Trag es mir nicht nach, lieber Gott,« betete er.

Da er nach seinem Gebete das Auge hob, war aus dem toten Schwarzgrau ein leuchtendes Silber geworden. Schon glänzte die Sonne goldig hindurch. Mit jedem Schritte wurde es lichter.

Er war hindurch!

Unter ihm wogte der Nebel!

Wolkenlos, tiefblau lag der Himmel über ihm. Kein Lüftchen regte sich, und warm war es, wie es im Frühling nicht war.

Nun stand er oben auf der Klippe.

Wie ruhten sie so still und klar im blauen Luftmeer, alle die Berge und weiten Wälder!

Nein, hier waren keine bösen Geister. Der Geist Gottes schwebte über den Höhen und duldete sie nicht.

Wer mit ihm schweben könnte, von Gipfel zu Gipfel und über die Lande, dem Süden zu!

Unten lag es wie eine Schicht Watte auf der Erde. Weh, daß er wieder hinab mußte, aus dem Licht in die Finsternis!

Man sollte sich eine Hütte bauen, zwischen Klippe und Wald, geborgen vor den Winterstürmen, und ein gottseliges Klausnerleben führen.

Er setzte sich aus den Stein und spann den Gedanken fort.

Um des Leibes Nahrung brauchte er nicht zu sorgen. Die Wälder waren voller Wild. Wenn er des Fleisches überdrüssig war, stieg er zu Tal und holte sich Forellen aus dem Wildbach. Auf Jagen und Fischen verstand er sich.

Salz und Brot, und was er an Kleidung nötig hatte, mußten ihm die in der Burg heraussenden. Das bedang er sich aus bei dem Verzichte auf das Recht des Erstgeborenen.

Die Narren würden wohl immer in einem Trupp kommen. Bis sie sich belehren ließen, daß böse Geister in der Nähe einer frommen Klause nicht bestehen.

Bei guter Jahreszeit schickten sie vielleicht die schöne Else, des verwitweten Burgvogts Tochter.

Doch wohl nicht. Nur wenn sie es selbst verlangte. Sie lachte ihn immer vor allen anderen an mit ihrem süßen Lachen. Wie jetzt der Himmel, so tief und blau waren ihre Augen.

Er führte sie herauf zu den Klippen, Hand in Hand, und zeigte ihr die Herrlichkeit seiner Bergwelt.

Er lehrte sie Gottes Odem fühlen, ihm nahe sein. Sie sanken fromm in die Knie und knieten nebeneinander, dicht nebeneinander.

Wenn aber die Zeit um war, und er stieg hinauf zu den ewigen Höhen, dann führte er sie mit sich. Auf starken Geisterflügeln trug er sie. Zaghaft schmiegte sie sich an seine Brust. Er drückte sie an sich, fest, so fest …

Ein Kälteschauer fiel ihn an. Die Sonne hatte ihre kurze Bahn vollendet und war im Westen versunken. Das Nebelmeer hob sich und stieg und stieg. Graue Ungestalten reckten sich riesenhaft in die Höhe, langten nach ihm.

Er schrie auf und sprang von den Klippen den Pfad hinab.

Mit jedem Schritte wurde es dunkler. Er war seelenallein.

Fremd und feindselig war der Wald ohne Sonne.

Die Welt der Menschen lag unendlich weit. Was schlich ihm nach?

Was griff ihn am Fuße?

Er stürzte. Ho, ho, ho! lachte es über ihm.

Stöhnend raffte er sich auf. Es war ganz finster geworden. Er tastete sich langsam fort. In der Nähe heulte ein Raubtier. Das Hohnlachen folgte seinem Schritt. Eulen, Wölfe und Schlangen! Das Wilde Heer zischte, heulte, lachte.

Hilf, heilige Jungfrau!

Sein Gebet hatte keine Kraft. Er griff in die Brust, nach dem Gebetbuch der Mutter. Entsetzen! Es war nicht mehr da!

Er war der ewigen Verdammnis verfallen. Wäre er nur aus der höllischen Schwärze heraus!

Oder war dies schon die Verdammnis? Mußte er sich in alle Ewigkeit abwärts tasten, durch das Tosen der Hölle?

Er trat auf Kiesboden. Zugleich wandelte sich die Schwärze in Schwarzgrau. Er war also im Tal. Ach, was frommte das! Ein Teil des Pfades lief an schroffen Felsenwänden. Bei der Dunkelheit war es ein Pfad des Todes. Wenn der Leib zerschellte, stürzten sich die bösen Geister über die Seele.

Gab es keine Gnade? War noch so jung! Er blieb stehen, wo er war, senkte das Herz in Andacht und fragte Gott.

Da er sich reuig zum Jähzorn bekannt hatte, war ihm das Zeichen des Lichtes geworden.

Warum hatte sich das heilige Buch von seinem Herzen gelöst, daß die nächtlichen Geister Macht über ihn gewannen? Unfromme Gedanken mußten seinen Engel verscheucht haben.

Es konnte nur das eine sein: er hatte das blonde Mädchen in seinen Armen geträumt. Hatte sich nicht eben während dieser Träumerei die Finsternis zu ihm aufgereckt?

Er tat ein Gelöbnis: Wenn ihn Gott aus dieser zeitlichen und ewigen Not erlöste, wollt' er kein Weib je anders lieben als in der Liebe Christi.

Als er ein Weilchen gewartet hatte, ob ihm nicht ein Zeichen würde, verwunderte er sich über das starke Rauschen des Baches. So laut hatte er es noch nie gehört, und der Bach ging doch nicht hoch wie im Frühling, wenn das Schneewasser zu Tal schießt.

Ob er den Frühling erleben würde? Der Bach aber würde rauschen, wie er vor tausend Jahren gerauscht hatte und nach aber tausend Jahren rauschen würde.

Der Gedanke machte ihn traurig, aber seine Furcht war vergangen.

Da er sich müde fühlte, setzte er sich nieder und wartete still, was mit ihm geschehen würde. Es kam ihm vor, als fiele ein Lichtschein in das Dunkel.

Der Himmel öffnete sich.

Ein Saal mit silbernen Wänden und Säulen aus Marmelstein, der war erfüllt von einem blauen Äther, wie auf Erden nichts Ähnliches zu finden war. Lichte Engel schwebten darin und winkten ihm zu. In der Mitte war ein diamantenes Tor. Dahinter wohnte Gott.

Die Flügel bewegten sich.

Angstvoll streckte er die Arme vor …

Der Mond stand in voller Silberpracht am schwarzblauen Sternenhimmel.

Ein Hauch von oben hatte die Nebelwildnis in die klarste Winternacht verwandelt.

Er wußte wohl, wie das geschehen war: nimmer in dem natürlichen Verlauf der Dinge!

Nun ging er an den schroffen Wänden so ruhig, als wandelte er auf breiter Heerstraße. Jemand ging neben ihm, der behütete seine Schritte.

Erst auf der Wiese vor der Burg blieb er stehen und wandte sich um. Trotz des Mondscheines war das Gebirge eine einzige schwarze Masse. Da war er gewesen. Hinten im finsteren Bergwald, umheult von dem Toben der Hölle, weit ab von aller Menschenhilfe, ein Verlorener.

Wie mußte Gott ihn liebhaben! Nun wollte er getreu sein bis in den Tod.

Wer schrie?

Helft, ihr Engel!

Das war ein Schrei aus der Verdammnis! Hinten im Osten stob ein Rudel Rehe in den Wald. Ein Mensch stand mit vorgestreckten Armen, schwankte, fiel zu Boden.

Es war ein Mensch, man mußte helfen. Gegen wen?

Nichts Lebendes war in der Nähe. Den hatte keine Erdenmacht niedergeworfen.

War es nicht vermessen, ihm nahezukommen? Wie, wenn die bösen Geister einen höllischen Kreis um ihn gezogen hatten?

Aber Gott war mit ihm und war stärker als die Hölle.

Er eilte zu ihm, raschen Laufes, um nicht wieder unsicher zu werden.

Der Liegende bäumte sich auf und schrie: »Ahn, Ahn, es war erst der Sechste!«

Der junge Heinz. Neben ihm lag seine Armbrust.

»Ich bin's, ich, der Junker Otto,« sagte er beruhigend, faßte ihn um den Leib und hob ihn auf.

Der Knabe zitterte, daß die Zähne klapperten. »Ist er fort, – der – Ahn?« stieß er heraus. Ein namenloses Grauen war in seinen Augen.

Otto gedachte, daß er diese jungen Züge schon zum zweitenmal verzerrt von Entsetzlichem sah. Da vergaß er, daß er sich vorhin mit bösen Geistern herumgeschlagen hatte. Er nahm den Knaben bei der Hand, und sagte freundlich: »Dein Ahn ist als frommer Christ gestorben, Heinz. Wer im Frieden Gottes ruht, den verlangt nicht zurück nach der Wirrsal dieser Welt. Was du gesehen hast, war nicht sein Geist. War auch kein Bote Satans, denn ich war im Gebet, und hat mich doch nichts verstört noch geärgert. Deine Hand ist heiß und trocken, du hast wohl Fieber? Da sieht mancher leibhaftige Wesen, die doch nicht sind. Weil du einen krummen Pfad wandelst, hast du den Ahn gesehen. Nimm's als eine Mahnung des Heils, laß vom Wildern ab. Jetzt geh heim, es geschieht dir nichts. Nimm die Armbrust! Wenn die Burgleute sie fänden und sie erkennten, würde mein Vater nach seiner strengen Verkündung verfahren.«

Da kam es über den Knaben wie ein Erwachen aus einem schreckhaften Traum zu einer schreckhaften Wirklichkeit. Er raffte die Armbrust auf und flog die Wiese hinab, dem Dorfe zu. –

Die Burg lag im tiefsten Schweigen. Gebietend hob sich der machtvolle Bau im Mondschein ab.

Nur in seinem und des Magisters Gemach brannte noch der Kienspan. Glutrot leuchtete das kleine Fenster in dem düsteren Gemäuer.

Überraschend schnell wurde ihm auf seinen Ruf geöffnet.

Hatte ihn gar jemand erwartet? Ihr guten Geister! Hell im Mondlicht stand des Burgvogts Elschen am Tor.

Welch' freundliches Bild nach all dem Grauen!

»Dank, Elselein,« sagte er freundlich. »Hast du die Torwache?«

Sie war dabei, das Tor wieder zu schließen, und erklärte gleichmütig: »Die Mannen sind alle voll Weines.«

Da sie sich nun aber umwandte, und er sie anblickte, schlug sie die Augen nieder.

»Das sind sie an dreißigmal im Monat,« scherzte er. »So hast du dreißigmal im Monat die Torwache?«

Sie schwieg und sah ihn mit schmachtenden Augen an, senkte aber gleich wieder den Blick. Wie sie nun so scheu und sehnsüchtig im Mondschein vor ihm stand, geschah es, daß er leise den Arm um sie legte, ob sie es wohl duldete. Sie war aber so elfenleicht, daß er sie an sich zog, er wußte nicht wie. Sie hob das Gesicht zu ihm und schloß die Augen. Da wußte er, was er zu tun hatte.

Wie es nun aber geht, machte sie sich nach einem heftigen Küssen vorläufig einmal von ihm los, gleichsam, als würde ihr nun erst bewußt, daß dies nicht in der Ordnung sei.

Er nahm ihre Hand und streichelte sie: »Klein Elselein, laß dir nicht leid sein, daß du mich gelabt hast. Sonst fand ich immer, das Schönste begäbe sich in den Träumen. Nun aber hab' ich vorhin im Traum deine Hand gehalten, oben auf dem Feuerstein, und jetzt – – – Was hab' ich getan?«

Er trat von ihr, sank auf ein Knie und schlug die Hände vors Gesicht.

Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und sagte mit ihrer zärtlichen Stimme: »Herzliebster Junker, nun laßt gar Ihr es Euch leid sein? Das müßt Ihr nicht. Weiß wohl, daß Ihr mich nicht zu Eurer Frau Gräfin machen könnt. Bin aber doch so froh, wie ich zu keiner Zeit gewesen bin, in keinem Wachen und Träumen. Lieber Junker, seid doch nur auch wieder froh!«

Er stöhnte: »Nimmer, nimmer kann ich wieder froh sein!«

Else flehte mit weinender Stimme: »Bitt' Euch um Gotteswillen, sagt es mir!«

Da es ihm nun tröstlich erschien, sein Leid zu klagen, erhob er sich und erzählte ihr im Wandeln, was er oben in den Bergen erlebt hatte, und wie er vor Gott bekennen müsse, er habe sie nicht in der christlichen, sondern in der weltlichen Liebe geküßt.

Sie hörte nachdenklich zu und sagte am Ende: »Glaub's gern und gut, daß es einem ritterlichen Herrn leid sein muß, wenn er sein Wort gebrochen hat, und Ihr habt's gar dem lieben Gott verpfändet. Hinwiederum, wer lenkt die Herzen, wenn nicht unser Herrgott? Da hilft nichts, als daß wir ihn bitten, wir möchten einander künftig in der christlichen Liebe ansehen, und nicht in der weltlichen.«

Sie knieten nebeneinander, wie er auf dem Felsen geträumt hatte, und wußten nicht, ob sie traurig oder froh waren. –

Der Magister hatte vor, seinen Otto wieder einmal auf das Unsinnige und übrigens Gefährliche seines Schweifens in den Bergen hinzuweisen. Er war aber so erfüllt von dem Gedanken seiner Romfahrt, daß er die Ermahnung vergaß. Nun erlebte er, daß seinem Junker die Verweigerung der väterlichen Erlaubnis kalt ließ. Selbst die Aussicht, den Lehrer zu verlieren, machte betrübend wenig Eindruck. Er schob's auf die verrohende Wirkung des Bergsteigens. –

Ottos Unruhe war am nächsten Morgen so stark, daß ihm die rechte Andacht zu der Messe fehlte, die der Magister jeden Morgen mit ihm hielt. Da merkte er, daß es um seine Ruhe getan war, solange er nicht den verlorenen Psalter gefunden hatte. Er brach in aller Frühe auf zu den Feuersteinen. Allein obwohl er von der Stelle an, wo er den Psalter vermißt hatte, sehr langsam ging und den Blick nicht ein einziges Mal vom Boden erhob, fand er ihn nicht. Auch mußte er oben auf der Klippe die Entdeckung machen, daß er die Seele durchaus nicht zu frommen Klausnergedanken stimmen konnte. Immer wieder neigte sich die helle Gestalt im Mondschein ihm zu und klagte mit ihrer zärtlichen Stimme: »Lieber Junker, seid doch nur auch wieder froh!«

Wie sich nun die Sonne nach Westen neigte, machte er sich hastig auf den Abstieg, denn es war ihm bange, daß er wieder im Dunkeln hinab müßte und diesmal in seiner unfrommen Verfassung von den bösen Geistern überwältigt würde. Er war sehr unglücklich, denn bei aller Langmut Gottes war es doch recht zweifelhaft, ob er ihm den Verstoß wider sein kaum getanes Gelübde verzeihen würde.

In der Burg ging er gleich zu seinem alten Lehrer. Vielleicht wußte der Trost aus Cicero. War Cicero gleich ein Heide, so konnte doch selbst in den christlichen Angelegenheiten aus dem unermeßlichen Reichtum dieses Allergrößten unter den Sterblichen ein Trostwort zu schöpfen sein.

Der Magister empfing ihn aber mit betrüblich vorgeschobener Unterlippe: »O weh, Junker Otto, nun seid Ihr wieder quasi vagabundus, fast wie ein Landstreicher, in diesen dunkeln Wäldern umhergelaufen, und hier leuchtete ein wunderherrliches Lämplein! Das Neueste des Meisters Erasmus, Junker Otto!«

Da wußte Otto, daß es nicht der rechte Augenblick war, von seiner Not zu sprechen, und er sagte, was von ihm erwartet wurde: »Lieber Magister, das habe ich nicht gewußt, daß mir eine so köstliche Speise für den Geist bereitet war. Gefällt's Euch, so lest mir auch jetzt noch daraus vor. Wäre mir leid, müßt' ich mir mein Verlangen für heute vergehen lasten.«

Dabei konnte er sich freilich nicht enthalten, einen Seitenblick nach außen zu tun. Die Sonne war im Untergehen.

Als es nun aber dunkel wurde, zeigte sich, daß er die wissenschaftliche Begeisterung seines Lehrers unterschätzt hatte. Herr Vulpesius erging sich in Erörterungen über das Gelesene vom christlichen und vom rein gelehrten Standpunkt aus und merkte nicht, daß er in dieser Disputation beide streitenden Teile darstellte. Seine Rede wurde durch die Glocke, die zum Nachtesten rief, unterbrochen. Nicht gerade unliebsam; der Magister hatte eine runzlige Haut und einen dürren Leib, aber einen gesunden Magen, und Otto war jung.

Nach Tische begab sich alles zur Ruhe. Der Weinvorrat reichte nicht so weit, daß man jeden Abend ein Gelage feiern konnte; was blieb übrig, als schlafen? Nur der Magister und Otto hielten im Halbdunkel des Kienspanes wissenschaftliche Gespräche. Aber auch der Magister, müde von der geistigen Arbeit, legte sich zur Ruhe.

Der Kienspan war am Verlöschen. Otto wußte nicht, weshalb er nicht ebenfalls zu Bett ging, da der Tag ja zu Ende war.

Schon zu Ende?

Er war sonderlich kurz gewesen, dieser Tag, wie ein unfertiges Werk.

Otto nahm einen Schemel und schlich die Treppe hinunter.

Einsam saß er im Burghofe und blickte hinauf in das bleiche Mondlicht. Er kannte es nicht anders, als daß er viel allein war, aber er hatte sich immer in der Liebe Gottes gefühlt. Nun war er ganz verlassen in der Welt.

Oben zog der Mond seine unendliche Bahn. Wie hoch mochte das sein? Weit, weit über ihm wohnte Gott. Wie sollte ihn die arme Seele erreichen?

Er senkt den Blick vom Himmelsgewölbe hinab, denn es schwindelt ihn.

Kein Windhauch regte sich. Die Welt war stumm.

Wollte sich immer noch nicht die Tür öffnen, und die liebe Jungfrau schlüpfte heraus, daß er nicht mehr allein war?

Er holte seinen Mantel herunter, wickelte sich hinein und wartete, bis der Mond unterging. Da seufzte er und schlich in seine Kammer.

Von nun an fühlte er statt der Unruhe ohne Inhalt das Verlangen, noch einmal mit Else im Mondschein zu wandeln.

Am nächsten Morgen sah er sie, als sie eben die Haustür öffnete, um einen Gang ins Dorf zu tun. Wie nun jeder junge Mann ihr gern und oft sagte, daß sie schön sei, brauchte er keine Ausnahme zu machen, ging zu ihr und sagte unbefangen: »Wohin so früh, schön Elselein?«

Sie knickste, wie es sich vor dem Herrensohn geziemte, und lächelte ihn an, aber ihre Augen blieben still.

Da wollt' ihm abermals das Herz vor Wonne zerspringen; er neigte sich zu ihr und flüsterte zärtlich: »Lieb Elselein, sei doch um meinetwillen wieder froh! Hab' ich dir weh getan, deine traurigen Augen tun mir weher.«

Sie schüttelte den Kopf: »Ist nicht um Euretwillen, Junker Otto. Der junge Heinz Jörge liegt im Fieber. Die Dorfleute sagen, es geht um Leben und Sterben. Hab' in der Kindheit mit ihm gespielt, so manchen Tag. Nun ist mir weh. Ach, lieber Gott, das muß nicht sein, daß so junges Blut den Tod erleidet. Hab' die ganze Nacht für ihn gebetet.«

Da griff es ihm wiederum ans Herz, aber das war nicht Wonne. Er sah sie stumm an und brachte zuletzt nichts heraus als: »Die ganze Nacht?«

In Elses Augen war ein Blitzen. Sie sagte ernsthaft: »Freilich, die ganze Nacht. Ist doch ein Christenmensch wie Ihr und ich. Der christlichen Liebe sind alle Menschen gleichermaßen teilhaftig. Anders weiß ich's nicht, hab's auch nicht anders vom Herrn Kaplan vernommen.«

Er stand schweigend. Es war ein Kämpfen in seiner Brust. Konnt's aber nicht halten: »Das leid' ich nicht! Eh' soll Gott mich verdammen!«

»Leise doch, Junker,« flüsterte sie. »Ihr schreit ja die Leute heraus! Habt Ihr Euer Gelöbnis vergessen? Solltet mir Dank wissen! Hättet Ihr was voraus in meinem Herzen, erwüchs' am Ende gar ein weltlich Lieben daraus!«

Ihr Wesen machte ihm Pein. Er sagte düster: »Im Mondschein sprachst du anders. So ist das nun vorbei.«

Da rief sie erschrocken: »Lieber Junker, habt keinen Zorn auf mich! War so glückselig unter dem stillen Mond!«

Er nahm ihre Hände, hielt sie an sein Herz und sagte vorwurfsvoll: »So wohl hast du mir getan und so weh! Das sollst du fühlen, von deiner weißen Hand bis in dein Herz hinein. Danach aber sollst du wissen, daß ich die Nacht hier gewesen hab' und auf dich gewartet, bis der Mond hinabgesunken ist. Du aber hast mein nicht gedacht, die ganze Nacht hindurch.«

Ein rosiger Hauch lag auf ihrem Gesicht, und in ihren Augen lachte das Glück.

»Nicht gedacht? Herzliebster Junker – – –«

Jählings riß sie die Hand los. Das Rosenrot wandelte sich in ein Purpurflammen.

Erstaunt wandte er sich um.

Der Burgvogt stand in der Haustür und rief in seinem tiefsten Basse: »Wohlan, Elselein, das ist hohe Ehre!«

Sie gingen auseinander, ein jeder seines Weges.

Der Junker verlebte einen schlimmen Tag. Wenn er über den Burghof zu gehen hatte, blickte er umher, ob nicht der Vogt irgendwo zu sehen sei. Das kränkte seinen Herrenstolz, und er konnte es doch nicht ändern.

Und wie übel stand es um sein Gelübde! Er vertiefte sich mit seinem Lehrer in die Feinheiten des Erasmus; allein er verlor den Faden über dem Problema, wie sich ein Mägdlein so rasch aus einem schüchternen Veilchen in ein wehrhaftes Röslein und wieder in das Veilchen verwandeln könne.

Dann übte er sich nach langer Pause wieder einmal mit den Brüdern in Armbrust, Schwert und Lanze. Das half kräftiger. Allein schon bei Tische wurde er wieder still, und oben bei dem Magister, der sich vom Erasmus nicht losreißen konnte, versank er in Träumerei.

Als aber der Alte schlafen gegangen war, zog es ihn wieder hinab. Das Mondlicht flimmerte so selig im Burghof …

Das Mondlicht fiel auch in die Kammer und über das Lager des armen Heinz. Die Mutter, die tagsüber hart arbeitete, hatte sich für einige Stunden zur Ruhe gelegt und die Nachtwache solange dem zwölfjährigen Lehnchen anvertraut. Die Kleine hatte im Geiste fromme Lieder aufgesagt, um sich wach zu halten, aber mitten darin war der Schlaf gekommen, gerade als sie nicht an ihn gedacht hatte.

Der Kranke wußte nichts von ihr. Am Saume des Waldes schlich er hin, um die Rehe zu belauern, die auf der Wiese im Mondschein standen.

Sie ließen ihn auf Schußnähe herankommen. Als er anlegte, sprangen sie zur Seite. Eine Gestalt wurde sichtbar. Er wußte, was die sagen würde:

»Hast du den siebten Schuß getan,
Holt dich Söhnlein der tote Ahn.«

Man mußte die Armbrust ins Gras werfen und laufen. Er lief und lief. Die Gestalt blieb ihm auf den Fersen.

Da lag er wieder in der Kammer. So dumm wollte er nicht noch einmal sein, die Armbrust wegzuwerfen, wenn er das schönste Ziel hatte.

Nun war es wieder soweit. Der Junker Otto sagte: »Heinz, laß vom Wildern ab!«

»Ho,« antwortete er, »im Fieber sieht mancher Wesen, die doch nicht sind.«

Die Rehe waren aber schon davon. Er lag in der Kammer und hatte wieder nicht geschossen.

Der Mondschein lockte, und helle Stimmen riefen: »Komm heraus, dummer Heinz!«

Leise schlüpfte er in Kleider und Schuhe. Die Armbrust hing draußen; die Mutter dachte ja, er läge im Fieber. Was die sagen würde!

Er zitterte vor Kälte, daß die Zähne aneinanderschlugen.

Nur gleich hinan zur Wiese, daß er bald wieder im warmen Bette lag.

Dort standen die Rehe.

Wer flüsterte?

»Hast du den siebten Schuß getan,
Holt dich Söhnlein der tote Ahn?«

Rasch abgedrückt, es fror ihn gar zu sehr.

Er schoß vorbei, seine Hand zitterte. Das tat das Flüstern.

Es flüsterte fort und fort.

Weh, die Gestalt!

Er flog den Weg hinunter.

»Greif ihn!« schrie eine Stimme von oben.

Eine zweite Gestalt lief ihm in den Weg. Er sprang zur Seite. »Mutter! Mutter!« Harte Fäuste packten ihn. Er wußte, welches Schicksal der Graf dem Wilderer verkündet hatte.

»Schlagt mich tot,« jammerte er, »schlagt mich um Christi Barmherzigkeit willen tot!«

Sie schleppten ihn schweigend hinab. –

Otto saß mit pochendem Herzen auf seinem Schemel. Vielleicht brachte ihn diese Nacht um die ewige Seligkeit. Vielleicht rettete sie ihn. Er wollte wieder mit Else fromm sein, keusch wie das Mondlicht. Sie knieten nebeneinander, dicht nebeneinander …

Warum ließ sie ihn solange warten? Sie mußte doch wissen, daß er einsam im Burghofe saß und wartete.

Werde nicht ungeduldig, Seele!

Horch!

Das kam von außen!

Es war schon am Tore.

Wilde, heisere Stimmen riefen nach der Wache, gewaltsam laut, als gäbe es etwas zu überschreien.

Er ging zu seiner Pforte; sie sollten ihn hier nicht finden.

Was wimmerte?

Die Stimme kannte er.

Ein Zorn erfaßte ihn. Wie hatte er den Knaben gewarnt!

Die Knechte überbrüllten das Wimmern.

Jetzt rührte es sich in der Burg.

Er kannte seinen Vater. Stehendes Fußes wurde das grausame Gelübde vollzogen. Aus dem Wimmern wurde ein Schrei, den die ganze Mannschaft nicht überbrüllt hätte.

Sollte er schlafen? Sollte er zusehen? Sollte er sich verkriechen?

Er war schon am Tor und öffnete. Der Knabe schrie auf, riß sich mit Riesenkraft los und stürzte zu seinen Füßen.

»Junker, lieber Junker Otto, seid barmherzig! Holt Euer Schwert und stoßt es mir in die Kehle!«

Otto legte die Hand auf den glühenden Kopf und sagte zu den Knechten: »Der ist im Fieber. Ich nehme ihn auf meine Kammer.«

Sie sahen einander an: »Der Herr hat befohlen – – –«

»So befehle ich neuerdings anders,« sagte Otto kalt. »Meinem Vater stehe ich Rede, ihr schweigt und gehorcht!«

Er ging mit Heinz die Stiege hinauf. Es war ein mühsames Gehen; der Knabe preßte sich an ihn und hörte auf kein Zureden. Er hatte sich geträumt, wer anders sollte sich an ihn pressen. So enthüllte sich nun Gottes Fügung!

Der Magister hatte sich den Mantel übergeworfen. Er war außer sich vor Angst: »Junker, wen bringt Ihr? Das war mißgetan, daß Ihr mich allein ließt. Wer stürmt? Der Stapelburger? Die Bauern?«

»Einen Kranken bring' ich,« sagte Otto. »Ihr sollt ihm den Puls fühlen.«

Der Magister trat heran: »Das ist der Heinz Jörg!« Er fuhr zurück: »Junker, was tatet Ihr?«

Otto fühlte den heißen Atem des Knaben an seinem Ohr: »Es ist der Ahn, er will mich holen. Ihr müßt beten. Hört Ihr, wie er flüstert?

Hast du den letzten Schuß getan,
Holt dich Söhnlein der tote Ahn.

Betet ihn still! Er flüstert mir den Kopf entzwei.«

Der Magister fuhr wie besessen in seine Kleider.

»Weh, die Pest! Ihr habt die Pest hereingeschleppt!«

Otto rieselte es kalt den Rücken herunter.

Der Magister schoß hinaus.

Der Knabe zitterte heftig und flüsterte unaufhörlich seinen Vers.

War dies die Pest, so waren sie beide verloren. Der todbringende Atem des Kranken hatte ihn berührt.

Der Knabe schwankte. Otto führte ihn an sein Bett und sagte freundlich: »Ruh' dich aus, Heinz, ich halte Wache. Das ist mein eigen Bett.«

Der Kranke zuckte zurück: »Nicht, Junker, nicht! Euer Bett kommt dem armen Heinz nicht zu. Seht Ihr, wie mich der Ahn bedroht? Bitt' Euch, sagt ihm, daß er nicht mehr flüstert.«

Er sträubte sich ängstlich.

Otto brachte ihn in das Bett des Magisters. Da lag er still und flüsterte.

Eine wilde Stimme von außen: »Magister, Ihr seid ein Narr!«

Der Knabe schrie auf: »Meine Augen! Stecht mich tot, um Gott, stecht mich tot!«

Schritte aus der Treppe. Unwillkürlich ergriff Otto sein Schwert.

Die Tür sprang auf. Es war sein Vater. Draußen standen zwei Knechte, die beiden, die den alten Jörge gehenkt hatten.

»Wo ist der Verbrecher?«

Ein gellender Schrei vom Bette her. Nun flüsterte der Kranke wieder den Vers.

Otto sah im Mondlicht, daß die Augen seines Vaters gläsern vorstanden. So standen sie, wenn er sich vorgesetzt hatte, nicht barmherzig zu sein.

»Vater, der Tod hat ihn gezeichnet!«

»So hab' ich Eile, mein Gelübde zu vollziehen.«

»Vater, das ist wider Gott!«

»Ei, das ist wider Gott, daß ein Sohn den Vater will meineidig machen! Heraus mit dem Verbrecher!«

Da rief Otto außer sich: »Eh' ich so Unerhörtes dulde – – –«

»Rabensohn,« schrie der Alte. Er zog sein Schwert.

Sie standen unbeweglich. Vom Bette her kam ein Laut unendlichen Glückes.

Der Knabe saß aufrecht im Bette. Seine Augen leuchteten. Er rief mit heller Stimme:

»Ahn, wen führt Ihr bei der Hand?

Heil, armer Heinz, es ist dein Vater! Wie lacht er mich an!

Das wußte ich nicht, lieber Ahn, wie so gut Ihr es im Sinne hattet. Bin nun nicht mehr der arme Heinz, bin – – –«

Er fiel zurück. Sein Atem war ein Gurgeln. Der Burgherr wußte, was da geschah; er hatte viele Menschen sterben sehen. Schweigend wandte er sich und ging hinab. Die Knechte folgten.

Otto blickte abwesend in den Mondschein. Nach einer Weile sank ihm das Schwert aus der Hand und fiel rasselnd zu Boden. Da bedachte er, daß er nach dem Kranken sehen müsse.

Der war stumm geworden.

Otto setzte sich an das Bett. Die starren und glanzlosen Augen ängstigten ihn. Er drückte sie zu. Nun sah der Tote friedlich aus. Wie hatte den vor den Toten gegraut!

Otto wollte nicht so töricht sein, sich vor diesem zu fürchten.

Wer flüstert?

Heinz mußte das getan haben.

Wenn es wieder flüsterte, hieß es achtgeben. Es flüsterte: »Das ist der Junker Otto vom Wolfstein, der hat mit dem Schwerte wider seinen Vater gestanden.«

Der Tote hatte die Lippen bewegt. Er zog ihm leise die Decke über das Gesicht.

Es flüsterte fort. Also war es doch nicht der Tote gewesen. Er legte das Gesicht wieder frei.

Der böse Geist mußte noch im Gemach sein, der den armen Heinz gequält hatte.

Bis ihm der Engel des Todes zu Hilfe gekommen war. Aber der war nun wieder mit der Seele entschwebt.

Man mußte sich wach halten, daß einem der Dämon nicht im Schlafe die Seele stahl. Dabei war Otto sehr müde. Das war die List des Dämons.

Das Flüstern hörte nicht auf.

Der Mond ging unter; es wurde dunkel im Gemach. Nur das weiße Totengesicht war als ein matter Schimmer zu ahnen.

Otto fand, daß Heinz es gut hatte und überhaupt jeder, der schlafen konnte.

Der Dämon flüsterte fort.

Schlafen, schlafen. Mochten die Geister seine Seele zu Fetzen reißen, nur erst einmal schlafen.

Er warf sich auf sein Bett. Seine Zähne schlugen aneinander. Er wickelte sich in seine Decke, aber das half nichts.

Der Dämon flüsterte fort. Er zeigte ihm Bilder, Bilder, immerfort Bilder. Jörge im Verlies, Heinz auf der Wiese im Mondschein, Jörge an der Eiche hangend, Elschen im Mondschein, den himmlischen Marmorsaal. An der diamantenen Pforte stand der Vater, das Schwert in der Hand, und wehrte ihm den Eintritt.

Da war auch die Klause mit den Feuersteinen. Die war aber nicht sein eigen, denn er lag ertrunken auf dem Meeresgrunde. Er wollte sich erheben, aber eine Welle stürzte über ihn, und als die zerflossen war, tauchte der Vater aus dem Wasser auf und türmte neue Wellen über ihn. Nun lag er still auf dem Rücken. Durch das Wasser hindurch sah er gerade in den himmlischen Marmorsaal. Ein Engel schwebte empor, der führte Heinz mit sich an der Hand. Gott mußte den armen Jungen liebhaben; die ganze Himmelsfeste wurde ihm zu Ehren mit Rosen überstreut …

Otto fragte verwundert: »Ist das schon das Morgenrot?«

Else rief in heller Freude: »Des soll Gott der Herr Dank haben, daß er das Fieber von Euch genommen hat! Herzlieber Junker, das ist das Abendrot. Bin schon beim Morgenrot hier gewesen, Ihr wußtet aber nichts von Euch!«

»Schon beim Morgenrot?« fragte er.

Else lächelte: »Sie vermeinen, Ihr hättet die Pest. Frau Gräfin ist in Goslar, von den Herrn und Mannen wagt sich niemand in den Turm. Der Heinz soll Euch angesteckt haben. Ach Gott, das arme junge Blut. Seid nicht böse, Junker, mir ist noch weh ums Herz, wenn ich ihn anseh', so bleich und still.«

»Lieb Elselein,« sagte er zärtlich, »das wär' ein rechter Dank, wollt' ich dir böse sein. Müssen sich übel schämen, die mir Treue verschulden. Keiner hat's gewagt, was ein zart Mägdlein wagt um Christi willen.«

Sie wandte sich zum Fenster und sagte fast unsanft: »Gehabt Euch nicht wunderlich, Junker Otto! Geschieht's um Christi willen, was braucht Ihr zu danken?«

Am Himmel begann das leuchtende Rotgold zu dunkeln. Bald schwand es hin. Zuletzt glühte nur noch ein schmaler Streifen im fernen Westen.

Im Gemach schimmerte das weiße Totengesicht. Otto wurde unruhig. Er fragte, ob der Mond noch nicht käme.

Else stand auf, um nachzusehen.

»Hinterm Walde ist ein heller Schein am Himmel,« sagte sie. »Gleich wird er über den Feuersteinen aufsteigen.«

Sie kam zurück und bot ihm treuherzig die Hand: »Ade, Junker Otto, mein Amt ist aus. Liegt jetzt am Tage, daß Ihr kein Pestkranker seid. So mag Euer Herr Vater weiter sorgen.«

»Elselein,« rief er hastig, »bleibe bei mir um Gottes willen! Sieh, wie der bleiche Mond ins Fenster blickt. Ein Dämon schläft im Gemach. Wenn der Mondschein ihn weckt, fährt er in den toten Heinz, daß er aufsteht und mir was antut.«

»Herzlieber Junker,« sagte sie beschwichtigend, »das müßt Ihr nicht glauben, daß ein böser Geist besteht, wo eines guten Menschen Leib auf der Bahre liegt. Wär's anders, was vermocht' ich arm Ding wider Dämonen? Will aber gern bleiben, weil Ihr es so haben wollt.«

Sie saß an seinem Bette und hielt die Hand auf seiner Stirn. Denn sie sah, daß er wieder im Fieber lag, wenn auch nicht so hart wie vorhin.

Der Mond zeichnete das schmale Spitzbogenfenster an der Wand über dem Toten ab.

»Siehst du den Dämon?« flüsterte Otto. »Er schleicht an den Wänden. Hätt' ich nur nicht das Schwert gehabt! Sieh, Heinz bewegt den Kopf!«

Else blickte angstvoll hinüber. Der Mond stieg aufwärts. Bald mußte der Schein auf das wächserne Gesicht fallen.

»Die Toten liegen still,« sagte sie. »Nur das Mondlicht flimmert.«

Otto nahm ihre Hand, die auf seiner Stirn lag.

»Du zitterst,« sagte er argwöhnisch.

»Es ist eine kalte Nacht,« erwiderte sie.

Er zog sie, daß sie sich zu ihm beugte: »Komm in meine Decke, du kaltes Elselein!«

»Das ziemt sich nicht,« flüsterte sie mit versagender Stimme.

»Was wider böse Geister getan wird, ziemt sich wohl,« rief er heftig.

Sie blieb stumm.

Sein Atem ging heiß: »Willst du meinen Tod? Den Heinz hat er zu Tode geflüstert. Du bist rein, du mußt mich behüten. Nimm das Schwert, daß es zwischen uns liege!«

Sie war bleich wie der tote Heinz, aber sie gehorchte schweigend.

Allmählich wurden sie ruhig, weil Otto sich vordem Dämon sicher fühlte, und weil das Schwert zwischen ihnen lag.

Sie flüsterten miteinander und wurden wieder still. – –

Otto erwachte aus einem kurzen Schlummer.

Der Morgen dämmerte.

Else hatte sich aufgerichtet und blickte mit scheuen Augen auf ihn herab.

Das Schwert lag am Boden.

Er zog sie an sich und sagte mitleidig: »Du armes Elselein, das kann Gott nimmer vergeben, wie ich mein Gelöbnis mißachtet hab', dazu eines Toten Kammer entheiligt. So bist du nun eines großen Sünders Liebste geworden. Hinwiederum tröstet mich, daß du nicht selbst geschworen hast. Bist auch nicht um Liebe zu mir gekommen, sondern aus Barmherzigkeit.«

Else hatte alle Scheu vergessen: »Herzliebster Junker, das müßt Ihr nicht sagen, daß ich nicht um Liebe gekommen wär', denn es tut mir weh. Dein Gelübde ist mein Gelübde, dein Frevel ist mein Frevel.«

Er seufzte: »Ach, willst du denn mit mir in die Tiefe fahren? Du armes Elselein scheidest dich von der Gemeinschaft der Seligen und gesellst dich zu den Unseligen, in alle Ewigkeit.«

Else schmiegte sich an und flüsterte: »Wo du bist, da ist keine Verdammnis, wo du nicht bist, da ist keine Seligkeit. Herzliebster Junker, wie bin ich froh, daß Ihr mich bei Euch dulden sollt in der Ewigkeit! So froh!«

Sie gaben einander zärtliche Worte und vergaßen, daß sie nicht bis zum Ende aller Tage so liegen konnten.

Da kam ein gewichtiger Frauenschritt die Treppe herauf.

Else sprang entsetzt vom Bette und sah sich um, als suchte sie ein Versteck.

Otto sagte trotzig: »Haben sie uns ausgestoßen, was fragen wir nach ihrer Gunst? Sei ohne Scheu, Elselein! Meine Frau Stiefmutter soll wissen, daß wir zwei nun eins sind.«

Else nickte lebhaft. Das wollte sie tapfer ausfechten.

Die stattliche Frau ging zu dem Totenbett und faltete die Hände: »Lieber Gott, erbarme dich doch seiner armen Seele! Das junge Blut!«

Nun wandte sie sich zu Otto und betrachtete ihn mit dem prüfenden Blick der kundigen Leiterin eines großen Wesens.

»Hab's doch gedacht,« sagte sie zufrieden. »Das wär' ein Wunder, wenn aus dem Magister Hasenfuß im Alter ein Löwe geworden wär'. Die mörderische Pest erweist sich als eine Grippe, und die hat dein gesundes Blut, Dank sei dem Herrn, schon ausgestoßen.«

Otto wußte nicht zu antworten, da er sich auf einen Angriff, nicht aber auf mütterliche Fürsorge bereitet hatte.

»Wo ein Toter liegt, ist nicht gut sein,« meinte die Gräfin und öffnete das Fenster. »Gottes frische Luft wird dir nutzen und dem armen Jungen nicht mehr schaden.«

Zuletzt kam Else an die Reihe: »Um einer Grippe willen hast du armes Mägdelein solange wider die Sitte an des Knaben Bette gesessen. Wärst du nicht unser frommes Elselein, es wär' ein schlimm gefährlich Ding.«

Else dachte nicht mehr an ein tapferes Ausfechten, sie hatte kein anderes Denken, als wie sie sich unbefangen gebe.

Da wurde aus dem runden, guten Matronengesicht ein steinerner Roland.

»Steht es so?« sagte die Gräfin hart. »Dein ist der Schade, hin ist das Kränzelein. Tut mir weh, denn ich hab' dich gehalten wie mein Kind.«

Else fiel in die Knie, zog ihr Tüchlein und schluchzte.

Die Gräfin achtete ihrer nicht und wandte sich zu Otto: »So enthüllt sich nun dein frommes Gemüt! Wähnst du, Gott ließe das ungeahndet? Im Angesichte eines Toten!«

Da vergaß Otto, daß er sich eben selbst der ewigen Verdammnis schuldig erklärt hatte, und antwortete widerspenstig: »Bin ich ein Sünder vor Gott, ist doch niemand in der Burg, der Wehe über mich rufen darf. Weine nicht, du arme Else. Sollst eines redlichen Ritters Frau werden.«

Else hörte auf zu schluchzen.

Die Gräfin sagte mißmutig: »Das ist eitel Dunst. Nur eine adlig Geborene kann auf dem Wolfstein gebieten.«

Else nickte und weinte still vor sich hin.

Otto rief aufgeregt: »Was frag' ich nach der Herrschaft! Bin schon jetzt mancher Wissenschaft kundig. Brauch' nicht viel Zeit, um die Grade zu erlangen. Bei des Kaisers Majestät sind die vom Adel hoch angeschrieben, wenn sie die Grade haben. Bitt' Euch, Frau Mutter, liegt dem Vater an, daß er mich auf Hochschule sendet!«

Else war ganz still geworden.

Auf die Gräfin blieb es nicht ohne Eindruck, daß ihr Schutz angerufen wurde. Am Ende schüttelte sie doch den Kopf: »Das wär' ein Fressen für die Lästermäuler im Lande! Seht an, würden sie schreien, wie hat's die Wolfsteinerin fein zu drehen gewußt! Ihr Theodulflein schluckt das Erbe, und den Erstgeborenen beißen die Hunde.«

Otto wollte erwidern, aber Else sagte traurig: »Herzliebster Junker, laßt ab. Mir wär' bang. Einmal würd's Euch doch Leid um den Wolfstein. Was hätten wir alsdann? Ein elend friedlos Leben.«

Er sagte düster: »In die höllischen Abgründe wolltest du mit mir, vor der Fahrt an Kaisers Hof schauderst du zurück.«

»So sind wir Frauen beschaffen,« entschied die Gräfin. »Wohlan, Else, geh mit mir, dein Vater wartet. Kommt Zeit, kommt Rat. Braucht vorab niemand zu wissen, was hier gesagt ist, noch weniger, was getan ist. Ich sende Knechte, daß sie den armen Heinz hinaustragen zu den Seinen. Danach wollen wir's weiter bedenken.«

Das Gesicht des Toten erschien durchsichtig, der Körper zusammengeschrumpft. Otto gemahnte sich, daß die Seele in Gottes Marmorsaal weile. Aber der Leib lag da in seiner Dürftigkeit, und das schmale Gesicht war das Bild unendlichen Leidens.

Die Knechte kamen und trugen den Toten hinaus. Nun war das Gemach von allen guten Geistern verlassen.

Das hatte er gewußt, daß nach dieser Seligkeit der Gang in die ewige Verdammnis anheben würde. Aber daß es so schnell gekommen war! Sollte das Glück jetzt schon auf ewig vorüber sein?

Er drückte die Stirn, die Augen, die Lippen auf die Decke, wo Elses Kopf gelegen hatte.

Der Magister kam und brachte eine Fleischbrühe von der Frau Mutter. Die lobte er über die Maßen und verglich sie mit den Frauen aus der Gens Cornelia.

Die Suppe war gut und kräftig. Otto fragte statt aller Antwort: »Hat die Frau Mutter auch eine Brühe für Elselein bereitet?«

Elselein sei wohl behütet bei ihrem Vater, die Frau Gräfin sei um den Herrn Gemahl bemüht. Der habe zwei Nächte und einen Tag hindurch in der Sakristei gebetet; nun liege er schwer an seinem Chiragra darnieder. Vielleicht ließe er jetzt wegen der Romfahrt mit sich reden.

Der Magister sprach hastiger als sonst und hatte statt seiner klassischen Würde etwas Gedrücktes.

Otto reichte ihm die Hand und sagte freundlich: »Lieber Magister, laßt Euch nicht leid sein, was mir den Himmel auf Erden gebracht hat!«

Da zuckte der Magister zurück. Otto fiel es wieder aufs Herz, daß sein Glück schon auf ewig dahin sein sollte. Es war ein bängliches Schweigen zwischen ihnen.

Plötzlich richtete Otto sich auf: »Herr Magister, ist des Heiligen Vaters Gewalt so groß, daß er den Menschen von einem Gottesgelübde zu lösen vermag?«

»Solches erhellt aus den historischen Tatsachen,« belehrte der Magister. »Ist auch von den Theologen nie bezweifelt und von den Päpsten nicht gar selten danach verfahren.«

Otto sprang vom Lager auf: »Bitt' Euch, sendet mir einen Krug Wasser, daß ich mich reinige! Danach will ich mit meinem Vater reden.«

Die Gräfin hatte den Gatten mit Arnikasaft gerieben und ihm einen Kamillentee gekocht. Nun war er in Schweiß geraten und hatte Linderung. Er war aber niedergeschlagen.

»Das ist unerhört auf dem Wolfstein,« antwortete er, »daß Vater und Sohn mit bloßen Schwertern widereinander stehen. Gott verhüte, daß es ruchbar werde. Könnt' uns viel Abbruch tun im Lande.

Darum will's mir nicht in den Sinn, daß du nach Rom fahrest. Kann auch nicht verhehlen, daß mich all mein Beten und Kasteien nicht getröstet hat. Item so hab' ich nach Goslar gesandt um eine mannshohe Wachskerze, frommt aber alles nicht. Plage mich mit Zweifel, ob nicht der Luther in manchem recht habe.«

»Ei, das sind eben Zweifel,« meinte die Gräfin. »Wenn man's recht bedenkt, wär's doch gut, wenn Otto nach Rom führe. Bringt vielleicht uns allen eine Festigung im Glauben mit. Wär' keinem von uns zum Schaden. Auch ist noch eine Angelegenheit da, weiß aber nicht, ob es Otto genehm ist, davon zu reden.«

»Darum bin ich hier,« sagte Otto. In seinem gewohnten Zustande hätte sich der Graf heftig ablehnend verhalten. Nun meinte er nur, ein Verzicht auf das Recht der Erstgeburt dürfe nicht im Liebesrausch erklärt werden. Man müsse die Dinge reiflich überlegen. –

Die Gräfin ersuchte den Magister um eine Unterredung. Sie hielt von Zeit zu Zeit moralisch kasuistische Erörterungen mit ihm.

Diesmal stellte sie den Fall auf: Ein Mensch in reiferem Alter wird von einem jugendlichen um einen Beistand ersucht, der aber ihn selbst in den Verdacht gewinnsüchtigen Handelns bringen könnte, und den der Bittende möglicherweise, es sei aber auch das Gegenteil möglich, dermaleinst beklagen würde. Wie soll sich jener reife Mensch verhalten?

Der Magister entschied nach scharfem Nachdenken: »Er soll es gehen lassen, wie's Gott gefällt.«

Die Gräfin runzelte die Brauen und beurlaubte ihn mit einer Handbewegung. –

Nun hauste Otto wieder mit seinem Magister zusammen. Er wartete auf den Entschluß des Vaters und sehnte sich nach Else. Die bekam er nicht zu sehen, sie lag an der Grippe danieder.

Jeden Tag ging er hinauf zu den Feuersteinen, um den verlorenen Psalter zu suchen. Den fand er nicht, aber eine Überraschung erfuhr er: Die bösen Geister hielten sich fern. Da er einmal in der Dämmerung unbehelligt bergab gestiegen war, blieb er das nächstemal absichtlich bis zur Dunkelheit oben. Er bedachte wohl, daß er Gott versuchte. Indessen, was war da zu wagen? Tiefer als in die Verdammnis konnte er nicht stürzen. Wollte aber Gott ihn begnaden, so mochte er es auch auf diese Art verkünden.

Es wunderte ihn selbst, daß ihm heute, wo er um sein zeitliches und ewiges Schicksal anfragte, viel ruhiger zumute war als neulich.

Entschlossen und vorsichtig tastete er sich zu Tal: Kein Dämon gab sich kund. Als er unten am Bache angelangt war, sank er in die Knie und dankte Gott. Wundervoll hatte sich's gefügt, daß seine Schwachheit selbst die Erlösung in sich getragen hatte; denn nur um Elses willen hatte Gott seine Engel gesandt, die nächtlichen Geister zu verscheuchen. Er wollte Else die Treue halten im Leben und im Tode.

Nun wich er dem Burgvogt nicht mehr aus. Er fragte nach Else und ließ ihr sagen, sie solle ihr Tränklein nehmen, wenn der Mond aufginge, da wirkte es am kräftigsten. So wußten die Liebenden, daß sie bei dem Aufgange des Mondes aneinander dachten.

Die ritterlichen Übungen betrieb er nach langer Pause mit Lust und war bald wieder, wie es sich für den Ältesten gehörte, den Brüdern überlegen.

Mit jedem Tage trat das Licht einen neuen Streifen seines Reiches an die Finsternis ab. Nur auf kurze Stunden gaben die Schatten der Berge den Wolfstein frei. Für Otto war aber die kahle Erde eine blumenübersäte Aue. Wenn sich die Bäume im Wintersturme krümmten, klangen ihm der Vöglein Maienlieder im Ohr.

Solange er denken konnte, hatte er nicht unterlassen, seinem alten Magister zu beichten. Auch diesmal verschwieg er nichts. Der Magister hielt es für seine Pflicht, die Wonne zu dämpfen. Das Verhalten der Dämonen könne eine satanische List sein, ihn in Sicherheit zu wiegen und von seiner Romfahrt abzubringen. Die müsse er vor allem anderen betreiben.

Das fuhr wie eine schwarze Wolke über seinen blauen Himmel. Ein Zweifel, ob der Einwand begründet sei, kam ihm nicht. Waren die ihm gewordenen Zeichen nicht sicher, so konnte nur der Heilige Vater, das Gewissen der Welt, Sicherheit geben.

Er ging in wachem Traume umher und sann, ob nicht ein besseres Zeichen zu erlangen wäre. Die goldene Roma erschien ihm wie das Grab.

Der Mond ging jetzt in der Nacht auf. Otto hatte sich vorgesetzt, dann zu erwachen. Es gelang auch immer, denn sein ganzes Wesen war von Else ausgefüllt, und der leiseste Anreiz ließ ihr Bild in ihm entstehen. War er nun aufgewacht, dann sah er sie, wie sie in ihrem weißen Nachtgewand den bitteren Heiltrank geduldig schluckte und sehnsuchtsvoll in den Mond blickte. Am Ende ergriff ihn stets ein Zorn wider den Magister, daß der dalag und schnarchte.

Als das einige Tage so gegangen war, vermeldete ihm der Burgvogt, Else sei wieder wohlauf und lasse ihm danken für seinen Rat; das Mondlicht habe stärkere Heilkraft erwiesen als die Medizin.

Er antwortete, diese Nacht sei Vollmond, da wirke der Zauber am stärksten. Aber der Burgvogt strich seinen Bart und meinte bedächtig: »Mit Gunst, Junker Otto! Wenn Gott wiederum einen von uns mit Krankheit schlägt, mag der Vollmond sein Bestes tun. Für diesmal ist des Zaubers genug.«

Da argwöhnte Otto, es möchte sich hinter dem harmlosen Schlusse eine ernste Meinung verstecken, und verzog sich in seinen Turm. Er war unzufrieden, daß er sich nicht offen erklärt hatte. Das kam, weil der Alte immer so ehrerbietig zu ihm sprach.

Ob Else wohl auch jetzt noch bei dem Aufgange des Mondes an ihn dachte? Er würde es merken an der Kraft, mit der ihm ihr Bild erschien.

Als er aufwachte, war der Mond hinter den Wolken. Ein rasendes Unwetter war losgebrochen. Der Sturm fuhr brüllend von den Bergen herunter. Zuweilen hörte man durch das Toben hindurch das Krachen stürzender Waldriesen.

Das Unwetter mußte ganz plötzlich vom Brocken her gekommen sein. Wenn es ihn überrascht hätte, als er in den Bergen war! Wäre er glücklich entronnen, das wäre ein Gottesurteil gewesen, dem wohl auch der Magister nicht widersprochen hätte.

Wenn er es jetzt noch anrief? Er richtete sich auf. Sein Herz klopfte.

Wenn es aber Todsünde war? Hatte je ein Mensch sich unterstanden, in diesem Toben einen Berg zu ersteigen? Raste nicht das Wilde Heer durch die Lüfte, die Verdammtesten aller Verdammten?

Der Sturm jagte die Wolken. Eben wurde der Vollmond sichtbar.

Da war Else. Klar und rein trat ihr Bild hervor. Sie lächelte ihn an und sagte mit ihrer zärtlichen Stimme: »Herzliebster Junker, nun laßt gar Ihr es Euch leid tun?«

Otto stand im Burghöfe. Es war noch dunkel. Er wußte, daß Else immer die erste am Brunnen war.

Da war sie.

Behutsam setzte sie die Eimer nieder, aber dann flog sie an seine Brust. Eine Weile hatten sie nur den einen Gedanken, daß sie wieder beisammen waren.

Else machte sich los und sagte, was zu sagen war: »Das ist ein Unwetter! Hab' die ganze Nacht gebetet, daß doch alle Christenmenschen in Sicherheit sein möchten. Bis der Mond hervortrat.«

»Da hab' ich meines Otto gedacht,« ergänzte er. »Das wußte ich, lieb Elselein, denn ich habe dich leibhaftig gesehen im Mondschein. So weißt du auch, daß ich nun auf die Berge steigen will und Gottes Urteilsspruch anrufen.«

»Das war ich nicht,« rief Else erschrocken. »Das war gewiß ein böser Geist! Wie sollte Gott seinen Engel in diesen Höllenkessel senden? Nie sehen wir den Wolfstein wieder!«

»Nicht wir,« sagte er. »Mein war der Frevel, mein ist Gottes Probe.«

Sie schmiegte sich an: »Das ist unhold, daß du dich von mir scheidest in deinen Gedanken. Sind wir nun ein Leib und eine Seele geworden, so hab ich teil an deinem Frevel.«

Er strich ihr das Haar: »Lieb Elselein, bin ich auch ein Kriegsmann, so rauhe Sitten hab' ich nicht, daß ich mein Mägdlein mit mir nähme unter die Höllengeister. Bete für mich, das ist, was du vermagst, und ist nicht wenig.«

Sie wandte sich ab: »Wär' ich eine vom Adel, Ihr sprächet anders, Junker Otto!«

Da blieb nichts übrig, als daß er sie mitnahm. Er hüllte sie mit in seinen Mantel und meinte: »Sind wir ein Leib, was brauchen wir zwei Mäntel? Meiner ist weit genug.«

Sie weckte des Torwächters Frau: Wenn ihr Vater fragen würde, sie sei nach Goslar, wolle eine Pfanne kaufen; zu Mittag sei sie wieder zurück.

Es war noch dunkel. Niemand sah sie. Der Sturm raste so gewaltig, daß sie nur schrittweise vorwärtskamen.

Er wies auf einen Bergkamm und sagte ihr ins Ohr, denn sonst hätte sie nichts verstanden: »Das ist unser Pfad! Sieh', wie die Tannen sich krümmen! Du bist bleich, Else. Soll ich dich heimbringen?«

Sie schmiegte sich nur dichter an ihn.

An der Westseite, wo sie der Sturm am ärgsten packte, klimmten sie hinauf. Je höher sie kamen, desto schauerlicher klang über ihnen das Donnern des Sturmes.

Auf halber Höhe fragte er zum andernmal, ob er sie heimbringen sollte. Er merkte aber, daß er sie kränkte.

Am Gipfel ergriff ihn ein Schrecken. Er rief in ihr Ohr: »Das ist die Orgel des Weltgerichts. Sollen wir umkehren?«

Sie lächelte ihn an und erwiderte: »Ich fürchte mich nicht.«

Er sprach nicht mehr und klimmte mit ihr hinauf, so schnell es gehen wollte.

Da sie nun bei jedem Schritte gewärtig sein mußten, daß eine Tanne stürzte und sie erschlug, überkam ihn oben auf dem Kamm eine wilde Freude. Er rief: »Laß uns langsamer gehen, daß Gottvater nicht vermeint, wir wollten ihm entfliehen!«

So gingen sie langsamer.

Ein Krachen, Schlagen und Donnern.

Sie standen betäubt und wußten nichts von sich. Zwanzig Schritte vor ihnen lagen zwei Tannen quer über dem Pfad. Wie schwache Stäbe hatte der Sturm die Stämme dicht über dem Boden gebrochen. Die breiten Aste bebten vom Sturz.

Sie gingen auf der windgeschützten Ostseite talwärts und waren still.

Endlich sagte Otto: »Wären wir schneller gegangen, wir lägen zerschmettert unter den Tannen.«

»So wären wir doch beisammen,« meinte Else.

Er fragte verwundert: »Du bist so ruhig, hast du dich nicht erschrocken?«

»Wir waren ja beisammen,« sagte sie nur.

»Wohl! Aber hätte Gott seinen Richtspruch wider uns gefällt, so hätte er nicht nur unsere Leiber zerschmettert, er hätte uns in die ewige Verdammnis gestürzt.«

»Wir blieben doch beisammen,« sagte sie zum drittenmal. »Kann da die Hölle sein, wo die Seelen einander liebhaben?«

Er meinte grübelnd: »Du sprichst wohl recht. Aber vielleicht muß eher in der Verdammnis alles Lieben vergehen.«

Sie sah ihn mit ihren blauen Augen an und bat: »Ach, willst du denn immer von Tod und Verdammnis zu mir sprechen? Ich bin so froh, daß wir beisammen sind. Mein Herzlieber, so sei doch auch ein wenig froh.«

Da fand er, daß sie recht hatte und sehr holdselig war. Er preßte sie an sich und war fast froher als sie, bis es ihr zu warm unter dem Mantel wurde und sie lieber Hand in Hand gehen wollte.

Als der Wald zu Ende war, stand die Sonne schon tief.

Else fragte bänglich: »Was soll ich nun meinem Vater sagen?«

Er antwortete: »Die Wahrheit!«

»Das wag' ich nicht,« meinte sie. »Es sei denn, du wärest dabei!«

Da verwunderte er sich abermals, daß ihr Mut so groß und so gering sein konnte.

Der Wind hatte nach dem Stoße, mit dem er die beiden Tannen umwarf, sein Stärkstes getan und allmählich nachgelassen. Nun schwieg er ganz.

Else wandte sich um und rief: »Hab' Dank, du wilder Wald! Das dacht' ich nicht, daß du mir zum Paradiesesgarten werden solltest!«

»Ei,« sagte Otto, »das Paradies soll erst werden.«

Sie schüttelte den Kopf: »Daß ich deiner Liebe froh gewesen bin, das kann mir Frau Welt nicht rauben. So froh!«

Dem gefürchteten Zusammentreffen mit dem Vater entging Else. Der Professor aus Helmstedt war angekommen von Goslar, wo er genächtigt hatte. Da er nun als hochzuehrender Gast angesehen wurde, was blieb übrig als ein Gelage? So saß auch der Burgvogt an der Tafel im Rittersaal.

Otto kleidete sich hurtig in sein Festgewand. Ihm war festlich zu Sinne, und hungrig war er auch.

Als er aber im Eintreten das Durcheinander hörte und die weinroten Gesichter sah, erschien es ihm, obwohl der Saal mit Kerzen beleuchtet war, als träte er aus einer hellen in eine dunkle Welt.

Zwischen dem Vater und der Stiefmutter saß einer mit wasserblauen Glotzaugen und einem dicken Gesicht, ganz Kinnbacke. Er trug einen Professorenmantel und war natürlich der Professor aus Helmstedt. Der Mensch erregte fast ein Grauen in Otto. Er wußte nicht weshalb, es war auch nur im ersten Augenblick.

Der Graf stellte vor: »Mein ältester Sohn, von dem wir sprachen. Du verehrst in unserem würdigen Gaste den wohlgelehrten Professor des römischen Rechtes, Herrn Adolfus Blasius.«

»Adolfum Blasium,« verbesserte der Professor. »Euer Wein ist gut. Was Ihr schwätzet, ist Küchenlatein.«

Otto sagte ärgerlich: »Der Wein ist zu schwer für Euch. Ihr solltet zu Bette gehen.«

»Ihr seid ein Goliath,« erwiderte Blasius. »Hier sitzt König David, der Euch in den Sand streckt. Ich sauf' Euch dies Schüsselein vor. Ein Hundsfott, wenn Ihr's nicht nachsauft!«

Er nahm einen der auf dem Tische stehenden Weinkrüge, goß eine Schüssel voll, in der sich noch der Rest einer Fleischbrühe befand, und setzte nicht ab, ehe er ausgetrunken hatte.

Otto hatte ihm den Rücken gewandt und sich zu seinen Brüdern gesetzt.

»Hier sind der Schüsseln genug,« schrie Blasius. »Wollt Ihr saufen oder ein Hundsfott sein?«

»Morgen sollt Ihr den Hundsfott hinunterschlucken,« rief Otto, »jetzt seid Ihr betrunken.«

Blasius warf einen Teller nach ihm, traf aber nur die Wand. »Ihr seid ein Tölpel,« bemerkte Otto. »Könnt' Ihr nicht mit einem Teller treffen, wie wollt Ihr meines Vaters Rechtshandel führen?«

»Ho,« schrie Blasius, »kennt Ihr die Antichresis? Ist der Wolfstein antichretisch verpfändet, so hat der Stapelburger recht. Wieviel Mannen habt ihr? Wieviel hat der Stapelburger? Da liegt die Antichresis, Ihr Gelbschnabel!«

»Ihr seid ein Erzlump,« rief Otto zornig. »Mein Vater sollt Euch als Lohnung ein Bad im Brunnen bereiten!«

Die Gräfin nahm ablenkend ein unterbrochenes Gespräch auf: »Nach Braunschweig werdet Ihr übersiedeln, hochwürdiger Herr Professor?« »Merket,« erwiderte Blasius, »wie der fromme Herzog Gelehrsamkeit und Tugend zu finden weiß. Der Magnificus hat mich in den Gerichtshof wider Zauber und Hexenwesen berufen. Soll sich nicht getäuscht haben, der fromme Fürst! Drum heiß' ich der Blasius. Werd' fleißig die Feuer ausblasen, darin die Hexlein schmoren. Warum lacht Ihr nicht? Das ist ein guter Witz, Ihr müßt lachen, Frau!«

»Euer Amt ist hart,« sagte die Gräfin.

Blasius glotzte sie an: »Ei, so haltet Ihr's mit den Teufelsliebchen?«

»Das sei ferne,« rief der Graf. »Wir sind fromme Christen, wir auf der Wolfsburg. Brennt sie zu Asche!«

Die Gräfin stand auf und erklärte, sie müsse dem Gesinde die Kost zuweisen.

Nun fiel dem Professor sein Zwist wegen der Schüssel wieder ein. Er schrie den Magister an: »Das ehrt Euch nicht, wie Ihr den erzogen habt! Hättet ihn sollen redlich saufen lehren! Warum nennt Ihr Euch Vulpesius? Habt Ihr keinen besseren Namen?«

Der Magister sagte gekränkt: »Einen ebenso guten. Auf der Hochschule zu Padua war ich Vulpesius Philosophus zubenannt. Habt Ihr einen Ehrennamen?«

»Einen fürtrefflichen,« versetzte Blasius. »Sie nennen mich Blasius Multibibus.«

»Blasium Multibibum,« rief Theodulf. »Ihr schwatzt Küchenlatein, Ihr Schulfuchs!«

»Ihr seid ein gelehrtes Haus,« sagte Blasius. »Wißt Ihr einen Posten anzugeben?«

»Einen fürtrefflichen,« versetzte Theodulf. »Wir wollen Euch in den Brunnen stürzen! Wie dünkt Euch der Witz?«

»Das untersteh' dich nicht,« drohte der Graf. »Wer soll ansonsten – –«

Er ging hinaus und winkte seinem Knappen, ihm zu folgen. Der mußte ihn von hinten umfassen und den Leib mit Kraft zusammenpressen, daß der Wein in vollen Bächen aus dem Munde herausbrach. Danach erschien der Graf mit frischen Kräften im Saal.

»Euer Theodulf ist ein edler Ritter,« bemerkte Blasius. »Der Älteste vermag nichts.«

Der Graf sagte entschuldigend: »Seine Mutter war keine Deutsche, ich habe sie mir von Rom geholt.«

Blasius meinte achtungsvoll: »Ihr seid ein schlauer Fuchs, die Römer decken ihre Häuser mit Dukaten.«

Der Graf bemerkte, seine Frau sei lange vor seinem Schwiegervater gestorben, habe ihn also leider nicht beerbt. Blasius belehrte ihn, daß Otto seinen Großvater aus eigenem Rechte beerbt habe, und ließ sich für diese Auskunft vier Dukaten zusichern. Von jetzt an schwieg der Graf.

Der Magister fragte den Professor, wie ihm die neueste Schrift des Erasmus zugesagt habe. Der Professor antwortete: »Wollte Gott, es fiel ein Stein von der Decke und quetscht Euch den Schädel zu Brei!«

Endlich war das Faß leer. Blasius verlangte, daß ein neues angesteckt würde. Der Graf erklärte, seine Frau habe den Kellerschlüssel an sich genommen. Es entstand ein dumpfer Fall: Theodulf sank vom Stuhl und blieb liegen.

Blasius gluckste: »Das erbarmt mich, das ein so herrlicher Ritter so jung ins Grab beißen muß.«

Der Graf erwiderte dankend, es sei nicht so schlimm, dies sei Theodulfs Gewohnheit, wenn er einsehe, daß nichts mehr verzapft würde.

Otto ward der einzige, der sich fest auf den Beinen hielt. Er machte sich nichts aus dem Zechen. Nicht, daß er in einer Sitte, die er nicht anders kannte, etwas gefunden hätte. Es lag nicht in seiner Natur.

Diesmal mußte er selbst seinem Magister beim Entkleiden behilflich sein.

Vulpesius versicherte dabei, es sei ihm eine lang entbehrte Freude gewesen, sich mit einem echten Gelehrten zu unterhalten.

Vom Burghofe tönte ein Gebrüll herauf. Es klang, als würde ein Stier geschlachtet und setzte sich zur Wehr. Otto stürzte die Treppe hinunter. Die Brüder und ihre Gesellen hatten den Professor bis über die Haare in den Brunnen getaucht. Nun schleppten sie ihn wieder hinein und hatten ihren Spaß daran, daß er wie ein Rasender fluchte und mit allen vieren um sich stieß.

Am anderen Morgen war von dem Zwischenfall nicht weiter die Rede. Seine Kleider wurden getrocknet und gebügelt, und er wurde durch eine wohlgepfefferte Schmaltierkeule und ein frisch angestecktes Faß Wein gelabt. Die Eingabe an das Reichskammergericht hatte er weislich vor dem Frühstück verfaßt. Zum Abschied erhielt er sein Honorar, einschließlich der bedungenen vier Dukaten.

Er küßte die Söhne des Hauses und erklärte sie für wackere Ritter. Zuletzt fragte er nach Otto, der sich nicht hatte sehen lassen. Niemand konnte antworten. Da ging ein böser Zug über sein Gesicht. Im Davonreiten rief er etwas zurück, was nicht zu verstehen war. Es klang wie ein Fluch. –

Der Graf beschied Otto zu sich und eröffnete ihm, die Romfahrt, um die er so oft, und erst kürzlich wieder, gebeten habe, solle ihm gewährt sein. Er habe außer der Saldierung seines Gewissens auch ein weltliches Geschäft zu verrichten, nämlich das Erbe seines Großvaters anzutreten. Sollte der Bruder, seiner Mutter, der ehrwürdige Prälat Romanos, der jedenfalls das Erbe verwalte, wider alles Erwarten Schwierigkeiten erheben, so würde ihm der Heilige Vater, der Fürst des Kirchenstaates und höchste Vorgesetzte des Oheims, gewiß sein Recht verschaffen. An Reisegeld solle es nicht fehlen und der Magister solle ihn begleiten. Nach der Rückkunft würde sich alles finden. Hielte er dann noch an des Burgvogts Tochter fest und wolle sich an dem großväterlichen Erbe genügen lassen, so würde ihm niemand entgegen sein.

Otto bedankte sich in wohlgesetzten Worten und ging still hinaus. Er wußte, daß es hier kein Widerstreben gab.

Vor allem teilte er seinem Lehrer die Botschaft mit. Es war ihm ein Bedürfnis, er wußte nicht weshalb, die Freude des Magisters zu sehen und zu hören.

Sonderbarerweise schien Vulpesius zu erschrecken. Er faßte sich aber und sprach von den römischen Herrlichkeiten in höheren Tönen als je. Darin steigerte er sich mit jedem neuen Gespräche, so daß Rom schließlich die Wunder des Schlaraffenlandes und der Insel Utopia in den Schatten stellte.

Zu dieser Begeisterung stimmte es freilich schlecht, daß er den Antritt der Reise durch allerhand Ausflüchte hinauszuschieben suchte.

Der Burgvogt bewachte Else jetzt sorgsamer als früher. Nur einmal glückte ein kurzes Zusammensein im Burghofe zu früher Stunde. Sie sah bleich und bekümmert aus. Er merkte es in seiner aufgeregten Stimmung nicht und berichtete, übermorgen würde er aufbrechen, der Magister sei mit seinen Verschleppungen am Ende.

»Ach,« sagte sie traurig, »eilt es denn so, daß du von mir gehst?«

Er antwortete gekränkt: »Es eilt mir, wieder bei dir zu sein. Das hör' ich ungern, daß du mich so schlecht kennst.«

»Hab' keinen Zorn auf mich,« bat sie. »Ich armes Mädchen weiß doch nicht, ob ich dich kenne. Sei auch nicht betrübt, mein Herzallerliebster. Hatte dich lieb, ehe ich wußte, was Liebe sei. Daß du mich auch liebgehabt hast, dafür sollst du Dank haben, jetzt und immerdar.«

Er wollte ihr sagen, daß er sie nicht nur liebgehabt habe, sondern ihr treu bleiben wolle bis ans Ende. Aber sie küßte ihn und lief hinein. –

Sie hatten sich die Ausfahrt anders gedacht, der Magister und Otto, da sie sich manchen dunklen Winterabend mit den Traumbildern von der Reise nach Rom festlich erleuchteten.

Der Magister, unter dessen Künsten freilich das Reiten nicht eben den ersten Rang einnahm, saß wie ein Häufchen Unglück auf seinem Gaul, obwohl ihm ein frommer alter Schimmel gesattelt war. Otto war bleich und still. Theodulf, der die Reisenden bis Goslar begleitete, schwieg aus Rücksicht und aus Bequemlichkeit.

Als die Straße um die Waldecke bog, wo man die Burg zum letztenmal sah, wandte Otto sein Pferd, blickte lange zurück und rief aus vollem Herzen: »Leb' wohl, du lieber Wolfstein! Gott verleih' mir ein fröhliches Wiedersehen!«

Im Wirtshause zu Goslar wurde eine Mahlzeit genommen. Theodulf sorgte dafür, daß auch ein guter Wein getrunken wurde; sonst wäre es auf eine so weite Reise ein unzulänglicher Abschied gewesen.

Der Magister fiel aus seiner trübseligen Schweigsamkeit in das Gegenteil. Sein Thema war natürlich die Herrlichkeit Roms. Da wurde auch Otto allmählich anderen Sinnes.

Als sie aus Goslar hinausritten, war der Magister wieder verstummt. Vor dem Tore, wo die Wege auseinandergingen, seufzte er und sagte beklommen: »Seid mir nicht gram, lieber Junker Otto, daß ich mit Junker Theodulf zum Wolfstein zurückreite. Die Romfahrt vermag ich nicht.«

Otto war dermaßen erstaunt, daß er für den Augenblick nichts redete.

Theodulf bemerkte warnend: »Ihr habt einen schlimmen Gang zu gehen, Herr Magister, wenn wir wieder in der Burg sind. Ich, der Sohn, überbrächte meinem Vater solche Botschaft nicht ohne Mißbehagen.«

Nun rief Otto zornig: »Das ist ein sauberer Streich! Hätt' nicht gedacht, daß Ihr treulos an mir handeln könntet!«

Vulpesius erwiderte bekümmert: »Ihr seid jung, ich bin alt. Das ist, was ich zu sagen habe. Der Sprache seid Ihr mächtig, als wär's Eure Muttersprache. Ihr werdet Euch zurechtfinden, ich vermöcht's nicht mehr.«

»Der Handel wird immer sauberer,« zürnte Otto, »Ihr habt mich trefflich hinters Licht geführt! Nun weiß ich, was für Herrlichkeiten ich schauen werde: Schutt und Asche!«

Da richtete der Magister sich auf und erklärte feierlich: »Das Heil in Christo soll mich im letzten Stündlein verlassen, so ich Euch belogen habe Junker Otto!« Etwas weniger feierlich setzte er hinzu: »Außer etwa in den letzten Tagen.«

»Ihr habt doch Augen, die Herrlichkeiten zu schauen,« bemerkte Otto.

»Ach und weh,« seufzte der Magister, »was frommt mir das gesunde Augenpaar, da doch Leib und Seele morsch sind. Wer die Wunder der ewigen Roma müßig schaut, wird ihrer nicht froh. Ihr werdet sein wie ein junges Entlein, das man ins Wasser setzt, ich würde sein wie ein Frosch, den böse Knaben auf glattes Eis tun. Habe Euch nicht belogen, Junker Otto. Wollt jedoch bedenken, es sind mehr denn zwanzig Jahre ins Land gezogen, seit ich Rom verlassen habe. Nun ist aber des Menschen Seele so beschaffen, daß ihr die Vergangenheit um so herrlicher leuchtet, je ferner sie entschwunden ist. Kann sein, daß ich die Farben also bunt gemischt habe, wie in der Wirklichkeit nichts gefunden wird. Kann sein, daß Ihr in den ersten Tagen ruft: Eheu, wie hat mich der Magister schändlich betrogen! Bald aber werdet Ihr erkennen, daß die Herrlichkeiten die köstlichsten sind, die nicht gar so leicht und lieblich eingehen. Ich alter Mann will mir das Rom erhalten, das ich im Herzen trage.«

Otto schwieg mißmutig. Er hielt dies alles nicht für richtig und wußte doch nicht, was sich einwenden ließe. Da sagte Theodulf: »Was soll das sein? Zwingst du den Magister wider seinen Willen, so wird er dir zur Last fallen. Getraut sich einer nicht über den Graben zu springen, so frommt es nicht, daß man ihn stößt, man stößt ihn hinein, statt hinüber.«

Otto sah ein, daß Theodulf recht hatte. Es war auch nicht viel Zeit zu versäumen, da er zur Nacht auf der fernen Derneburg angemeldet war. Er gab den beiden die Hand zum Abschied und ritt mit seinem Knechte davon.


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