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Drittes Buch.

»Nun sich Himmel und Erd' erfreut in der lieblichen Frühlingszeit; nun die Vöglein stimmen an, das die Menschen ergötzen kann; nun die Flüsse so sanft und fein wiederum schleichen ins Meer hinein; nun der Winter sich giebt zur Ruh' und die Wärme nimmt täglich zu,« so sang dereinst der alte fromme Liederdichter Johann Rist, und so hieß es auch dazumal in und um Kauzburg. Der Frühling meldete sich mit taufend Stimmen; er blickte mit tausend kleinen Augen aus der allmählich ergrünenden Erde, und seine Augen blühten Hoffnung, und seine bunten Sänger wunderten sich, daß all' die vollen Knospen an Bäumen und Gesträuchen noch nicht zu Blättern entfaltet wären. Aber kein vorzeitiger Lenz, der etwa schon im Märzmonat Mai spielen wollte und dann zitternd und zagend sich versteckte vor Aprilschnee und Maifrösten! O nein, er zeigte sich besonnen und vorsichtig; er brachte heitere Tage ohne übertriebene Wärme; er brachte hübsche kalte Morgen; er wendete auch nichts gegen einen mit Eiskörnchen untermischten Regenschauer ein; er benahm sich durchaus wie ein vernünftiger, vorsorglicher Jüngling, der die Wonnen der Jugend mäßig genießt, damit ihm für reifere Lebensjahre auch noch Freude, Genußfähigkeit, Lebenslust übrigbleiben. Nur mit Veilchen trieb er Verschwendung. Um Büsche und Hecken, auf Wiesen und in Gründen sah es aus, als ob sammetne, blaue, halbdurchsichtige Teppiche von durchbrochenem Muster über das spitzig hervorschießende Gras gebreitet wären. Weshalb soll ich damit geizen? dachte er; sie sind an der Reihe, und jedem Monat das Seine! Was ich einmal gebe, will ich reichlich geben und mit vollen Händen! –

Das Theaterwesen hatte an Gottlieben viel verloren, insofern ihre alles überstrahlende Erscheinung fehlte. Das gestanden die Gäste ein und gaben es ihr auf jede Weise zu hören. Andererseits aber hatte es gewonnen, indem die Nachbarin Klimme, die allerdings wie eine verbrühte Katze heimgekommen war, sich's nun erst recht angelegen sein ließ, der »Herrschaft« und dem ganzen Auditorio zu zeigen, was eine »ausgearbeitete Schauspielerin,« eine comédienne consommée, wie sie sich gern nannte, leisten könne, sobald sie ernstlich wolle. Jene Monotonie, welche durch das bequeme, von ihren Launen abhängige Mitwirken Gottliebes der Sache immer einen Anstrich von Liebhabertheater und Dilettantentum gegeben, verschwand seit den letzten Wochen vor den rastlosen Anstrengungen der Madame Bäcker. Sie meinte nicht genug thun zu können, damit sie nur beweise, wie nützlich und verwendbar sie sei. Dabei verhielt sie sich so bescheiden und verträglich zur Truppe, so nachgiebig gegen Bäcker, so gütig und teilnehmend für Wulf, daß niemand mehr Klage führte über sie. Im Gegenteil, jeder und jede lobten ihre aus Selbsterkenntnis hervorgegangene Änderung, wenn sie auch ein bißchen schadenfroh beisetzten: es mag ihr schlecht genug ergangen sein bei ihrem Herrn Müller!

Daß sie für eine bessere und geistvollere Darstellerin gelten dürfe als die schöne »Generalintendantur,« darüber waltete bei denen, die nur das geringste vom Handwerk verstanden, kein Zweifel ob. Daß sie aber auch den Zuschauern im allgemeinen besser gefiel als Gottliebe, müßte uns befremden, läge nicht die Erklärung ganz einfach im Bedürfnisse nach Abwechslung. Vier Monate hindurch hatten sie klassische Schönheit, selbstbewußte Anmut, wohlberechnete Grazie vor Augen gehabt, die um ihrer Rollen willen niemals die Sorge für ihre Persönlichkeit aufgab, die niemals vergaß, daß sie auf der Bühne stehe, den Baron durch neue Reize neu zu fesseln. Ihnen, den nicht zu Fesselnden, war's trotz aller Anerkennung auf die Länge langweilig geworden. Nun warf sich eine zwar abgelebte, nicht mehr hübsche Frau mit wahrer Theaterwut, mit äußerstem Aufgebot ihrer Kräfte, mit Verachtung jedes egoistischen Vorbehaltes, nur von einer sie gänzlich erfüllenden Aufgabe durchdrungen ins Geschirr und gab dem Kauzburger Bühnentreiben neuen Schwung. Die jüngeren Nachbarn und Beamten flüsterten sich zu: Das Weib ist höllisch mitgenommen, aber sie hat, Gott straf mich, den Teufel im Leibe; wenn sie so herumfegt, wird einem ganz warm. Sie ist mir lieber, wie die stolze Demoiselle, die immer heraustrat, als wollte sie sprechen: Ihr müßt's euch für eine hohe Gnade rechnen! Und was ist sie denn Besseres? Wie wenn man nicht wüßte, wie's mit ihr steht? Da lob' ich mir unsere Bäckern! Die setzt Lunge und Leber dran und thut nicht so vornehm!

Ähnliche Bemerkungen, obgleich in zarteren, wenn auch nicht schonenderen Ausdrücken, teilten sich die Damen mit.

Wie mag es kommen, daß Baronesse Ludmilla nicht einstimmt? Daß sie verlegen schweigt, wenn Gräfin Krom, deren Töchter und die übrigen in ihrer Nähe auf der Galerie befindlichen Frauen und Mädchen auf Kosten der Oberintendantin die Prinzipalin loben? Wäre ein Lob, wodurch ihre Gegnerin herabgesetzt wird, nicht gerade in ihrem Sinne gewesen?

Ach früher wohl. Seit dem Auftritte, welchen wir am Schlusse des zweiten Buches zu schildern versuchten, hat sich das gar sehr geändert. Ihr ist Gottliebe ja nicht mehr die gehaßte Feindin. Ihr ist sie ja beinahe schon eine Vertraute geworden. Nicht etwa, daß deutliche Erörterungen von einer oder der anderen Seite stattgefunden hätten! Die beiden haben seitdem keine Silbe mehr gewechselt, welche auf ihre Scene vor dem jungen Schauspieler bezogen werden könnte. Sie haben nur in Gegenwart des Barons, und dann stets von den gleichgültigsten Dingen miteinander gesprochen. Darum nicht minder hat Gottliebe genaue Kenntnis von den Fortschritten, welche Ludmillas überhandnehmende Leidenschaft bisher gemacht; und Ludmilla weiß sehr wohl, daß Gottlieben ihr Inneres nicht verborgen blieb. Wissen und schweigen heißt – wie hier die Umstände beschaffen waren – ein werdendes Verhältnis dulden, wo nicht begünstigen. Folglich betrachtet die Baronesse ihre sogenannte Gesellschafterin wie eine stumme Vertraute, wie eine Beschützerin ihrer erotischen Verirrung; und ohne sich weiter den Kopf zu zerbrechen wegen der Ursachen solcher Begünstigung, der doch jedenfalls eigennützige Nebenabsichten zum Grunde liegen, nimmt sie die ihr willkommene Wendung dankbar-leichtsinnig für ein großes Glück. Wann hätte unerfahrene, fast kindische Glut im ersten Taumel sinnlichen Rausches nach den unausbleiblichen Folgen gefragt? Und nun gar ein Wesen wie dieses! Ohne Mutter aufgewachsen! An der Seite eines Vaters, dem kalter Hochmut für edlen Adelstolz, dem egoistische Genußsucht für Lebenszweck, dem oberflächliche elegante Abgeschliffenheit, mit französischen Flittern verbrämt, für Geistes- und Herzensbildung galt, der durch seine Verbindung mit Gottlieben einer Tochter das schädlichste Beispiel gab!

So lange Ludmilla ihres Vaters Maitresse hassen und verachten zu dürfen wähnte, konnte sie sich aufrecht hatten; von dem Augenblicke, wo sie günstiger von jener zu denken begann, war sie verloren.

Und nun erst der Frühling mit seinen bösen Veilchen!

Wär's im November gewesen, wo dieser gewaltige Umsturz jungfräulicher Zurückhaltung vor sich ging! ... da brachten trüber Himmel, nasse, kalte kurze Tage, düster-langweilige Abende mit ihrer Abgeschlossenheit vielleicht noch Rettung. Eine fest in das Schloß Gebannte, nur am Arme des Barons ins Schauspiel Geleitete empfand wohl nirgends verführerisch-entgegenkommende Lockungen! Was in ihr tobte, hätte sich in ihr verzehrt. Aber nun ... der milde März mit lauen Lüftchen, blauem Himmel, blauen Veilchen! Die sonnigen Mittagsstunden! Der große, wenn auch sehr vernachlässigte, doch an dunkelgrünsten Nadelholzgruppen so reiche Schloßpark, der sich unmittelbar um jene uns wohlbekannte, in ein Schauspielhaus (in ein Schauspielhaus, worin er auftrat) verwandelte Reitbahn zog! – Noch vor wenig Tagen hatten förmliche Hohlgänge durch dicken Schnee geschaufelt werden müssen, damit Darsteller wie Zuschauer freie Bahn fanden; heute wandelten sie auf trockenen Pfaden, deren Raine grünten, sogar ein bißchen blühten, was sich beim blendenden Scheine vorgetragener Fackeln allerliebst ausnahm.

Wie undankbar gebärden wir Menschen uns doch gegen harmlose Freuden, welche des Schöpfers Gnade allen gönnen will, sobald unsere persönlichen Wünsche mit der Allgemeinheit in Widerspruch geraten. Ludmilla, obgleich erfüllt und bewegt von den bittersüßen Mysterien des Vorfrühlings, hätte ihn gern wieder zurückweichen, ihn vor einem recht strengen, heftigen, andauernden Nachwinter entfliehen sehen. Denn sie zitterte, daß sich des Barons Drohung bewahrheite, vermöge deren mit Eintritt der schönen Jahreszeit die Bühne geschlossen werden sollte. Sie flehte zum Himmel auf um Aprilstürme und Maifröste; ja den wildesten Pfingstschnee würde sie herabgebetet haben, wie eine seligmachende Ausgießung heiligen Geistes ... um nur Zeit zu gewinnen. Noch stand sie einer möglichen Verkörperung ihrer eben so unklaren als kühnen Träume ganz fern; noch hatte der Komödiantensohn der Reichsbarontochter nichts erwiesen als stumme, ehrerbietige Huldigung; noch waren nur seine, freilich allzu beredten, vielsagenden Augen Verkündiger des Herzens gewesen; Lippen und Zunge hatten sich nur zur unterwürfigsten Begrüßung geregt.

Und sie konnte ihn doch nicht anreden?

Er zwar, allabendlich redete er sie an, so oft er eine Liebhaberrolle gab. Es blieb auch nicht unbemerkt, daß der Liebling aller Kanzburgerinnen auffallend »ins Publikum spielte,« seitdem Gottliebe dazu gehörte und nicht mehr neben ihm auf den Brettern stand. Daß sich die übrigen täuschten, daß sie diese Unart (denn für eine solche erkannte er's in seinem künstlerischen Sinne selbst) auf »Demoiselle« bezogen, wäre ihm ganz erwünscht gekommen. Daß aber die eine, an die er jedwede irgend bezügliche Tirade, vom Schriftsteller dem Liebhaber zugeschrieben, mit feuriger Beredsamkeit richtete, den allgemeinen Irrtum teilen könne, dies zu denken schien ihm entsetzlich. Und dennoch sagte auch er sich bei zufälligen – oder nicht zufälligen – Begegnungen im Garten: Ich darf sie doch nicht anreden!

So standen die Sachen; und sie standen auswendig still, wie lebendig sie sich auch inwendig in den Herzen rührten – als April voll wetterwendischer Launen hervortrat. Die auf langjähriges Beobachten gegründeten Prophezeiungen erfahrener Landleute sprachen von anhaltend schlechtem, kaltem Frühling, von gänzlich verpfuschtem Mai; was um so trauriger überraschte, weil sie gerade kurz vorher entgegengesetzte Hoffnungen gegeben. Ja, sie verkündigten bald, auf unzählige kleine in Wald und Feld wahrnehmbare Anzeichen gestützt, den »elendiglichsten Sommer!« Der Baron ließ sich einschüchtern. Nachdem er eben eine Wirtschaftssitzung mit sämtlichen Beamten gehalten, äußerte er bei Tafel: »In Erwägung solcher Aussichten dürfte es angemessen erscheinen, Bäckers Truppe hier zu behalten, einen Sommer hindurch, der, wie meine Diener behaupten, kein wirklicher Sommer werden zu wollen droht. Meint ihr nicht auch?«

Die beiden »ihr« stimmten zu, beide in heuchlerischer Zurückhaltung und um so vorsichtiger, je willkommener dieser Zeitgewinn dem Reifwerden ihrer sträflichen Absichten erschien. Gottliebe, in seiner Würdigung eines Charakters, den sie sorgfältig studiert, pflichtete nur bedingungsweise bei, indem sie ihr Bedenken kundgab, ob auch nicht allzu bedeutende Unkosten auf die Länge aus dieser »Theatergeschichte« erwachsen könnten? Hätte noch ein Zweifel in der Seele des Barons geschlummert, durch diese Frage, davon hielt sie sich überzeugt, ward er beseitigt; denn sie kannte hinreichend des Mannes Hochmut. Geldrücksichten existierten schicklicherweise für einen Tauern-Kauzburg nicht. Jetzt galt's für abgemacht, und die Oberintendanz wurde bevollmächtigt, dem Unternehmer Bäcker seines Engagements Fortdauer anzuzeigen. Des Ortes sämtliche Bewohner, das Direktor Kleemannsche Ehepaar ausgenommen, vernahmen die rasch verbreitete Kunde mit jubelnder Freude. Die Nachbarschaft stimmte ein: Wieviel bequemer und ergötzlicher wurden in besserer Jahreszeit, mochte sie relativ auch noch so schlecht sein, die nächtlichen Heimfahrten aus Thalias Tempel!

Vater Bäcker hatte kaum die ihm verheißene Gratifikation fürs erste und den schriftlichen Vertrag fürs zweite Semester in der Tasche, als er auch schon darauf hinarbeitete, sein Personal durch einige neue Mitglieder zu verstärken. Klimene bewies ihre Besserung dienstbeflissen durch Nachweisung einer empfehlungswerten hübschen Schauspielerin für einen Teil ihres Faches, welcher sie »auf der Flucht« begegnet war. »Jünger, hübscher als ich,« versicherte sie großmütig, »und nicht ohne Talent.«

Bäcker verglich sie, Klimenen nämlich, mit einem umgekehrten Engel und erklärte sich gegen Gottliebe, die den Ausdruck anstößig fand, dahin: »Sonst, meine hochzuverehrende Demoiselle Generalintendant, wurden gefallene Engel zu Teufeln; in meiner armen Nachbarin hat sich das Prinzip umgekehrt und ein zu Falle gekommener, nur durch nachsichtiges Erbarmen vor gänzlichem Untergange geretteter Satan hat sich in einen Engel verwandelt. Ich bin wie im Himmel.«

Kühn gemacht durch das Bewußtsein neuerdings gesicherter Existenz rückte er jetzt auch mit dem Antrage ins Feld, den er aus Furcht vor Kleemanns Antagonismus bisher verschoben, sich als Franz Moor, auf den er sich etwas einbildete, und den er vor hohen Potentaten glorreich exekutiert, den ihm sein naseweis-genialer Bengel von Sohn hierorts vor der Nase weggespielt habe, nun endlich zeigen zu dürfen! Was der Junge als Karl leistet, ist stupend; was er als Franz aufstellen will, ist stupid! Ich denke durch meine Auffassung und Repräsentation den Beweis ad oculos zu demonstrieren. Und ihm kann es nur zu statten kommen, wenn er nicht mehr nötig hat, Aufmerksamkeit wie Kraft an superkluge, jede Tradition mit Füßen tretende Experimente zu vergeuden, sondern sich einzig und allein auf seinen Part beschränkt; dann erst wird er sich in seiner ganzen Größe entfalten. Ich spreche das unumwunden aus, obwohl ich der Vater bin; in seiner ganzen Größe! Demoiselle, ich habe den großen Maximilian Scholz gesehen, habe neben ihm gespielt, der vor beinahe zwanzig Jahren als Karl Moor glänzte. Ich darf behaupten, daß unser Wulf jenen erreicht, wo nicht übertrifft, sobald nur der Appendix, den er sich mit dem Franz angehängt hatte, abgestreift ist. Ich darf aber auch behaupten, daß ich der Akteur bin, besagtem Franz die Geltung zu verleihen, die Schiller ihm zudachte. Erst im Kontraste, den Wulfs Amphibientum neulich verwischte, wird der ganze volle Effekt hervorbrechen ... und er wird schauderhaft sein, wie ich mir schmeichle!«

Diesen schauderhaften Effekt zu bewirken, räumte die weibliche Oberdirektion einen der letzten Apriltage ein. Der Baron wurde rechtzeitig darauf vorbereitet. Anfänglich wallte sein Widerwille noch einmal empor, nach und nach aber fügte er sich dem Unvermeidlichen und beschloß, an diesem Tage eine längst beabsichtigte Fahrt nach der Oberförsterei zu unternehmen. Er war in diesen äußersten weitabgelegenen Winkel der Herrschaft noch gar nicht gedrungen, wie angelegentlich auch sein rüstiger Waldmeister ihn immer aufgefordert, sich am Anblick eines altgeschonten, reichbestandenen Forstes zu erquicken! »So schlagen wir,« sagte er zu Gottlieben – und dieses »wir« klang voll günstiger Vorbedeutung melodisch an ihr Ohr – »so schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe; ich thue dem Oberförster seinen Willen, und wenn wir spät heimkehren, darfs niemand Wunder nehmen, daß wir das Schauspiel abandonnieren müssen. Bäcker Vater und Sohn mögen sehen, wie sie ihre schauderhaften Effekte ohne mich zustande bringen; ich aber bin die Räuber los, an welche nur zu denken mich drück wie der Alp!«

Dies kleine Reiseprojekt war geheim gehalten worden bis zum Augenblicke der Abfahrt. Erst beim Frühstück erfuhr Ludmilla davon. Der Vater gab ihr die Bewilligung, heute Abend ohne ihn und ohne Demoiselle, in Begleitung der Gräfin Krom und deren Töchter die Manege zu besuchen. Kaum war ihr die Erlaubnis erteilt, kaum hatte sie versucht, ihr Befremden zu äußern, als auch schon des Büchsenspanners offizielle Formel: »Vorgefahren, Erlaucht!« sich vernehmen ließ, und der Aufbruch erfolgte. »Amüsiere dich gut in der abscheulichen Henkerkomödie, mein Kind,« rief der Baron, da er ihr die Hand zum Abschiedskusse reichte. »Adieu, Ludmillchen,« sprach Gottliebe, küßte sie auf die Wange und redete ihr ins Ohr: »Hübsch behutsam, daß Kroms nichts merken!«

Diesen mit Honig bestrichenen Giftpfeil drückte sie scheidend der Jungfrau ins Herz.

Ludmilla blieb am Tische sitzen und starrte sinnend und träumend vor sich hm. Was sollte sie vor Kroms verheimlichen? Gab es denn schon ein Geheimnis zu verbergen? Wähnte ihre Gegnerin von ehedem, die sich jetzt ins Gewand schwesterlich-verführerischer Zutraulichkeit hüllte, daß zwischen Wulf und der Baronesse bereits ein intimeres Verhältnis bestehe? War es Gottliebe gewesen, welche den Baron zu dieser unvorhergesehenen Fahrt angetrieben? Und in welcher Absicht? Wie konnte die heutige Vorstellung beitragen, den Schauspieler, der ja doch durch Orchester und Lampen von ihr getrennt blieb, ihr näher zu bringen? Weshalb sollte sie heute vorzugsweise »hübsch behutsam« sein? Wußten Kroms nicht so gut wie alle übrigen, daß Wulfs Talent sie entzückte? Teilten sie nicht dieses ihr Entzücken?

Das feurige Mädchen vertiefte sich in die unwahrscheinlichsten Voraussetzungen und Möglichkeiten. Seit Gottliebens Austritt von der Kauzburger Bühne verfolgte sie einen Gedanken, wurde vielmehr von ihm verfolgt, der ihr keine Ruhe gönnte, und der auf nichts Geringeres ausging, als den leergewordenen Platz persönlich einzunehmen. Sie bildete sich ein, Beruf in sich zu fühlen, sie hielt sich für eine geborene Schauspielerin; sie verwechselte die Vorspiegelungen heißen Blutes, die sehnsüchtige Begier, an seiner Seite zu stehen, in seinen Armen zu liegen, ihn auf den Brettern für sich sterben zu sehen, mit dem wahren Triebe, welchen Liebe zur Kunst einflößt. Ja, sie hatte schon begonnen, im stillen allerlei Rollen zu memorieren, und übte die beglückendsten Scenen derselben bei verschlossener Thür fleißig ein. An des Barons entschieden ausgesprochene Mißbilligung kehrte sie sich dabei nicht, dachte nicht an ihn, dachte nur an Befriedigung kindischer, dennoch bedenklicher Wünsche, nur an die unmittelbare Nähe des Geliebten. Ging jedoch die Schöpfungskraft ihrer Phantasie auf die Neige, hatte sie sich in überschwenglichen Täuschungen erschöpft, kehrte sie in die ernste Wirklichkeit zurück ... dann sanken Hoffnung, Mut, glühende Erwartung, und unbefriedigende zaghafte Wünsche blieben übrig. So auch heute am leeren, längst abgeräumten Frühstückstische, wo sie die Diener ihr selbst überlassen hatten.« Das Vorzimmer stand leer. Wenn die Katze nicht zu Hause ist, haben die Mäuse frei tanzen. Alle waren ihren kleinen Bedürfnissen und Gelüsten nachgegangen. Als Direktor Kleemann atemlos eindrang, fand er niemand, der ihn gemeldet hätte. Dennoch wollte, ja mußte er zu erforschen suchen, ob es wirklich der Baron sei, der durch die Hallen des Schloßhofes auf und davon gefahren. Er wagte zu pochen an die wohlbekannte Pforte vor dem Platze seiner außerordentlichen Morgenaudienzen. Es galt sich zu überzeugen! Ludmilla schreckte ängstlich auf: Sollte sich jetzt schon Gottliebes Rätsel lösen? War das Wulf? ...

Mit bebender Stimme sprach sie: »herein!« Doch da sie den ihr gleichgültigen Amtmann erkannte, wußte sie kaum, ob sie ihn verwünschen, ob sie ihn segnen sollte, weil er sie von einer Todesangst befreite. Sobald der getreue Beamte Gewißheit erhielt dort der den ganzen Tag dauernden Abwesenheit des Herrn, brach er in laute Klagen aus über die unselige Räubertragödie. Hatte er sich doch schon dem süßen Wahne hingegeben, die ganze Komödiantenwirtschaft werde mit dem Winter zu Ende gehen! Nun blieb die »Bagage,« und die Gewißheit ihres Bleibens wurde auch noch durch Wiederaufnahme des ihm besonders verhaßten Dramas gefeiert, dessen Andenken er schon entschlafen gemeint! »Ich habe versäumt,« begann er mit stehend gefalteten Händen zu Ludmilla gewendet, »jene mir besonders gefährlich erscheinenden Subjekte seither scharf zu überwachen, weil ich das Stück für begraben hielt. Die gestrige Probe hat mir das Gesindel wiederum rebellisch gemacht. Es blieb nichts übrig, als den vorlautesten Schreiern jede Mitwirkung von Amts wegen zu untersagen. Da behauptete der übermütige Laffe, der sich mit seinem gespreizten Heldentums brüstet, er habe zu wenig Banditen; und da hat sich der versoffene Dekorationskleckser und Theatermeister auf die Beine gemacht, um Aushilfe in der Umgegend zusammen zu suchen. Gott mag wissen, was für Volk der aufgetrieben hat? Der besagter Maler Huhasch, so alt und grau der Saufaus schon sein mag, ist ein unverfälschter Sansculotte, gnädige Baronesse; ein Kerl, der seiner Zeit in Mainz mitgemacht und manches ehrlichen Menschen Sohn unters blutige Hackemesser geliefert haben soll. Ich bitte Sie um alles in der Welt, autorisieren Sie mich im Namen Ihres leider abwesenden Herrn Vaters, eine Umänderung zu treffen. Ich werde dem Prinzipal energisch insinuieren, daß er die erste beste Farce mit seiner Bande agiere!«

Ludmilla erwiderte heftig: »Was fällt Ihnen ein, Direktor Kleemann? Auf meine Bitte hat Vater die zweite Aufführung eines Schauspiels bewilligt, welches er nicht liebt, dessen Genuß er mir doch deshalb nicht entziehen wollte. Ihre Gegeneinwendungen sind ja neulich schon beseitigt, und die Sache ist bereits abgemacht worden. Und Ihre Besorgnisse erscheinen wirklich übertrieben, um nicht einen schärferen Ausdruck zu gebrauchen. Wenn Herr Wulf, der uns allen durch sein seltenes Talent so viel Freude bereitet, Ihren Beifall nicht hat, so scheint mir das kein Grund, andere dieser ihrer Freude zu berauben. Es ist auch kaum denkbar, daß er den Räuberhauptmann außerhalb des Theaters fortspielen werde. Und wozu haben Sie denn Ihre Amtsdiener und Landdragoner? Von Ihnen verlangt niemand, ebensowenig wie von Ihrem Herrn, daß Sie sich Zwang auflegen; Sie können ja ebenso gern wegbleiben als mein Vater, um Ihren Abend angenehmer zuzubringen. Chacun à son goût! und ist mein Geschmack Ihrer Ansicht nach ein schlechter, so muß ich mir's gefallen lassen. Die Räuber werden heute Abend aufgeführt; das darf ich verlangen; ich bin in meinem Rechte, und ich lasse mir's nicht streitig machen!«

»Darauf hab' ich nichts weiter zu entgegnen,« sagte Kleemann sichtbar beleidigt. »Meine Schuldigkeit ist gethan, und ich empfehle mich.«

Um ein geläufiges Gleichnis zu gebrauchen: durch dieses Zwiegespräch ward Öl ins Feuer gegossen. Die junge Dame fand sich ein großes Stück Weges vorgeschoben auf ihrer Bahn ins Verderben. Zum erstenmal hatte sie, was in ihr gärte, deutlich genug ausbrechen lassen. Es war eben keine große Menschenkenntnis erforderlich, einen tieferen Blick in ihren Zustand zu thun. Und wir dürfen uns nicht Wundern, daß Kleemann seine redliche Ehehälfte mit der Klage betrübte: »Gott steh' uns bei, die Baronesse ist närrisch verliebt in den Komödiantenjungen! Was werden wir noch erleben in unserm armen Kauzburg? Aber das kommt davon: wie die Alten sungen, zwitscherten die Jungen.«

Ludmilla verlebte einen wonnevollen Tag. Sie durfte sich ungestört der Einsamkeit hingeben und in dieser ihren bilderreichsten Visionen. Das Diner, hatte sie dem Kammerdiener befehlen lassen, solle auf ihrem Zimmer serviert werden, und der Tafeldecker solle sich nicht bemühen; ihre Jungfer werde sie bedienen. Sie wollte durch nichts an Rang, Zwang, Stand und damit zusammenhängende Förmlichkeiten erinnert sein. Die »Livree« hätte sie aus dem Reiche geträumter Künstlerexistenz ins Gebiet reichsfreiherrlicher Wirklichkeit zurückgeschreckt. Dorchen, wenn sie ab- und zuging, konnte ja ebenso gut das Kammerjüngferchen einer berühmten Schauspielerin vorstellen, einer in irgend welcher großen Stadt des Auslandes kürzlich eingetroffenen mysteriösen Fremden, welche auf der Bühne durch Geist und Schönheit entzückte und ihre hohe Herkunft der Kunst zuliebe für einige Zeit verhüllt hatte! Der Kunst zuliebe ... und einem Künstler, der sie entführt habe ... so munkelte man!

In diese Schwindelhöhe verstiegen sich bereits Ludmillas Träume, bei denen sie sich zwar nichts eigentlich Arges dachte, weil sie die Gefahren des Ärgsten noch nicht kannte, in denen sie sich aber doch auch selbst verlor, weil keine wahrhaft poetische Schwärmerei als Veredlerin gemischter Gefühle einwirkte. Sie stand am Rande des Abgrundes. Nur eines Anstoßes bedurfte es, und ihr Geschick war entschieden.

Als ob der Himmel Trauer anlegen wolle über ihren Fall, zogen sich die finstersten Wolken zu abscheulichem Wetter zusammen. Der Regen strömte herab, der Sturm heulte dazwischen. Ihr behagte der Elemente Aufruhr. »Unmöglich,« sprach sie lächelnd zu Dorchen, »unmöglich, daß Vater und Demoiselle heute heim kommen; sie werden gezwungen sein, beim Oberförster zu übernachten.«

Dorchen erwiderte dies Lächeln mit pfiffigem Blicke, der mehr fragte als sagte. Die Herrin fing ihn auf, gab ihn ermutigend, herausfordernd zurück. Darauf meinte die kecke Zofe: »Gnädige Baronesse werden sich so allein schrecklich langweilen heut' Abend.«

»Was fällt dir ein? haben wir nicht Theater?«

»Ich weiß wohl. Aber nach der Vorstellung! Man ist nicht in der Lage zu schlafen, wenn man solch' ein Stück mit angesehen hat. Das regt gar zu viel auf. Besonders der Herr Bäcker, der Sohn nämlich! Der geht mir dann immer nicht aus dem Kopfe, die ganze Nacht. Das ist schon ein zu herrlicher junger Mann!«

Gestern wäre der Unverschämten wegen solcher Äußerung unfehlbar Schweigen geboten worden. Heute geschah nichts dergleichen.

Dorchen schrieb sich's hinters Ohr und dachte wahrscheinlich: über kurz oder lang wird sie mich nötig haben! Die sogenannten Jungfern in herrschaftlichen Diensten sind gewöhnlich mit seinen Instinkten ausgestattet. Dorchens Lockenbüschel glichen Fühlhörnern. Deshalb verfolgte sie ihre Forschungen fürs erste nicht weiter und Zog sich gebührend zurück. Mit sich allem, meinte sie, kommt ein Mädchen am weitesten, wenn es recht verliebt ist: ich kenne das.

Sie ließ Ludmillen ungestört.

Aber die Theaterstunde näherte sich, und noch hatte Gräfin Krom kein Zeichen ihrer Ankunft gegeben. Sie pflegte doch sonst auf ein paar Minuten vor Beginn der Darstellung auf dem Schlosse einzusprechen, oder ihre Töchter holten die Baronesse zur Manege ab. Wo blieben sie heute? Sie, die sich auch so lebhaft für eine Wiederholung der Räuber interessiert hatten? Sollte das Wetter ... Es ist in der That furchtbar. Wie, wenn die Damen sich hätten ganz und gar abschrecken lassen? ... Des Barons Bewilligung zum Besuche des Schauspiels lautete entschieden auf »weibliche Begleitung!« Durfte Ludmilla wagen, ohne diese sich im Publiko zu zeigen? Mußte sie nicht fürchten, durch solche Kühnheit des heftigen Vaters Zorn zu reizen? Krampfhafte Angst schnürte ihr Brust und Kehle zusammen bei dem Gedanken, sie könnte heut' Wulfs Anblick entbehren müssen. Und doch ... die Gewißheit so unerträglicher Entbehrung rückte ihr von Minute zu Minute näher. Dorchen wurde berufen, um Rat befragt. »Für ihre Seele gern hätte sie der Gebieterin Bedenklichkeiten in den Wind geschlagen; aber mit Seiner Erlaucht sei nicht zu spaßen; und allerdings, recht schicklich sei's für eine solche vornehme Dame nicht; was würden die Herren denken? und die Regenflut nehme noch immer zu; es müßte gerade angespannt werden. Aber wenn nur lieber die Gräfin käme! Sicherer wär's halt doch!«

Ludmilla hörte aus diesen abgerissenen Sätzen wenig Trost heraus. Mehr bittend als gebietend sprach sie: »wolltest du dich vielleicht selbst überzeugen, ob die Damen nicht schon auf der Galerie sitzen? Gewiß sind sie heute gleich am Theater abgestiegen des heftigen Regens halber. Gewiß erwarten sie mich! Oder fürchtest du naß zu werden?«

»Für meine gnädige Baronesse geh' ich zehnmal ins Wasser statt einmal; und wo es am tiefsten ist! Und bringe ich in fünf Minuten nicht Antwort, so bin ich ersoffen, oder es hat mich der Sturmwind über die Dächer geblasen.«

»Nimm einen Regenschirm!«

»Nicht doch; den könnt' ich nicht regieren. Ich mummle mich ein.«

Mögen Sturm und Flut draußen noch so arg gewütet, die leichtfertige Dienerin noch so grausam zerzaust und durchnäßt haben, dennoch war ihr Zustand beneidenswert, verglichen mit dem ihrer im wohlverwahrten Gemache zurückbleibenden Herrin. Jene zählte laut lachend und gegen den Sturm sich zur Wehr setzend die wenigen Schritte und vielen Pfützen, die sie noch vom Ziele trennten; diese zählte voll ungeduldiger Qual die Sekunden bis zur Rückkehr der Botin. Welche Marter! und dabei welche Widersprüche in ihr selbst: Mit dem Komödianten in wildfremde Gegenden zu fliehen; den Schlössern, worin ihr Vater herrschte, und ihm für immer den Rücken zu wenden; sich in eine Ungewisse, vielleicht elende Zukunft zu stürzen ... das hatte sie sich erst vor einigen Stunden möglich, ausführbar, himmlisch, romantisch, groß gedacht! Auf drei Stunden sich dreihundert Schritte weit aus dem Schlosse in die Reitbahn zu wagen und daselbst einer theatralischen Aufführung beizuwohnen ohne Gräfin Krom und deren Töchter ... das erschien ihr wie ein allzu kühnes Unternehmen, wie eine offenbare Widersetzlichkeit gegen väterlichen Befehl. Was Wunder? Geht es uns Menschen nicht in tausend Fällen allen so? Unterliegen wir nicht kleinlichen Rücksichten, und werden wir nicht durch armselige Bedenklichkeiten der Konvenienz häufig (auch leider bei Durchführung guter Absichten) auf thörichte Weise gehemmt, während wir, von Leidenschaft gepeitscht, sonder Bedenken und ohne Rücksichten uns in den Strudel des Verderbens stürzen? Wie viel mehr ein solches Mädchen, in solcher Umgebung herangewachsen! Die größten Ereignisse des Lebens verschwimmen vor trunkenen Blicken in rosiger Ferne, zeigen sich klein, spielend zu bewältigen; dagegen die kleinen Erbärmlichkeiten nächster Gegenwart mit dem Auge nüchterner Gewohnheit betrachtet dünken unbesiegbar groß. Bevor wir mit diesen gebrochen haben, bleiben wir vorsichtig, furchtsam. Sind die Brücken hinter uns verbrannt, gilt keine Verstellung, keine Lüge mehr, dann stellt sich der Mut ein .. war' es auch nur der wohlfeile Mut der Verzweiflung.

Triefend wie eine »versäufte Katze« kam Dorchen wieder, wollte jedoch die gnädige Baronesse nicht überschwemmen und bat untertänigst ihren Bericht draußen entgegenzunehmen, wo ohnehin schon alles ein Teich sei; »denn es rinnt von mir in Strömen.«

Der Bericht lautete dahin, daß von Gräfin Krom und den Komtessen nicht eine Nasenspitze zu erblicken, daß die Galerie überhaupt von Damen »gänzlich entblößt,« und im Vergleiche mit anderen, sogar den härtesten Winterabenden auch sehr wenig Mannsvolk anwesend sei. Übrigens hätten sie auf der Bühne schon begonnen, und der ältere Herr Bäcker schleiche als boshafter Graf Moor herum, wie wenn er den Eiertanz aufführte. Es würde wohl heute nicht gar schön ablaufen, denn vor leeren Stühlen könnten die Spieler unmöglich ihre Sache gut machen! Und was dergleichen niederschlagende Pülverchen mehr waren, die sie der Fiebernden löffelweise darbot. Nur der letzte Löffel wirkte, weil er eine schlau gemischte Dosis von Schmeichelei und Wahrheit enthielt. »Die Spieler, welche heute ihre Sache unmöglich gut machen können!« – Das ließ sich deuten: Wulf wird es nicht der Mühe wert halten, sich anzustrengen, wenn diejenige fehlt, deren Gegenwart ihn sonst beseelt. Der Nachschmack versüßte die bittere Arzenei. Noch ein Schüttelfrost, noch eine heiße Aufwallung ... und Dorchen empfing die Weisung, Ludmilla zu entkleiden ... ihr das Nachtgewand zu reichen ... sie allem zu lassen. Auch wenn wider Erwarten der Baron heute noch einträfe, wolle sie vom Souper wegbleiben. Sie habe, sich unwohl gefühlt und sich zur Ruhe begeben, solle man ihm sagen.

Zur Ruhe!

Nun ja, sehen wir sie, halb entkleidet, das von kurzgeschnittenen (»Schwedenköpfe« nannte man's) dunklen Locken umwallte Haupt an die hohe Rückenwand des Sessels gelehnt, wie zum Tode ermattet vor uns, die Lider gesenkt ... auch wir würden sagen, sie ruht aus von heftigen Stürmen, die durch ihre junge Seele getobt, nicht minder heftig in ihrer Art, als jener, der draußen den Regen an die Fenster schleudert. Könnten wir aber den verdunkelnden Schirm von der Lampe wegzaubern und schärfer ihre Züge betrachten, da würden wir entdecken, daß es in ihr tobt, wühlt und zittert, daß Mundwinkel, Finger, Füße fortwährend zucken, daß Blut wie Nerven in stürmischem Aufruhr geblieben sind, während ihre edlen Gliedmaßen, von des Tages Kämpfen wie gebrochen, völliger Erschöpfung verfielen. Das sind Vorzeichen einer schmählichen Niederlage jungfräulichen Stolzes, sittsamer Zurückhaltung, schützenden Selbstgefühls. Solche Vorzeichen täuschen manchmal und gehen glücklich vorüber, wenn sich's günstig fügt, daß keine Gefahr hinter der Thür lauert, daß Zeit und Vernunft Raum gewinnen, ein heilsames Gleichgewicht herzustellen. Tritt jedoch die gewaltigste aller verführenden Mächte, tritt die Gelegenheit fördernd ein ... dann giebt es für sinnliche Naturen, denen weibliche Bildung im vornehmsten Sinne des Wortes mangelt, keine Rettung mehr, und ihre letzte Stunde hat geschlagen.

Billigerweise müßten strenge Sittenrichter, Männer wie Frauen, bevor sie unbedingte Verdammungsurteile in die Welt schicken, dies alles in Erwägung ziehen, wofern sie volle Gerechtigkeit üben wollten. Aber wo ist solche zu finden? Auf Erden selten oder nie, so lange irdische Richter herrschen. Die hat der liebe Gott sich vorbehalten, und auf den darf zuletzt jedes weibliche Geschöpf hoffen, dessen Thaten tugendreiche Mitgeschöpfe verdammen, ohne deren Ursprung zu erkennen und zu würdigen; ohne zu begreifen, daß häufig, was sie »schlechte Thaten« schelten, weniger gethan, als vielmehr erduldet war. Seltsam genug werden die scharfkantigsten, verletzendsten Steine geworfen, von eifrig-frömmelnden Bekennerinnen jener Lehre, deren milder Prophet den göttlich-warnenden Ausspruch vom »Aufheben des ersten Steines« gethan.

Das war eine Abschweifung; sie gehörte hierher, konnte nicht vermieden werden. Wir fahren in unserer Geschichte fort.

Ludmilla spielte mit ihrer Einbildungskraft alle Auftritte der welt- und himmelstürmenden Tragödie durch, als ob sie nicht in ihrem Lehnsessel, als ob sie auf der Galerie vor offener Scene säße. Sie sah den rasenden Jüngling, hörte ihn seine fürchterlichen Flüche austoben, vernahm die schrecklichen Racheschwüre, die nur einem niederträchtigen Bruder gelten, die ihn aber Feuer und Schwert gegen alle Menschenbrüder richten lassen, gegen die »falsche heuchlerische Krokodillenbrut!« Sie folgte der wilden Bande auf Raub- und Mordzügen. Für sie gab es in jener Abendstunde keine Verbrechen, keine Grausamkeiten, keine brennende Stadt, keine wimmernden Greise, Kinder; für sie gab es nur einen unwiderstehlichen Helden, auf dessen Hute der rote Federbusch weht, der entsendet ist, das Unrecht der Erdenwelt auszugleichen, der haßt, was sich überheben will, der vernichtet, was er haßt, der nur Eine liebt ... nur Amalien liebt ... nicht doch, nur Ludmillen!

Sie war dem Gange der Handlung gefolgt bis an den Turm, in dessen moderigen Grundgewölben der alte Graf sein Schauderdasein als lebende Leiche fristet. Da ertönte das bekannte Räuberlied, dessen Weise eigentlich nur für eine Nachahmung des feierlichen » Gaudeamus igitur« gelten kann – wogegen sich unseres Bedünkens die deutsche akademische Jugend längst hätte auflehnen müssen, wenn sie es nicht vorgezogen, hier und da vom Parterre aus mit einzustimmen; was denn doch eine bedenkliche Verwirrung der Begriffe genannt werden darf. –

Ein freies Leben führen wir ...

Ist's der Sturm, der mitsingt? Oder trägt er den Nachhall des Chores bis zum Schlosse herüber? Das ist keine Täuschung: immer deutlicher treten die schauerlichen Klänge hervor, einzelne Silben schlagen vernehmlich an die schwirrenden Fensterscheiben, an welche kurz vorher dicke Tropfen schlugen. Der Regen hat nachgelassen. Der Mond blickt gespenstig-bleich und kalt durch zerrissene Wolken. Dumpfe Windstöße stöhnen wie Klageruf der Natur durch die Melodie, welche immer näher rückt. Immer näher! Das ist kein Spiel mehr der Phantasie. Das ist Wirklichkeit! ... Jetzt schweigt der rohe Gesang. Das Sturmgeheul nimmt wieder zu. Es zieht durch den Schornstein ins Gemach. Die Teppiche zittern und wehen hin und her vor den Thüren. Die Lampe flackert ängstlich.

Heut' kehren wir bei Pfaffen ein ...

Ich Schloßhofe schallt es wieder. Es dröhnt die Vorhallen entlang.

Da giebt's Dukaten, Bier und Wein ... und allons enfants de la patrie ... und ça ira, les aristocrats à la laterne! ... Klirr! ... zerbrochene Glastafeln ... immer näher, immer näher der Lärm ... Dorchen und Lisette stürzen herbei: »Aufruhr! Empörung! Revolution! Die Räuberbande kommt! Der besoffene Dekorationsmaler führt sie an! Sie wollen plündern! Wer rettet uns? Wir sind verloren! wir sind ermordet! Baronesse, fliehen wir, eh' es zu spät wird!«

Es ist zu spät! Gewaltsame Fußtritte sprengen die von den weinenden Mädchen vorgeschobenen Riegel, und es gellt ins Zimmer:

Dann trinken wir uns Mut und Kraft,
Selbst mit der schwarzen Brüderschaft,
Die in der Hölle bratet.

Durch die Masse drängt sich, trunken wie gewöhnlich, der wüste Huyasch.

»Haha, Jüngferchen, finden wir dich allein im Nest? Der souveräne Baron ausgeflogen mit dem hochnäsigen Kebsweibe? So traf sich's gut! Heda Burschen, nehmt die zwei unnützen Kammerkatzen hinaus; ich habe mit dem hübschen Baronsmädel allein zu sprechen!«

Ein Wink von ihm und es war gethan. Dorchen und Lieschen verloren sich im tobenden Haufen, und ihr Jammergeschrei wurde übertönt von lauten Ausbrüchen der Ungeduld, welche fragten, wann nun endlich die versprochene Plünderung des Schlosses beginnen dürfe.

»Geduld,« schrie ihnen Huyasch zu. »Erst muß ich wissen, woran ich mit meinem allerliebsten Schätzchen bin. Denn du stichst mir schon lange in die Augen, und mir ist's mehr um dich zu thun bei diesem kleinen esclandre, als um deines Vaters Schatulle.«

Ludmilla stand dem Tollen gegenüber wie eine Wachsfigur, ohne Besinnung, ohne Verständnis dessen, was geschah, ohne Regung. Dem Vogel ähnlich, der vom giftigen Hauche der Schlange betäubt wehrlos in den Rachen starrt, in welchem der Tod ihn erwartet, starrte sie, vom Atem des Säuferwahnsinns angeweht, in das verzerrte Antlitz des ihr fremden Mannes. Sie versuchte nicht einmal, sich ihm zu entwinden, als er sie an den Schultern packte und an sich riß. Sie hörte nicht einmal, daß in demselben Momente eine gewaltige Stimme sich draußen erhob, gebietend und entscheidend, beachtete nicht, daß augenblicklich tiefes Stillschweigen eintrat, sah nicht, daß rasch wie der Blitz ein flimmernder Stahl zwischen sie und jenen fuhr, ihm Stirn und Wange spaltend, fühlte nicht, daß die Fäuste des Elenden sie losließen. Sie blieb bewußtlos. Erst als ein Strom heißen Blutes auf sie herabrieselte, erwachte sie und erkannte den Räuberhauptmann Karl Moor, der in seinem Theaterkostüm, das gerötete Schwert mit der Rechten schwingend, mit der Linken sie hielt und stützte. Huyasch sank auf den Boden; geifernde Flüche mischten sich in das Röcheln des Verwundeten.

Wulf sprach zu der Bande. Was er ihnen sagte, begriff sie nicht. Sie empfand nur den Wohllaut seiner Stimme, der sie durchschütterte und mit Wonne erfüllte. Sie schmiegte sich dicht an ihn, legte ihr Haupt an das seine, kittete sich mit dem Blute, wovon sie überströmt war, an ihn fest.

Wulfs Anrede ward unterbrochen durch Hilfe, die, vom Wirtschaftsdirektor und seinen Beamten geleitet, bald anrückte. Es fielen derbe Schläge auf die Rücken der dummdreisten Eindringlinge, meistenteils liederliche Bursche aus der Umgegend; nur wenige Statisten hatten sich in ihren Theaterkleidern darunter gemischt. Und als diese gewahr wurden, daß die Fremden den Mut verloren hatten, seitdem ihr Anführer besiegt dalag, ja daß sie sich ganz widerstandslos binden ließen, zögerten die Einheimischen nicht, thätige Partei für die Sache des Schlosses zu nehmen. Kleemann befahl ihnen, Hand anzulegen, fest zuzugreifen, setzte aber aufrichtig hinzu: »Deshalb ist euch nichts geschenkt; darauf könnt ihr euch verlassen, ihr Halunken!«

So stellte sich die Ruhe bald her. Die Sieger führten ihre Gefangenen davon und füllten mit ihnen die allzu engen Kerkerräume unterm Schloß. Das blutende Schwein – so bezeichnete der Direktor im gerechten Zorne den Maler – solle nach seiner Wohnung gebracht werden, und der Chirurgus könne den Schurken verbinden, wenn er sonst wolle!

Dorchen und Lisette brachten laues Wasser herbei, die Baronesse vom geronnenen Blute zu säubern. An sich ließ Wulf die Mädchen nicht kommen. Die Flecke wären ihm heilig, versicherte er. Ludmilla lächelte ihm zu.

Sie lag wieder im Lehnstuhl wie vorhin. Wulf stand neben ihr und hielt ihre Hände. Die Kammermädchen standen vor ihnen. Sie brannten auf seinen Bericht über alle Vorgänge und deren Zusammenhang. Wulf kam nicht zum Erzählen. Er stand versunken in Ludmillas Anblick. Erst als diese selbst ihn um Erklärung der unbegreiflichen Begebenheit bat, raffte er sich zusammen.

»Ein Anfänger gleich mir hat noch kein Recht, übelgelaunt und mißmutig an seine Abendaufgabe zu gehen, weil er sich in einer beglückenden Erwartung getäuscht sieht. Ihm soll es um seine Kunst zu thun sein; er soll jede Gelegenheit benutzen, sich zu üben, eifrig die Kraft zu prüfen, und je kleiner die Zahl derjenigen ist, welche sich durch nichts, sogar durch ein Unwetter wie das heutige nicht abschrecken ließen, desto höher steigt seine Verpflichtung, diesen Wenigen womöglich zu genügen. Das seh' ich klar und gestehe dennoch nur mit Widerwillen aufgetreten zu sein, nachdem ich vorher einen Blick aus den Coulissen auf die Galerie geworfen hatte. Klagte doch sogar der Vater, dem sonst nicht leicht die Lust an einer guten Rolle schwindet, ganz vernehmlich: für wen plagt man sich denn heute? Die Aufführung schlich matt und verdrossen vorwärts, zum Teil durch unsere Schuld, zum Teil durch eine Menge scenischer Verstöße und Unordnungen, die eben nicht beitrugen, uns zu animieren. Theatermeister Huyasch hatte sich seit gestern nicht blicken lassen; niemand wußte, wo er steckte. Er fehlte aller Ecken und Enden. Dazu kam noch, daß uns der Herr Wirtschaftsdirektor nur einen kleinen Teil unserer bereits eingeübten Statisten vergönnt hatte. Unbekannte waren erschienen, die sich anboten. Manche von ihnen in einem Aufzuge, als wären sie schon Räuber gewesen, ehe noch der Schneider sie dazu einkleidete. Sie behaupteten, von Huyasch entsendet zu sein, der sie zusammen berufen und bestellt habe. So eifrig für unsere Bühne besorgt ... und nicht anwesend? Wie reimte sich das? Mir gefielen die Helden meiner Truppe nicht. Sie gaben nicht Achtung, hörten nicht auf Vaters Anordnungen, steckten die Köpfe zusammen, machten sich wunderliche Zeichen, versäumten die Auftritte und schienen auf irgend ein Signal außerhalb der Bühne zu lauern, denn sie spitzten förmlich die Ohren, wenn als solches auf dem Theater ein Pfiff ertönte. Mich überfiel ahnende Besorgnis. Im Zwischenakte deutete ich das meinem Vater an, doch der lachte mich aus und spottete: weil unsere Damen nicht auf der Galerie sitzen, steht dem jungen Herrn kein Stecken gerade; es muß auch solche Abende geben, die gehören zum Handwerk. Und wahrlich handwerksmäßig gelangten wir bis zur Scene am Turme. Da gewann die Dichtung so viel über meine Indolenz, daß ich mich ihr überließ, mich mit vollem Feuer hineinwarf, daß ich mich und alles neben, vor, hinter mir vergaß. In den verzweifelten Schwur: ›Rache, Rache dir, grimmig beleidigter, entheiligter Greis‹ schnitt aber ein pfeifendes Gellen, daß sich zweimal nach kurzem Absatze wiederholte. Ich schrak auf, blickte um mich, entdeckte, daß ich mit etlichen Schauspielern allein auf den Brettern stand, die Statisten hatten sich davon geschlichen, und gleich darauf hörten wir sie das Räuberlied draußen gröhlen ... denn Gesang durfte dies tierische Gebrüll nicht genannt werden. Im Auditorium zeigte sich ängstliche Unruhe. Die heimischen Zuschauerinnen aus dem Parterre sprangen von ihren Bänken, die Herren verließen den Saal, die Beamten riefen zur Bühne hinauf: Was geschieht denn? Die Musikanten rafften ihre Instrumente und Notenblätter zusammen, und Herrn Kleemanns Stimme ließ sich kreischend vernehmen: Hab' ich's nicht vorhergesagt, daß es so kommen würde? Was mich betrifft, ich will's nicht leugnen, ich bedurfte einiger Sekunden, meine fünf Sinne zu sammeln, um einzusehen, welche Bedeutung dies überraschende Ereignis haben könne. Meine Kollegen liefen durcheinander, äußerten abweichende Mutmaßungen, endlich hört' ich den Vater ausbrechen: das ist Huyasch, der unverbesserliche Mainzer Revolutionsmensch, der hat's angestiftet. Das Delirium tremens ist bei ihm in Tobsucht ausgebrochen, und nun wähnt er in Frankreich zu sein. Die Kerls wollen bande noire spielen und das Schloß anzünden, um zu rauben. Auf dieses Schlagwort ermannte ich mich, und nun wußte ich, was meine Rolle verlangte. Dem Himmel sei Dank, daß ich die Hauptscene nicht versäumt; ich bin der Erste auf dem Schauplatze gewesen!«

Dies gesagt, nahm er seine rote Räuberhauptmannschärpe, wischte des Malers Blut vom Schwerte und sprach lächelnd: »Die Klinge gehört zu unsern Requisiten; die Flecke dürfen nicht einrosten, sonst muß ich Strafe zahlen. Vater hält pedantische Ordnung. Und deshalb will ich mich jetzt wieder in die Theatergarderobe verfügen, diese Kleidung mit meinem Alltagsrocke zu vertauschen. Gefahr steht nicht mehr zu befürchten; die Unsinnigen sind unter Schloß und Riegel gebracht. Freund Huyasch werd' ich heimsuchen. Hoffentlich hat der schartige Stahl ihn nicht allzu schwer verletzt. Ein Denkzettel kann ihm nicht schaden. Baronesse Ludmilla wird nach den Schrecknissen des heutigen Abends ermüdet sein.«

Er verbeugte sich nicht vor ihr. Er sah sie lange durchdringend an, und wie ihre Augen die seinigen trafen, begann sie heftig zu schluchzen.

»Das ist krampfhaft,« sagte er den beiden Mädchen; »man sollte ihr beruhigende Mittel reichen.«

Dorchen und Lisette eilten davon.

Als er mit Ludmilla allein blieb, näherte er sich ihr noch einmal: »Vielleicht ist diese Minute die letzte, wo mir vergönnt wird, Sie zu sehen, mit Ihnen zu reden. Das heutige Ereignis kann ernste Folgen haben, und es sollte mich nicht wundem, hätte Ihr Herr Vater bei seinem Eintreffen im Schlosse nichts Eiligeres zu thun, als meinen Vater samt uns allen auf und davon zu jagen. Gestatten Sie mir also, mich Ihrem Andenken zu empfehlen. Für dieses Leben sind wir getrennt.«

Er neigte sich zum Lehnsessel hinab, ihre Hand zu ergreifen, die er ehrerbietig küssen wollte. Doch eh' er sie an seine Lippen führen konnte, war Ludmilla aufgesprungen, hatte beide Arme um seinen Hals geworfen und schluchzte: »keine Trennung; die wäre mein Tod!«

»Der Baron! Demoiselle Gottliebe!« erscholl es jetzt im Vorgemach. Dorchen mit Flaschen und Tassen hereinstürzend rief es wie eine Warnung. Wulf riß sich los und gelangte glücklich, ohne noch den Ankommenden zu begegnen, in einen dunklen Korridor. Ludmilla sank in den Sessel zurück. Dorchen kniete zu ihren Füßen und reichte ihr einen kühlenden Trank.

Gottliebe und der Baron traten ins Zimmer.

*   *   *

Ein Erzähler, dessen Hauptzweck in der Absicht liegt, vielerlei Wechselnde und unterhaltende Begebenheiten aneinander zu reihen, um dadurch seine Leser nur spannend zu beschäftigen, der genießt sehr bequeme Vorteile. Er darf Halt machen, wo es ihm beliebt, darf Nebenfiguren ausmalen, wie er will, und gelangt dadurch, oft ohne sein Zuthun, in den Ruf eines gründlichen Charakterzeichners. Derjenige hingegen, dessen Romane eigentlich gewissenhaft und treu durchgeführte Biographien werden wollen, der also seines Helden Laufbahn Schritt für Schritt psychologisch verfolgen soll, dem bleibt wenig Platz im Buche für genügende Entfaltung anderer Persönlichkeiten, um so weniger, wenn im Laufe der Handlung eine Menge derselben zu kommen und zu gehen haben. Deshalb sind wir auch unserer Sache nicht sicher, inwiefern es uns bis jetzt gelungen sein dürfte, die Eigentümlichkeiten unseres Reichsfreiherrn Tauern-Kauzburg mit den flüchtigen Strichen, welche wir an sein Bild wenden durften, deutlich darzustellen. Im günstigen Falle wird der Leser nicht erstaunen, wenn er vernimmt, daß Wulfs Befürchtungen sich gänzlich unbegründet zeigten; daß der Baron die beabsichtigte Plünderung seines Schlosses lediglich wie ein im Rausche gewagtes Narrenspiel betrachtete; daß er die Konsequenzen, die sein Wirtschaftssektor für die Zukunft daraus herleiten wollte, verächtlich von sich wies; daß er es unter seiner »hohen Würde« fand, tiefer eingehende Inquisitorien anstellen zu lassen; ja, daß er endlich zornig wurde über den Antrag, die Schauspieler fortzuschicken. »Hätten Sie,« so ließ er sich gegen den tiefgekränkten Kleemann aus, »in Ihrer übertriebenen Ängstlichkeit unseren Leuten nicht verboten, sich als Statisten unter die Räuber zu mischen, so würde jener Saufaus nicht nötig gehabt haben, eine Rekrutierung in der Nachbarschaft anzustellen. Durch diese Strauchdiebe ist natürlich sein verwirrtes Gehirn erst auf die abgeschmackte Tollhäusleridee geraten, meine Abwesenheit für solchen coup de main zu benutzen. Die Schlingel wußten, daß kein Mann zugegen sei, und Ihr habt Euch benommen wie die Schlafhauben. Ich will nichts weiter von der Sache hören! Als Grund- und Gerichtsherr befehle ich, daß sämtliche Gefangene gehörig abgeprügelt und sodann fortgeschafft werden. Der Dekorateur, sobald seine Wunde es erlaubt, muß ebenfalls fort. Bäcker soll für einen anderen Kleckser sorgen, wo nicht ein Stubenmaler hier herum aufzutreiben ist, der das Unentbehrlichste liefert. Und nun wünsche ich, daß über den Vorfall nicht mehr gesprochen werde.«

Auf diese Weise ging die Audienz vorüber, welche am Frühstückstische stattgefunden. Kleemann empfahl sich im übelsten Humor, und dieser wird bei Er- und Verteilung der befohlenen Hiebe ohne Zweifel ins Gewicht gefallen sein.

»Die Strafen, wenn auch allzu mild, sind dekretiert,« begann Gottliebe. »Aber wie steht es mit den Belohnungen? Hat sich unser jugendlicher Karl Moor nicht hoch verdient gemacht? Ludmillchen kann ihm nicht dankbar genug sein; doch ziemt es sich keineswegs, daß sie ihn belohne. Dies, dünkt mich, wäre des Vaters Pflicht.«

»Er begehrt gar keinen Lohn,« erklärte Ludmilla mit einer Gottlieben sehr auffälligen Bestimmtheit; »ein Geldgeschenk müßte ihn beleidigen ... und meiner Dankbarkeit hält er sich ohnehin gewiß.«

»Dennoch,« sagte der Baron, »muß ich Demoiselle beistimmen. Der junge Mensch ist würdig, durch eine ihm zugewendete Anerkennung vor seinesgleichen ausgezeichnet zu werden. Ein Geschenk finde ich auch nicht passend, wenigsten? nicht auf frischer That. Später wird er es nicht zurückweisen. Ich denke, ich lasse ihn auf heute zum Diner einladen. Was meint ihr?«

Gottliebe bereute jetzt ihre Voreiligkeit. Eine solche Mittagstafel zu Vieren erschien ihr unter den vorwaltenden Verhältnissen gefahrvoll. Würde der unerfahrene, unter plebejen Umgebungen aufgewachsene Komödiantensohn Gewandtheit genug besitzen, sich ohne Anstoß aus der Affaire zu ziehen? Würde er sich nicht vergessen, ihr oder Ludmillen gegenüber? Eines so bedenklich wie das andere. Würde Ludmilla sich genugsam beherrschen können? Würde der Baron nicht Verdacht schöpfen, Vergangenheit und Zukunft, alte und neue Intriguen betreffend? ... »Ich weiß doch nicht,« entgegnete sie, »ob ihm damit ein großer Gefallen geschehe? Ich fürchte, seine Verlegenheit überbietet die Freude an solcher ihm zugedachten Ehre!«

»Das glaub' ich nicht,« warf Ludmilla ein. »Wer sich zu benehmen weiß, wie Herr Bäcker der Jüngere, würde auch an kaiserlicher Tafel keine Verlegenheit zeigen.«

»Das ist zweierlei,« fuhr Gottliebe fort; »der edle Anstand auf der Bühne, besonders in Kostümrollen, ist gar sehr verschieden vom seinen Anstand in vornehmer Gesellschaft. Man findet Theaterhelden, die mit Rittermantel und Schwert den höchsten Adel entfalten, die sich im Salon betragen wie Schlossergesellen.«

»Das müssen Sie freilich besser kennen als ich, liebe Demoiselle,« entgegnete mit ironischer Betonung die Baronesse; »und für andere möcht' ich auch nicht gut stehen. Hätten Sie aber den Wulf gestern Abend gesehen, wie er sich zwischen mich und den frechen Maler stellte, wie er dann seine Stellung behauptete und die sichersten, dabei doch bescheidensten Manieren zeigte, Sie winden ihm fein-geselligen Anstand ebensowenig streitig machen, als den Adel der Seele. Möglich, daß er zwischen seinen Kollegen und Theaterumgebungen einen andern Ton annimmt, ja vielleicht annehmen muß. Bei uns auf dem Schlosse wird er dahinein gewiß nicht verfallen. Oder hatten Sie sich bei seinen früheren Besuchen über ihn zu beklagen?«

»Durchaus nicht,« antwortete Gottliebe; »ich meinte nur ...«

Der Baron unterbrach sie: »Was sollen diese Subtilitäten? Warum sich den Kopf zerbrechen mit gleichgültigen Kleinigkeiten. Es giebt nur zwei Fälle: entweder euer Protegé beträgt sich an meiner Tafel wie ein anständiger Mensch; dann will ich ihn gern als solchen anerkennen quand même, und ihr werdet euch geschmeichelt fühlen. Oder er vermag das nicht, geriert sich comme un rustre ... tant pis pour lui! ›Es soll der Sänger mit dem König gehen!‹ läßt ja wohl euer Herr Schiller den etwas schwächlichen Valois ausrufen in dem kürzlich erst gedruckten Drama: Jeanne d'Arc? Wir wollen das parodieren: ›der Komödiant soll beim Reichsfreiherrn essen.‹ Morgen ist Schauspiel, also heute!«

Der Kammerdiener empfing Befehl, augenblicklich einen Lakaien zu entsenden.

»Sie werden Probe haben, man wird ihn in seiner Behausung nicht antreffen,« wendete Gottliebe ein.

»Um so besser; dann soll die Einladung erfolgen auf den Brettern und in Gegenwart des Personales, hübsch laut, damit sie's alle hören und sich hinreichend ärgern. Der Neid macht solche Auszeichnung erst vollkommen. Übrigens bin ich neugierig auf den Burschen.«

So schloß der Gebieter das Gespräch.

Neugierig waren sie sämtlich, Herrschaft wie Diener; jeder und jede auf ihre Art. Ludmilla triumphierte. Sie dachte und bedachte nichts, als daß er neben ihr sitzen, daß sie ihn hören, sich seiner Nähe erfreuen werde. Es konnte nicht fehlen, es mußte ihr gelingen, ein vertrautes Wort heimlich mit ihm zu wechseln!

Gottliebe, aus der nebelhaften Umhüllung eines versteckten Liebeshandels längst schon in den Schlupfwinkel weitaussehender Intrigue zurückgetreten, erwog mit sinnreicher Überlegung alle Vor- und Nachteile, welche ihren Absichten lachten oder drohten, und beschloß vorsichtiger zu sein denn je. Den Baron zu täuschen, war nicht so schwierig. Aber Ludmilla durfte, nachdem sie einmal ihre Abneigung gezeigt, Gottlieben zur Vertrauten zu erwählen, mit ähnlichen Anerbietungen nie mehr irre gemacht werden! »Ich bin ja auch ganz entbehrlich; das Schicksal hat mir fernere Mühen erspart; es hat die beiden gewaltsam aneinander gebracht, und daß er ihr nicht mehr entschlüpft, dafür laß ich meiner hochmütigen Baronesse heißes Blut sorgen. Freilich, wenn sie ahnte, daß ich durch ihre unfreiwillige Beihilfe ihre Frau Stiefmama zu werden gedenke, dann vielleicht würde sie sich besinnen, würde auf halbem Wege inne halten; denn sie verabscheut mich ... ah bah, ich kann ihr nicht helfen! Trat ich ihr dafür nicht meinen kleinen hübschen Helden ab? Der soll sie über die Stiefmutter trösten; ich werde ihren Vater über den fauxpas seiner Baronesse Tochter trösten; und wer tröstet mich? Der Titel, der Rang, der Reichtum. Schöne Sachen! Noch aber sind sie nicht mein. Sie gleichen den verzauberten Herrlichkeiten, die der emsige Schatzgräber nach langen beschwerlichen Aufopferungen ausgescharrt; er wähnt sie nur wegnehmen und einstecken zu dürfen? ... ein unbedachter Ausruf der Befriedigung ...und sie versinken für immer. Also Vorsicht! kluge, wachsame Vorsicht! Zunächst heute bei Tafel!«

Die Dienerschaft war sehr alarmiert. Der Kammerdiener und der Küchenmeister vor allen. Dieser, weil er für einen Komödianten anrichten, jener, weil er einem solchen servieren sollte. Die übrigen ließen es nicht an bittern Bemerkungen und boshaften Witzeleien mangeln, hauptsächlich die Kammermädchen.

»Das hat sich meine Demoiselle richtig durchgesetzt,« meinte Lisette.

»Nicht doch,« wendete Dorchen ein, »dafür ist sie zu gerieben; wenn die Appetit verspürt, mit ihm zu tafeln, thut sie's lieber unter vier Augen. Das hat meine Baronesse ausspintisiert.«

Und Lisette sagte: »Mag's nun sein, welche es will, was haben sie denn davon, ihn essen zu sehen? Er wird's nicht anders machen wie jeder andere Mensch, der gute Bissen schluckt. Und mit vollem Maule kann er doch unmöglich gescheit reden.«

Darauf Dorchen: »Liebes Kind, mit den Augen schluckt er nicht, mit denen kann er viel reden, und hat er erst ein paar Gläser starken Wein hinunter, da werden seine zwei Feuerräder meiner Gnädigen über die Schüsseln und Teller weg allerlei verkündigen, 's ist eben nur um den Anfang.«

Auf der Bühne machte die Einladung noch größeren Rumor als in den Vorzimmern. Die Probe wurde unterbrochen. Der Inspizient, sein Scenarium schwenkend, trat vom kleinen Pulte in der ersten Coulisse hervor mitten unter die Probierenden; die weiblichen Mitglieder starrten den Eingeladenen an ... sie hätten kaum erstauntere Gesichter zeigen können, wäre der Schloßlakai ein Ambassadeur des französischen Direktoriums gewesen, der dem Schauspieler Wulf die Leitung des großen Pariser Theaters antrug; die Männer, jüngere wie ältere, zuckten die Achseln und schüttelten die Köpfe. Die Jüngeren flüsterten: dieser Laffe hat doch ein Heidenglück! Die Älteren seufzten: aus dem kann nichts werden, man verdirbt ihn systematisch. Nachbarin Klimene ließ über ihr von Mißgunst verzerrtes Antlitz einen lebhaften Wechsel gelblich-grüner Schlagschatten streifen, durfte jedoch, weil ihr die reuige Eulalia permanent zu spielen geboten war, weder Neid noch Arger explodieren lassen. Sie begnügte sich, die Äußerung hinzuwerfen: mein Herr Stiefsohn wird sich auf dem Schlosse, dem Reichsbaron vis-a-vis ausnehmen, wie »Lottchen am Hofe.« So hieß ein zu jener Zeit immer noch gern gesehenes älteres Singspiel, dem: caprice amoureux oder Ninette à la cour von Madame Favart nachgebildet.

Der Prinzipal schleuderte seiner Gemahlin einen bedeutsamen theatralischen Tyrannenblick zu ... und sie verstummte. Er schwieg ebenfalls. So lange die ziemlich breit gehaltene Invitation des Lakaien dauerte, und auch noch ein Weilchen nachher mag Vater Bäcker die Hoffnung genährt haben, sich ebenfalls genannt zu hören. Nachdem diese Hoffnung mit dem scheidenden Boten verschwunden, hustete er in drei Reprisen seinen gewissen erzwungenen trockenen Probehusten, durch welchen er, was ihn unangenehm berührte, zu maskieren pflegte, und rief, aber heute vergeblich: »Weiter, wenn's beliebt; eine solche Kleinigkeit darf die Probe nicht derangieren!«

Ja doch, eine Kleinigkeit! Ich weiß nicht, was sich größeres hätte zutragen sollen? Sogar der dickbepflasterte, wie man versicherte noch wahnsinnig delirierende Huyasch schrumpfte samt seinen riesigen Unthaten dagegen zu einem unbeachteten Hampelmännchen ein. Der Souffleur streckte den schwindsüchtigen Oberleib aus dem Kasten, schlug nichts mehr an, was im Buche stand, und improvisierte lediglich abgerissene, seiner Phantasie entsprungene Sätze: »Aufs Schloß? – Der Mosjeh Wulf? – Zwei Uhr? – An reichsfreiherrlich erlauchter Tafel? – Nicht mit den Offizianten? – Madame, er allein? – Sie haben heute Schnepfen. – Ich hab' sie tragen sehen, ein großes Bündel, auf den Mann zwei Vögel! – Der Wulf? – Wahrscheinlich wegen gestern Abend? – Bei Tafel? Ah, das ist die aschgraue Möglichkeit!«

»Halten Sie den Rand,« schrie Vater Bäcker zu ihm hinab, »und soufflieren Sie, zum Sakkerment!«

Der arme Einbläser zog sich in die Tonne zurück und murmelte: » Entweder soufflieren – oder den Rand halten; eins von beiden, beides zugleich unmöglich.«

Wulf stand mitten in dem Durcheinander gleich einem, den die Sache nichts anging. Die sogenannte »Ehre,« welche ihm die Mißgunst der Truppe zuzog, ließ ihn kalt, gleichgültig. Er legte ja nicht den mindesten Wert darauf, daß er mit dem Reichsbaron speisen dürfe; ihn durchglühte nur ein Gefühl: Ludmillen sich wieder nähern zu können. Der Baron war für ihn nicht da. Gottliebe ebensowenig. Sie wünscht mich zu sehen – weiter dachte er nichts. Und dieser Gedanke eignete sich nicht, vor dm Kollegen eitel zur Schau getragen zu werden. Er war der erste, die unterbrochene Exposition der Beaumarchaisschen »Eugenie« wieder aufzunehmen. Das veranlaßte Bäckern zu der Äußerung: »Der Junge ist doch höchst remarquabel; den bringt nichts aus der Fassung!« Wie gern mochte Klimene darauf replizieren ... doch sie bezwang sich und stimmte schweigend bei. Ach, sie hätte so viel auf dem Herzen gehabt, wäre ihr Reich nur nicht aus gewesen!

Und die Probe ging zu Ende wie alle früheren, und die Schauspieler »verkrümelten« sich, dieser nach rechts, jener nach links, ihren bescheidenen Mittagstisch aufsuchend und Blicke der freundlichsten Gehässigkeit auf den begünstigten Wulf werfend, der sich heim begab, seiner Kleidung die vorteilhaftesten Seiten abzugewinnen und ... abzubürsten. Denn damals waren noch nicht sämtliche Ansprüche der Gesellschaft auf einen schwarzen Frack und zwei gleichfarbige, vielmehr farblose, formlose, sackartige Beinfutterale gerichtet. Man »kleidete« sich noch mit einiger Sorgfalt. Man stampfte auch nicht mit eisenbeschlagenen Hufen zum Diner; man trug zierliche Schnallenschuhe ... was besonders dem Darsteller jugendlicher Liebhaber im Konversationsstücke und seinem Gebaren auf den Brettern trefflich zu statten kam. Wir nehmen keinen Anstand, die Behauptung zu wiederholen, daß der Anstand von der Bühne verschwunden ist, seitdem die schönen Herrn in modernen Pantalons agieren. Mit ihren Stiefeln haben sie das feinere Charakter-Lustspiel in Grund und Boden getreten.

Als der reichsfreiherrliche Kammerdiener unserem Wulf die Thürflügel zum Empfangzimmer öffnete, lag eben darin eine unwillkürliche Anerkennung, welche einzig und allein des jungen Mannes vorteilhaftem Erscheinen gelten konnte. Denn jener hochmütige Diener eines stolzen Kavaliers hatte sich eigentlich vorgesetzt, den »Komödianten-Laffen,« den er als solchen an und für sich, als von Demoiselle Bevorzugten zwiefach geringschätzte, verächtlich zu behandeln, wie es sich nur irgend mit den Dienstpflichten eines hochherrschaftlichen, als Haushofmeister fungierenden Kammerdieners vereinbaren ließe. Er hatte folglich festgesetzt, daß der Ankömmling, auf dessen verlegene Schüchternheit schon im voraus schadenfroh gehofft wurde, durch eine halboffene Thür eintreten müsse, wie die Schauspieler von den schmalen Räumen zwischen ihren Coulissen ja gewohnt seien. Auch dachte er gar nicht daran, ihn zu annoncieren, was sonst jedem honorigen Menschen widerfährt. – Doch wie der Gast ins Vorzimmer trat, seine allerdings etwas abgenutzte, vom Väter entliehene Houpelande einem Lakaien zuwarf und den Übelwollenden fest anblickte ... da überkam letzteren ein unklares Gefühl notwendiger Unterordnung; und ohne es selbst zu wollen und zu wissen, riß er beide Thürflügel auseinander, vernehmlich hineinrufend! » Monsieur Bäcker fils

Vornehme Naturen gewinnen oft durch momentane Überraschung niedrig gesinnten Neidern einen Sieg ab, der ihnen leider selten günstige Folgen gewährt, weil auf dieser schönen Erde kriechende Gemeinheit zuletzt immer mächtiger bleibt denn leichtsinniger Edelmut.

»Nun, mein junger Held,« begrüßte ihn der Baron, »ich höre mit Vergnügen, daß Sie auch außer der Bühne Ihr Schwert zu führen wissen. Sie haben sich ebenso tüchtig als diskret benommen, und da sie allzu bescheiden sich nach vollbrachter That entfernten, ohne unsern Dank abzuwarten, so wollte ich den meinigen heute nachholen. Nicht allein für den gestrigen Abend, auch für viele vorhergegangenen, bei denen Sie die Zierde unserer theatralischen Vergnügungen gewesen sind.«

» Monsieur le Baron est servi!« meldete der Kammerdiener mit süß-säuerlichem Gesicht, in dessen Falten sich das Duodezteufelchen der Erwartung barg: jetzt macht der Komödiant sicher die erste bévus!

Siehe da! Wulf zögerte keine Sekunde, der Baronesse seinen Arm zu bieten und mit ihr nach dem Speisesaal zu ziehen, wie wenn er von Kindesbeinen Salonluft geatmet hätte. Der Baron folgte, Demoiselle führend, und sagte laut genug: »Der Junge hat Rasse; ich stehe nicht gut, daß Madame Bäcker die Erste ihren ehrlichen Gatten über irgend einem kleinen Prinzen vergaß!«

»Der gute Bäcker,« spöttelte Gottliebe, »er gehört unter die Männer, die ›prädestiniert‹ sind, wie Söller in Goethes Mitschuldigen, glaub' ich, von sich behauptet.«

In wessen Gesellschaft hatte Wulf bisher gewöhnlich diniert? Am häufigsten in seiner eigenen und keiner anderen; als heranwachsender Knabe, wenn die böse Stiefmutter ihm die Olla potrida unbeschreiblicher Überreste in einem Topfe hinreichte, und er, den sichersten Winkel suchend, mit zinnernen Löffel die Brocken verschiedenartiger Naturreiche herausfischte. Als Jüngling saß er wohl ein schlimmes Jahr lang mit den Gesellen seines Tapezierers am gedeckten Tische, von dem er doch unzählige Male aufgejagt und nach Bier oder Wasser weggeschickt wurde. Anständig essen zu lernen gab es dort weder Gelegenheit noch Vorbild. Seitdem er wirklicher Schauspieler hieß, speiste er mit seinen guten, wirtlichen Krämersleuten, reichlich, reinlich, schmackhaft, doch im strengsten Sinne des Wortes aus einer Schüssel, in welche sie alle drei ohne Umstände nach Bedürfnis mit Löffel, Gabel, vielleicht auch mit den Fingern langten und sich's in jeder Weise bequem machten. Schlechte Vorstudien für ein Diner beim Reichsbaron Tauern-Kauzburg! Ich fürchte sehr, der Duodezteufel in des Kammerdieners Gesichtsfalten wird nicht lange harren dürfen, um sein infernalisch-feines Gekicher loszulassen? Und die Blicke der Valetaille sind es nicht allem, die ihn kontrollieren. Auch der Baron wäre gar nicht unzufrieden gewesen, wenn sich Verstöße zum Belächeln dargeboten hätten. Ludmilla zitterte jetzt vor etwaigen Unziemlichkeiten.

Gottliebe kannte ihren vormaligen Liebhaber zwar besser; sie vertraute seinem angebornen Geschick in all' und jedem ... nur gerade essen hatte sie ihn noch nicht sehen; (höchstens trinken!) ihren heimlichen und flüchtigen Zusammenkünften war zu dergleichen substantiellen Genüssen keine Muße geblieben. Deshalb zitterte auch sie, doch nicht für ihn, sondern nur aus Angst, er könne es durch »gemeine Manieren« bei Ludmilla verschütten.

Wulf besaß neben seinem eingebornen höheren Darstellungsberufe auch in bedeutendem Grade jenes untergeordnete Nachahmungstalent, in welchem beschränkte Kritik bisweilen die Haupteigenschaft eines guten Schauspielers zu erblicken vermeint, welches jedoch, genauerwogen, wahrer künstlerischer Reproduktion mehr schaden als nützen wird, wofern es nicht weise begrenzt, streng beherrscht, in engsten Schranken gehalten und mäßig, nur ausnahmsweise auf kurze leichte Scherze verwendet bleibt. Bisher hatte er es auf der Bühne noch nie, im Leben nur zu Schwanken benützt, an denen sich Gottliebe ergötzte, wenn er mit belustigenden Chargen männliche und weibliche Kollegen kopierte. Heute gebrauchte er es im entgegengesetzten Sinne, indem er, ernstlich gemeint, ungezwungen nachzuahmen versuchte, was neben ihm geschah. Noch waren die Teller, aus denen man Suppe genommen, nicht gewechselt, als er schon wußte: die kleinen Weißbrötchen dürfen nicht zerschnitten, sondern müßten gebrochen werden. Bald nachher ließ er sich vorzeigen, lernte und übte praktisch, daß man die Pasteten mit der silbernen Gabel zerteile; daß man Fleisch nicht in kleine Bissen, als ob für einen Hund angerichtet sei, zersäbele, sondern Stück um Stück, ehe man es dem Munde zuführe, zerschneide; daß die linke Hand nicht minder dabei thätig sein dürfe, als die rechte; daß die Bestecke nicht mehr als einmal benutzt, nach jedem Gerichte vertauscht, folglich keineswegs ängstlich gereinigt, vielmehr sorglos hingelegt, dem Tafeldecker überlassen würden; und was ähnliche Armseligkeiten mehr sind, die zum »guten Tone« gehören, und ohne die es, bei all' ihrer Armseligkeit, bald keine behagliche Geselligkeit mehr gäbe. Er beobachtete anfänglich die Vorsicht, keine Bewegung zu machen, ehe nicht das Beispiel der anderen ihn unterrichtet, wie sie zu machen sei. In zehn Minuten that er, als ob er seit zehn Jahren an solcher Tafel sitze. Dann erst, da er sich in die neuzugeteilte Rolle eines reichsfreiherrlichen Tischgastes einstudiert und ihrer vollkommen sicher zu sein glaubte, fing er an sich gehen zu lassen. Und da schritt er kühn über die ihm zugewiesene Partie hinaus. Stand darin vorgeschrieben, daß er auf sämtliche an ihn gerichtete Fragen und Anreden möglichst passende, genügende Antworten zu erteilen habe, so war doch nicht bemerkt, daß in jede derselben, wenn sich's thun ließe, einen Doppelsinn lege, verständlich nur für Ludmilla, unverständlich für deren Vater; – (denn daß Gottliebe ihn vielleicht errate, darum bekümmerte er sich nicht mehr!) – so stand doch nicht bemerkt, daß er nach abgemessenen Pausen, stets nur wenn gerade kein Diener hinter ihr Posten faßte, mit seinen Augen Ludmillas Augen suche, einen Blitz hineinwerfe und sogleich wieder auf die Speisen starre wie der gierigste Feinschmecker.

Begreiflicherweise wendete das Gespräch sich auch auf Huyasch, dessen Wunde leicht heilen, der aber – so hatte der Arzt versichert – dem Säuferwahnsinn unheilbar verfallen würde. Der Baron erklärte sich Willens, den unglücklichen Mann in eine nachbarlich kleinstädtische Anstalt einzukaufen, wo er unter Obhut bleibe bis zum Tode. »Ich betrachte ihn,« sagte er, »für ein Opfer des letzten Decenniums. Bessere denn er sind dem Säuferwahnsinn verfallen, die ihren Durst mit Blute löschen wollten. Die Guillotine konnte nicht allen ihre tollen Schädel vom Rumpfe schlagen, mochte sie noch so fleißig und arbeitsam sein, und Schlechtere gelangten zu Ehren und Würden. Wir leben in einer Zeit, welche jeder Berechnung und Voraussicht sich entzieht. Noch wunderlichere Dinge werden geschehen. Alte Staaten werden einschmelzen, neue werden wachsen, Kronen werden fallen, und Throne wird man wechseln, wie Kinder ihre Stühle, wenn sie Kämmerchen vermieten spielen. Qui vivra verra! Das ganze Welttreiben ähnelt jetzt einer planlos angelegten Tragikomödie. Wir Vornehmen können uns gefaßt halten, daß der anonyme Autor nicht plötzlich die Rollenfächer umtausche. Und ihr Herren vom Theater steht euch eigentlich am besten dabei, denn ihr seid bereits, wozu das Schicksal uns machen will: Komödianten! Ihr habt nichts zu verlieren, höchstens etwas zu gewinnen.«

Diese Äußerung, absichtslos hingeworfen, war halb ernsthaft, halb ironisch gemeint; wie es dem Baron immer geschah, sobald er geistreich sein wollte. Erwähnte, selbstzufrieden genug, den bittersten Groll seines Standes wider die Gegner desselben mit einer wohlschmeckenden Dosis süßen Witzes umhüllt zu haben. Gewissermaßen war ihm das auch gelungen, jedoch in durchaus anderer Art, als er beabsichtigt. Denn Wulf hörte aus jenem antirevolutionären Seufzer nur einen ermunternden Zuruf: »Etwas zu gewinnen!« Ein unmittelbarer Reichsfreiherr, der die Besorgnis ausspricht, unter die Weltkomödianten gehen zu müssen! ... Ein Schauspieler, der gewinnen kann! ... Eine Ludmilla, welche am runden Tische ganz in der Nähe sitzt! ...

Nur wer wagt, gewinnt! erklang es in seiner Seele. Und von diesem Wendepunkte an ließ er die schüchterne Zurückhaltung schwinden, welche der Umgebungen Neuheit ihm bis dahin noch abgezwungen. Die reiche Begabung des Jünglings trat hervor, seine geistigen Fähigkeiten entfalteten sich. Das Dessert brachte edle Weine; wenige Gläser davon genügten, ihn immer beredter zu machen. Ludmilla horchte andächtig, der Baron staunte, aber Gottliebe meinte zu träumen. So hatte er mit ihr niemals gesprochen. Fast wäre sie noch einmal eifersüchtig geworden! Doch der Acceß ging vorüber. Wo unedle Gefühle sich bekämpfen, siegt jedesmal das unedlere. Bei ihr unterlag die Eifersucht; Abneigung gegen die Baronesse und eigennützige Berechnung behielten die Oberhand.

Nachdem die Tafel aufgehoben und der Ehrengast in Gnaden verabschiedet war, stimmte der Baron sein Loblied an: »Ich wundere mich, Demoiselle, daß Sie an des Burschen savoir vivre zweifeln konnten. Ihre Intimität mit ihm war unmöglich so groß, als man mich's argwöhnen lassen, sonst hätten Sie sich die Besorgnis erspart, er werde sich hier nicht zu benehmen wissen! Das ist ein liebenswürdiger Mensch. Ich hegte längst die Überzeugung, er werde einen großen Schauspieler abgeben. Heute hab' ich mich überzeugt, daß er in jedweder Sphäre glänzen müßte, in welche die Verhältnisse ihn brächten. Schade, daß er ein Komödiant ist; er könnte leicht etwas Besseres sein und werden.«

»Ich denke nicht, daß er etwas anderes zu sein wünscht,« erklärte Ludmilla. »Und ich wüßte auch wirklich nicht, was es Schöneres auf Erden geben könnte, als ein allgemein bewundertes Genie?«

Mit einem solchen, von ihren Lippen höchst unerwarteten Ausspruche küßte sie dem Vater die Hand und ließ ihn bei Gottliebe. Diese befürchtete nicht ohne Grund, den Baron werde seiner Tochter heftige Begeisterung für den Schauspielerstand befremden und ihn auf den naheliegenden Argwohn leiten, daß dieselbe weniger dem Altare gelte, worauf der Kunst reine Flammen lodern, als vielmehr einem verführerischen Priester dieses Altares. Seine Erlaucht konnten stutzig werden, und wurden Hoch-Sie stutzig, dann genügte ein reichs- oder sonst unmittelbarer Fußtritt, daß Kauzburger Altärchen samt Opferschale, reinen und unreinen Flammen und allem Plunder umzustoßen, den dienenden Priester aber zum Tempel hinauszujagen, was, wenn es zu früh erfolgte, ihre Pläne vernichtete. Denn daß es geschehen möge, wenn's bereits zu spät sei ... damit war sie ja, wie uns bekannt, völlig einverstanden. Sie bangte also vor einem Ausbruche; doch nicht lange. Denn bald entdeckte sie, daß der Baron, von eigenen Gedanken in Anspruch genommen, die Äußerung seiner Tochter überhört und den darin liegenden gefährlichen Sinn gar nicht beachtet habe. Wie sie ihn durch langes gründliches Charakterstudium genau kannte, zweifelte sie nicht, er verfolge jetzt eine ihn lebhaft beschäftigende Idee; und so wußte sie auch, er werde nicht säumen auszusprechen, was ihn beschäftige. Sie wartete demnach geduldig, nahm ihren gewöhnlichen Sitz auf dem Kanapee, suchte die unvermeidliche Stickerei aus dem Arbeitskörben und stichelte, obgleich vom Diner kommend, fleißig wie ums liebe Brot.

Was fingen die guten (ach, und auch die bösen) Weiber wohl an ohne ihre »weibliche Arbeit,« in welche sie Zorn, Liebe, Bosheit, Angst, Hoffnung, Hinterlist, Ungeduld zu verschlingen, zu vernähen, zu verhäkeln, zu verstricken, zu ver- und zu ersticken verstehen?

Es währte denn auch nicht lange, bis der Schloßtyrann seinen Gedanken Sprache lieh: »Ich habe immer das Bedürfnis gefühlt, einen jüngeren Diener um mich zu haben, der ein bißchen mehr als ein Diener, aber durchaus kein sogenannter Studierter, folglich kein gelehrter Schulfuchs und pedantischer Besserwisser sein dürfte; den ich mir zum Geheimschreiber, zum Vorleser, zum Gesellschafter im Reisewagen, auf dem Felde, auf der Jagd, zu allerlei heranziehen wollte. Fast bin ich geneigt, Wulf Bäcker zu erwählen. Es ist mir im Leben noch keine so angenehme Persönlichkeit begegnet. Was meinst du, Gottliebe?«

Jetzt war der Moment eingetreten, wo Demoiselle ihr Meisterstück im edeln Metier der Intrigue liefern und zugleich dem Baron auf den Zahn fühlen mochte, inwiefern ihm eine Möglichkeit vorschwebe, daß seiner Baronesse Tochter ein umherziehender Gaukler gefährlich sein oder werden könne. Sie stimmte unbefangen ein in Wulfs Lob. Sie erwähnte auch nicht, wovon sie doch innerlichst überzeugt war, daß der junge Mensch aus Anhänglichkeit zum Theater die ihm darzubietende Huld wahrscheinlich zurückweisen wolle. Sie deutete bloß mit wahrhaft grandioser Gleichgültigkeit auf die über sie und ihn umherlaufenden Lästerungen, indem sie lächelnd hinwarf: »Es heißt am Ende, ich hätte diesen Wunsch erregt und genährt?«

»Dummheiten,« rief der Baron; »frag' ich nach dem Getratsch?«

»Ist's denn aber nicht bedenklich,« fuhr sie fort, »Ludmillas halber? Das liebliche Kind interessiert sich sichtbar für ihn, und ...«

Der Baron unterbrach sie heftig: »Demoiselle, ich muß bitten, die Ehrerbietung für mich und meinen Rang nicht außer acht zu lassen. Ludmilla ist eine Tauern-Kauzburg, et nôtre sang ne déroge pas à la noblesse. Ansichten und Begriffe, die man aus niedrigen Umgebungen mitbrachte, dürfen nicht auf eine Tochter meines Hauses übertragen werden!«

Gottliebe verspürte nicht übel Lust, dem hohen Herrn ihre Stickerei, Nadeln, Fingerhut, Schere und Arbeitskorb mit einbegriffen, ins Gesicht zu werfen und dann ihrer innerlich schäumenden Wut freien Lauf zu lassen. Doch sie bezwang sich. Die Aussicht auf triumphierende Rache gab ihr Kraft, daß sie vollkommen gefaßt, unterwürfig und nachgiebig antwortete: »Allerdings; den Unterschied hab' ich nicht genugsam erwogen. Ludmilla ist vor allem gesichert durch den edlen aristokratischen Stolz. Meine Warnung war albern!«

»Das denk' ich auch,« sprach der Baron befriedigt; »wenn du's nur einsiehst.«

»Vollkommen, teuerster Ägidius!«

»Nun so mach' ihm gelegentlich einige vorbereitende Eröffnungen. Nicht in Form eines Antrags, denn du begreifst, ich will mich keiner Weigerung exponieren. Es muß so eingeleitet werden, daß er sich um den Platz bewirbt. Verstehst du mich, Gottliebe?«

»Die Absicht und deren Gründe verstehe ich und weiß sie zu würdigen. Aber sie genügend durchzuführen, traue ich mir nicht hinreichende Gewandtheit zu. Was müßte auch der junge Mensch nach allen vorhergegangenen verleumderischen Klatschereien von mir denken, wenn ein solcher Vorschlag durch mich an ihn gelangte? Durch mich, deren ganze Teilnahme nur auf Förderung seiner theatralischen Entwicklung gerichtet war. Ich soll ihm jetzt den Rat erteilen, diese aufzugeben, einem ganz neuen, ihm völlig fremden, seinen Ansprüchen fernliegenden Lebensweg einzuschlagen? Müßte er dadurch nicht gerade auf den Argwohn hingewiesen werden, ich hätte dieses Mittel ausstudiert, um ihn an mich und meine Nähe zu fesseln, ihn festzuhalten, wenn über kurz oder lang seines Vaters Truppe sich von uns trennt? Das hieße die kaum verstummten bösen Gerüchte mutwillig wieder aufrühren! Soweit erstreckt sich mein Gehorsam nicht!«

»Kokette Spitzfindigkeiten! Ein Sekretär, der in meiner Nähe bleibt, an meine Person attachiert ist, ich sollte meinen, prätiert viel weniger dazu, für den heimlichen Liebhaber von Demoiselle ausgeschrieen zu werden, als ein gewisser Mortimer, der bei der Zimmerprobe einer scabrösen Scene nicht aus der Rolle (das will ich nicht sagen), aber doch der schottischen Majestät ganz anders zu Füßen fällt, wie sich's bei solcher Probe gebührt. Und nach den Gerüchten, welche über dich, meine Beste, kursieren, hat ja, denk' ich, niemand zu fragen außer mir. Was mir recht ist, kann's den übrigen auch sein. Du hast nicht nach ihrem Geschwätz gehört, solange es dir Spaß machte, mit Herrn Bäcker junior Komödie zu spielen. Verstopfe dir auch jetzt die Ohren dagegen, wo es darauf hinausgeht, mir einen Spaß zu machen. Ich ennuyire mich souvérainement en trois und möchte zwischen uns ein belebendes Element haben. Der Junge gefällt mir. Natürlich kann er den Dienst bei mir erst antreten, wenn ich Kauzburg verlasse. Bis dahin bleibt er, was er ist. Dann, sobald wir aufbrechen, läßt er den Komödianten hier zurück und erscheint in Tauern als mein Privatschreiber. Du siehst, es hat keine so große Eile mit deinen Unterhandlungen.« –

Dies waren die Erfolge, die Wulf an reichsfreiherrlicher Tafel sich errungen.

Wie stand es denn aber mit dem »vertraulich gewechselten« Worte, worauf Ludmilla von ihm zu ihr gehofft hatte? Das war allerdings nicht gesprochen worden, was gewöhnlich sprechen heißt. Doch gesagt hatten sie sich darum immer noch mehr als zuviel, und dieser stumme Prolog ihrer erotischen Verirrungen glich jener altertümlichen Pantomime, welche in früheren Zeiten der Aufführung großer Tragödien voranzugehen pflegte. Es war darin schon die ganze Handlung zusammengedrängt. Auch hatten beide genug in ihrer Seelen Spiegel, im Auge gelesen, um sich überzeugt zu halten, daß ein Bund geschlossen sei, ein Bund, gestern besiegelt mit dem Blute des wahnsinnigen Trunkenboldes, heute bestätigt durch berauschende Blicke ungestüm leidenschaftlicher Sehnsucht; ein Bund, nur geschlossen, um in wilden Thränen, in zerreißenden Schmerzen blutiger Reue aufgelöst zu werden. Das sehen wir vorher. Ja, wir ... wir haben gut prophezeien!

Erst wenige Tage sind vergangen, und schon hat sich ein lebhafter Briefwechsel gebildet, den Dorchen befördert. Lisette steht ihr gefällig zur Seite. Die eine thut's, weil sie in ihrer Gebieterin Mienen liest, daß es geschehen dürfe; die andere, weil die ihrige sie reichlich beschenkt, beide mit zofenhafter Lust an heimlichen Liebschaften, beide nur insofern verschwiegen, als sie ringsumher versichern: Die Baronesse schreibe dem Schauspieler bloß ihre Meinung über sein Spiel, und er »verantworte« sich bloß gegen etwaigen Tadel.

Madame Kleemann, welcher die Kunde einer so seltsam eingerichteten Recensieranstalt nicht fern blieb, ging ihren Gatten eifrigst an, er möge den Baron aufmerksam machen, daß etwas Ungebührliches geschehe. Der gute Direktor erklärte unumwunden: darauf lasse er sich nicht ein! »Mögen sie treiben, was sie wollen,« brummte er; »ich bekümmere mich um nichts mehr, als was meines Amtes ist. Mit unserm Herrn ist kein Verkehr ratsam. Es sollte mir leid thun, wenn die Baronesse dumme Streiche machte ... ich kann's nicht ändern! Sobald das verfluchte Theater ins Spiel kommt, bin ich blind, taub, stumm; habe mir Weisheit gekauft.« – Und dabei blieb's.

Es liegen uns Briefe vor von Ludmilla an Wulf, von Wulf an Ludmilla, und es fördert den Gang unserer Geschichte wesentlich, einige derselben mitzuteilen. Sie geben in kurzen Zügen den Fortschritt der Ereignisse, den wir sonst umständlich zu schildern hätten.

*   *   *

Sie an Ihn. Ich kann nicht länger leben wie bisher! c'est à dire ich könnte schon, aber ich will nicht, zwischen einer Gesellschafterin, die mir von jeher unangenehm war, und einem Vater, der mich mit indifference behandelt, während jene Person seine confidente ist. Die Komtessen K. sind recht artige Mädchen, doch füllen sie die bésoins meines Herzens nicht aus. So einsam und liebeleer wie um mich war es gewiß um wenig junge Damen. Ein Kind, oder wer dafür gilt, muß sich's gefallen lassen. Ich ahnte schon, daß ich keines mehr bin, und seit sich mir auf dem théatre eine neue Welt erschloß, weiß ich's bestimmt. Wird derjenige, dessen génie mich entzückte, den Mut haben, sich mir zu nähern? Zwar an Mut fehlt es ihm nicht, das hat er bewiesen. Und versteht er mich nicht, so ist's nur, weil er nicht verstehen will.

*   *   *

Er an Sie. Wenn es einzig und allein auf den Mut ankäme, der mich jedweder etwa mir drohenden Gefahr trotzen läßt, so wäre ich stündlich bereit, ihn an den Tag zu legen. Leider giebt es Verhältnisse, wo der persönliche Mut zur Feigheit werden kann, wenn er selbstsüchtigen Wünschen Vorschub leistet, ohne die Gefahren in Erwägung zu ziehen, welche er anderen bereitet. In solcher peinlichen Lage befinde ich mich. Die Gefühle, von denen mein Herz überstießt, der Feder anvertrauen, ja das ganze Herz gleichsam ausschütten zu dürfen vor der Himmlischen, der es gehört ... dies schon wäre überschwengliches Glück. Doch wie ein finsterer Warner mit aufgehobenem Finger droht mir der entsetzliche Gedanke, daß solche Geständnisse in unrechte Hände fallen und Leiden bringen könnten über die Angebetete, für die das Leben nur höchste Freuden haben soll! Ist nicht zu besorgen, daß der Scharfblick einer ehemaligen Gönnerin, die zur Gegnerin geworden, doppelte Rache sinnt, auf jede Gelegenheit lauert ... ich darf mich nicht deutlicher aussprechen. Keine ruhige Minute werd' ich mehr haben, bevor ich nicht sicher weiß, daß diese Zeilen glücklich befördert sind. Mein Schicksal ist es nicht, wofür ich fürchte. Was kann mir noch Übles widerfahren, seitdem ich weiß, daß ein Engel mir wohl will?

*   *   *

Sie an Ihn. Was kann mir noch übles widerfahren, seitdem ich weiß, daß ich so geliebt bin? Ohne Sorgen! Die Gegnerin sieht, aber sie will nicht sehen. Ihre intensions sind wahrscheinlich ignoble. Mais c'est son affaire! Wir begnügen uns mit unserem Glücke. Ich erwarte den Erguß des ganzen Herzens. En attendant muß dieser mich befriedigen. Und sans cérémonie! Schreibe mir als deinesgleichen! Für mich ist nichts zu besorgen. Die Jungfern sind mir ergeben.

*   *   *

Er an Sie. Ohne höheren Unterricht bin ich aufgewachsen, recht wie ein reisendes Komödiantenkind. Was von geistiger Bildung an mir haftet, sind Lappen, die ich mir aus den Geweben verschiedener, mitunter armseliger Dramen abriß, mich knabenhaft damit zu behängen. Späterhin gelang mir's dort und hier, bessere Bücher zu erhaschen, ohne Auswahl; ich mußte nehmen, was ich fand. Deshalb mangelt mir auch die Fähigkeit gut zu schreiben. Besonders muß ich mich hüten, Ausdrücke zu gebrauchen, die ich aus unzähligen mit eigner Hand kopierten Rollen aufgeschnappt. Das hemmt mir den Lauf der Feder, und erflehe ich Nachsicht für die Form. Der Inhalt ist rein. Und damit er es bleibe, will ich vor allen Dingen aufrichtig sein! Wahrheit ist das erste in der Liebe. Der angehende Schauspieler hat nicht vergessen, daß Ludmilla den vormaligen Lehrjungen ihrer Aufmerksamkeit wert gefunden. Der Abstand war nur zu groß gewesen von ihr zu ihm. Er vermied absichtlich, daran zu denken. Erst nachdem die anonymen Zuschriften willkommene Gelegenheit dargeboten, eine von zwei Seiten gewünschte Trennung auszusprechen ... erst da erwachten wieder lebhaftere Erinnerungen an meinen ersten Aufenthalt in Kauzburg. Was konnte die ungenannte Schreiberin beabsichtigen? Allerdings auch nur jene Trennung! Doch zu wessen Vorteil? Zum Besten eines keck betrogenen Vaters? Gewiß nicht. Diesen kennt sie genugsam, um vorher einzusehen, daß sein Stolz ihn verhindert, ähnlichem Argwohn Gehör zu geben oder gar eifersüchtig zu werden. Die verhaßte Hausgenossin zu stürzen, zu vertreiben? Darauf hoffte sie nicht, eben weil sie den Vater kennt. Nur auf rasche, entschiedene Lösung des bereits gelockerten Bandes war es abgesehen. Ich sollte Gelegenheit finden, ein drückendes Joch von mir abzuschütteln. Und die es mir aufgelegt, sollte eingeschüchtert werden, damit sie jeglichen Versuch aufgebe, es nur noch einmal überzuwerfen. Das war die Absicht, welche ich zu verstehen glaubte; und als ich sie verstand, wußte ich, daß ich geliebt sei! Ja, ich wußte es ... wie der Mensch etwa weiß, daß er nach dem Erdentode fortleben wird; ohne doch körperliche Forderungen und Erwartungen an diese ihm unbegreifliche Fortdauer zu knüpfen. Das Bewußtsein ewigen Lebens erhebt ihn zwar, giebt seiner Seele höhere Schwingen, erfüllt ihn mit seligen Empfindungen... aber dunkel und unenthüllbar bleibt ihm die undurchdringliche Zukunft. So trug ich das hohe Gefühl: Ludmilla liebt dich! in mir. Es nährte meine Leidenschaft, reinigte sie, heiligte mich, und ich legte den Schwur ab, dieser Liebe treu zu bleiben. Damit stellte ich mich zufrieden. Weiter verstieg sich keine Regung. Dabei sollte es sein Bewenden haben; und in dieser Zuversicht gedachte ich von hier in die Welt zu ziehen. Ich schreibe die Wahrheit. Das Geschick hat es anders gefügt. Die Göttin ist herabgestiegen aus ihrer Glorie in meine niedere Welt. Entschlagen will sie sich der Hoheit ihrer Sphäre, will sich die meine nennen? Ich habe keinen Willen mehr als den ihrigen. Was stilles, reines, sanftleuchtendes Feuer war, soll zur gewaltig lodernden Flamme ausbrechen! Es sei! Ob sie mich nun verzehre ... und dich mit mir ... du hast's gewollt. Ich brenne lichterlohe! ... Auch das ist Wahrheit.

*   *   *

Sie an Ihn. Herabgestiegen wäre ich? Nein, das ist nicht Wahrheit. Du lügst, Geliebter. Emporzusteigen versuche ich aus der Niedrigkeit meiner öden, insipiden, langweiligen Welt in dein Reich der Kunst, in die gloire der Poesie, welche du verkörperst. Deine Hand soll mir die Pforten aufthun, an deiner Hand will ich eintreten, eine gelehrige Schülerin, Ah que suis bête! Man hat mich nur gelehrt, französische Verse schön zu finden. Ma Bonne schüttelte sich, wie auf deutsche Dichterwerke die Rede kam. Das sind horreurs, rief sie aus. Durch dich erfuhr ich erst, daß unsere Muttersprache lebt, qu'elle existe! Aus deinem Munde bewältigte mich ihr Zauber; von deinen Lippen hab' ich im Geiste ihre Klänge geküßt! Deine Küsse sollen mich ferner lehren, was schön ist. Aber hélas ... wann beginnen les leçons provées? Der öffentliche Unterricht von der Bühne herab ist mir zu wenig; auch muß ich ihn mit so vielen teilen. Und meine fantaisie, intarrisable comme elle est in allem übrigen, ist doch zu inexpérimentée um auszusinnen, wo und wie wir uns ohne Zeugen finden können. Du mußt dich auf rendevouz verstehen, vom théatre her. C'est ton metier

*   *   *

Er an Sie. Seit vorgestern grüble ich und zerbreche mir den Kopf. Mir fällt nichts Kluges bei. Ich kenne zu wenig das Innere des großen Schlosses. Denn im Schlosse müßte es doch sein? Und in einem unbewohnten Flügel, wo keine Begegnung zu fürchten wäre! Schon hätte ich um Erlaubnis nachgesucht, das alte wundersame Gebäude in Augenschein nehmen zu dürfen. Doch dazu ist die Bewilligung des Herrn Direktor Kleemann notwendig, der den Mitgliedern des Theaters und mir besonders nicht gewogen scheint. Wie läßt sich das einleiten?

Ein Glück noch, daß ich das französische dictionnaire de poche von Herrn Müller ausgeliehen, ehe er mit meiner Frau Stiefmutter davongelaufen war. Deine Briefchen machen mir's unentbehrlich.

Sie an Ihn. Ich habe gestern beim déjeuner die veléité kund gethan, Schloß Kauzburg zu durchwandeln bis in seine tiefsten und höchsten Winkel. Der alte Kastellan erhielt sogleich Befehl, mich zu geleiten, obgleich mein Wunsch bizarre et tant soit peu romanesque gescholten ward! Ist das ein weites Gefilde! Man könnte sich égariren. Tant mieux pour nous! Da giebt's im dritten Stockwerk einen Bildersaal und eine Rüstkammer ... große, breite, tiefe wurmstichige fanteuils, dicke Stickereien darauf, Wappen von Motten zernagt; verblichene Porträts mit perruques à cheveux longs et à trois marteaux. Eine schmale Schneckenstiege führt vom Ausgange meines Korridors dort hinauf. Ich lege die Zeichnung der localité mit unsicherer Bleifeder entworfen bei. Danach regele dein itinéraire. Morgen Abend après le spectacle et après le souper steige ich hinauf pour faire visite à mes ancêtres. Sie werden ihre Allonges schütteln, werden zürnen, mich im Arme eines comédien zu erblicken. Sie werden drohen, sich ärgern ... tant pis pour eux!

*   *   *

Es ist uns kein Bericht zugekommen, ob reichsfreiherrlich Tauern-Kauzburgische Ahnenbilder die nächtlichen Zusammenkünfte des exaltierten Paares durch irgend einen Spukversuch gemißbilligt haben. Soviel steht fest, daß seine Wirkung fehl schlug, wofern er stattgefunden hätte. Die jungen Leute ließen sich nicht abschrecken. Und Ludmilla spottete sogar der Fledermäuse, welche des Frühlings laue Lüfte durchschwärmten, sobald der Morgen zu dämmern begann. Ach, die kleinen, zierlichen, dennoch schauerlichen Geschöpfe, in ihrer mystischen Beidlebigkeit von Säugetier und Vogel waren nicht die einzigen Mitwisser! Sie hätten's ja nicht ausgeplaudert, hätten's den Menschen nicht verraten. Denn was sie sich untereinander mit geheimnisvollem, aber harmlosem Zwitschern in die spitzigen Ohren raunten, das blieb unter ihnen. Jene anderen beidlebigen Geschöpfe jedoch, halb Engel, halb Tiere, Menschen genannt, jene großen Fledermäuse unserer eben in Morgen- und Abenddämmerungen zweifelhaft erhellten Erdennacht, die so gern von Flügeln fabeln, von hehrem Schwunge, die sich aber nie über den Boden erheben können, weil ihnen sogar des Mäusleins unvollkommene Flughaut mangelt ... sie ließen es nicht fehlen an boshaften Auslegungen, an verdammenden Urteilen. Niemand zweifelte, daß des Barons Tochter, um den beliebten Schauspieler zu schmücken, sich ihres eigenen jungfräulichen Kranzes entäußerte und ihm diesen ins volle Lockenhaar geflochten habe. Alle wußten mehr Übles zu sagen von Wulf und dem Schloßfräulein, als die Fledermäuse im hundertjährigen Gemäuer jemals gesehen. Alle, alle in Kauzburg! – nur der Baron nicht; denn dieser hatte nicht den leisesten Verdacht. Wer würde auch gewagt haben, sich nur mit einer Andeutung zu nahen? Die einzige, die es vermochte, schwieg absichtlich. Ein Wink von ihr hätte ja genügt, im Keime zu ersticken, was erst aus vollster Blüte zur ausgebildeten Frucht gereift sein mußte, bevor sie das erforderliche Gift daraus Pressen konnte. Und daß die Blüte noch nicht eingetreten, daß die nächtlichen Zusammenkünfte noch unschuldige geblieben, sie las es deutlich in der Jungfrau heiterem Antlitz, in welchem bis jetzt noch schwärmerisches, überirdisches Glück geschrieben stand. Gottliebe ist eine aufmerksame, eine erfahrene Leserin. Sie täuscht sich nicht. Sie kennt ihre Leute.

Und deshalb vermeidet sie auch, sich ihnen einverstanden zu zeigen. Angelegentlicher denn je um den Baron bemüht, scheint sie für sonst gar nichts mehr Sinn zu haben. Und Vater Bäcker muß seiner einst so thätigen Demoiselle Intendantin etwaige Bestimmungen und Eingriffe in die Bühnenführung förmlich abbetteln. Das hat sich mächtig geändert, sagt er dann jedesmal und ist keine Minute in Zweifel, daß nur sein Sohn diese Änderung verschulde. Er nimmt der Schönen jetzt eingetretene, ungeheuchelte Gleichgültigkeit gegen die Theaterangelegenheiten für den versteckten Groll einer Aufgegebenen, Zurückgesetzten; er wähnt, sie zürne dem Treulosen, Undankbaren und mit ihm der ganzen Unternehmung, in welcher sie doch gleichsam gelebt und gewebt hatte; er nährt ernstliche Besorgnisse, seine ganze Kauzburger Existenz sei gefährdet; er nimmt sich vor, dem »kaum flügge gewordenen Mosjeh Gelbschnabel die Flügel zu stutzen.«

Es war ein lieblicher Maitag. Wulf hatte soeben den Mittagstisch seiner Wirtsleute verlassen, bei denen er nicht mehr so lange zu weilen pflegte, wie er früher gern gethan, weil er vermeiden wollte, daß ihre Gespräche den kitzlichen Mittelpunkt seines gegenwärtigen Daseins berührten. Wenn sie ihn früher geneckt wegen der besonderen Gunst, welche Demoiselle ihm angedeihen lasse, so hatte er dazu gelächelt oder durch ausweichende Scherze geantwortet. Zu Scherzen aber schien ihm der tiefe, den ganzen Menschen beherrschende Ernst des jetzigen Verhältnisses nicht angemessen. Die wackeren alten Leute hörten nicht auf, ihn zu lieben, als ob er ihr Sohn wäre; gleichwohl jedoch, oder vielmehr gerade deshalb sahen sie ihn bedenklich an, wie sie einen Menschen betrachtet haben würden, der hoch auf schlüpfrig-schmalem Felsensteige am Rande eines entsetzlichen Abgrundes klettert und sich Von den drohenden Gefahren nicht abschrecken lassen will. Damit begnügten sie sich. Der sie erfüllenden Angst Worte zu geben, fehlte es ihnen an Selbstvertrauen. Seine theatralische Wirksamkeit (und sie versäumten nie, ihn spielen zu sehen) flößte ihnen aufrichtige Hochachtung ein. Sie übertrugen, wie das empfänglichen, doch ungebildeten Leuten öfters geschieht, die tönenden Phrasen und gewaltigen Gedanken, deren Dolmetscher die Bühne ihn werden ließ, mehr oder weniger auf seine Person. Hatte er einen vornehmen Jüngling, einen Ritter, vielleicht gar einen Fürsten gegeben, so hielten sie ihn selbst vierundzwanzig Stunden lang für einen solchen und verbeugten sich geziemend vor seiner Größe und Hoheit.

Wie gesagt: es war ein lieblicher Maitag. Wulf saß am offenen Fensterchen. Vom kleinen Garten herein drang der Bienen Gesumm, der Vögel Gesang, der jungen saftgrünen Blätter Gesäusel. Er hielt eine Rolle in der Hand, überschrieben: » Eduard Montrose, ein Original-Trauerspiel in Prosa und in fünf Akten vom Herrn Hauptmann O.F. Diericke. – Lord Ed. Montrose = Herr Bäcker jun.« Weiter als bis zum Titelblatte schien er noch nicht gekommen zu sein, da der Schlaf ihn übermannte. Und das war kein flüchtiges, leicht abzuschüttelndes Mittagsschläfchen, aus welchem der Schlummernde den Mai im Garten summen, singen und säuseln hört; es war ein fester, gründlicher, unentbehrlicher Schlaf, der, Nacht für Nacht um seine guten Rechte betrogen, endlich das Versäumte nachholen will und sein Opfer niederwirft, wo er es findet, wo er dessen habhaft werden kann, sei es am offenen Fenster, auf hölzernem hartem Stuhle, bei hellem Tage und im Begriffe, eine soeben empfangene Rolle vorzunehmen.

Vater Bäcker trat leise ein und betrachtete lange den blühenden Schläfer. Ging etwa ein Argwohn durch des Komödienmeisters (so nannten ihn die Kauzburger) Kopf, jenem ähnlich, welchen der Baron neulich, Wulfs Abkunft betreffend, angedeutet? O nein, das ist kein Argwohn mehr, das ist Gewißheit! Er prüft Zug für Zug des traumseligen Angesichts und wiederholte mehrmals: Da erkennt man die Mutter ... doch leider auch den Vater! Er seufzte, laut genug, ein gewöhnliches Schlummerstündchen zu stören. Wulf regte sich nicht. Bäcker fuhr zu sprechen fort, redete sich in einen förmlichen Bühnenmonolog hinein, der andern ehrlichen Leuten in den Mund gelegt, für Unnatur gelten könnte, der dem alten routinierten Schauspieler geläufig alles zusammenfaßte, was von Wohl- oder Übelwollen für diesen jungen Menschen in ihm auf- und niederwogte. Die schroffsten Übergänge aus zärtlicher Wehmut und Rührung zu heftigem Zorne folgten sich in raschem Wechsel, und endlich trat die Aktion ein. Er griff nach der im Schlaf noch festgehaltenen Rolle, schlug Eduard Montroses Part dem Wulf Bäcker tüchtig um die Ohren und wetterte mit allem Kraftaufwande, den er irgend an seine Helden-Intriguants zu setzen pflegte, die aus unterschiedlichen unbestimmten Reminiscenzen kühn gebildete Anrede los: »Donner und Doria, will denn das Mondkalb schlafen bis zum jüngsten Tage?«

Das traf. Mit noch eingekniffenen Augenlidern flog der Sohn vom Stuhle empor, packte wütend den Vater an der Gurgel und donnerte ihm zu: »wage nicht ihr zu nahm, es wäre dein Tod!«

Bäcker stellte dem unerwarteten Angriff so viel Kraft entgegen, als ihm gerade zu Gebote stand; ja er behielt Fassung genug zu erwidern: »diesmal ist's nicht der versoffene Maler, es ist dein Direktor!« Wulf kam zu sich, blinzelte ihn schlaftrunken an, ließ ihn frei und stammelte: »Ah, der Vater.«

»Ja, mein Herr, der Vater, der endlich einmal abzurechnen kommt. Ermuntere dich, raffe deine fünf Sinne zusammen und merke auf. Wir haben eine sehr ernsthafte Verhandlung vor. Es geht auf ›Sein oder Nichtsein‹ hinaus, wie Brockmann im Hamlet so unnachahmlich das berühmte Selbstgespräch begann.«

»Geben wir den Hamlet?« fragte Wulf.

»Ermuntere dich!« wiederholte Bäcker. »Höre, was du hören sollst, begreife den Inhalt meiner Warnungen, sonst dürften wir bald in der Lage sein, weder den Hamlet, noch die Liebe auf dem Lande in Kauzburg mehr zu spielen. Verstehst du? Spürst du, wo ich hinaus will? He? Bist du bei Wege? Aha, jetzt reißt er die Augen auf. Guten Morgen, wünsche wohl geschlafen zu haben! Na nu kann's losjehn, sagen sie in der Mark. – Du warst, ohne Komplimente, ein ruppiger Junge, da wir hier eintrafen. Einiges Talent und viel Glück haben dich in kurzer, ich fürchte allzu kurzer Frist zu einem beliebten Akteur erhoben. Gut! Ich freue mich daran, weiß dich zu schätzen und erkenne gern, was wir an dir haben. Deine Liaison mit der Demoiselle, so gefährlich sie für dich und für uns sein mochte, ließ ich stillschweigend hingehen. Erstens hielt sie dich ab, dich beim Theater zu verplempern, was für den Anfänger immer, für alle andern fast immer nachteilig wird, wie auch mein Beispiel zeigt. Zweitens war sie dir bei den hierorts vorwaltenden eigentümlichen Zuständen nützlich in deinem Berufe. Ohne die Protektion der Intendantin hätt' ich nicht wagen dürfen, dich gleich in so wichtigen Partien hinauszuschicken. Drittens endlich schlug ich meine häufig auftauchenden Befürchtungen mit dem Troste nieder, die kluge Dame werde schon um ihres eigenen Vorteiles willen nicht weiter gehen, als sie in Sicherheit gehen dürfe, und nichts wagen, was dir, folglich auch ihr Unheil und Verderben drohe. Und am Ende aller Enden ist und bleibt sie doch des Barons Maitresse, du hast sie nicht verführt – au contraire! – Da lauern keine Gewissensbisse, keine Schlangen unter Blumen. Da kann und darf ein ergrauender Theaterprinzipal sich anstellen, wie wenn er kurzsichtig wäre. Ich zupfte mich erinnerungsweise an meiner eigenen Nase und ließ der Geschichte ihren Gang. Demoiselle ist überdies selbst Komödiantin gewesen, wenn auch unter anderem Namen. Klimene weiß es durch Müllern, der sie von früher gekannt ... das gehört nicht hierher; höchstens insofern, als es nachträglich mein Schweigen rechtfertigt. Wenn sie den Baron mit dir hinterging, so war das immer noch nichts Außerordentliches; der ehemaligen, jetzt wieder mitmachenden Schauspielerin gefiel ein junger Kollege ... es blieb gewissermaßen in der Familie. Basta! Aber jetzt ... Wulf! Wulf! Was muß ich erleben! Eine reichsunmittelbare Jungfrau, eine bruderlose Baronesse, eine sozusagen Prinzipessa! Erbin und künftige Herrin von Tauern-Kauzburg samt Zubehör. Ein schuldloses Kind, jünger denn du, der du kaum trocken hinter den Ohren bist! Zusammenkünfte bei nachtschlafender Zeit! Rendezvous in Rittersälen und Schloßkapellen! Und die im Naxos ihrer Schlafstube verlassene Ariadne, die nur winken darf, damit der undankbare, treulose, unverschämte Theseus aus dem Labyrinthe reichsfreiherrlicher Korridors ins Kerkerloch geworfen werde, wo weder Sonne noch Mond hinein scheint? ... wir alle, wie wir gebacken sind, gleich der ordinärsten Zigeunerbande von Landdragonern per Schub über die Grenze gebracht ... Wulf, Wulf, du kannst hier am Fenster sitzen und schlafen wie ein Gerechter, kannst noch eine ruhige Stunde haben, wenn das Richtschwert an Kleemanns dünnstem Kanzleibindfaden über deinem Strubbelkopfe baumelt? Sprich, was ist wahr, was ist übertrieben, was ist erlogen an den Gerüchten, die umherlaufen wie die Wiesel? Um Gottes Barmherzigkeit willen, wie stehst du zu dem Freifräulein? Wie Weit ist's gediehen? Rede!«

»Aber liebster Vater, was denken Sie von mir und von ihr!!«

»Daß Schießpulver, in die Nähe des Feuers gebracht, sich leicht entzündet; daß ihr euch und uns in alle Lüfte sprengen werdet, wenn man euch nicht gewaltsam trennt, wofern es noch Zeit ist; wofern nicht schon ... ist mir doch, als stünden wir auf einer Mine, und ich röche bereits den brandigen Zündfaden. Heraus mit der Wahrheit, ich befehle dir's! Wie steht's?«

»Ganz anders, als Sie wähnen, Vater. Sie kränken Ludmillas Edelsinn, Sie verletzen meine besten Empfindungen, wenn Sie unsere Neigung auch nur im entferntesten vergleichen wollen mit jener, welche mich Gottlieben verband. Diese Liebe ist ein Kind der Poesie, der Kunst. Wir finden uns bisweilen, das will ich nicht leugnen, heimlich zusammen; wir tauschen zärtliche Schwüre; doch dabei hat es sein Bewenden. Sie freut sich daran, mich reden zu hören; ich rentiere ihr die schönsten Stellen der Dichterwerke, für welche unsere Truppe zu schwach ist; ich begeistere mich an ihrer Auffassung, an ihrem Entzücken ... und nie begehre ich mehr. Wir verleben herrliche, schwärmerische Stunden der Weihe ...«

»Im Dunkeln? Wie? Wulf, das nimmt ein schlechtes Ende, ein fürchterliches! Ich will glauben, daß du mich nicht belügst. Aber du belügst dich selbst. Auf die Länge hält keine poetische Schwärmerei vor bei einer Dame, die sich in der Baronesse Alter schon so weit vergißt, einem Komödianten nächtliche Zusammenkünfte zu geben; kann nicht vorhalten bei einem Burschen deines Kalibers. O, bei dir heißt's wohl recht: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme!«

»Wie, mein Vater?«

»Na, denke nicht etwa, ich wollte den alten Fanfaron spielen und mich in frecher Ruhmrednerei mit früheren Ruchlosigkeiten brüsten. Dergleichen würde sich von mir zu dir schlecht ziemen. Nein, dies alte abgebrauchte Sprichwort entfuhr mir jetzt unversehens, und weil's nun einmal geschah, so mag's für einen Fingerzeig gelten, daß ich dir nicht länger verschweige, was ich solange auf dem Herzen behielt; was ich eigentlich mit ins Grab zu nehmen beschlossen hatte. Vielleicht rettet diese feierliche Stunde dich, die junge Baronin und nebenbei mich und mein dürftiges Geschäft von bevorstehendem Unglück ... Vielleicht gehst du in dich, kehrst um, weil es noch Zeit ist. Vernimm und schaudere! Es kann jetzt wenig über ein Vierteljahrhundert her sein, daß ein sechzehnjähriger Schauspieler auftauchte, der gleich dir, obwohl um so viel jünger, wie du heute bist, von seinem ersten Erscheinen an Aussehen machte. Aus dem böhmischen Städtchen Trautman war er zum Theater gelaufen und hatte im Nu Namen und Stellung bei besseren Gesellschaften errungen. Ich will sein Talent nicht unterschätzen, und ich weiß auch, daß, wie Herr Iffland zu sagen belieben, wo viel Rauch ist, viel Feuer sein muß. Jedoch unser junger Czeche rauchte mir zu stark, so daß es mich zeitweise in die Augen biß, und ich vor lauter Rauch kein Feuer mehr sah. Er dampfte ordentlich, wenn er ins Zeug ging, wie ein unbändiges Pferd. Indessen de gustibus non est disputandum, und er hatte, gleich gewissen Leuten, die Weiber für sich. So viel darf ich unparteiisch behaupten, daß sein Äußeres mindestens ebensoviel that, als sein innerlicher Beruf. Die Journale pflegten von ihm zu schreiben, was ihm vielleicht fehle, das wende sich gerade zu seinem Vorteile, und wenn er um eine Faust oder um zwei (so heißt's ja bei Rossen?) zu klein sei für heroische Rollen, gereiche solcher Mangel den Liebhaberpartien erst recht zum offenbaren Gewinne. Nun, das muß man ihm lassen, aus letzteren verstand er etwas zu machen; auf der Scene, hinter den Coulissen, in Bürgerhäusern wie in Palästen ... überall. Nebenbei wurde er der tollste Pharospieler, und wie alle solche Wüstlinge wälzte er sich abwechselnd im Golde oder darbte in tiefsten Schulden, wo dann zuletzt der primo amoroso aushelfen mußte. Da traf er denn aus Petersburg, wohin sein stürmisches Gebaren ihn verschlagen, in Deutschland ein, vor etwa einundzwanzig Jahren, und in seiner Begleitung befand sich eine hübsche, bescheidene Frau, eine vortreffliche Aktrice, die seinetwegen die Ihrigen verlassen, sich ihm auf Treu und Glauben ergeben hatte. In einer der größeren Städte des Nordens machten sie Halt, schlossen ein Engagement ab, und kaum saß der Aar im Taubenschlage, als er sich ohne Zögern eine frische Beute aussuchte ... die Weißeste, reinste, wohlberufenste von all' den girrenden Tauben, um ihr seine Krallen ins zitternde Herz einzuschlagen. Madame Litter, so hieß die nun Vernachlässigte, nahm das nicht leicht. Sie hatte sich ihm hingegeben im thörichten Wahne, daß er sie nicht verlassen, daß er die ungeheuren Opfer, die sie ihm gebracht, nicht mit Untreue vergelten werde. Nun sah sie sich doch verstoßen. Sie faßte den Entschluß, ihr von Reue und Verzweiflung zerstörtes Leben zu enden. Es wurde das Trauerspiel ›Elfriede‹ aufgeführt, welches Herr Bertuch fürs deutsche Theater bearbeitet hat. Der falsche Held lag als Scheinleiche auf der Bahre. Die Litter, als die wahre Heldin, wollte sich zur wirklichen Leiche machen; wollte tot neben dem Verräter liegen. Nicht einen Theaterdolch – ein spitzes Messer stieß sie in ihre kranke Brust, der Blutstrahl schoß aus der Wunde, die Unglückliche stürzte zusammen, die Gardine sank, der Mörder erhob sich von der Bahre; das Schauspiel war aus, man trug die Ohnmächtige ins Hospital ... die Ärzte retteten sie! Und sie ... o Weiber, Weiber! sie versöhnte sich mit dem Unbarmherzigen, ließ sich noch einmal betrügen und vertraute seinen Schwüren, daß er ihr gen Kurland folgen werde, wohin sie sich nach ihrer Genesung begab. Natürlich: sie konnte nach solchem furchtbarem Auftritte nicht mehr am Orte bleiben, und mau entließ sie gern. Er gelobte nachzureisen, sobald sein Engagement abgelaufen. Und abermals brach er ihr sein Wort. Wie hätte er scheiden können, bevor diejenige erobert war, um derentwillen er die leichtgläubige Litter verstoßen? Nein, erst sollte auch dies Opfer fallen! Doch darin hatte er sich verrechnet: die zarte sanfte Frisch ergab sich nicht so willig, hielt fester auf ihre Tugend, denn manche vornehme Dame in der Stadt. Gar nun, nachdem die blutige Scene geschehen, grauste ihr vor ihm. Sie äußerte oft: jene unauslöschlichen Blutflecke im Podium wären ihr Schutz! wenn ihre Stärke sie verlassen wolle, richte sie nur den Blick darauf. Das hätte sie nicht eingestehen dürfen. Der verhängnisvolle Platz wurde anders gedielt; auf den neuen Brettern sah man keine Blutflecke mehr. Die gute Seele allabendlich nach Dichters Vorschrift in seinen Armen ... sie hatte keine Eltern, keinen Schutz ... was halfen ihr die besten Vorsätze? Während er auch über sie siegte, schrieb ihm die Litter: wenn er sein Gelübde nicht erfüllen und sich mit ihr vereinigen wolle, so möge er wenigstens Mitleid mit ihren Qualen haben und ihr Gift schicken, welches sie sich in Kurland nicht zu verschaffen wisse; ohne ihn wolle sie nicht leben! ... Als die Nachricht, sie habe sich vergiftet, in Deutschland verbreitet wurde, flüsterte man sich zu, der Brief, welcher das tödliche Pulver enthielt, sei auf ihrem Nachttische gefunden worden und sei von seiner Handschrift gewesen ... Wer konnte das genau ergründen? Möglich, daß es verleumderische Erfindung war! Wenigstens hinderte es nicht, daß der Beschuldigte späterhin neben den Sternen erster Größe auf der Berliner Bühne glänzte. Unglaublich – aber wahr! Seit etlichen Jahren hat er dem Schauspiel gänzlich entsagt und lebt dem anderen Spiele, dem Kartenspiele, als Bankhalter in Bädern und auf großen Märkten. Die Frisch, obgleich ein Pfand ihrer unseligen Verirrung unterm Herzen, hatte sich entschieden von ihm losgesagt bei der ersten Kunde vom jammervollen Ende ihrer vormaligen Rivalin; ja, sie hatte ihm vor vielen Zeugen Verachtung und Haß ins Antlitz geworfen, seine goldenen Anerbietungen mit stolzem Abscheu zurückgewiesen und sich zu einer andern Truppe begeben. Dort lernte sie einen Mann kennen, der weder des Tschech... des Tschechen Berühmtheit, noch dessen Schönheit, noch dessen Unwiderstehlichkeit besaß, einen Mann ohne Ansprüche, einen redlichen Mann, darf ich ihn nennen. Der warb um sie. Ehe sie einwilligte, legte sie aufrichtige Bekenntnisse ab über ihre Vergangenheit sowohl, als über das, was vor Ablauf eines halben Jahres zu erwarten stehe. Der Mann trat nicht zurück. Er fühlte auch nach diesen Bekenntnissen dieselbe Achtung und Liebe für die offenherzige, edelgesinnte Person, welche er vorher für sie gehegt. Er führte sie zum Altar. Sie ward seine Frau und lebte fleißig, anspruchslos, dankbar an seiner Seite. Der Sohn, den sie gebar, galt für seinen Sohn; die guten Eigenschaften der Mutter zeigten sich an ihm schon in zarter Jugend. Nach und nach traten dann allerdings auch väterliche Erbteile hervor. Aus ihrer Ehe hatten sie keine Kinder; das kam dem Kleinen zu statten. Die Mutter jedoch erlebte nicht, nach welcher Seite sich's mit ihm neigen würde. Sie starb in den Armen des Gatten, der sie liebevoll pflegte ... Wulf, diese unglückliche brave Frau ist deine Mutter gewesen! Um ihretwillen achte auf meine Warnungen! Es giebt ja schon Elend genug auf Erden, besonders in unserm Stande und leider auch durch unsern Stand: schlage keinen Lebensweg ein, der darauf ausgeht, dies Elend noch zu vermehren; tritt nicht in die Fußstapfen des harten Egoisten, der seine schönen Gaben mißbrauchte, der viele Herzen brach ... seinen Namen sollst du nicht erfahren, wenigstens durch meinen Mund nicht. Lerne dich beherrschen und beginne die schwere Lehre gleich damit, daß du dieser excentrischen Baronesse und ihren thörichten Lockungen entsagst. Ich darf jetzt nicht mehr als Vater zu dir sprechen, nachdem du weißt, daß ich es nicht bin. Aber an deine Mutter darf ich dich gemahnen; in ihrem Namen bitte ich dich, in ihrer Seele, dazu hab' ich das Recht erworben. Es ist die erste Bitte einer Mutter, deren letzter Lebenshauch Segen für dich erflehte. Du wirst sie erfüllen!«

Gesenkten Hauptes stand Wulf vor dem Manne, den er für seinen Vater gehalten, der ihm aber als solcher niemals so ehrwürdig erschienen war, wie in dieser Stunde der Lossagung. Nicht allein die Gewalt dessen, was er vernommen, drückte ihn nieder; mehr noch die Art und Weise, wie Bäcker zu ihm geredet. Sie waren daran gewöhnt, »den Direktor« auch bei ernsten Anlässen, auch wenn er schalt und tadelte, in der ihm eigentümlichen pedantisch-humoristischen Manier sprechen zu hören, die trotz aller Bestrebungen nach amtlicher Würde immer ans Komische streifte; weshalb sich auch eigentlich niemand recht vor ihm fürchtete. Heute war derselbe Mann bei der Sache geblieben; in schlichten ergreifenden Worten hatte er, ohne abzuspringen, das düstere Geheimnis enthüllt, das über Wulfs Herkunft schwebte. Wie tief mußte er selbst davon ergriffen, wie teuer mußte ihm doch der Sohn seiner längst verstorbenen ersten Frau sein!

Das durchdachte Wulf; deshalb blieb er innig gerührt ohne Erwiderung stehen, wie der tiefgebeugte Sünder vor einem gestrengen Beichtiger. Und Papa Bäcker empfand neben allen traurigen Erinnerungen, neben allen bedrückenden Sorgen für Gegenwart und Zukunft doch eine nicht wegzuleugnende Befriedigung. Er betrachtete sein Werk mit Wohlgefallen. »Ich hoffe,« murmelte er, »ich hoffe, es ist mir gelungen.«

»Ja,« rief der Gedemütigte, »ja, Vater Bäcker, ich will gehorchen! Ich will jetzt gleich an Baronesse Ludmilla schreiben; ihr gestehen ...«

»Halt inne! Es ist jemand an der Thür!«

Schon öffnete sie sich und ein Schloßlakai rief barsch ins Zimmer hinein: Schauspieler Bäcker der Sohn soll sogleich zu Demoiselle Gottliebe kommen, aber ohne Aufschub! Sie will ihn sprechen, ehe sie sich zur Tafel ankleiden laßt!«

Und die Thür fiel wieder ins Schloß.

»Was heißt das?« fragte Wulf erschreckt; »was hat dieser sonderbare Ruf zu bedeuten?«

»Was es bedeutet, mein Junge? Was eine offizielle, durch einen Livreelümmel bei lichtem Tage entsendete Botschaft, unter diesen Umständen ein förmlicher Befehl, bedeutet? Ich dächte, das wäre leicht zu erraten. Es bedeutet, daß ich sträflicherweise eine Woche vertrödelt, daß ich den richtigen Zeitpunkt versäumt habe, daß der Blitz einschlug, daß alles vorbei ist, daß der Reichsbaron die Intendantin beauftragt hat, dir den. Abschied zu erteilen, daß wir mit Mann und Maus zum Teufel gejagt werden; weiter nichts! Nun hätten wir ja Gewißheit, und nun ist's auch recht. Gehe, gehe, zögere nicht! Aber lasse dir auch nicht zu viel thun, hörst du! Schone die arme Baronesse, gestehe nicht ein Iota zu, leugne bis aufs kleinste, was sie kompromittieren könnte. Der hochtrabenden Potiphar ... o, weshalb bist du nicht Joseph geblieben ... der trumpfe tüchtig auf, geige ihr die Wahrheit; gieb ihr als Drohung zu verstehen, du seiest nicht abgeneigt, dem Baron zu eröffnen ... fi donc, nein, das wäre gemein! Nichts davon! Sonst aber thu' ihr jegliche Grobheit an, so dir zu Gebote steht und sich in Kürze leisten läßt. Sodann jedoch kehre schnell zu mir zurück und bringe mir Entscheidung. Ich erwarte dich hier. Fort, fort, ich werde dir keine Vorwürfe machen, im Gegenteil: wir teilen Not und Glück miteinander! Du bleibst mein Sohn! – So, nimm noch ein reines Taschentuch, man kann nicht wissen. – So! Courage!« –

Wir haben keinen Grund, dem Prinzipal der Kauzburger Hoftheatertruppe nachzusagen, daß er sich verzweifelnder Mutlosigkeit hingegeben, als er in seines Stiefsohnes Stübchen allein blieb. Durchaus nicht. Er ging wie in seinen heitersten Momenten schwebenden Schrittes auf und ab, machte die kühnsten Schwenkungen im engen Räume, schlug mitunter ein Schnippchen, trat ans Fenster, pfiff den Sängern im Grünen nach und ließ allerlei muntere Sprüchlein ertönen, als: »Herrenhuld, Frauengunst, eitel Wind und Schaum! – Hol's der Henker, die Welt ist groß! – Jugend hat nicht Tugend! – Sind allzumal Sünder und mangeln – Adieu Kauzburg! – Die zweite Gratifikation geht in die Brüche! – Reisende Komödianten, Bettelvolk! – Jetzt hat sie ihn im Gebete. Wehre dich, Wulfchen, wehre dich deiner Haut! – Stolzer Patron, der Reichsbaron! – Hat nichts voraus gegen Unsereinen; trägt doch auch seinen Kopfschmuck! – Komödianten überall! – Heute Abend eingepackt, die Nacht durch gearbeitet, morgen unterwegs! – Klimene wird schreien wollen, darf nicht mehr mucksen. – Das ist das Beste, was ich von Kauzburg mitnehme – Wulf nicht zu vergessen. Zwei Gewinne! Darf aber nicht bei meiner Schmiere versauern, der Junge; dem winkt ein höher' Ziel! – Will an seine selige Mutter denken, nicht an mich!«

So trieb's Papa Bäcker ein langes Weilchen. Die peinlichste Furcht hatte gefaßter Entsagung, thatbereiter Entschlossenheit Raum gegeben.

Wir ängstigen uns hienieden vor mancherlei, was uns geradehin unerträglich dünkt, und wenn's dann kommt, ertragen wir's doch, helfen uns dabei so gut und schlecht wir können, und ist's durchgemacht, schöpfen wir Atem: Sieh, sieh, das wäre denn auch überstanden!

Unser Komödiantenmeister eilte sogar mit seiner Phantasie der Zeit voran und entwarf sich bereits einen Reiseplan. Denn vor der Besorgnis, der Baron wolle das Gericht einschreiten und Vater wie Sohn festnehmen lassen, hatte ihn des Lakaien Entsendung erlöst; wo Weibern die Verhandlungen übertragen werden, folgerte er, da gilt es durch sanftere. Mittel den Bruch herbeizuführen und jeglich' Aufsehen zu vermeiden! Dennoch übermannte ihn fast wieder seine schon beseitigte Angst, als er Wulfs Tritte vernahm, und dieser höchst aufgeregt ins Zimmer platzte.

»Also?« rief er dem Kommenden entgegen.

»Nur eine Minute Geduld, Vater, daß ich mich ein wenig erhole! Ich bin zu rasch gelaufen, die Luft geht mir aus! Ich habe viel zu erzählen.«

»Nur eins: müssen wir heute schon packen?«

»Heute Abend ist Probe, so viel ich weiß; und morgen spielen wir: ›Das Blatt hat sich gewendet!‹«

»So steht's auf der Austeilung; doch ich denke ...«

»Das Blatt hat sich gewendet! Einen passenderen Titel hätte kein Mensch für die morgende Vorstellung aussinnen können!«

»Wir spielen wirklich noch einmal hier?«

»Noch zwanzig-, dreißigmal! Setzen Sie sich, Vater ... aufs Bett, wenn Sie wollen so gütig sein; die Stühle sind steinhart. Und nun geben Sie hübsch Achtung, ich werde getreuen Bericht erstatten. – Noch voll von den Eindrücken, die Ihre Mitteilungen mir gemacht, betrat ich das freiherrliche Schloß mit der festen Überzeugung, diesen alten Mauern für immer Valet zu sagen, sobald ich ihnen heute den Rücken kehrte. Demoiselle empfing mich nicht bei sich. Der Kammerdiener, ungleich zuvorkommender als neulich, wies mich in das Empfangszimmer des Barons, forderte mich auf, einstweilen Platz zu nehmen, und äußerte mit übertriebener, fast erzwungener Freundlichkeit: Demoiselle werde nicht lange säumen. So hatt' ich's nicht erwartet; ich fing an schwindlich zu werden. Nebenan glaubte ich des Barons Tritt zu vernehmen; auch seine Stimme hörte ich einigemal wie aus einem entfernten Gemach herüber; dazwischen war mir's, als redete Gottliebe. Die Töne hoben und senkten sich, wie wenn ihrer Zwei verschiedener Meinung sind und sich gegenseitig überzeugen wollen. Deutlich artikulierte Worte drangen nicht bis zu mir. Daß diese Unterredung mich betraf, ließ sich vermuten. Einigemal packte mich die Ungeduld, daß ich nur ohne weiteres mich hineinmischen und meinen Senf dazu geben könnte!«

»Ich will doch nicht hoffen ...«

»Nein, Vater, ich beherrschte mich. Aber es waren keine angenehmen zehn Minuten! Solange hat's gedauert; ich hab's an dem uralten Uhrkasten, der da vor mir stand, Sekunde für Sekunde abgezählt.«

»Das ist ein probates Mittel, die Ungeduld zu zügeln!«

»Auch meine Ansicht, deshalb zählte ich. Auf den Punkt zehn Minuten ... und Demoiselle rückte an. Die Thürflügel, durch welche sie aus des Barons Gefilde kam, ließ sie sperrangelweit hinter sich aufstehen, woraus ich entnahm, daß er uns hören wollte. Das Herz schlug mir wohl heftig gegen die Rippen, zuletzt aber doch nicht heftiger, als an dem Abende, wo ich zum erstenmal in Johanna von Montfaucon spielte, und das Stichwort gebracht wurde zu meinem ersten Auftritt. Was sie mit mir beginnen, dachte ich, ist mir gleichgültig; und die üblen Rückwirkungen auf Vater Bäcker kann ich ja verhindern, wenn ich eingestehe, daß ich nicht sein Sohn bin, und daß sie keine Ursache haben, ihn mit mir leiden zulassen. Dieser Gedanke that mir wohl, und nun hielt ich mich aufs ärgste gefaßt. Die Mühe hätt' ich sparen können; davon überzeugten mich gleich Gottliebes erste Worte, so süß wie purer Honig. Der Baron hat sich höchst vorteilhaft über mich ausgesprochen; er hat erklärt, daß ich ihm an seiner Tafel noch besser gefiel, als auf seinem Theater; es sei nicht anders möglich, ich müsse vornehmer Abkunft sein, sonst würde ich mich nicht so gut in alles schicken. Schon lange habe er danach getrachtet, sich einen vertrauten Privatsekretär heranzubilden, dessen Persönlichkeit ihm so zusage, daß er ihn gern um sich leiden möchte, und nur, weil er keine solche gefunden, sei es unterblieben. Ich wäre nun gerade der Mensch, den er verlange, und er denke mich in seinen Dienst zu nehmen. Weil es aber für ihn unpassend wäre, sich einer Weigerung meinerseits zu exponieren, müßte ich das Gesuch an ihn stellen; und mich dazu aufzumuntern habe sie, Demoiselle Gottliebe, unternommen. Ich solle erwägen, daß es doch ganz anders stehe um einen reichsfreiherrlichen Sekretär und Gesellschaft wie um einen reisenden Schauspieler; ein ähnliches Glück dürfte mir nicht, zum zweitenmal in die Hände laufen; ich hätte dem sonst so unzugänglichen Herrn einen förmlichen Zauber angethan, es erwarte mich eine beneidenswerte Stellung, und es wurden (hier flüsterte sie kaum hörbar) auch gewisse andere Personen diese Veränderung meines Geschickes mit Freuden begrüßen!«

»Junge, du extemporierst, du phantasierst, du machst dir einen Spaß mit mir!«

»Das nämliche dacht' ich von der Demoiselle. Aber nicht im entferntesten. Sie extemporierte keine Silbe; sie rentierte nur, was in ihrer Rolle stand, die geflüsterte Stelle ausgenommen. Wie hätte sie sonst die Thür offen stehen lassen, damit er höre?«

»Richtig! Und du, griffst du mit beiden Händen zu? Riefst du: Ja, ja, ja!«

»Nein, nein, nein! Das war die erste Regung. Niemals, um keinen Preis, nicht für den Besitz von Tauern und Kauzburg und noch hundert Baronieen entsage ich dem Theater! Diese Erklärung saß mir schon auf der Zunge ... da schoß mir plötzlich durch den Sinn, ob nicht vielleicht Ludmilla hinter dem unerwarteten Antrag stecke? Ob sie nicht den Vater darauf gebracht habe? Zugleich bedachte ich, welche Vorteile für uns und zunächst für meinen Papa Bäcker aus einer Verzögerung dieser Angelegenheit erwachsen könnten! Und daß ich doch in keinem Falle nein sagen dürfe, bevor ich mit Ludmilla darüber geredet! Ich zeigte mich also, was ich denn auch wirklich war, überrascht, beschämt, gerührt ... dankbar für des Barons Gnade, ersuchte die Vermittlerin mit tiefster Unterwürfigkeit, als ob wir uns niemals näher gekannt hätten, diese meine beschämte Dankbarkeit und überraschte Rührung bestens zu rapportieren, mir jedoch zugleich einige Tage Bedenkzeit auszubitten, da ich doch notwendigerweise mit mir selbst, vorzüglich mit meinem Vater zu Rate gehen müsse, ehe ich einen die ganze Lebensrichtung umlenkenden Schritt wagte. Was müßten, setzte ich hinzu, der gnädige Herr von mir halten, wenn ich, der ich mit Leib und Seele Schauspieler war, ohne jegliche Überlegung der Kunst entsagte, für die ich zu leben und zu sterben gedacht? Müßte er nicht irre an mir werden und mir das Verträum entziehen, worauf ich stolz hin? – Ich war noch im besten Zuge, da stand er neben mir. ›Sehen Sie, Demoiselle,‹ sprach er, ›daß ich mich in ihm nicht täuschte. Er ist eben so gut als klug, eben so besonnen als feurig. O ich bin ein Menschenkenner, meine Physiognomik trügt nicht. Ja, mein Bursche, gehe mit deinem Alten und mit dir selbst zu Rate; durchdenke die Sache; und wenn ihr einig seid untereinander, dann komme und melde dich.‹ Hierauf zog er sich zurück, Demoiselle verabschiedete mich, maschinenmäßig trugen mich die Füße von bannen, der Kopf brummte mir, die Lakaien draußen machten tiefe Bücklinge, Ludmillas Kammerjungfer strich im Schloßhofe umher, nach wohlbekannter Hillerscher Melodie singend: ›Elf Uhr im Rittersaale, das linke Bein entzwei!‹ ... und hier bin ich!«

»Und gedenkst elf Uhr im Rittersaale ...!«

»Die letzte heimliche Besprechung mit der Baronesse zu haben. Die letzte, Vater! Ich werde ihr nicht verhehlen, was heute zwischen Ihnen und mir vorgefallen ist. Ich werde ihr die Gefahren ausmalen ...«

»Male, was du willst, nur sei kein solcher Pinsel, ihr zu entdecken, was ich dir entdeckt habe! Woher sollten dir Gehorsam und Respekt kommen vor einem Vater, der nicht dein Vater ist? Wirst du vor meinem Fluche zittern, nachdem du berechtigt bist; dich nicht mehr für mein Fleisch und Blut zu halten? Davon darf die Baronesse nichts ahnen. Sie muß begreiflich finden, daß dir meine Befehle mehr gelten, denn ihre Wünsche. ›Ich habe dir kraft väterlicher Autorität untersagt‹ und so weiter. Daran halte fest, sonst windest du dich nicht los von ihr! Was die Absichten des erlauchten Herrn betrifft ... zögere, zögere, stelle dich unschlüssig, ohne ihn wild zu machen, setze Zweifel in deine Fähigkeiten, schütze die Unkenntnis der französischen Sprache vor. Und was dich und deine unglückliche Passion betrifft, suche sie zu ersticken durch verdoppelten Fleiß; wirf dich mit aller Macht aufs Rollenlernen, aufs Komödiespielen; nenne mir Stücke, worin du gern auftreten möchtest; wähle dir Partien darin nach Belieben aus; greife nach Tyrannen oder Märtyrern, nach Intriguants oder Liebhabern, nach Helden oder Hanswürsten, meinetwegen gieb Väter, Mütter, Kinder, Greise, singe in der Oper, hüpfe im Ballett, mache, was dir beliebt; ... nur vergiß deine Passion auf die Baronesse, vergiß den Ahnensaal, vergiß die verfluchte ...«

»Vergessen? Dafür kann ich nicht gut sagen. Aufgeben – das gelob' ich!«

»Hand darauf?«

»Hand und Wort!«

»Bravo! Nimm dich heut' Abend zusammen. Laß dich nicht irre machen, nicht vom Augenblicke fortreißen, gedenke meiner Enthüllungen, habe Verstand für Zwei, bewahre möglichst eine gemessene Zurückhaltung, und wenn sich's thun läßt, so führe die Entrevue dermaßen, daß ihr verstimmt auseinander geht, daß sie dich einen kalten Frosch nennt, daß sie sich ernstlich beleidigt wähnt, daß sie an deiner Liebe zweifelt. Könntest du's gar so weit bringen, in offenen Disput zu geraten, dir die Thür weisen, dich mit Schimpf und Schande fortjagen zu lassen ...«

»Vater, Sie beurteilen Baronesse Ludmilla ganz falsch. All' diese Künste sind unnötig. Wozu Komödie spielen außerhalb der Bühne? Ein Wort genügt bei ihr, sobald es das richtige ist. Und dieses zu finden, darf ich mir zutrauen, eben weil ich sie kenne.«

»Wie heißt dieses Wort, wenn ich fragen darf?«

» Meine Ehre – die verlangt, daß ich mich des Vertrauens nicht unwürdig mache, welches ihr Vater so unerwartet in mich setzt.«

»Ah, gehorsamer Diener!« sagte Bäcker und blieb unschlüssig, gleichsam verblüfft ein Weilchen mitten im Zimmer stehen. Dann umarmte er hastig den Pflegesohn und lief davon, als ob er vermeiden wolle, sich weiter auszusprechen. Von draußen warf er, in den Garten ums Haus schleichend, noch einen Blick durchs offene Fensterchen zu Wulf hinein; und da er diesen schon wieder mit der neuen Rolle beschäftigt sah, rief er aus: um den Jungen darf ich mir keinen Kummer machen; dem geht sein Beruf über alles! Von dem würde sogar unser wohlseliger Altmeister Eckhof, bei aller moralischen Strenge, eingestehen müssen: »der hat die rechte Liebe zum Werke!«

*   *   *

Nur die erste halbe Stunde, die Wulf dem Studium der neuen Rolle widmete, war durch zerstreuende Gedanken an die Begebenheiten dieses Tages und an die daran zu knüpfenden Erwartungen der herannahenden Nacht gestört worden. Mit festem Willen hatte der junge Mann sich bestrebt, seiner Unruhe Meister zu werden, und nicht vergeblich. Die Macht des Talentes trug ihn bald über das Gewirr seiner eigenen Schicksale, über die Widersprüche des wirklichen Lebens ins freie Gebiet selbständiger Wirksamkeit, wo der berufene Schauspieler, wie er des Dichters Schöpfung in sich aufgenommen, zum zweiten Schöpfer wird, wenn er nach Außen Versinnlicht, was jener in seinem Innern erzeugte. In dieser poetischen Wiedergeburt ist die Antwort zu suchen und, irren wir nicht gänzlich, zu finden auf jede müßige, nur allzu oft gestellte Frage: ob die darstellende Kunst in Wahrheit Kunst genannt werden dürfe? Ebenso gewiß als die Mehrzahl unserer Theaterhelden geringe Ansprüche auf den Namen »Künstler« machen darf, ebenso gewiß gebührt er der kleineren Zahl von Auserwählten. Daß wir Wulf zu diesen rechnen dürfen, haben wir bereits verständlich genug angedeutet.

Er machte sich im Laufe einiger Stunden den ziemlich voluminösen Part so weit eigen, daß er ihn, nach seiner technischen Bezeichnung, aus dem Gröbsten gearbeitet hatte und morgen schon an den feineren Ausputz gehen konnte. Doch des Menschen geistige Empfänglichkeit bleibt durch mystische Fäden an den Körper gebunden, und wie es für alles Körperliche eine Grenze giebt, wo die Ausdauer schwindet und die Ermüdung beginnt, so tritt mit dieser letzteren nach langwieriger Anstrengung auch der Zeitpunkt ein, wo die über Gebühr angespannte Geistesthätigkeit erlischt. Dann folgt ein erschlaffendes Gefühl von Ermattung. Der gesamte Organismus streckt die Waffen. Er vermag nicht mehr zu kämpfen. – –

Der Frühlingsabend dämmerte schon seit einer halben Stunde. Wulfs glänzende Augen haben sich selbst als Kerzen geleuchtet. Jetzt ist vollkommene Nacht eingebrochen. Im Gärtchen vor dem Fenster schläft alles. Sogar die Blätter zittern und flüstern nicht mehr, denn auch der leise Windhauch hat sich zur Ruhe begeben und schweigt. Wulf läßt sich auf sein Lager sinken. Der fremde Mensch, der von seinem Ich Besitz genommen, mit welchem er sich verschmolzen, dessen Leidenschaften er in sich eingesaugt, für den er brüderlich gefühlt, gelitten, gerungen hatte, solange er in dessen dramatisches Geschick vertieft an seiner Rolle saß... Dieser Doppelgänger entfernt sich langsam, nimmt Leidenschaften und Leiden, die ihm der Poet zu tragen gab, und die er auf den Darsteller übertrug, mit sich fort. Aber dem Zurückbleibenden erblüht daraus kein Gewinn. Jene fremden Qualen, weil sie sich ihm in reinem Kunstfeuer verklärten, haben ihn ja beglückt. Sie machen ja nur Platz, damit er sich von seinen eigenen, ihm angehörigen Schmerzen bedrückt fühle; damit diese Raum finden, sich auszubreiten in ihm, sich's recht bequem sein zu lassen in einem Herzen, welches heute schon viele Suche empfand: ihre kleinen scharfgespitzten Marterwerkzeuge hervorzusuchen und abermals in jeglichen Falten und Tiefen zu stören, zu bohren, zu verwunden! Ach was muß dieses Menschenherz aushalten, bis es im Tode bricht! Und was hält es aus, so lange es jung ist! So lange unverdorbene gesunde Natur über jeden Riß, über jeden blutenden Stich den heilenden Balsam der Hoffnung streicht; so lange der Vorrat an Balsam ausreicht! Ist er einmal erschöpft, dann vernarben auch die Wunden nicht mehr, sie verharrschen kaum, und die kleinste reißt nachblutend weiter und tiefer, daß endlich aus vielen kleinen die größeste entsteht ... und hernach steht es still und blutet nicht mehr.

Die eingerostete Turmuhr schlug ihre neun Schläge heiser und dumpf. Noch zwei Stunden, seufzte unser Freund. Seine alte Hauswirtin fragte durch die halbgeöffnete Stubenthür herein, ebenso heiser und dumpf wie die Turmuhr, ob Herr Bäcker nicht etwas zu Nacht essen wolle? Er stellte sich schlafend, die gute Frau war daran gewöhnt, ihm einen Teller voll Brot und Fleisch aufzubewahren. Sie weckte ihn nicht und begnügte sich, das kleine Mahl auf die bewußte Stelle in der Küche zu sehen. »Wenn ihm der Hunger kommt, weiß er ja, wo er's zu suchen hat!«

Daß ihm kein Hunger kam, werden meine Leser gern glauben. Wer von Viertelstunde zu Viertelstunde den Schneckengang der sonst wegen ihres unaufhaltsam raschen Fluges berüchtigten Zeit berechnet, weil ihm die schwere Pflichterfüllung näher rückt, vor deren Ausübung er sich ängstigt, und die er doch auch schon hinter sich haben möchte, der liegt auf einer Folterbank, und auf dieser läßt sich sogar der werkthätigste jugendliche Magen jeden Anspruch vergehen. Arme Sünder nehmen zwar, wie man hört, bisweilen, vor ihrer Hinrichtung eine leckere Mahlzeit. Das sind entweder Menschen, bei denen das Tier den Menschen unterdrückt ... oder sie haben mit dem Leben bereits völlig abgeschlossen und wollen sich für den Weg zum Tode stärken, damit der matte Leib ihren festen Willen nicht beuge. Ein Liebender jedoch, der seiner Heißgeliebten darzuthun gedenkt, daß er ihr entsagen muß, ob er gleich niemals aufhören kann, sie über alles zu lieben ... der sollte ans Essen denken? Schöne Anreden, eine immer schöner, wärmer, eindringlicher, überzeugender als die andere, übte er sich ein, sagte sie fließend ... auch seine Thränen flössen hinein ... sagte sie fließend her, ohne Anstoß, und verwarf sie sogleich wieder; denn sie blieben jedesmal weit zurück hinter dem, was er damit sagen wollte. Und endlich sah er auf seinem Lager voraus, er würde sie nicht zu Ende bringen; Ludmillas Mund, ihn küssend, würde beredter sein, als der seinige!

Lange Viertelstunden; die Turmuhr ließ sich recht bitten, ehe sie den faulen Hammer hob. wieder einen matten Schlag auf die Glocke zu thun. Und der Klang dieses Schlages, wie saumselig und verzagt schlich er über die schweigenden Gärten hinweg in Wulfs Gemach, an sein Ohr. – Sieben lange Viertelstunden!

Ein Viertel vor Elf sprang der Gefolterte empor und rüstete sich. Von den sorglich vorbereiteten Anreden war nicht ein Satz ihm treu geblieben, sein Gedächtnis in Nebel gehüllt. Nur zwei Worte leuchteten zwei Sternen gleich aus grauer Hülle, und er wiederholte sie unzählige Male: Meine Ehre!

Er war heute der Erste im Saale, was nicht immer der Fall gewesen. Mehrmals hatten ihn zärtliche Vorwürfe begrüßt, weil er sich verspätet. Mit langen Schritten durchmaß er den weiten Raum. Seine Tritte hallten von den harten Quadern nach und von den Stukkaturen der hohen Decke herab, erweckten manches Echo vor und hinter ihm, daß es war, als gingen verschiedene Menschen hin und her, die aber vermeiden wollten, sich zu begegnen. Erst wähnte er, daß sei Ludmilla, die ihn necke. Doch auf seine an sie gerichtete Frage antwortete ihm nur die letzte Silbe dieser Frage als Echo aus einem Winkel des Saales. Das wurde zuletzt unheimlich. Und wie nun gar Mitternacht heranzog, und er immer noch allein blieb, da überfiel ihn ein Grauen vor seinen eigenen Tritten, und er suchte den mittelalterlichen Lehnsessel auf, der die Liebenden, wenn sie sich in den Armen lagen, willig in seinen Armen gehalten. Dort wollte er Ludmilla erwarten, denn daß sie ausbleiben könne, hielt er für unmöglich. Da knisterte etwas unter dem Druck seiner Hand ... er faßte ein Stück Papier ... er fühlte das Siegel daran ... es war ein Briefchen... das konnte nur von ihr herrühren. Sie ist verhindert sich einzufinden, sprach er und entfernte sich so geschwind, wie seine Bekanntschaft mit den Örtlichkeiten es ihm auch bei dunkler Nacht gestattete. In seiner Behausung glücklich und unbemerkt angelangt, las er: »Demoiselle wollte mir mit ihrem air de protection zu verstehen geben, daß sie um unsere rendezvous wisse. Ich mag dieser personage keinen Dank schulden. Auch bedürfen wir der Heimlichkeit nicht mehr, da wir uns von jetzt an officielment sehen werden, wie ich mit Entzücken vernehme. Da bieten sich tausend Gelegenheiten dar, uns zu finden, ohne Gefahr – und ohne Beihilfe einer confidente. Ich habe mich immer gefürchtet in dem Bildersaale; je déteste les portraits de mes ancêtres

»Was sind das nun für wunderliche Geschichten,« sagte Wulf, »und wie martert man sich und macht sich das bißchen Leben schwer, oft ganz unnützerweise! All' meine Ängste vor dieser einen schweren Stunde hätt' ich nur sparen können; denn während ich nach klaren Gründen und deutlichen Erklärungen für solche Gründe suchte wie der Taucher nach Perlenmuscheln, während, wie jenen das Wasser, mich fast der Zweifel erstickte, ob es mir gelingen werde, sie zu überzeugen und zu beruhigen, hatte sie diese Zeilen schon geschrieben. Um so besser! Ein Schritt ist gethan, ohne daß ich nötig hatte, mir bittern Zwang anzulegen. Was weiter geschehen soll, mögen die nächsten Tage bringen!« – Er verbrannte das lieblich duftende Blättchen ... dann entschlief er.

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Was weiter geschehen soll, hatte Wulf schon halbschlummernd ausgerufen, mögen die nächsten Tage bringen. Sie brachten zuvörderst die Weisung, an herrschaftlicher Tafel zu speisen, was sich zwei-, dreimal in der Woche begab. Wie der beliebte Akteur an Sicherheit gewann, sich ungezwungener und lebhafter mitteilte, sich endlich der Tischgespräche bemächtigte, sie mit vielerlei lustigen Schwänken würzte, dabei doch in keinem Momente sich überhob, seine Stellung nie vergaß ... da stieg er so sichtbar in des Barons unverhehlter Gunst, daß Gottliebe bald eifersüchtig wurde. Mochte sie, seitdem ihr zweideutiges Verhältnis zu ihm bestand, als Maitresse (buchstäblich übersetzt: als Herrin) den stolzen, unlenksamen Mann bis auf einen gewissen Grad beherrscht, gleichwohl mußte sie sich eingestehen, ihn als Gesellschafterin niemals recht amüsiert zu haben. Weder besaß sie den inneren Fond, die sprudelnde Fülle geistiger Lebendigkeit, die dem jungen Schauspieler eigen, ihn befähigte, in die verschiedenartigsten, seinem Wissen und seiner Erfahrung auch ganz fernliegenden Gegenstände scharfsinnig einzugehen, noch hatte sie Geschick und hinreichende Lust, über dasjenige anregend mitzureden, was ihr näher lag. Sie war von Hause aus faul, bequem, phlegmatisch-indolent. Nur ein bestimmter Zweck vermochte sie aufzustacheln. Es giebt viele solche Weiber; namentlich unter denen, welche Gottliebes Laufbahn einschlagen. Sie zeigen sich beweglich, wissen klug zu erscheinen, verstehen hübsch zu schwatzen, kokettieren, solange sie gefallen, erobern wollen. Haben sie's erreicht, ist die Schlinge demjenigen über den Hals geworfen, auf den es abgesehen war; wähnen sie ihn sicher festzuhalten ... dann fallen sie in die Apathie orientalischer Sultaninnen zurück, gönnen sich und ihrer Zunge möglichste Schonung und rühren höchstens noch die Finger, welche sich mit einer mechanischen Arbeit beschäftigen, wie wenn sie Bestandteile einer gedankenlosen mechanischen Figur waren. Womit jedoch nicht etwa behauptet werden soll, die reizenden Lockenköpfe glichen Haubenköpfen und hegten so wenig Gedanken als diese! Das nicht! Ihr Gehirnchen arbeitet nicht minder eifrig fort wie die Finger; es verfolgt seine Pläne, es spinnt Fäden zu Netzen und Garnen. Woran Gottliebes kleines, doch schlaues Gehirnchen spinnt, ist uns bekannt. Wir dürfen uns also nicht verwundern, wenn sie meint, der Baron müsse nicht allzuviel Freude an Wulfs Umgang finden; das könne sie um manche stille Stunde bringen. Deshalb setzt sie sich daran, liebenswürdig zu sein, und jedenfalls trägt dies Bestreben viel dazu bei, die Diners angenehmer zu machen.

Ludmilla that wenig dafür. Sie genoß die Wonne einer Liebenden, die mit vollen Zügen des Geliebten Worte schlürft, die sich daran berauscht. Seiner Stimme eigentümlicher timbre – (so benannte sie's in ihrer französierenden Weise, und die strengsten Puristen dürften schwerlich ein treffenderes Wort aushecken!) – übte den geheimnisvollen Zauber auf sie aus, der sie alles, sogar ihren angeerbten aristokratischen Hochmut vergessen ließ. Daß Sänger solche Macht hatten und haben, befremdet uns nicht. Bei Rednern mag es selten vorkommen. Aber es kommt vor. Es giebt sprechende Stimmen, die Wunder thun, männliche wie weibliche. Wer Sophie Müller gehört, Luise Neumann, der versteht die Möglichkeit. Und welcher von meinen Lesern alt genug wäre, um sich an Bäcker den Jüngeren, genannt Wulf, zu erinnern, an den durch Mark und Seele dringenden, Verstand wie Gemüt gewinnenden Ton seiner Rede, der würde nicht mehr staunen über solche Zaubergewalt eines Jünglings. Der Verfasser des Buches »Der letzte Komödiant« hat später den abgelebten Mann kennen gelernt, von welchem des Romanes dritter Teil handeln wird, und fühlte sich – nicht von der Bühne herab, nur im gewöhnlichen Zwiegespräch – von seiner Sprache Wohllaut hingerissen. Was war es erst, da er in Jugendfrische prangte, und Ludmilla ihn anschaute, ihm zuhörte!

Wie sie richtig vorhergesehen, fanden sich bald unbewachte Momente, wo Gottliebe sich des Barons zu bemächtigen wußte, und wo dem jüngeren Paare Gelegenheit wurde, vertraulich zu plaudern. Ja, die Gesetze der Schicklichkeit, die ihnen auferlegten, laut zu reden und, was sie sich heimlich sagen wollten, zwischen unbedeutenden Äußerungen, unverständlich für andere, einzuweben, liehen dem Verkehre neuen Reiz, weil sie das ganze Aufgebot des Verstandes erforderten, damit dieser den Bedürfnissen des Gefühles zu Hilfe komme. Dadurch wurde denn Wulf seinen Vorsätzen jedesmal untreu gemacht. Er hatte dem Pflegevater und sich gelobt, die gefährlichen Zusammenkünfte im dunklen Saale aufzugeben .. aber in des Barons Gemächern am hellen Tage geistreiche Konversation mit einer holden Dame zu führen blieb doch unversagt.

Und so täuschte er sich allzu willig, und Ludmilla zog ihn und sich immer näher dem von üppigen Blumen verdeckten Abgrunde zu, vor dem Papa Bäcker gewarnt hatte. Soviel davon und schon genug. Wir dürfen nicht zögern, uns mit beschleunigtem Schritte dem ersten Hauptabschnitte unserer Geschichte zuzuwenden. Haben wir doch, wenn dieser hinter uns sein wird, noch einen langen beschwerlichen Weg vor uns.

Wenn nach dem Ausspruche des römischen Dichters die Entrüstung, die Indignation ( indignatio facit versus) Verse zu erzeugen vermag, weshalb sollte Eifersucht nicht imstande sein, träge Seelen anzutreiben, daß sie aus indolenter Gemächlichkeit heraustretend »sich zu zeigen« wünschen? Gottliebe gelang es, dem Baron von einer ganz neuen Seite zu erscheinen; ihn und seine fast in Gewohnheitstriebe übergegangene, erschlaffende Neigung zu erfrischen. Dieser günstige Umschwung, vereint mit dem durch Wulf zugewachsenen Belebungselemente, machte den Gebieter auf Tauern-Kauzburg heiter und ließ ihn die Bitterkeiten der täglich steigenden politischen Verhältnisse leichter überwinden. Gottliebe betrachtete, was sich um sie her begab, für die willkommenste Vorbereitung und Einleitung ihrer weitreichenden Pläne. Ludmilla liebte sich immer tiefer in des armen Komödianten Sein und Wesen hinein; trug ihre Liebe von den Brettern aufs Leben, vom Leben auf die Bretter hinüber; hielt den Gedanken, selbst Schauspielerin zu werden, schon als ausführbar fest; war folglich so zügellos beglückt, wie nur ein von bangem Sinnentaumel und verschwommenen Bildern umschwirrtes Mädchen jemals gewesen. Und Wulf ... ließ Tage gehen, wie sie kamen und gingen, lernte tüchtig, übte fleißig, spielte feurig, gefiel täglich mehr, machte so gewaltige Fortschritte, daß man, wie Bäcker sprach, ihn wachsen sah, dem Grase gleich bei Mairegen; ja, gewann sogar der Erbfeindin Klimene den mit Widerwillen ausgestoßenen und deswegen halb komisch, halb rührend klingenden Ausruf ab: »Der infame Bengel verdient's gar nicht, daß er so göttlich spielt!«

Nun, da war ja alles aufs Beste. Bäckers Befürchtungen schliefen längst. Sogar die böswilligen Gerüchte liefen nicht mehr in Gassen und Häusern herum. Auch sie lagen auf den Ohren und schwiegen. Sahen sich doch Wulf und die Baronesse nur in Anwesenheit des Reichsbarons, hatten doch die indiskreten kammerjüngferlichen Vertrauten nichts mehr zu vertrauen und auszuplaudern. – Es wird doch wohl nur so ein Getratsch gewesen sein, hieß es, was von der Demoiselle ausgegangen war. Ja, die ...!

Der eigentliche Sommer hatte kaum begonnen, und schon ließen sich bei Bäckers Truppe, wie in ganz Kauzburg, Stimmen kühnlich vernehmen, welche auf einen zweiten Theaterwinter deuteten. Der einzige, der darüber authentische Auskunft hätte geben können, zog es vor zu schweigen. Wulf, den der Baron bereits als ihm angehörig betrachtete, war im Geheimnis; wußte folglich, was sogar Gottliebe und Ludmilla noch nicht erfahren sollten, daß drohende Wetter, am politischen Himmel neuerdings heraufziehend, des Freiherrn Gegenwart in Tauern bald erfordern würden; daß es um Reichsbaronschaft und Unmittelbarkeit windiger denn windig aussehe; daß man versuchen müsse zu retten, was aus dem allgemeinen Schiffbruche, Mediatisierung genannt, etwa noch zu retten sei; und daß diese »total abnormen« Zustände Seiner Erlaucht die Pflicht auflegten, dem trauten stillen Kauzburg Valet zu sagen und, ihren Widerwillen bezwingend, sich ins tobende Meer zu wagen, sobald eine letzte Citation des dort schon auf schwankendem Nachen umhertreibenden herrschaftlichen Rates und dirigierenden Stellvertreters anlange!

Fehlte es dem Baron an kräftiger Entschließung, sich aus eigenem Antriebe vor Eintritt allerdringlichster Notwendigkeit an Ort und Stelle zu begeben, um männlich einzugreifen, so mangelte seinem jetzigen Lieblinge, unserem Wulf, ebenfalls die Festigkeit, ehrlich zu erklären, daß er der Bühne nicht entsagen wolle, folglich auch die ihm dargebotene Stellung eines Gesellschafters, Vorlesers und Geheimschreibers nicht annehmen könne. Beide verschoben – jener die That, dieser das Geständnis – auf den äußersten Augenblick. Der Baron dachte: es ist immer noch Zeit, das Einpacken zu befehlen, wenn die Tauernschen ihr Ultimatum stellen. Wulf dachte: verschieb' ich meine Weigerung bis zuletzt, dann komme ich im Durcheinander plötzlich beschleunigter Abreise leichteren Kaufes davon.

Das Schicksal dachte anders.

Des Jahres längster Tag trat zugleich als der schönste auf; kein Wölkchen trübte, doch sanft kühlender Morgenwind erfrischte ihn. Soweit des Menschen Blick reichte, fröhliches Leben, erquickendes Grün! An solchen Tagen findet sich leicht ein hübscherer Aufenthalt als zwischen übelriechenden Talglampen, schmutzigen Leinenwänden, gemalten, nein geklecksten Bäumen, zerrissenen Setzstücken. Dennoch hatten Bäckers Leute eine vierstündige Hauptprobe des (durch weibliche Unpäßlichkeiten verspäteten) Trauerspiels »Eduard Montrose« im qualmenden Halbduster abgehalten, und Wulf hatte, mit Leib und Seele bei der Sache, jene Rolle in Scene gebracht, die wir ihn schlummernd zwischen die Finger klemmen sahen, da Vater Bäcker sein Nachmittagsschläfchen unterbrach. Gleich aus der Reitbahn begab er sich aufs Schloß zur Mittagstafel. Dort fand er statt herkömmlich geordnete Ruhe, stets vornehm bewahrter Würde, eine verworrene Thätigkeit in vollem Gange. Reisekutschen und Packwagen wurden in den Hofräumen gesäubert; Meister Schmied aus dem Orte untersuchte, ob am Eisenwerke irgend etwas schadhaft. In den Vorfluren standen Kisten und Kasten übereinander getürmt, wie wenn Johanna von Montfaucon noch einmal aufgeführt werden und Philipp das Gebirge durchklettern sollte. Diener schoben hin und her. Direktor Kleemann, ein dickes Paket aktenartiger Papiere tragend, trat aus des Barons Gemächern und richtete im Vorübergehen einen fast höhnischen Gruß an den Sohn des Komödiantenmeisters.

Ah, es wird Ernst, seufzte dieser und ging hinein? wo er zu beweisen hatte, daß er ein Mann sei und getreu der Kunst, für welche der Schöpfer ihn bestimmt!

Er fand die Damen schon beim Freiherrn. Sie saßen in ihren gewohnten Sofaecken, der Baron auf seinem Lehnstuhl wie immer. Von der Aufregung, die draußen vorherrschte, fand sich hier keine Spur. Wulf hielt es deshalb schicklich, zu ignorieren, was er bemerkt, und abzuwarten, ob man darüber sprechen wolle. Dies geschah nicht. Das Diner verlief gleich allen vorhergegangenen. Erst nach aufgehobener Tafel begann der Schloßherr: »Nun, mein Lieber, Sie werden gesehen haben, daß wir uns zu rühren beginnen? Endlich mußten doch einige Anstalten getroffen werden, damit ein plötzliches Aufgebot nicht über mein Haus falle und unsere Schönen in Verzweiflung stürze! Sie mögen ihre Garderobenangelegenheiten einstweilen ordnen und dann gerüstet sein, wenn es gilt. Noch läßt sich kein Tag bestimmen, aber lange ist meines Bleibens in Kauzburg nicht mehr; möglich, daß Sie morgen Ihre letzte Rolle auf der Bühne spielen.«

Wulf verneigte sich und schielte dabei seitwärts nach Ludmilla, deren Züge die bängste Erwartung verrieten, ob und was er sprechen werde. Schon erhob er den Kopf, und die leuchtenden Augen richteten sich, als wollten sie ihn versengen, auf den Baron ... da wurde »Prinzipal Bäcker« angemeldet. »Ich hab' ihn rufen lassen,« sprach der Freiherr; »gut, daß er jetzt kommt, so geht alles unter Einem!«

Bäcker war doch nicht Meister genug in der Pantomime, um sein Gesicht völlig in der Gewalt zu haben, nachdem er in den Schloßhöfen gesehen, was ihm keinen Zweifel mehr gestattete. Die Kutschen und Fourgons galten dem erschreckten Entrepremur für Trauerwagen, in und mit denen seine Kauzburger gute Zeit zu Grabe gebracht werden sollte. Er ließ den Mund bedeutend hängen; fragende Blicke streiften Gottliebe, Wulf und die Baronesse. Zuletzt starrte er den Gebieter an und stöhnte: »Erlaucht haben befohlen ...?«

»Bäcker, ich bin mit Ihnen zufrieden gewesen. Sie haben Ihre Schuldigkeit gethan und noch darüber. Ich hätte die Truppe gern einen zweiten Winter hindurch hier behalten, wäre uns vergönnt gewesen, in diesem stillen Winkel der Erde zu verweilen. So gut wird es mir nicht. Die Welt geht drüber und drunter. Ich muß nach Tauern ... vielleicht schon sehr bald! So lange ich in Kauzburg bleibe, gehen die Spieltage fort. Aber ich will beizeiten reinen Tisch machen, damit Sie wissen, woran Sie sind. Sie erhalten hier eine Entschädigung für den Rest dieses Sommers. Sodann habe ich Ihnen noch Ersatz zu leisten für Ihren besten Schauspieler. Ich habe Ihren Sohn in meine Dienste genommen; ich werde für ihn sorgen. Und hält er sich auf der neuen Bahn, wie wir's von ihm erwarten, so kann sie ihn hoch und weit führen. Weil Sie durch seinen Abgang großen Verlust erleiden, und weil Sie sein Vater sind, habe ich Sie zu entschädigen. Nehmen Sie die beiden Summen hier gleich in Empfang. Sie wollen erwägen, daß Sie, was Ihr Personal betrifft, von hier weggehen, wie Sie herkamen; denn als Ihr eintraft, war Wulf noch nicht vorhanden als Schauspieler; er ist gewissermaßen durch Demoiselle erst entdeckt worden; sein Talent ist sozusagen unser Eigentum. Folglich haben Sie nichts eingebüßt und ziehen davon, um ein paar Stück Dukaten reicher, als Sie anlangten. Viel Glück, Alterchen! Und halten Sie Frau Nachbarin Klimene hübsch kurz.«

Dies gesagt, steckte er dem überraschten Manne zwei Röllchen schweren Goldes in die Hand.

Nun wollte Wulf zu reden anheben. Doch der Baron achtete nicht auf ihn. Er verließ mit Gottliebe zugleich das Gesellschafszimmer, wie um Bäckers Dankrede abzuschneiden. Ludmilla folgte dem Vater und lächelte dabei dem Geliebten ein so auffälliges Lebewohl zu, daß es schien, als wollte sie damit sagen: Vor deinem Vater verstelle ich mich nicht!

Bäcker jedoch steckte mit der einen Hand die Dukaten in seine Westentasche, mit der andern faßte er Wulfs Hand, zog ihn rasch fort und flüsterte ängstlich: »Hier keine Auseinandersetzungen! Um Gottes willen halte den Schnabel. Auf deinem Zimmer magst du losplatzen, Marsch!«

*   *   *

Und da saßen sie wieder im kleinen Stübchen, wo der Sohn erfahren hatte, daß er Bäckers Sohn nicht sei, und wo dieser heute nichtsdestoweniger seine Vaterrechte noch einmal geltend zu machen suchte. »Wenn du dich weigerst, ihn zu begleiten,« sagte er, »wenn du ihn abreisen lassen und bei der Truppe verbleiben willst, so ist es ganz natürlich, daß ich die Entschädigung, welche er für dich mir leistete, wieder herausrücken muß. Das sind einhundert Füchse.«

»Und so viel,« erwiderte Wulf mit bitterem Lächeln, »sind wir, mein bißchen Talent und ich, Ihnen nicht wert?«

»Nein, so viel seid ihr nicht wert! um es gleich rund heraus einzugestehen. Fahre nicht auf; gebiete der lieben Eitelkeit fürs erste Stillschweigen und lasse mich fortfahren. Ich will dir's deutlich machen. Wäre die Mehrzahl der Theaterbesucher aus verständigen und gebildeten Kennern, ja nur aus aufrichtigen Freunden dramatischer Kunst zusammen gesetzt, oder hätten wir nur einige Aussicht, unseren Kram bisweilen an größeren Orten aufzuschlagen, wo solche Menschen doch vorhanden sind, dann schätzte ich dich und deine Mitwirkung über diese und über eine ungleich größere Summe; so viel Einsicht darfst du mir zutrauen. Die Nester, in welchen wir unser Wesen treiben, sind wahrhaftig nicht angethan, Zuschauer zu liefern, die zugleich verständige Beurteiler wären. Dem Publikum, für welches wir gewöhnlich arbeiten, ist mit Stücken, wie du brauchst, wenn du nicht zurückkommen sollst, gar nicht gedient. Es verlangt mittelmäßige Ware, ausstaffiert mit Donner, Blitz, Särgen, Fackeln, Totenköpfen, verlarvten Femrichtern, Abällinos, Zauberin Sidonia oder Possen und Narrenspuk mit Kaspar Larifari. In dem Städtlein, aus dem des Freiherrn Forstmeister mich nach Kauzburg citierte, macht ein seidenes Weiberkleid mit Goldflittern gestickt, ein polierter Ritterharnisch von glänzendem Blech mehr Aufsehen als deine besten Monologe. Und nicht anders verhält es sich, was dich persönlich betrifft und deine Erscheinung. Um diese nach Gebühr zu schätzen, müssen Damen aus guter Gesellschaft vor den Lampen sitzen; müssen Herren im Parterre stehen, denen feinere Formen geläufig sind. Du gehörst auf die Bühne einer Stadt, die wenigstens reiche Kaufmannschaft, gelehrte Schulen besitzt. Für mich, für meinen Geschäftskreis, für die Bedürfnisse meiner Auditorien genügt ein derber, gutgewachsener Coulissenreißer; ja dieser wird mir besser bekommen! – Ich will mich nicht deutlicher explizieren, du verstehst mich. Hier in Kauzburg warst du mir unersetzlich als Repräsentant einer höheren Richtung; anderswo würden mir deine ästhetischen Sehnsüchte eine Last werden, denn sie würden mir, wollte ich sie befriedigen, um dich zufrieden zu stellen, die Leute von der Kasse verscheuchen. Das fehlte gerade noch, daß Lessing, Schiller, Goethe, und wie die Herren heißen, mir meinen Plebs verjagten, von dessen Groschen ich leben, ich die Gage zahlen soll. Du aber würdest schon gar nicht mehr aushalten bei der Wirtschaft, die wir treiben müssen, nachdem du unter Auspicien der Kauzburger Gunst begonnen hast. Ehe vier Wochen ins Land gingen, nähmest du Reißaus. Dann hätte ich weder dich, noch meine zurückerstatteten hundert Dukaten. Und um deine Sekretärstelle wärst du auch. Nimm sie an. Versuche dich darin. Gefällt's dir nicht, so bleibt dir immer unbenommen, dich über kurz oder lang im Guten vom Baron zu trennen; und fängst du's klug an, rekommandiert er dich an irgend einen kleinen Regenten, der Theater hält. Ich dächte, das wäre so einfach und klar ... ein kleines Kind kann's begreifen.«

»Ich begreife es auch vollständig.«

»Und willst nachgeben?«

»Willst dem Baron dienen?«

»Das will ich in meinem Sinne und meinen redlichsten Kräften, mit Unterordnung der glühendsten Wünsche, vollkommen unparteiisch. Darauf lege ich Ihnen einen Schwur ab. Ich trenne mich willig von Ihrer Truppe. Sie haben mich hinreichend überzeugt.«

»Das ist edel, mein Junge. Es wird uns beiden Segen bringen. Nun geh' ich beruhigt wieder ins Geschäft. Zweihundert Dukaten sind ein prachtvoller Vorspann!« –

Kaum sah Wulf sich allein, so brach er aus: »Jetzt erst empfind' ich's, daß ich nicht dieses Mannes leiblicher Sohn bin. Ich will ein Künstler werden, er ist ein Tagelöhner. Doch meinen Schwur halt' ich; dem Reichsbaron werd' ich dienen in meinem Sinne und mit Aufopferung der glühendsten Wünsche!«

Er nahm ein Blatt Papier und schrieb:

Ludmilla! Hätte Ihr Herr Vater Argwohn gezeigt; hätte er die Autorität seines hohen Ranges und seiner väterlichen Rechte streng geltend gemacht wider den hergelaufenen Schauspielerjungen ... ich stehe nicht für mich, weiß nicht, wie weit leidenschaftlicher Trotz mich getrieben. Er gönnt mir Zutrauen, erzeigt mir Gunst, öffnet mir sein Haus, und ich wäre ein undankbarer Schuft, wollte ich ihn betrügen. Auch ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß ich dem Theater nicht entsagen kann, ohne mich unglücklich fürs Leben zu machen. Sogar die Liebe weicht diesem Bedürfnis. Zum Schauspieler fühl' ich mich geboren. Ich kann, ich will, ich darf nichts anderes sein! Mein Dienst bei Ihrem Vater würde doch nur kurze Dauer haben. Der Gedanke an meinen innersten Beruf ließe mir doch keine Ruhe. Und diese kurze Dauer heimlich und heuchlerisch benützen zur Fortführung des zarten Einverständnisses, dessen Sie mich würdigten, halte ich für niederträchtig. Besser, den heftigen Schmerz einer gewaltsamen Trennung erleiden, als vielleicht zu späte Reue! Besser für mich und besser für Sie! Vergessen will ich nicht. Ludmilla wird und soll mich vergessen. Heute schnür' ich mein Bündel. Morgen trete ich zum letztenmal in Kauzburg auf. Die Nacht darauf entweiche ich, und gelingt mir's, dann erreiche ich die Grenze vor Tagesanbruch. Schreiben Sie mir eine Zeile, die mein Vorhaben billigt. Ihre Zustimmung soll mir die Stärkung bringen, die ich brauche. Denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach!«

Dieses Briefchen suchte er auf dem früher geläufigen Wege zu befördern. Als er umgehend den Bescheid empfing: »Wulf handelt klug und gut. Dank für seine Offenheit! J'en profiterai! und seine Reise wird, hoff' ich, glücklich ausfallen!« Als er diese wenigen Worte las, da klagte er weinend: »Sie zürnt; sie versucht nicht einmal mich von meinem Vorhaben abzubringen; sie giebt mich sehr bereitwillig auf. – Nun, um so leichter werd' ich scheiden. Aber weh' thut's doch! O, wie abgeschmackt, sich ernstlich zu verlieben!«

*   *   *

Das Trauerspiel »Eduard Montrose« hatte bei herrlichem Sommerwetter die ganze Nachbarschaft angelockt. So überfüllt war die Kauzberger Manege noch nie gewesen, so viel Gäste aus der Ferne hatten sich noch niemals eingestellt. Die Darstellung ging wie am Schnürchen. Allgemein wurde die etwas alberne Floskel angewendet: der jüngere Bäcker übertreffe sich selbst. Schon im ersten Akte, als Montrose ausruft (Heinrich Laube würde mitleidig lächeln, wenn er dies Pröbchen aus dem Drama seines Vorgängers Diericke zu Gesicht bekäme. Doch ihm bleibt wohl keine Zeit, meine Romane zu lesen!): »An einem Morgen, Surrey, glaubt' ich eine Stimme zu hören, eine Stimme, an die mein Herz so sehr gewohnt ist. Du verlassest mich, Eduard, rief sie, du stirbst! Komm in meine Arme! An meinem Herzen liegt Heilung, liegt Leben, liegt Wonne für dich!« – als er diese Stelle rentierte, gewann sein Ton so unwiderstehliche Gewalt, es lag solch' hinreißender Zauber in diesen Klängen, daß ein Gemurmel durch die Reihen ging, eine unwillkürliche Kundgebung bewundernder Rührung. »Wo nimmt der Mensch diese Töne her?« fragte hörbar genug Gräfin Krom; »das klingt ja wie eine Stimme aus fremden Welten!«

Im zweiten Akte begab sich etwas höchst Seltsames. Wir müssen ein paar kurze Sätze aus dem Dialog der Tragödie zur Einleitung voranschicken. Montrose: etc.. »Mein Entschluß ist gefaßt. Er ist unwandelbar wie die Sterne, die dort leuchten.« Jenny: »Wohlan, Eduard, ich will dich begleiten!« Montrose: »Willst du mir übers Meer folgen? Kennst du das Element, dem du dich anvertrauen willst? Es ist ein wildes, treuloses Element, und nur ein schwankendes Brett macht die verächtliche Scheidewand zwischen uns und ihm aus.« Jenny: »Immerhin, Eduard! Wirst du doch bei mir sein. Montrose: »Wie aber, wenn unstet und flüchtig wir umherschweifen werden? Wenn Elend und Not mit uns ziehen, kein sicheres Dach uns erwartet, heulende Winde durch unsere Hütte sausen und die Kälte unsere Glieder erstarrt?« Jenny: »Dann sollen meine Hände für dich arbeiten; dann soll mein warmer liebevoller Busen vor Kälte dich schützen.«

Die »Kurzfleischin« hatte den letzten Satz kaum beendet, als mitten aus der Versammlung ein bekräftigendes Ja laut wurde. Die Zuhörer waren mit Aug' und Ohr viel zu sehr an die Scene gebannt gewesen, um auf das zu merken, was neben ihnen vorging. Vernommen hatten sie, jeder und jede, den störenden Zuruf; niemand aber wußte zu sagen, von wo er ausgegangen sei, noch wer ihn gethan haben könne. Auf der sogenannten Nobelgalerie wurde im Zwischenakte behauptet, er sei aus den Bänken erschollen, welche die Kauzburger Einwohnerschaft zu füllen pflege. Umgekehrt raunten sie sich unten zu: von der Galerie sei's gekommen. Weder unten noch oben fanden sie eine Erklärung, und kein Mensch forschte weiter danach. Man begnügte sich, den unwillkürlichen Ausbruch des Mitgefühls von seiten irgend eines kindischen Mädchens vorauszusetzen, welches vielleicht gern mit der Kurzfleisch getauscht hätte. – Nur der Baron und Gottliebe schienen anderer Ansicht zu sein. Ersterer zeigte sich plötzlich unwirsch und kalt angebunden gegen seine Nachbarschaft. Letztere ließ ein bedeutungsvolles Lächeln um den Mund spielen und warf Siegerblicke nach rechts und links. Vielleicht waren beide dem Ursprung der mysteriösen zwei Buchstaben auf der Spur und deuteten ihn nach ihren verschiedenen An- und Absichten! Wenigstens versicherte Gräfin Krom späterhin, sie habe deutlich gehört, daß der Baron zu Gottliebe gesagt: »Darüber muß ich klar sein, ehe ich ihn meinem Hause wirklich attachiere!«

Montrose war zum Schafott geführt; Jenny, Ophelien gleich »Schwermut, Trauer, Leid zur Anmut machend,« ihm vorangegangen aus eigenem Antriebe in jene Welt; der Vorhang gesunken, die Lampen waren ausgelöscht, die Zuschauer hatten sich zerstreut, die Auswärtigen waren heimgezogen, die Darsteller aus historischen Engländern wiederum unhistorische deutsche Komödianten geworden, die letzten Zähren der Rührung getrocknet auf den Wangen weichherziger Kauzburgerinnen, denn Kauzburg lag, schlief – schnarchte sogar nach Umständen ... nur in Wulfs Gemach gab's weder Schlaf noch Ruhe: in seiner Seele bebte noch das geisterhafte Ja; bange Ahnungen erfüllen ihn mit Furcht, welche zugleich für Hoffnung gelten konnte, denn er schwankte zwischen beiden. Was er fürchtete? Was erhoffte? Läßt sich das beschreiben? Die jugendliche Liebe harrt immerwährend auf Wunder, auch nachdem sie entsagt zu haben wähnt. Wunder jedoch zergliedert man nicht wie gewöhnliche Begebenheiten, sonst wären sie keine Wunder. Man erwartet sie eben. – Nur daß sie meist ausbleiben.

Unserem Wulf aber war eines beschieden, und noch dazu ein recht großes, ausgiebiges, verhängnisvolles, woran er sich zu Wundern haben wird, so lange er lebt.

Er hatte den gestrigen Abend nicht unbenutzt vorübergehen lassen. Ludmillas Abschiedsbriefchen verbrennend und den Stoßseufzer: »O wie abgeschmackt, sich ernstlich zu verlieben!« auf den Lippen, hatte er Vorkehrungen zur Flucht getroffen. »Das Schnüren seines Bündels,« wie er der Baronesse geschrieben, bot Schwierigkeiten. Das Bündel wuchs bald zu einer Last an. Seine Bücher, Rollen, Excerpte allein füllten die große Kiste schon. Und was wurde er ohne diese seine Vertraute? Zu Fuße kam er nicht fort, das sah er ein. Da besann er sich auf einen zweispännigen Bauernsohn aus Unterkauzburg, einen schmucken, anstelligen Burschen, dem er bisweilen förderlich gewesen, wenn die Austeilung der Eintrittskarten ins Schauspiel nicht so weit gereicht, und den er dann als Konterbande hineingeschmuggelt. Bei Dämmerung suchte er das ferngelegene Gehöfte auf. Die Eltern sagten ihm, der Junge sei aufs Schloß gegangen, den Bruder zu besuchen, welcher im herrschaftlichen Stalle aushelfe. An den kurzangebundenen Vater traute sich Wulf mit seinem verdächtigen Anliegen doch nicht. Er kehrte um und gelangte bis zu der Stallungen, die großenteils leer standen, weil des Freiherrn Pferde in Tauern geblieben waren; in denen er aber bald den Gesuchten samt Bruder antraf, die sich mit den wenigen aus Vorwerken entlehnten Tieren beschäftigten. Er meinte sich unbelauscht; doch während er noch schwankte, ob er jenen Bruder mit ins Geheimnis ziehen, oder ob er warten solle, bis Gregor aufgebrochen und allein anzusprechen sei, und während er unschlüssig von gleichgültigen Dingen mit ihnen hin und herredete, machte sich, wie aus dem Erdboden gewachsen, Ludmillas Kammerjungfer bei der offenen Stallthür zu schaffen. Er mußte annehmen, sie habe eine Botschaft für ihn; doch sah er sich bald enttäuscht, da sie ihm keinen Wink gab, ihm vielmehr auswich. Das ärgerte ihn, und weil Ärger kühn macht, so rückte er unter allerlei Vorwänden, die den Bauernjungen einleuchten sollten, mit seinem Anliegen vor. Gregor fürchtete sich vor dem Vater. Der ältere Bruder sprach dem jüngeren Mut ein. Wulfs Versprechen eines Geldgeschenkes gab den Ausschlag. Morgen Nacht zwischen Eins und Zwei wollte Gregor mit seinem Gespann im Hohlwege hinter Krämers Obstgarten halten. Wulf stahl sich davon und sah im Gehen, daß Dorchen sich der Stallthür wieder näherte. Im Dunkeln ist gut munkeln, dachte er; wahrscheinlich gefällt ihr Gregors Bruder.

Das waren die Ereignisse des gestrigen Abends gewesen, und jetzt rückte die Stunde nahe heran, die seiner Trennung von Kauzburg schlagen sollte. Wenn es nur schon morgen wäre, jammerte er, auf seinem Gepäck sitzend, im tiefsten Dunkel, denn er hatte das Kerzenlicht verlöscht. Wenn ich's nur schon überstanden und dieses Zimmer, das Schloß, die Reitbahn, die Häuser, die Fluren, alles was Kauzburg heißt und dazu gehört ... wenn ich nur die Todesangst hinter mir hätte! Wenn ich nur drüben jenseits der Grenze wäre!

Ein Uhr ist vorüber. Die Besorgnis erwacht: wird Gregor Wort halten, wird er sich durch den Garten schleichen und behutsam an mein Fenster klopfen, damit wir Kiste und Koffer zum Hohlwege bringen? Wird er mich nicht im Stiche lassen? Hat er, hat sein Bruder nicht vielleicht geplaudert? Sind sie nicht durch die Kammerjungfer irre gemacht worden? Oder hält ihn der Vater zurück? ... Schon zwei Viertel nach Eins! Bis es Zwei schlagt, muß ich mich noch in Geduld fassen, dann ...

Die Scheibe klirrt. Er öffnet. Gregor steht draußen, hinter ihm dessen Bruder.

»Reich' uns der Herr Komödiant die Sachen durchs Fenster heraus!«

So geschieht's. Dem Gepäck folgt Wulf, der sich schnell hinabschwingt. – Lebt wohl, Häuschen, Garten und du biederes Ehepaar, das mich so gut pflegte! Lebt wohl auf Nimmerwiedersehn!

»Es ist anders geworden, wie Ihr's bestellt habt,« beginnt Gregors Bruder, indessen sie selbdrei die Effekten durch den Garten tragen, »und es ist auch besser so. Kaum war't Ihr gestern Abend von uns gegangen, und wir ›temperierten‹ noch, wie's unserm Alten am bescheidensten beizubringen sein thäte von wegen Pferd und Wagen, da steckte das dreiste Ding, die Dore, ihre Nase in den Stall; und sie wüßte schon, und ihre gnädige Herrschaft auch, und unser Fuhrwerk taugte nicht, und da wär' ein Zettel auf die Posthalterei zu tragen nach Neustädtel bei Tagesanbruch, den sollte der Gregor besorgen, da stünd's drauf von wegen der Pferde: und ich sollte bei Wohl und Wehe der gnädigen Baronesse ihre leichte Reisekutsche morgen zu Nacht (das ist so viel als wie heute) ganz doucement und ohne Aufhebens durchs hintere Hofthor hinausschieben, gerade vor die Reitbahn, wo's ins Komödienspiel hineingeht.«

»Und dann wär's richtig, und die gnädige Madmamsell Baronesse stünde vor alles. Ein paar Geldstücke waren etwa auch dabei. Nurs Maul halten, hieß es. Mitternacht, wie Groß und Klein schlief, die Wächter gleichfalls, bin ich mit meiner grünen Karumpel abgefahren, sie rollte wie von selber hinter mir her. Und vor der Komödje braucht' ich kaum ein Stündel zu passen, kam der Postillion von Neustädtel hübsch langsam angeritten, daß der Gregor bequem daneben herstiefeln konnte und ihn instrugieren. Jetzt hält die Gelegenheit im Hohlwege, wie wenn sie hineingehören thät'. Aber die gnädige Baronesse muß es absonderlich gut meinen zu Ihm, daß sie Ihm die Reise gar so schön einrichtet und kein Geld dabei nicht ansieht. So, hier sind wir. Schwager, wo gehören die Kasten hin?«

Der Postillon stand bei dem Magazin, welches vorn an der Kutsche angebracht war. Wulfs Gepäck wurde eingestellt, der Deckel darüber gelegt und abgeschlossen. Jener überreichte ihm den Schlüssel und sagte: »Musjeh, drinnen in dem Winkel rechter Hand liegt ein ganzer Stoß Zeuge, Mantel und Umschlagetücher, wenn Ihn frösteln sollte; denn gegen Sonnenaufgang wird's frisch. Die Mädel vom Geschloß haben's hineingestopft; die müssend verzweifelt ängstlich haben, daß Ihr nicht verfriert mitten im Sommer.«

»Ja, man ist sehr besorgt, daß ich nur ja bequem und so geschwind wie möglich entfernt werde. Ich muß unendlich dankbar sein! – Aber was ist denn das für Gepäck hinten auf dem Wagen?«

»Das weiß ich nicht,« sagte der Postillon; »das hab' ich schon so gefunden, wie ich die Pferde vorlegte, 's ist wohl nur der leere Korb, wo sie Koffers hineinschieben können, wenn's not thut.« Damit stieg er auf. Wulf gedachte dem Gregor und dessen Bruder noch ein Geschenk aus seiner – allzu leichten – Börse zu spenden; diese weigerten sich, es anzunehmen; sie wären vollauf bezahlt und er möge nicht länger trödeln!

So drückte er sich denn in die leere Ecke der breiten Chaise, ängstlich bemüht, die ihm aufgedrungene Fülle von Shawls und dergleichen Sachen nicht zu berühren. »In Gottes Namen,« rief er, »fahr' zu!« Und dann drückte er die Augen ein und überließ sich dem dumpfen, betäubenden Schmerze, gemischt aus Groll, Wehmut, Sehnsucht, Besorgnis, Trotz und allen Widersprüchen entsagender Liebe, verletzter Eitelkeit. Was er in Kauzburg durchlebt! – was die neue Welt, in die er sich wagte, ihm bringen werde? Zwei Reigen verschwommener, wider einander ziehender Schattenbilder ... über beiden schwebend Ludmilla; jetzt als Engel die Vergangenheit schmückend ... dann als Furie die Zukunft verwirrend ... kühlende Nachtluft linderte labend seiner Stirne Glut ... des Wagens rasche Bewegung beschwichtigte das wallende Blut ... ermattet bis zum Tode von der letzten Tage Kampf und Qual versank er in Schlaf. Und wahrlich, ein Schlaf, der für einige Stunden den Sieg über schwere Seelenleiden erringt, gleicht gar sehr dem Tode! Er stärkt, erquickt nicht, er übermannt nur, drückt zu Boden ... und was dann kommen mag beim Erwachen? ... Wer weiß es?

Halt! Das Posthorn ertönt! Wulf erwacht. Der Morgen ist da, hell und klar. Die Pferde stoßen mit den Köpfen an einen Schlagbaum. Der Postillon wendet sich, in den Wagen hineinrufend: »Hier ist das Grenzamt!«

»Wer sind wir?« brummte eine barsche Stimme aus dem Fenster des Zollhauses; milderte sich aber beim Anblick der Equipage sogleich und setzte hinzu: »Ich komme heraus!«

»Er kommt heraus, aber wie komm' ich durch?« fragt der Flüchtling, den Schlaf mühselig abschüttelnd, den Postillon, einen im Dienst ergrauten Kutscher.

Dieser deutet mit der Peitsche auf den Platz in der anderen Ecke und meint: »Dafür wird schon Rat sein!«

Was Wulf bisher für Mäntel und andere Hüllen gehalten, beginnt sich zu regen, richtet sich auf, nimmt menschliche Formen an, ein verschleiert Haupt hebt sich daraus empor, und als der Beamte sich nähert, streckt eine zarte Hand ihm ein Goldstück entgegen. »Vom Gefolge des reichsfreien unmittelbaren Baron Tauern-Kauzburg! Die Herrschaft wird später eintreffen!«

»Ah,« lachte lustig der Zöllner mit devoter Verbeugung: »Das Gefolge reiset voran, und die gnädigste Herrschaft folgt nach?«

»So ist's! Vorwärts Postillon!«

Der Schlagbaum steigt – die Pferde ziehen an – Wulf lüftet den grünen Schleier – »Ludmilla!? Was bedeutet das?« –

»Was soll's bedeuten? Du entführst mich, voilà tout!« –

»Aber um Gottes willen ...?«

»Aber um Gottes willen ...« und ihre Lippen machten die seinigen verstummen.

*   *   *

Wir haben, ehe auch wir von Kauzburg scheiden, noch einem heftigen Auftritte beizuwohnen, der im alten Schlosse vor sich geht.

Niemand hatte gewagt den Herrn zu benachrichtigen, daß Baronesse Ludmilla vermißt werde. Das Frühstück war serviert; beide Damen blieben aus. Der Baron schickte nach ihnen, erst den Kammerdiener, dann, als dieser nicht wiederkehrte, die Lakaien; und zuletzt voll zorniger Ungeduld wollte er selbst nach der Ursache der Verzögerung forschen ... da stellte sich Gottliebe ihm in den Weg. Sie hatte sich ein genaues Programm ausgearbeitet und traute sich hinreichende Festigkeit zu, davon nicht abzuweichen. Der erste Paragraph desselben lautete: »keine beschwichtigende Einleitung; das Schlimmste gleich gesagt! bei heftigem Sturme kaltes Blut! Ihn erst austoben lassen, und dann ...« Deshalb begann sie: »Ludmilla ist verschwunden. Auch der junge Bäcker fehlt. Wahrscheinlich sind sie miteinander entwichen!«

Der Baron that einen Schritt rückwärts, wie man sich wohl von einer Person entfernt, die bis dahin für leidlich bei Verstande galt, und bei welcher sich urplötzlich Spuren des Wahnsinns zeigen. »Was sind das für unschickliche Scherze,« sprach er. »Du weißt, daß ich so gemeine Späße nicht mag; sie beleidigen mich.«

»Ich würde mir solchen Scherz niemals gestatten, geliebter Freund; es ist der schrecklichste Ernst. Beide haben in dieser Nacht das Weite gesucht. Auf Ludmillas Tische fand sich dieses versiegelte Schreiben. Es trägt die Aufschrift an dich!«

Er nahm es, überflog's, riß es in Stücke und warf sie Gottlieben ins Antlitz. Dann packte er mit beiden Händen ihre Schultern und schrie sie an: »Du hast darum gewußt!« –

»Sie thun mir weh; lassen Sie los! Mißhandlungen ertrag' ich nicht.« –

Er bemeisterte seinen Zorn. Mit verhaltenem Grimme wendete er sich von ihr, dem offenen Fenster zu, wo er stehen blieb.

Sie hob die zerrissenen Blätter auf, setzte die einzelnen Teile des Briefes auf dem Tische zusammen und las laut:

»Ich liebe den jungen Schauspieler und will eher mein Leben verlieren als ihn. Ich liebe auch seine Kunst; für sie werde ich mich an seiner Seite ausbilden. Ein Vater, dem die Maitresse teurer ist als die Tochter, wird diese nicht entbehren. Der Name, den Sie führen, soll sans tâche bleiben. Ich werde für Frau Wulf gelten. Und weit von hier, wo ich eine Fremde bin! Mon chèr cousin tritt in die Erbschaft. Was mein ist, hab' ich mitgenommen; mache keine Ansprüche sonst. Daß recherchen angestellt würden, uns zu verfolgen und aufzugreifen, habe ich wohl kaum zu befürchten. Davor sichert mich der Stolz des Mannes, der nie ein Herz für mich hatte. Vielleicht auch verhilft meine Entfernung der Demoiselle dazu, Reichsfreifrau zu werden, wonach sie trachtet, wie ich weiß. Dazu im voraus meinen Glückwunsch!

Ludmilla.«

Die Schlußzeilen waren Gottlieben sehr unwillkommen. Sie zu unterdrücken war es zu spät, nachdem die ersten Worte heraus waren, und die Hindeutung auf ihre Absichten trat viel zu früh ein. Sie verwirrte sich. Ihr Geschick zur Intrigue war überhaupt kein rasch erfindendes, ebensowenig wie ihr bei unerwarteten Vorfällen, in bedenklichen Lagen, das treffende entscheidende Urteil zu Gebote stand. Sie bedurfte immer einiger Tage, sich zu sammeln; ihre von Natur angeborene, indolente Gutmütigkeit mit Sophismen zu unterdrücken. Sie mußte, wie sie es selbst nannte, ihre kleineren und größeren Kabalen »erst einfädeln.« Jetzt war ihr zwischen den Fingern der Faden zerrissen, ehe sie noch die Nadel in Gang gebracht, mit welcher sie ihre Zukunft an eine Reichsbaronie zu sticken gedacht. Sie kannte den edlen Ägidius hinreichend, daß er nun doppelt gepanzert stand gegen ihre Listen und Angriffe. Und sie irrte sich nicht in ihm. Es brach ein Ungewitter los, dessen Donner weit hinaus durch die Vorzimmer hallten und durchs ganze Schloß bis hinunter in die Gassen gehört wurden: »Eine Tochter hab' ich nicht mehr; will nichts mehr von ihr wissen! Sie erklärt sich selbst für unwürdig, eine Tauern zu heißen; sie sei begraben – vergessen – ihre Schmach mit ihr! Man soll sie nicht nennen. Vielleicht thu' ich ihr zu viel? Vielleicht ist sie minder schuldig, wie sie erscheint, weil sie von der Höhe ihres Ranges unmöglich so tief herabsteigen konnte, wenn ihr der Pfad nicht geebnet worden wäre, wenn nicht perfide Ratschläge, schlechtes Beispiel ...«

»Halt, Herr Baron,« rief Gottliebe; und rief es so kräftig, daß der Angerufene erschrocken inne hielt. »Wollen Sie von schlechten Beispielen reden, so stellen Sie Ihr eigenes voran. Sie können's ja in Ludmillas liebevollem Abschiedsgruße nachlesen, wie vorteilhaft sie von Ihnen denkt, wie kindlich sie Ihre väterliche Sorgfalt und Zärtlichkeit erwidert. Ich hatte keine Verpflichtung gegen Fräulein Tauern-Kauzburg. Ich bin weder deren Mutter, noch Schwester, noch sonst was. Ich wurde, unabhängig als meine eigene Herrin dastehend, Ihre Maitresse, unter Bedingungen – die keine sind; mit allzu bescheidenen Ansprüchen. Ich gab und gewährte Ihnen mehr durch mich, als ich von Ihnen und durch Sie empfing. Ob unser Verhältnis günstig wirken werde auf ein heranreifendes Mädchen, das ging mich doch weniger an wie dieses Mädchens Vater! Dennoch hab' ich Sie gewarnt; habe Ihnen wiederholt geraten, Ludmilla einer achtbaren Familie in Pension zu geben. Sie lachten darüber und ernannten mich zu ihrer Gesellschafterin: War das meine Schuld? Da aber in Ihnen die widersinnige Idee aufstieg, einen jungen Schauspieler zum Geheimschreiber und ich weiß nicht was noch zu machen ... warnte ich da nicht abermals? Gab ich nicht zu verstehen, daß diese Nähe der Baronesse verderblich werden könnte? Und schlugen Sie nicht abermals meine Warnung höhnisch in den Wind, indem sie behaupteten, Tauernsches Blut könne nicht aus der Art schlagen; das Reichsfräulein könne einen Ihrer Diener nicht menschlich wie einen Menschen betrachten? Was hab' ich verschuldet, wenn sie's nun doch gethan? Was hab' ich davon, daß Wulf sie entführte oder sich von ihr entführen ließ? Mir wird er am meisten fehlen; denn die langweiligen Stunden in Ihrer verehrungswürdigen Gesellschaft, welche seine Gegenwart bisweilen verkürzte, ziehen jetzt zwiefach lästig wieder heran.«

»Fürchten Sie nichts, Demoiselle, nichts mehr von solchen Stunden. – Doch bevor wir davon handeln, will ich Ihnen eröffnen, weshalb Sie ein nichtswürdiges Verhältnis protegierten, welches ohne Ihre wenn auch negative Beihilfe nie und nimmer so weit gediehen wäre. Sie tragen sich schon lange mit der abgeschmackten, einer Theaterprinzessin würdigen Hoffnung, meine Gemahlin zu werden. Ludmillas Fall dünkte Ihnen eine sichere Brücke zum Altare. Boten sich doch dadurch erwünschte Veranlassungen der gewandten Schauspielerin dar, mit süßen Künsten in das Herz eines Vaters sich immer tiefer einzuschmeicheln, der gebeugt vom Verluste eines undankbaren Kindes ...«

»Ich muß Sie unterbrechen und Ihre geheuchelte Rührung in Nichts auflösen. Mir ist sehr wohl bekannt, daß Ludmilla nicht Ihr Kind, obgleich das Kind Ihrer Gemahlin war. Und die Baronesse weiß es auch; dafür zeugt ihr Lebewohl.«

»Was wissen Sie? was können Sie – was kann die Entehrte wissen?«

»Was die Sperlinge auf den Dächern Tauerns zwitschern, mein hochgebietender Herr; daß Ihrer seligen Ehehälfte ein anderer näher stand, denn Sie. O, Vater Bäcker ist nicht der einzige auf Erden, der ...«

Noch einmal hob der Baron die Hände, diesmal um solch' giftige Beleidigung durch einen Schlag zu bestrafen. Doch abermals hielt er an sich. Er zog die Glockenschnur und läutete Sturm. Mehrere Diener drängten sich herein, zwischen ihnen, an allen Gliedern zitternd, der Theaterprinzipal.

»Demoiselle reist heute noch ab; man soll ihr Gepäck sogleich in Ordnung bringen!« befahl der Baron.

Gottliebe wendete sich zu den Lakaien: »Daß niemand sich untersteht! Reisen will ich; mitnehmen will ich nichts, als was ich mitgebracht. Arm, wie ich kam, will ich gehen. Habgier ist mein Fehler nicht. Es hätte an mir gelegen, Ihre schwachen Stunden auszubeuten und mich zu bereichern. Das hab' ich verschmäht. Blinder Ehrgeiz wies mich auf ein höheres Ziel. Ja, ihr Leute, ich hatte im Sinne, Reichsbaronin zu werden; und ich wär' es geworden, verlaßt euch darauf, hätte nicht dies kleine Briefchen einen großen Plan vereitelt. Vielleicht ist's so besser. Lustiger, amüsanter ist's gewiß. Nicht wahr, mein alter Freund Bäcker? ... Ha ha, steht Er doch da, wie wenn der Souffleur Ihn mitten in einem großen Monologe stecken ließe. Ja, Bäckerchen, sie sind auf und davon, die Piepvögelchen sind flügge geworden, und wir haben das Nachsehen. In der reichsfreiherrlichen Manege spielt man jetzt das alte Stück: ›Geschlossene Thüren und ausgelöschte Lampen!‹ Wie thut's, mein wackerer Komödienmeister? Könnt Ihr mich gebrauchen? Ich trete ins Engagement bei Euch; mache billige Forderungen!«

»Demoiselle ... Euer Erlaucht ...« stotterte Bäcker.

»Hinaus mit dem Gesindel!« schrie der Baron.

»Das Gesindel empfiehlt sich zu Gnaden!« lachte Gottliebe und zog den Schauspielunternehmer am Arme fort.

 

Ende des ersten Teiles


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