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Zweites Buch

Im Dorfe Kauzburg – ich glaube gar, es ist ein Marktflecken? – hausten die Komödianten in verschiedentlichsten Häusern, je nachdem sie weiter oder näher vom Schlosse Aufnahme gefunden. Die guten Einwohner hatten noch keine andere theatralische Produktion erlebt, als jene, zu welchen durchziehende Puppenspieler sie eingeladen, waren also baß erstaunt gewesen, zu vernehmen, daß jetzt in der herrschaftlichen Reitbahn mit »lebendigen Figuren« agiert werden solle, und hatten sich fast um die Ehre gestritten, dergleichen im Dienste des Schloßherrn stehende Fremdlinge für mäßigen Mietzins bei sich aufzunehmen. Von heimlichem Aufbruch ähnlicher Gäste, von gemißbrauchtem Vertrauen, von leichtsinniger Hinterlassung böser Schulden, von all' diesen häufigen Nachwehen dramatischer Belustigungen war bis in ihre Abgelegenheit auch nicht ein Hauch gedrungen, und sie kamen treuherzig wie biedere, vom Ausflusse großer Städte noch unverdorbene Landbewohner mit offenen Armen den Schauspielern entgegen, die sich denn auch bald eingerichtet hatten, die Wohlfeilheit der Lebensmittel nicht genug preisen konnten und sich sehr glücklich dünkten, über Winter nicht von einem kleinen Neste zum andern geschleppt zu werden. Die Holzpreise standen so niedrig, daß sie mit der Heizung ebensowenig zu sparen brauchten, wie bei den Öfen in der Manege gespart wurde. Sie ließen sich's allzumal gut schmecken.

Wulf wohnte auch hier nicht bei seinem Vater. Die Frau Stiefmutter hätte unter keiner Bedingung gestattet, daß ein ihr ebenso verhaßter als gehässiger Beobachter täglich um sie sei. Er sehnte sich auch durchaus nicht nach ihrem erneuerten Umgange, denn es war ihm allzuwohl bekannt, wer den armen Bäcker durch raffinierte Ränke dahin gebracht habe, sich vom Sohne zu trennen. Auch hatte sie ihn, da er aus der Lehre entlaufen wieder bei der Truppe eingetroffen war, allerdings wie einen verlorenen Sohn, doch keineswegs wie einen, über dessen Heimkehr man Freude äußern will, empfangen. Nur Müllers Verwendung war es gelungen, dem unterdrückten Jünglinge die stillschweigende Erlaubnis zu erwirken, daß er »bis auf weiteres« bleiben dürfe. Papa Bäcker lud jetzt im überströmenden Wonnetaumel unerwarteter Freiheit den künftigen ersten jugendlichen Helden väterlich ein, das leergewordene Zimmer Klimenens zu beziehen. Doch Wulf erbat sich die Vergünstigung, weilen zu dürfen, wo er bereits untergebracht war, bei einem Krämer des Ortes, den er während seines ersten Kauzburger Aufenthaltes kennen gelernt, der den nachdenklich-bescheidenen Tapezierer liebgewonnen, und der im Vereine mit einer alten häuslichen Frau alles aufbot, herzliche Freude über des klugen Burschen Wiederkehr an den Tag zu legen. Sie hatten ihm ein Stübchen eingeräumt, welches, durch den Hausflur vom Kramladen und von ihrer eignen Wohnung geschieden, die Ecke des niedrigen einstöckigen Hauses bildete und einfach, fast dürftig, dabei gar heimlich und behaglich ausgestattet war. Ein Fenster ging auf den Obstgarten, ein anderes auf die Seitengasse hinaus, die von der Dorfstraße abbiegend ins freie Feld führte. Beide waren schmal, doch mit doppelten Scheiben versehen, zwischen denen frisches grünes Waldmoos sich allerliebst ausnahm. Die Flügel ließen sich nicht öffnen, denn die Hausfrau hatte sie vorsorglich verklebt und jede Ritze mit bunten Papierstreifen verkleistert; doch um frische Luft einzulassen, war auf der Gartenseite ein Schieber angebracht, auf dessen Erfindung der Krämer sich etwas zu gute that. Der Eingang in den Kramladen befand sich auf der nach der Dorfstraße gelegenen Seite des Häuschens. Wulf genoß folglich die ungestörteste Ruhe und benutzte sie redlich. Er mied jeglichen Umgang und brachte jede Stunde, die er nicht den Geschäften widmen mußte, mit welchen man ihn beim Theater als wahren Packesel zu überhäufen pflegte, in fleißigster Vorbereitung auf seine Zukunft hin. Er war fest entschlossen, ein guter Schauspieler zu werden, und ebenso fest überzeugt, daß ihn der Himmel dazu geschaffen habe. Auf welchem Wege? Das heißt: durch was für ein Rollenfach er zunächst den in ihm gärenden Trieben und Kräften die Bahn zur Entfaltung öffnen solle, darüber war er mit sich noch nicht einig. Jugend, Antlitze Gestalt wiesen ihn offenbar ins Gebiet tragischer Liebhaber oder Helden; und was ihm dafür vielleicht abging an eigentlicher Heldenfigur (denn hoch aufgeschossen war er nicht), das würde, meinte er, hinreichend ersetzt durch Kraft, Ausdauer und Wohllaut seines umfangreichen und biegsamen Sprachorganes. Mit fünfzehn Jahren hatte er völlig mutiert und seitdem keinen Tag versäumt (auch als Tapeziererlehrling nicht), den Grundton desselben zu bilden, zu stärken durch stete Übung. Wenn er vor dem kleinen Spiegel stand, den der Krämerin mütterliche Güte sich selbst entzogen, um den »schmucken Herrn Komödianten, der das dumme Ding notwendiger brauche als sie für ihre alte Visage,« damit zu belehnen; wenn er sein Angesicht betrachtete, wie es sich dem leidenschaftlichen Wechsel lebhaft recitierter Monologe bereitwillig und unwillkürlich anschloß, wenn die sprechenden Augen in Thränen schwimmend ebensoviel sagten als der beredte Mund ... Ja, rief er nicht selten aus: das versteht sich, zu jugendlichen Helden bin ich geboren, zu tragischen Liebhabern! Dann ging er eilig an den Vorrat unzähliger Rollen, die er sich selbst ausgeschrieben, den er zu vermehren auch nicht aufgehört, während er im Handwerkszwang schmachtete, dem er manche Nacht bei mattem Lampenscheine geopfert. Aber eine nach der andern durchblätternd, fand er nur in wenigen, was er suchte, was er brauchte, was er eine große Aufgabe zu nennen würdig fand. Sie schienen ihm sämtlich, mit geringen Ausnahmen, »über einen Leisten geschlagen.« Immer Liebe, immer Gelübde, immer schwärmerische Ausrufungen! Einer wie alle! Die Kerls sehen sich so ähnlich, wie soll ich sie sondern? Keinem darf ich einen eigentümlich charakteristischen Anstrich geben, muß mich zu jedem herausputzen und schön machen, muß immer Ich sein, immer der nämliche Herr Allerliebst. Muß immer zärtlich blicken, süß flüstern, seufzend schmachten, höchstens daß ich dazwischen einmal feurig loslegen kann! ... aber unterschiedene Menschen sind diese verschieden benamseten Ritter, Barone, Grafen, Lieutenants, Jäger, Bauern, Fischer und Prinzen doch streng genommen nicht. Sie singen sämtlich dasselbe Lied, wenn auch in wechselnden Tonarten. Ach wieviel dankbarer scheint es mir, sich in Charakterrollen, in die Geheimnisse zu vertiefen, die ihnen zum Grunde liegen, in die rätselhaften Widersprüche der menschlichen Natur, und diese nachher durch künstlerische Auffassung zu einem lebenswahren Bilde zu gestalten!

So äußerte er sich auch gegen seinen Vater, der ihn gern »schwadronieren hörte und ihn jetzt gern bei sich sah, seitdem Klimene nicht mehr im Wege stand. Er sagte zu Papa Bäcker: »In Ihr Rollenfach möchte ich nach und nach übergehen, und Ihr Beispiel, Vorbild, väterlicher Rat würden mich rasch fordern!« Worauf der Vater als Geschäftsmann erwiderte: »Mein Junge, du sprichst wie ein idealisierender Esel. Solche unnatürliche Abweichungen vom Naheliegenden und Leichterreichbaren, um nach Schimären zu haschen, wären besonders bei hiesigen, gegenwärtigen, delikaten Zuständen purer blanker Unsinn. Wozu ihrer Zweie für ein Fach, welches bereits hinreichend besetzt ist? Sollen Vater und Sohn, Bäcker und Compagnie, sich um Rollen zanken oder um Beifall prügeln? Und wenn du wirklich ein stupides – stupendes wollt' ich sagen – Ingenium besäßest, mich zermalmtest, vernichtetest, das würde mir schmerzlich, dir nicht angenehm sein, und wir erhielten dadurch immer noch nicht, was uns fehlt: einen Ersatz für Herrn Müller! Dazu hat dich unsere allerschönste, üppig-reizende, hier allmächtige Demoiselle Oberdirektrice ausersehen, nicht zum Nebenbuhler deines Vaters, der Gott sei Dank noch frisch bei Wege und nach losgewordener Klimene wieder obendrauf ist. Außerdem wünsche ich – aus Gründen, die ich nicht ausführlich zu entwickeln brauche, weil ich dir Einsicht genug zutraue, mich zu verstehen – daß du, möglichsten Vorteil von deiner Persönlichkeit ziehend, immer nur jung und hübsch auf der Bühne erscheinst, nicht entstellt durch intriguante und karikierte Masken. Zeige dich, wie du bist; das wird für unsere Kauzburger Existenz vorteilhaft sein. Glaube mir!«

»Wer sagt denn, Vater, daß ich karikieren will, daß ich Fratzengesichter und Verzerrungen im Sinne trage? Darin suche ich den Ruhm des Charakterspielers nicht. Mir leuchtet eine Idee vor ... und gewiß haben Ihre Mäßigung und reiner Geschmack sie zuerst angeregt! ... als ob es möglich sein müsse, durch geistige Gewalt und von innen heraus dem Antlitze diejenige sogenannte Maske zu verleihen, die unsere Coulissenreißer mit Gummi, Baumwolle, Pinsel und Farben äußerlich aufschmieren. Wie gesagt, Sie haben darin schon viel gethan, indem Sie dergleichen Hilfsmittel oft verschmähten; doch mir ahnt, man kann noch weiter gehen; und nach allem, was mir unser alter, leider verstorbener Souffleur von dem Herrn Iffland, den er in Mannheim gesehen, erzählt hat, bin ich geneigt anzunehmen, dieser weltberühmte Akteur schminke sich fast gar nicht und vertraue einzig auf den mimischen Ausdruck seiner Züge und auf seiner Augen Gewalt.«

»Wie der Junge spricht!« rief Bäcker halb unwillig, halb hingerissen. »Kerl, wo hast du gelernt, dich so geläufig auszudrücken? Das geht ja ... na, wir wollen jetzt nicht darüber streiten, ob die Hilfsmittelchen, die du so verächtlich taxierst, ein für allemal zu verwerfen sind. Darüber magst du deine eigenen Experimente anstellen, sobald du selbständig bist. Fürs erste bist du noch Lehrling bei Bäckers Truppe; warst kürzlich nicht viel mehr als Theaterdiener, dem versuchsweise der Angelo anvertraut wurde; sollst jetzt wieder versuchsweise und auf ausdrückliches Begehren zweier unmenschlich schöner Damen in die Liebhaberei hineinrücken; bist folglich verpflichtet, dich ordentlich, ja sogar außerordentlich zu präsentieren. Studiere demnach deine Partieen, lerne fest, überlasse dich deinem Feuer, mache dem wohlklingendes Organ geltend, bewege dich graziös, thue die Guckäugelein auf und lasse sie spielen ... aber zuvörderst, mein Junge, ziehe dich proper an! Sieh immer aus wie eine Puppe – deswegen brauchst du keine Zierpuppe zu sein – gewinne Frauen und Mädchen! denn darin besteht, leider Gottes, die Hauptaufgabe des jungen Komödianten. Wem die Natur versagte, was sie dir mit vollen Händen zuwarf, der wird, sei er auch der zehnmal größere Künstler, doch nimmermehr Liebling des weiblichen Geschlechtes. Das kannst du werden! Also füge dich und benutze die Gelegenheit. Hier empfange gleich deine nächste Rolle. Sie muß rasch memoriert sein. Es hat sich so günstig getroffen, daß Demoiselle Gottliebe in einem Stücke zu debütieren wünscht, in welchem dir eine sehr dankbare Rolle zufällt. Sie wird als Johanna von Montfaucon auftreten; lege du als Philipp los; ich will meinen Lasarra bösewichteln, und wir wollen alle Neun schieben.«

Er überreichte ihm die Rolle, auf deren Titelblatte mit großen Buchstaben geschrieben stand: »Philipp, Herr Bäcker jun.«

»Wie geht das ein, mein Junge? Wie gefällt der ›Herr‹ dem bisherigen ›Monsieur‹? Also raus vors Gewehr! Spiele herrlich und vergiß nicht, daß eine Gottliebe neben dir steht, daß eine Ludmilla auf der Tribüne sitzt; daß von diesem Abende ... Guten Morgen!«

*   *   *

Wie eine gebildete und ästhetischen Geschmack hegende Gottliebe sich zu ihrem ersten Erscheinen auf der Kauzburger Bühne das Drama ausgesucht hatte, von welchem nicht mit Unrecht gesagt worden, es könnte seiner Burgen, Reisige, Harsthörner und dergleichen halber gefallen – wenn nicht Worte dabei wären ... das kann niemanden befremden, der den Hauptzweck ihres Wiederauftretens in Anschlag bringt. Ihr war es zunächst um den Baron zu thun, daß dieser sich aufs neue recht an ihr entzücke, an ihrem Naturell wie an ihrem Talent; und dazu bedurfte es vor allem einer dankbaren, ihr zusagenden Rolle, welche ihr auch Gelegenheit bot, jeden ihrer Reize ins hellste Licht der Lampen zu schieben. Die Anforderungen der Poesie, gar der höheren Kritik, kamen erst hinterdrein. Sie bewahrte es ja noch im frischesten Angedenken, welchen Erfolg sie kurz vor ihrem Rücktritt von der Bühne als unschuldig bedrohte Johanna gehabt, wenn sie im verführerischen Deshabille, viel verführerischer wie der tugendhaften montfauconischen Hausfrau und Mutter gebührt, die berühmten drei Worte: »Es muß blitzen!« ausgestoßen und nach der Darstellung den Reichsfreiherrn bei sich empfangen hatte. Kotzebues romantisches Ritterspiel sollte zugleich ein Erinnerungsfest bezeichnen ... und ihr war's obenein sehr bequem, weil sie weder zu lernen, noch zu üben brauchte. Sie hatte Tugend, Gattentreue, Mutterliebe, Stolz, Edelmut, Verzweiflung, den ganzen Plunder hatte sie am Schnürchen.

Vor der Probe herrschte aufregende Erwartung in der Bande, wie die »morganatische Baronin« – denn diesen Titel hatte ihr Dekorateur Huyasch beigelegt, und sie wurde so genannt, ohne daß die Leute wußten, in wiefern er richtig und zugleich unrichtig sei – wie sie sich gegen die Komödianten benehmen werde. Sie begriffen sehr wohl, daß des begonnenen und noch bevorstehenden Winters erwünschte Sicherheit und kauzburgisch-ruhiges Behagen von dieser beneideten, ihres Einflusses wegen gefürchteten, folglich im stillen gehaßten Persönlichkeit abhänge. Deshalb waren sie voraus entschlossen: erstens jede ihrer übermütigsten Launen unterthänig hinzunehmen, sich dienstbar zu zeigen; zweitens aber sich durch lose Mäuler und schlechte Witze zu entschädigen und besonders ihr Dilettantenspiel nicht zu schonen. Doch Gottliebe machte ängstliche Befürchtungen wie böswillige Absichten zu nichte. Sie trat unter das Völkchen, als ob sie wer weiß wie lange dazu gehörte. Ohne Ansprüche, ohne gezierte Zurückhaltung, freundlich, ungezwungen, lustig, gewann sie Alt und Jung, Männer und Frauen für sich. Mit Vater Bäcker sprach sie vertraulich über notwendige scenische Anordnungen, holte seinen Rat ein, hörte auf seine Meinung und bediente sich häufig des Ausdrucks: Könnten wir's nicht so machen, Alterchen? Alterchen geriet außer sich vor Vergnügen; das Personal fand ihr Betragen »echt kollegialisch« die Herren versicherten: sie sei ein Götterweib, und Venus ein Kuhmensch gegen sie! Nur Maler Huyasch hielt sich fern und schimpfte die Schauspieler kriechende Bestien, gemeine Speichellecker, Tyrannenknechte!

Wulf war ausschließlich mit sich selbst so beschäftigt, daß er sich um weiter nichts bekümmerte. Sein Vater tadelte ihn bitter nach Beendigung der Probe: er werde sich durch so undankbare Vernachlässigung die Gunst der Gönnerin verscherzen. »Ich kann ihr,« antwortete Wulf, »und dem Reichsbaron und der Baronesse Ludmilla keinen größeren Beweis meiner Dankbarkeit darbringen, als daß ich sie alle miteinander vergesse über der mir huldreich anvertrauten Aufgabe. Ich habe vollauf zu thun, will ich ihr Vertrauen rechtfertigen.«

»Ein verfluchter Bengel,« murmelte Bäcker. »Der hat so recht, was unser seliger Eckhof ›den Hang zum Werke‹ genannt. Aber so fromm und sittsam wie der verstorbene Meister wird er dabei nicht bleiben. Seine Augen sind allzu wild. Mit denen kann er den Weibsbildern teufelmäßig Feuerwerk vormachen, wenn er erst hinter den Hang zu diesem Werke gekommen ist. Übrigens will ich mich unter der Hand immer nach andern Subjekten umthun, denn der Wulf bleibt mir nicht, das seh' ich vorher. Bei uns dauert der nicht aus. Das ›Verhältnis‹ ist seinem Eifer zu gering. Diesen Winter hindurch mag ihn die Anwesenheit der freiherrlichen Herrschaften befriedigen; brechen diese auf, entläßt man mich und meine Truppe, dann darf ich auch sicher sein, daß er das Weite sucht. So ist der Lauf der Welt; und hab' ich's doch nicht anders gemacht!«

Johanna von Montfaucon gefiel dem Kauzburger Publikum besser als Emilia Galotti. Von den nachbarlichen Gästen mochten vielleicht wenige die innere Leerheit dieser an äußeren Effekten so reichen, geschickt gemachten Ritterkomödie empfinden ... Gottliebes wirksames Spiel riß auch diese fort. In der ganzen Reitbahn atmete wohl nur ein Wesen, welches nicht von ihr entzückt wurde. Baronesse Ludmilla blieb unempfindlich gegen alle theatralischen Künste der auf der Bühne heimischen Gesellschaftsdame. Ihre weibliche Umgebung legte das so aus, als ob sich die junge Aristokratin verletzt fühle, weil eine doch dem Hause Angehörige unter Schauspieler trete, und Gräfin Krom fand sich berufen hervorzuheben, wie hier, wo kein Eintrittsgeld entrichtet werde, vielmehr sämtliche Zuschauerschaft zu Gaste geladen sei, solche Bedenklichkeiten aufhörten. Ludmilla verhielt sich recht klug, lobte ohne warm zu werden, bewies dabei eine schlaue Zurückhaltung, die ihrer Jugend eigentlich gar nicht entsprach. Noch vorsichtiger benahm sie sich in ihren Urteilen über Wulfs Darstellung, welche wirklich alle Erwartungen hinter sich ließ. Sie verbarg ihre Abneigung gegen Gottliebe und verbarg noch tiefer, was sich für Wulf in ihr regte, unter scheinbarer Gleichgültigkeit.

»Bedauernswert,« zischelten sich einige Damen in die Ohren, »daß dieses junge Mädchen so wenig Gefühl hat!«

Wulfs Philipp stürmte alles mit sich fort. Der feurige Bursche entfaltete eine Naturwahrheit und hielt sich so frei von pathetischer Deklamation – an welcher Gottliebe allzu reich war – daß in mehreren Auftritten, namentlich in jenem letzten des dritten Aktes, wo Erkenntlichkeit, Pflicht und Liebe in (einem fast komischen) Konflikt geraten, die Albernheit der Conception völlig verschwand, und daß der lächerliche Angstschrei: »Jetzt schütze sie der Engel ihrer Unschuld! Ich kann es nicht!« wie poetische Begeisterung erklang. Sein Mienenspiel, vielleicht zu gewaltig, zu vielsagend für den schlichten Sohn der Berge, zeigte deutlich an, daß er mit ganzer Seele bei der Sache sei. Seine edlen Bewegungen, die vollkommene Sicherheit in Haltung und Gang verrieten das eingeborene Theaterkind, dem jede Verlegenheit des Anfängertums fremd ist. Niemand wollte in diesem schlanken, zierlich-mannhaften Jünglinge den tückischen Banditen Angelo wieder erkennen. Doch der geheimnisvolle Glanz der Augen mahnte bisweilen an jene Blitze, die des Grafen Appiani erkaufter Mörder neulich umhergeschleudert.

Gottliebe, viel zu sehr Schauspielerin nach des Wortes übler Bedeutung, um ganz und gar in ihrer Kunst aufzugehen, behielt stets die Fähigkeit, während der Darstellung wahrzunehmen, was um sie her geschah. Ihr entging keine Regung der Zuhörer, keine Eigenschaft der Mitspielenden. Sich und die Scene zu beherrschen blieb ihre wichtigste Bemühung; und wie sie heute sehr genau beobachtet, welche frisch auflodernde Flammenglut sie in des Barons Leidenschaft werfe, war sie daneben nicht blind für den jungen Bäcker. Als dieser im vierten Akte sich hinter den Felsen und Geklüften verlor, die Bergbewohner mit lautem »Hallo« für ihren rechtmäßigen Herrn aufzubieten, fand er mitten im Gebirge (Alpen und Gletscher türmten sich aus den zusammengeschobenen Versetzstücken eben nicht empor, wie leicht zu denken), fand er – Estavajels Gemahlin bereits ins Witwengewand des fünften Aktes verhüllt, oder vielmehr nicht verhüllt, seiner harrend und ihn beglückwünschend. Sie fragte ihn, ob er die Pärsche Oper »Sargines« kenne.

»Bei uns,« erwiderte er noch arglos, »sind niemals größere Opern aufgeführt worden.«

»Diese,« fuhr sie fort, »hat zwei Titel; der zweite lautet: ›Zögling der Liebe‹ Vielleicht probieren wir ein paar Duette; Sie haben ja Stimme?«

»Ein bißchen,« antwortete er.

»Und auch Takt?« fragte sie weiter.

»Als Tänzer,« meinte er, »muß ich doch Takt haben.«

Er hatte den Doppelsinn nicht begriffen.

Sie faßte ihn am langen Lockenhaar: »Wollen Sie denn ein artiger Zögling werden?«

»Es wird mir eine große Ehre sein,« sprach er feierlich.

Er gedachte unwillkürlich der Besuche, welche Baronesse Ludmilla den Gehilfen des Tapezierers abgestattet, und die Erinnerung an jene machte ihn für diesen Augenblick fest, ja unempfindlich gegen die neueroberte Gönnerin.

Johanna von Montfaucon nahm seine feierliche Ehrerbietung sehr übel; sie gab die Locken frei und entließ Junker Philipp, der eiligst noch etwelche steckengebliebene »Hallos« ertönen ließ. »Nächstens mehr davon!« rief sie ihm nach, dachte jedoch dabei: Laufe, dummer Junge! Du bist nicht wert, daß ich dich hübsch finde! Ihr eitler Hochmut war verletzt, und sie beschloß, nach Wulf Bäcker nicht mehr zu fragen, außer wo sein Name bei Besetzung aufzuführender Dramen genannt würde.

Daher kam es denn auch, daß am nächsten Morgen des glorreichen Erfolges, den ihr Debütant, ihr erster jugendlicher Held gehabt, die Kauzburger Herrschaften beim Frühmahl mit keiner Silbe gedachten. Der Reichsbaron hatte zu viel über Gottliebe zu sagen, um von irgend etwas anderem reden zu können; Gottliebe sprach vom ritterlichen Philipp nicht, weil sie ihm grollte; Ludmilla öffnete den Mund nicht (außer zum Schokolade trinken), weil ihr Herz zu voll war und sie befürchten mußte, sich zu verraten.

Wulf hinwiederum brachte den ganzen Morgen nur damit zu, der Damen vom Schlosse zu gedenken, und die beiden Namen Ludmilla und Gottliebe kamen in seinen lauten Selbstgesprächen unzählige Male vor. Er bereute jetzt schon, daß er der letzteren Gunst durch tölpelhaftes Benehmen verloren habe. Sie muß mich für einen Klotz halten, sagte er sich, oder für einen Narren! – Und bin ich nicht ein Narr, mir einzubilden, die Baronesse werde vom armen Lehrjungen noch etwas wissen wollen? Mitleid hatte sie mit ihm, weil er ein unterdrückter unglücklicher Junge war; weiter nichts! Ihr fällt es ja nicht im Traume ein, daß jener und der Schauspieler Wulf ein und derselbe Wulf sind. Den Komödianten hält die sich fern, wird den ganzen Winter weder nach einem andern fragen, noch nach mir. Es ist eine Kinderei gewesen, damit Punktum. Und um solch' einer Kinderei willen stoße ich das schöne Weib vor den Kopf, Welches mir zu verstehen giebt, es will mir wohl. Wie dumm! Demoiselle Gottliebe ist ja unsere Oberdirektion. Ohne sie, ohne ihre Zustimmung wird mir ja keine gute Rolle mehr zu teil. Mit ihr werd' ich spielen, probieren, in tägliche Berührung kommen ... und zeige mich ihr so ... so ... so ... ja wie denn? Nun, so undankbar; anders kann ich's nicht heißen. Sie aber kann mir's etwa gar für Unverschämtheit auslegen. Denn sie kann denken, ich hätte gedacht, sie dächte daran, mit mir ein verborgenes Liebeshandelchen anzuspinnen. Und wär' es nicht unverschämt, mir solche hochfahrende Sachen einzubilden? So eine Demoiselle, wie man munkelt seiner Erlaucht Geliebte? eine reichsfreiherrliche Maitresse? Und ich ... Nein, ihre Huld, ihre Gunstbezeigungen galten gewiß nur meinem Spiele, meinem Eifer, meinem Talent! Anstatt ihr voll Freude und Rührung die Hand zu küssen, sie um die Fortdauer ihrer Protektion zu bitten, zeige ich verlegene Schüchternheit, als wäre sie eine Madame Potiphar und ich ein Joseph. Ich habe sie beleidigt, sie wird mir's nie verzeihen; und außerdem hab' ich mich lächerlich gemacht. Von der Stiefmutter hat Freund Müller mich kaum erlöst, und durch meine eigene Albernheit hetze ich mir schon wieder eine Feindin auf den Hals! O mein Vater hat recht, es wäre ein Glück für die Schauspielkunst, wenn es keine Weiber auf dem Theater gäbe, wie einstmals.

Teils um Abwechslung ins Repertoire zu bringen, teils auch um Gottlieben nicht zu ermüden, waren etliche der Gesellschaft längst geläufige Possen vorgenommen worden; unter anderen Goldonis »Diener zweier Herren,« dessen Titelrolle Papa Bäcker nach Schröderschen Überlieferungen mit wahrer Virtuosität zu spielen verstand. Da dieses lustige Stück nur aus zwei mäßigen Akten besteht, so hatten sie ein kleines Ballett beigegeben: »Die geprüfte Liebe,« worin alles, was Beine führte, mitspringen mußte. Wulfen fielen die Haupttänze zu, und den ersten weiblichen Part vertraute Bäcker der Kurzfleischin wieder an, welche sich anderswo schon darin hervorgethan.

Gottliebe machte von ihrem Hausrechte Gebrauch, sich ins Publikum zu mischen, und sie wurde auf der Galerie mit allen Ehren empfangen, so einer tugendreichen Johanna von Montfaucon gebührten. Truffaldinos Schwänke belustigten auch sie. Bäcker der Vater wurde mit Beifall belohnt, zu dessen Äußerungen sie immer das Zeichen gab.

Das kleine Ballett ging gut zusammen. Die braven Leute hopsten ganz erträglich; die Kurzfleischin machte ihrem Namen keine Schande: sie war ein zierliches, gewandtes, kurzes Stückchen Fleisch in Tricots und gefiel den Wirtschaftsschreibern und jüngeren Beamten absonderlich.

Bäcker Sohn tanzte alles, was neben ihm zappelte, zu Boden. Sein Vater hatte nicht übertrieben, da er an des Barons Frühstückstische behauptete: er tanzt scharmant und ist gewachsen, wie wenn er einem Bildhauer vom Postament 'runter gesprungen wäre.«

Die erheiternde Vorstellung dieses Abends hatte allgemein befriedigt. Sämtliche Zuschauer verließen fröhlich und belustigt die Reitbahn. Nur zwei Zuschauer innen nahmen unangenehme Gefühle mit davon; beide brachten eine schlaflose Nacht zu. Ludmilla entsetzte sich vor sich selbst, als sie entdeckte, daß die Neigung für einen »Komödianten« mit jedem Theaterabende mächtiger werde, sie völlig zu überwältigen drohe. In jene mädchenhafte Begeisterung, durch Philipps feuriges Spiel erzeugt, hatten sich doch auch sentimentale Zähren edelmütiger Rührung gemischt, wie weiland Kotzebue sie zarten Jungfrauen von beschränktem poetischem Geschmack so leicht und, ach, so gern abzapfte. Aber heute? ... da floß keine Thräne, da wirkte keine Rührung nach, da gab es kein Mitleid, einer verfolgten treuen Gattin gewidmet, keine edle Teilnahme dem jugendlich-heroischen Helfer und Retter geltend ... heute war es nur der Wulf, der (nach Ludmillas Meinung) unschicklich gekleidete Tänzer, dessen Erscheinung sie nicht los zu werden vermochte, der sich um ihr Kopfkissen drehte wie ein spukhafter Kreisel, dessen Bild ihr die Sinne im Traume verwirrte, nach dessen Nähe sie glühend sich sehnte, den sie tausend Meilen weit von Kauzburg wegwünschte.

Gottliebe dagegen sann nur darüber nach, wie sie es aufs Schicklichste und Sicherste einzurichten habe, daß er ihr Schüler, ihr Zögling, ihr »Sargines« werde! Was neulich im dritten Akte der Johanna von Montfaucon momentane Laune gewesen, war heute im Divertissement zum unbändigen Wunsche gestiegen. Sie ließ eine lange Reihe von Schauspielen und Tragödien die Musterung passieren, bis sie endlich bei »Maria Stuart« stehen blieb. Besseres mochte nicht zu finden sein! Die große Gartenscene zwischen ihr und Mortimer ... wie schwierig, wie gefährlich ist dieser Auftritt; zu wie vielen Vorproben giebt er Veranlassung, ehe wir zur Hauptprobe schreiten! Die Besetzung der meisten Rollen wird erbärmlich ausfallen ... doch das ist mein geringster Kummer. Der Baron hat seine Maria... Maria hat ihren Mortimer ... und die übrigen können zusehen, wo sie bleiben!

In so süßen Erwartungen schlummerte sie erst gegen Morgen ein, und als sie, wider ihre Gewohnheit, zu spät beim Frühstück erschien, nahm sie am Tische Platz mit den Worten:

»Dort, wo die grauen Nebelberge ragen,
Fängt meines Reiches Grenze an.
Und jene Wolken, die nach Mittag jagen,
Sie suchen Frankreichs fernen Ocean!«

Ludmilla, die, mehr französisch erzogen, keine deutschen Dichter kannte, wußte sich das Citat nicht zu deuten. Der Baron jedoch fragte ungläubig: »Wollen wir uns so hoch versteigen?«

»Weshalb nicht?« erwiderte Gottliebe; »die Stuart sagt mir besonders zu.«

»Dagegen wend' ich nichts ein. Auch mögt Ihr mit den Männern zur Not ausreichen. Welche Figur hingegen Ihre Majestät die jungfräuliche Königin von England machen werden? ...«

»Eine ganz respektable. Hat die ehrliche Ohlhorst ihre Claudia am ersten Abend nicht recht tapfer gehalten? Sie zählt höchstens vierzig und etliche Sommer. Wir wollen sie brillant kleiden, gut schminken, und sie wird eine exquisite Elisabeth leisten, würdig, daß Lester sie um meinetwillen betrügt, und daß Sir Mortimer auf ihre Avancen nicht eingehen will. Ich freue mich am meisten auf den letzten Akt, auf die Abschiedsscenen. Da sollen unsere Kauzburger heulen, daß die ganze Reitbahn unter Wasser steht!«

Der Baron nickte zustimmend: »Wenn Sie sich die Sache recht angelegen sein lassen, so zweifle ich nicht, daß alles gut abläuft. Nur von mir bitt' ich keinen Beitrag zur Thränenüberschwemmung zu verlangen. In Tragödien, vorzüglich in versifizierten, bleiben meine Augen unwiderruflich trocken. Mich ergreift die Rührung immer nur bei bürgerlichen Dramen, worin die Menschen viel ausstehen müssen und erst im letzten Akte glücklich werden. Wenn dann der Jammer nachläßt und die Freude beginnt, da kann auch ich heulen, und zwar wie ein alter Schloßhund. Es muß aber durchaus in Prosa vor sich gehen. Die Verse flößen mir zu viel Respekt ein.«

»Vielleicht,« sagte Gottliebe lachend, »bringen einige unserer Künstler Sie dennoch zum Weinen, gerade durch den Vortrag Schillerscher Verse. Ich fürchte, das ist ihre schwächste Seite. Wir wollen ihnen aber diese Besorgnis nicht zeigen, wollen's überhaupt nicht so genau nehmen, sondern mit meinem ersten Musiklehrer, unserem alten Schulmeister, sprechen: auf eine Handvoll Noten kommt's nicht an, wenn's man klingt! Hörte ich doch versichern, daß Herr Mattausch in Berlin sich nicht an den Don Carlos machen wollte, bevor nicht seine Rolle in Prosa umgeschrieben wäre, damit er beim Vortrage ungebunden bleibe.«

»Ich bin überzeugt,« rief der Baron, »unser primo amoroso wird sich dergleichen nicht zu schulden kommen lassen. Der wird auch Verse gut vorzutragen wissen, so gut wie er gestern zu tanzen wußte. Was ist ihm denn zugedacht?«

»Je nun, der Mortimer, wie's dem Jüngsten gebührt. Jetzt ist's die höchste Zeit, daß ich mir meinen Kollegen Bäcker lange, zur wichtigen Konferenz. Die Anstalten müssen eifrig betrieben werden. Und somit ziehe ich mich in die Bureaus meines Oberdirektoriats zurück!«

»Die gute Gottliebe,« rief der Baron hinter ihr her. »Nicht wahr, Ludmilla, wir sind ihr großen Dank schuldig für ihre Bereitwilligkeit, uns Freude zu machen? Amüsiert dich das Theater nicht auch?«

»Unbeschreiblich, lieber Vater! Es ist mir ja eine ganz neue Welt. Möglich, daß es mich allzu sehr in Anspruch nimmt. Ich denke fast nichts anderes mehr und ich möchte ...«

»Das überrascht mich zu hören; du äußerst dich beinahe gar nicht über den Anteil, den es dir abgewinnt. Ich fürchtete schon, du trügst deine kleinen griefs gegen Gottlieben auf die Sache über?«

»Es liegt nicht in meiner Art, das Herz auf der Zunge zu tragen. Auch fürchte ich stets, etwas Unpassendes auszusprechen, weil ich nichts davon verstehe. Nur soviel muß ich bekennen: ich beneide Demoiselle um ihre Berechtigung, sich dabei zu beteiligen. Ich glaube, es würde mich glücklich machen, mich ebenfalls in die Reihe der Akteurs zu stellen.«

»Dergleichen Gedanken, mein Kind, laß dir vergehen! Deine Geburt, meine Stellung, deine Jugend gestatten das nicht; es wäre unschicklich. Dein Platz ist unter den Zuschauern, richtiger: über ihnen. Du bist die einzige Tochter des Reichsfreiherrn Tauern-Kauzburg. Und das darfst du nie vergessen; darfst es andern niemals vergessen machen.«

Er reichte ihr die Hand zum Kusse und entließ sie.

*   *   *

Gottliebe hatte ganz richtig vorher gesagt; sie kannte ihre ehemaligen Kameraden. Vor Schillerschen Jamben hegten sie sämtlich eine heilige Scheu. Meister Bäcker hörte ihr zwar andächtig zu, und gehorsam neigte er sich, als sie ihm ihre Wünsche mitteilte, die zugleich Befehle waren; dann aber stöhnte er: »Ein schwer Stück Arbeit, Mademoiselle; zu schwer für meine Truppe!« Sie tröstete ihn: ihrer fünf bis sechs, ihn mit eingerechnet, würden sich spielend in das Ungewohnte finden; dadurch wären die Wichtigsten Partien gedeckt, und den übrigen müsse man eben Nachsicht gönnen.

»Die werden wir sämtlich brauchen,« jammerte er; »und in so hohem Grade werden wir sie brauchen, daß sie kaum ausreichen dürfte. Auch nehmen Sie mich nicht aus, hochgeneigte Dame! Ich verdiene das am wenigsten; ich muß in Ihren Augen als verstockter Sünder erscheinen. Denn nicht nur, daß ich meine Unlust, mein Ungeschick, in Versen zu sprechen, eingestehe ... ich bin sogar ein Gegner derselben. Wohl verstanden, nicht der Verse an sich, die ich zu schätzen weiß, weil ich die Poesie ehre und liebe, nur derjenigen, die in der Absicht gemacht wurden, daß sie auf dem Theater gesprochen werden sollen. Es ist ohnehin schon nichts Kleines, Charaktere zu schaffen und zu sondern, weder für den Dichter noch für den Darsteller; ein markiger Dialog in ungebundener Rede eignet sich für beide dazu, daß die verschiedenen Personen möglichst gesondert werden können. Reden alle in einer Form, in einem Tone ... da mag der Teufel verhüten, daß sie nicht samt und sonders ineinander laufen wie Thränen, die auf Meßpapier träufeln. Ich erblicke in diesen Kunstwerken nichts anderes denn mit Blumen umwundene Knüppel, die der Wahrheit, der Natürlichkeit auf der Bühne zwischen die Füße geworfen werden sollen. Man versichert uns, das sei notwendig, um der höheren Kunst gehörigen Raum zu verschaffen ... daran glaube ich nicht. Meine frühesten Erinnerungen reichen noch zurück in die improvisierte Komödie, der ich keineswegs das Wort reden will, der wir Älteren es doch aber verdanken, daß wir den hohlen pathetischen Ton vermeiden lernten, den die jüngeren Herren viel anschlagen. Ich habe durch mein Beispiel, in meinem kleinen Wirkungskreise wenigstens, redlich darauf hingearbeitet, daß geredet werde – nicht gesungen im rentierenden Schauspiel, nicht gesungen, gewinselt, geheult; daß dem Sinne der Worte ihr Recht geschehe, doch auch der Bedeutung des Charakters, dem Gange der scenischen Handlung. Wie ist das durchzuführen, wenn meine Leute skandieren, das heißt: Silben und Versfüße an den Fingern abzählen? Meines Erachtens giebt es nur einen vernünftigen Grund, in Versen zu schreiben, den nämlich, daß der Zuhörer die Verse auch wirklich als solche höre! Wie sich dieser deklamatorisch-rhythmische Vortrag mit der Hauptsache, mit der eindringlichen, naturgemäßen, allgemein verständlichen Sprache vereinigen lasse, darüber bin ich noch nicht ins klare gekommen. Und ich fürchte, die Herren in Weimar, durch ihre hochfliegenden Ansichten von Kunst und durch ihre idealistischen Veredelungspläne, ruinieren uns das bißchen deutsche Komödienspielerei, was wir zur Not hatten, ganz und gar. Sie rotten bei Stumpf und Stiele die nationale Eigentümlichkeit aus, drängen uns ihre großartigen Ansprüche auf und verirren sich samt uns in ein Dickicht englischer und spanischer Wälder. Möglich, daß sie nach und nach eine hochpoetische Schule bilden; möglich, daß es jetzt schon Schauspieler giebt, die sich in gebundener Rede verständig und verständlich mitzuteilen wissen ...? ich hatte noch nie Gelegenheit, einen solchen zu bewundern; und was mich betrifft, bin ich gewiß kein solcher. Unsere Maria Stuart wird erbärmliche Stümperei werden ... Mademoiselle natürlich ausgenommen.«

»Und Ihr Sohn?«

»Mein Sohn? Hochpreisliche Demoiselle Gottliebe, wer hätte den unterrichten sollen, Verse vorzutragen? Er ist in der Prosa unseres Repertoires aufgewachsen und hat kein anderes Metrum kennen gelernt, als jenes der Schläge, die bisweilen auf ihn fielen. Wir haben kein versfiziertes Stück gespielt, seitdem er denken kann. Und weiß er wirklich etwas von den älteren, veralteten Sachen ... es ist wohl möglich, weil er schon als Kind immer die Nase in meine Bibliothek steckte ... da bitt' ich zu bedenken, welch' ein Unterschied stattfindet zwischen jenen kippenden, klappenden Reimen der sechsfüßigen Zeilenpaare und zwischen den Dingern, so man uns heutzutage beibringen will. Jene ehrlichen, verstorbenen Alexandriner trugen den Sprecher, sie wiegten sozusagen sich und ihn zugleich. Die fünffüßigen, meist ungereimten Jamben wollen gehandhabt, vielmehr gemundhabt sein; die wiegen den Redner nicht, die schläfern den Hörer nicht ein, sie stellen sich zur Wehre, und es braucht Haare auf den Zähnen, daß einer sie kurz kriege und bändige.«

»Wulf hat Haare auf den Zähnen!«

»Hat er doch kaum welche ums Kinn.«

»Mein lieber Bäcker, da giebt es Männer, die einen großen Busch ums Kinn haben könnten, wenn ihr Rasiermesser es gestattete, und die dennoch ihr Lebelang unbärtige Buben bleiben. Und dann wieder giebt es junge Leute, die reif sind an männlichen Eigenschaften, ehe noch der erste Flaum ihre Oberlippe beschattet. Wulf ist ein Mann durch sein Talent; Wulf ist ein Genie; Wulf wird mit Schillers Versen fertig werden, leichter, glauben Sie mir, wie mit den geschmacklosen Kotzebueschen Tiraden. Er spielt den Mortimer, und ich werde unsere zwei großen Scenen fleißig mit ihm einüben, bevor wir in Probe gehen.«

Bäcker verneigte sich, lächelte pfiffig und sagte: »So sei es! Ich bin nicht der rechthaberische Streithahn, der sich wider seine schöne Intendantin auflehnen wird! Bitte jetzt nur um dero Ansichten über relativ erträgliche Besetzung sämtlicher größerer wie kleinerer Rollen. Bücher sind vorhanden, denk' ich?«

»Zwei Exemplare!«

»Was schreiben kann, muß schreiben, über Nacht. Ein halbes Dutzend gegossene Talgkerzen, ein ganzes gute Gänsefedern, festes Kanzleipapier, schwarzer Kaffee, noch schwärzere Tinte aus Herrn Direktor Kleemanns Vorrat ... morgen hat jedermänniglich seine Partie und kann daran buchstabieren und kauen nach Herzensgelüsten. Gott steh' mir bei in der ersten Theaterprobe! Da wird es heißen: Mein Bester, Sie sind ein schrecklicher Lester! ... Englands stolze Königin redet nicht nach meinem Sinn! ... Nur an Maria kann man sich werden, und Mosjeh Mortimer ist zu beneiden!«

»Sehen Sie, wie unrecht Sie sich thun? Sie sprechen Ihre Verse vortrefflich.«

»Die meinigen, ja; doch Bäckerische sind keine Schillersche. Nun Gott befohlen! Ich gehe dran wie der Bauer in die erste Schlacht. Demoiselle sind der kommandierende General, Sie haben es zu verantworten, wenn Seine Erlaucht einen allzu schroffen Abstand finden zwischen den Ideen des Oberfeldherrn und den Kräften der Truppe.«

»Lassen Sie das meine Sorge sein, Bäcker. Und solange den Soldaten die Gage nicht ausbleibt ...«

»Hält die Truppe stand im Winterquartier!« – Er küßte ihr die Hand, sah sie schwärmerisch an und sagte: »O der glückselige Wulf! ist der Schlingel gut daran, für eine solche Maria sich erdolchen zu dürfen!« Er gebürdete sich dabei so komisch-sentimental, daß Gottliebe ihre Verlegenheit hinter gewaltsames Auflachen verbergen konnte. Dabei vergaß sie doch nicht, dem Vater einzuschärfen, er möge ihr den Sohn schicken, sobald dieser im Besitze des Mortimer sei.

Dies geschah in den Nachmittagsstunden des folgenden Tages. Als er sich anmelden ließ, pochte ihm das Herz gar gewaltig, sowohl vor Freude, daß seine Besorgnis, sich eine Feindin gemacht zu haben, unnütz gewesen sei, wie auch vor Besorgnis, daß die Freude leicht wieder getrübt werden könne. Denn er hatte die ihm anvertraute Rolle vorher einigemal durchflogen und gelangte zu keiner Einsicht darüber, ob es ein »jugendlicher Intriguant,« ob es ein »Liebhaber« sei, den er in der Hand halte. Die Sucht, scharfe Fächer zu sondern, war (ist vielleicht?) beim Theater so vorherrschend und so ansteckend, daß sie zur Krankheit wird, daß ihr sogar geistvolle Schauspieler bisweilen verfallen, und man vernimmt weit häufiger die Frage: in welches Fach gehört diese Partie? als jene doch ungleich wichtigere: Was enthält sie an wahrhaft lebendigen und menschlich getreuen Elementen? Wir dürfen uns also nicht wundern, wenn ein Kind wie Wulf die erste Frage früher gethan, denn die zweite. Und vielleicht auch wurde ausnahmsweise gerade hier dadurch bewiesen, daß er ein geniales Kind sei? Die konsequente Verstellungsgabe, womit Mortimer seinen alten Oheim, alle Umgebungen, die Königin Elisabeth zu täuschen versteht, deutet bestimmt genug auf jene lauernden Schleicher hin, die man im Bühnenjargon »Intriguants« benennt. Die Schule, welche er, ein gläubiger Schüler, bei den Jesuiten durchmachen mußte, durfte seiner Meinung nach auch Spuren in der äußeren Erscheinung hinterlassen haben. Er sah sich schon in der Maske eines verblichenen, frühzeitig altgewordenen, von grübelnder Schwärmerei und nagender Leidenschaft aufgeriebenen, blassen, hohläugigen Jünglings, wollte daraus auch herleiten, daß Maria gegen einen Anbeter kalt bleibe, was doch sonst ihre Sache nicht sei.

Gottliebe nahm diese Auseinandersetzungen zuerst fast spöttisch auf, weil sie ihren Begriffen von einem ritterlichen Verehrer so sehr widersprachen. Sie persönlich teilte ja Marias Kälte gegen diesen Mortimer nicht im geringsten; sie zog ihm keinen Lester vor; und der Gedanke, einen zur Fratze entstellten, verzerrten Fanatiker auf sich eindringen zu sehen, war ihr peinlich. Andererseits erkannte sie doch die scharfsinnige Auffassungskraft des Anfängers, der, ohne große Vorbilder, ohne Lehre und Unterricht emporgewachsen, jetzt mit einem Blicke aus flüchtig abgeschriebenen, vom Zusammenhange des großen Gedichtes abgetrennten Blättern herauszulesen vermochte, was anerkannten Künstlern bisher entgangen zu sein schien. Kein Mortimer, den sie gesehen, hatte nur entfernt gezeigt, daß ähnliche Studien ihn auf ähnliche Ansicht geleitet. Inwiefern sie dieselbe jedoch für unrichtig oder wenigstens nicht für praktisch ausführbar halte, versuchte sie nun durch Gründe zu belegen. Obenan stellte sie den unverkennbaren Eindruck, den des biedern Kerkermeisters Neffe auf die Elisabeth macht. »Die jungfräuliche Königin,« äußerte sie mit höhnischer Betonung des »jungfräulichen,« giebt ihm ziemlich klar zu verstehen, daß er ihr nicht unwürdig erscheine, sich mit Lester in ihre verschwiegenen Gunstbezeigungen zu teilen. Um dies nur einigermaßen plausibel vor den Augen des Zuschauers zu machen, muß Mortimer schön, stattlich, edel erscheinen. Einen mönchisch kriechenden, halbverkommenen Schleicher möchte sie etwa mit Verheißung auf goldenen Lohn, auf Ehren und Würden abspeisen; es kann ihr nicht einfallen, auch als nur vorübergehende Neigung sinnlicher Laune nicht, die von ihm begehrte Mordthat einem solchen durch persönliche Gunst, durch die »engsten zartesten Bande« bezahlen zu wollen. Das können Sie noch nicht übersehen, lieber Wulf, weil Sie das Werk noch nicht im ganzen kennen. Nehmen Sie mein Exemplar mit heim, lesen Sie es heute Nacht aufmerksam durch, und Sie werden von ihrer vorgefaßten Meinung zurückkommen. Es giebt auch Heuchler, welche in derber Biederkeit zu täuschen verstehen, welchen man um so leichter vertraut, weil sie ritterlich, hochgesinnt, feurig und zugleich barsch, wohl gar bärbeißig auftreten. So zeigt sich Mortimer anfangs gegen Kennedy, so mit seinem Oheim, so mag er auch vor Englands Beherrscherin stehen, ein wilder Sohn seiner Berge, voll Kraft, trotzig und besonnen ... aber anmutig daneben, blühend schön, wie ein noch nicht gebändigtes Roß von edelster Rasse. Nur wo er Marien zum erstenmal in sein Inneres schauen läßt, gesteht er ein, daß ihm schon ein Zügel übergeworfen wurde, den er doch nur knirschend trägt, den der Ausbruch wildester Begierden bald sprengen wird. Ich weiß recht gut, daß diese meine Bemerkungen nicht alle Widersprüche und Inkonsequenzen aufheben, in welchen der Dichter Ihren Mortimer verwickelte, und welche nicht ausbleiben konnten, wie mir scheint deshalb, weil Schiller religiösen Fanatismus und ungezügelte Sinnlichkeit – zwei Richtungen, die ihm selbst in seiner idealen Natur so fern wie möglich liegen – in einer Person zur Anschauung bringen wollte und deshalb einen Anlauf nahm, der auch den größten Dichter zur Unnatur führen muß. Das geht uns aber nichts an, die wir darzustellen haben. Uns bleibt nichts übrig, als den Absichten des Dichters zu dienen, soweit es in unseren Kräften steht, und insofern es sich mit günstiger Wirkung auf den Brettern vereinbaren läßt. Außerdem verlange und brauche ich für meine Maria einen schönen Mortimer. Schillers Maria Stuart ist ja nichts als eine rechtfertigende Apotheose der wegen ihrer allzu leichten Hingebung verunglimpften Königin. Wie er sich mit der historischen Richtigkeit abfinde, das ist seine Sache. Aber ich will meine Glorie nicht beeinträchtigt wissen; ich will die Treue, die ich Lestern bewahre bis aufs Schafott, als Heiligenschein inn das fallende Haupt binden. Wo blieben diese Treue, diese Glorie, wenn Mortimer nicht eine gefahrdrohende Persönlichkeit mitbrächte? Je unwiderstehlicher Sie sich zeigen, desto herrlicher tritt Marias Widerstand ans Licht ... und ihr bleibt es dann immer unbenommen, den armen Erdolchten nach seinem Bühnentode durch ein freundliches Wort zu ermuntern.

Wulfs Aufmerksamkeit war viel zu sehr auf den scheinbar künstlerischen Inhalt ihrer langen Widerlegung gerichtet geblieben, um sich in den frivolen Doppelsinn der Schlußwendung so rasch zu finden. Er hielt es nun für bewiesen, daß seine Ansicht von der Rolle eine ketzerische gewesen; er empfing andächtig, voll Vertrauen das Buch, welches zum poetischen Glauben verhelfen sollte. Außer diesem Buche nahm er fürs erste nichts mit, als unbedingte Verehrung für seiner Oberintendanz dramatische Weisheit. Seine begeisterte Theaterliebe blühte noch in jenem beglückenden Stadium, wo nichts dagegen aufkommt, wo sogar Herz und Sinne von ihrem narkotischen Zauberdufte eingelullt werden ... wenigstens auf Stunden.

Gottliebe erkannte dies und wußte es auch zu schätzen. Deshalb ließ sie ihn scheiden ohne weiter in ihn zu dringen. Ich will seinen Kunsteifer nicht stören, sagte sie; ich will ihn heute nicht abziehen vom Genusse, den die Tragödie ihn verheißt. Schiller ist der wahre Dichter für die Jugend. Mag er sich mit Leib und Seele versenken in diese Welt voll erhabener, überirdischer Ideen. Mag er heiße Thränen dabei vergießen, wie nur der unerfahrene Junge sie weint. Der dritte Akt wird ihn doch wieder in die Welt des Irdischen zurückführen; über die Gartenscene kann er nicht hinaus, und wenn er Engelsfittiche hätte. Er muß zuletzt in Maria das schöne Weib entdecken, und da ich für ihn Maria sein werde, so entgeht er mir nicht.

Nicht absichtslos hatte sie ihm denjenigen Abdruck anvertraut, aus dem sie vor einigen Jahren memoriert, und worin alle Reden der Maria mit Strichen, Ausrufungszeichen und Randbemerkungen reichlich versehen waren. Darüber konnte Wulf nicht erstaunen. Dagegen befremdete ihn anfänglich, daß ihr Bleistift auch in Mortimers pomphafte Expektorationen sich eingeschlichen. Er hoffte Fingerzeige, Aufklärung über zweifelhafte und schwierige Sätze zu finden. Bei näherer Besichtigung aber trat hervor, wie es sich keineswegs darum handle, künstlerisch zu erläutern, sondern lediglich darum, auf diejenigen Stellen aufmerksam zu machen, die von einer unbezähmbaren Leidenschaft Zeugnis geben. Da wimmelte es von Spuren des fernsten Pariser Crayons, den eine resolute Hand dünnem Papiere eingedrückt. Die Zeilen: »Der ist ein Rasender, der nicht das Glück festhält in unauflöslicher Umarmung, wenn es ein Gott in seine Hand gegeben!« waren doppelt unterstrichen. Ich habe mich nicht geirrt, sagte er; ich habe mich nicht von Eitelkeit verblenden lassen; ihr Wohlwollen gilt der Entwicklung meines Talentes nicht allein! Sie hat dies Trauerspiel hauptsächlich des gefährlichen Auftritts halber ausgewählt; das geht aus allem hervor. Sie will mir Mut machen, weil sie meine Bescheidenheit für Verzagtheit hält. Und das ist eine schlimme Geschichte! Wie kann, wie darf ich mich betragen?

Er sann, erwog, gedachte auch wohl dabei Ludmillas; geriet dann wieder in fieberische Erinnerung an Gottliebes Reize; er erschrak vor dem Reichsbaron und der Abhängigkeit, in welcher sie doch samt und sonders zu diesem stünden; kurz, er mengte Sehnsucht und Bangigkeit, verbotene Gelüste und lobenswerte Vorsätze, Hoffnung und Furcht so bunt durcheinander, daß er fast in Verwirrung kam und jeden moralischen Halt verlor. Da rief er endlich: Hol's der Teufel! was werd' ich mir das Leben verbittern und die Zeit vertrödeln mit Bedenklichkeiten, ob so? ob anders? Zuerst will ich thun, was mir obliegt, will meine Rolle lernen, will mich um weiter nichts bekümmern. Alles übrige wird sich von selbst finden!

Und er versenkte sich in die wunderbare Dichtung mit Seele und Gemüt, und er ging auf in ihr, voll kindlichen Glaubens an die heilige Reinheit der Kunst. Und die lange Nacht verrann ihm schnell, wie eine kurze Stunde. Als die winterliche Sonne durch trübe, graue Wolken schien, war es in ihm heller Tag, jede Sorge aus dem Kopfe, jede Last von der Brust gewichen. Die Freude am Berufe trug diesmal noch den Sieg davon. Und was diese bei gesunden jungen Naturen vermag, deren Gedächtnis empfänglich, deren Auffassungsgabe willig, deren Phantasie zu reproduzieren bereit ist, das reicht ins Unglaubliche. Der tote Buchstabe prägt sich fest ein wie das Samenkorn in weichen Boden, er entwickelt sich im belebenden Hauche warmer Gefühle, keimt, schlägt Wurzel, setzt grüne Blätter an und steht in Blüte ... Alles auf einmal! Was du in der Jugend, vom Feuereifer für die Sache erfüllt, auswendig gelernt, in dich aufgenommen, aus dir zurück gebildet hast, es haftet unvertilgbar fest in dir bis zum Greisenalter; es umweht dich noch grün und frühlingsduftig mit sanftem Flüstern, mag sonst dein ganzes Dasein oder Wüste gleichen. Und darin besteht eine der größten Wohlthaten, die wir armen Menschen der Poesie verdanken.

Wulf besaß ein so riesenhaftes Gedächtnis, daß er sich förmlich zur Wehre stellen mußte, um, wenn er ein Schauspiel durchlas, nicht ohne sein Zuthun mit zu erlernen, was den übrigen angehörte, wodurch er leicht irre geworden wäre und die Stichwörter versäumt hätte.

Als er sich bei Gottlieben zum zweitenmal anmelden ließ, seines Mortimers völlig Meister und gerüstet, die erste Zimmerprobe mit ihr abzuhalten, wähnte sie, er bringe nur das dargeliehene Buch zurück, und war dann nicht wenig erstaunt über seinen Fleiß. »Sie können ja,« meinte sie, »diese Zeit über gar keinen andern Gedanken gehabt haben?«

»Ich habe mir wirklich kaum Rast zum Schlafen gelassen,« erwiderte er, »so ungeduldig bin ich gewesen, um möglichst bald Ihren Unterricht zu empfangen, Ihren Anweisungen Folge zu leisten!«

»Das freut mich,« sprach sie lächelnd; »aber ich fürchte, Ihnen nur wenig nützen zu können, wenn es Ihnen nicht gelingt, sich selbst zu täuschen.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Sie werden durch alles Aufgebot künstlerischen Bestrebens zu keiner lebendigen Darstellung dieser Rolle gelangen, wofern sie nicht imstande sind, sich an des Schwärmers Stelle zu setzen und sich einzubilden, daß Sie für mich – nämlich für die Königin von Schottland – so glühend empfänden wie er. Es giebt Scenen, wo die Kunst nicht ausreicht, wo die wahre persönliche Empfindung nachhelfen muß, sollen die Zuschauer daran glauben. Eine solche haben Sie im dritten Akte mit mir, und ich beklage nur, daß Ihnen nicht eine Mitspielerin zur Seite steht, die ähnliche Wünsche hervorzurufen geeigneter wäre als ich.«

Ihre Koketterie verhielt sich dabei so sittsam und bescheiden, daß wohl ein im Verkehr mit Weibern schon Erfahrener sich hätte täuschen lassen, wie vielmehr der beim reisenden Theater aufgeschossene Bursche, der daran gewöhnt war, Frauen- und Mädchen um sich her von der Leber weg reden zu hören, der die Äußerungen einer »Dame vom Schlosse« gleich höherer Offenbarung achtete. »Wenn es nur davon abhängt,« rief er im bangen Vorgefühle gefahrdrohenden Glückes, »dann bin ich berufen, den Mortimer vortrefflich zu geben; ich brauche mir nicht erst einzubilden, was ich wirklich empfinde; ich brauche mein Feuer nicht von der Rolle zu entlehnen; ich kann diese vielmehr mit dem Überflusse des meinigen ausfüllen.«

»Wirklich?« fragte Gottliebe, indem sie ihn durchdringend musterte.

Und die Scenenprobe begann.

Für den Auftritt im ersten Akte machte die routinierte Schauspielerin dem Anfänger mehrfach nützliche Einwendungen, gab ihm brauchbare Ratschläge, deren praktischen Wert er sogleich auffaßte und benutzte. Doch das betraf nur Einzelheiten. Im ganzen erhoben sich Rede wie Gebärde zu so beseeltem lyrischem Schwunge, daß Gottliebe minutenlang sich, ihre schlechten Absichten, ihre selbstsüchtigen Pläne vergaß und dem Vortrage dieses Schülers lauschte, von welchem gar viele Lehrer hätten lernen können ... wenn sich überhaupt erlernen ließe, was eingeborne Gabe ist, was die Natur entweder großmütig gewährt oder eigensinnig versagt, was noch kein Ästhetiker definiert, kein Psychologe enträtselt hat. Wo es mangelt, wird keine theatralische Darstellung, auch die sicherste, sinnigste, fehlerfreiste nicht, begeistern! Ist es vorhanden, dann ... ach, es ist leider gar selten!

Der sechste Auftritt des dritten Aktes hob am ... doch dafür fand Wulf keinen passenden Ton. Gottliebe ließ ihn verschiedene Sätze drei-, viermal wiederholen ... er traf es nicht, wie sie verlangte. Bald war er ihr zu stürmisch, zu roh, die weibliche Würde einer Königin verletzend, bald wieder zu kalt, zu wenig von innen erregt, nicht leidenschaftlich genug. Dieser Tadel führte zu vielfachen Versuchen, die Versuche steigerten auf beiden Seiten jene Lebendigkeit der Aktion, die sonst in vereinzelten Scenenproben zu fehlen pflegt; Mortimer gewann Mut, wagte sich an pantomimische Illustrationen des kühnen Textes; Maria entwand sich ihm geschickt, allerdings weniger mit der Hoheit einer beleidigten Majestät, als mit der zweideutigen Sprödigkeit einer geübten Schauspielerin, und während sie keinen Augenblick vergaß, ihn durch eingestreute Bemerkungen auf seine Rolle hinzuweisen, fing er an, gänzlich zu vergessen, daß alles nur Spiel, nur artistische Vorbereitung sein sollte. Durch fortdauerndes Herumbalgen und Ringen warm geworden, legte er plötzlich auf die zum wer weiß wievielten Male wiederholten Verse: »Die Krone ist von deinem Haupt gefallen, du hast nichts mehr von irdischer Majestät!« einen ganz eigentümlichen Accent, und schwindlich gemacht von der an Wahnsinn streifenden Aufwallung des Blutes, die auch bescheidene Jünglinge (und solche dann umso heftiger) bisweilen ergreift, warf er sich ihr zu Füßen, sie mit beiden Armen umklammernd. Eine Silbe von ihren Lippen würde genügt haben, ihn zurückzuschrecken aus seinem Taumel in das Bewußtsein der untergeordneten Stellung, die er hier einnahm. Bevor sie aber den Mund öffnen konnte, ihm Mäßigung zu gebieten, war der Reichsfreiherr hinter dem von dickaufgenähten Wappen geschmückten Teppiche, welcher die Thür deckte und auch ihn schon als stummen unbemerkten Lauscher ein ganzes Weilchen versteckt gehalten, hervorgetreten. Ein lautes: »Bravo, junger Bäcker!« erscholl wie Posaunenklang zum Weltgerichte in des angehenden Sünders Ohr. Er ließ die Arme sinken; Gottliebe that einen Schritt rückwärts; in ihren Mienen glaubte er heftigen Schreck zu lesen; wie ein Blitz fuhr's ihm durch den Kopf: sie ist des Barons Geliebte, und mich wird man jetzt schmählich davonjagen! Er blieb auf den Knieen, nicht in demütiger Entsagung, nein, voll trotziger Eifersucht. Wo diese beginnt, hören alle Bedenklichkeiten auf, erlahmen die edelsten Vorsätze, giebt es keine zarten Rücksichten mehr. Was still glimmend sonder Mühe zu ersticken gewesen wäre, schlägt von ihrem dämonischen Atem angefacht zur wilden Lohe empor. Dunkle Wünsche, dämmernd-sinnliche Träume wachsen auf und werden unbändige Begierden.

Der Baron fand die von Mortimers Zudringlichkeiten und ihren abwehrenden Anstrengungen erhitzte Königin heute besonders reizend und beabsichtigte mit ihr unter vier Augen zu bleiben. Er gab also dem Knieenden ein Zeichen, daß er sich erheben solle, und deutete an, die Scenenprobe sei beendet. Weil er aber, wenn er guter Laune war ... und dies war er jetzt durch Gottliebes Anblick ... gern Wortspiele vorbrachte, die seine von ihm abhängigen Umgebungen witzig finden und beloben mußten, mochten sie noch so schlecht sein, so konnte er auch in diesem kitzlichen Augenblicke nicht etwas der Art unterdrücken. Er lieferte einige mißlungene Vergleiche zwischen Lord und Sir, zwischen »lesterlicher und lästerlicher« Liebe, belachte sie selbst, munterte die Freundin auf, desgleichen zu thun, und wunderte sich sehr, daß Wulf nicht mitlachte. Dieser jedoch, der jetzt für sein Leben gern geblieben wäre, zwiefach gern, weil er vertrieben wurde, entfernte sich zornig in schwer verhehltem Grimme gegen den Gebieter, in ungerechtem Grolle gegen seine schöne Lehrerin, welche doch unschuldig war ... unschuldig an dieser Störung der Probe; und welche er ... o Geist des Widerspruchs im Menschen! ... welche er nun zu lieben wähnte! Hätten seine reichsfreiherrliche Gnaden Ungnade gezeigt, eifersüchtige Tyrannei durchblicken lassen, so würde der arme Komödiant wenigstens den Trost mitgenommen haben, daß er für einen zu beachtenden Nebenbuhler gelte. Des vornehmen Herrn Lachlust raubte ihm auch diese Befriedigung der Eitelkeit, und er trollte sich rief beschämt. Ärger und Liebe stritten sich in seiner Brust; fürs erste trug der Ärger den Sieg davon.

Es liegt weder in unserer Absicht, noch im Interesse des Lesers, kritische Aufsätze zu liefern über so viele und vielerlei theatralische Produktionen, deren dies Buch annoch Erwähnung thun will. Wir begnügen uns mit der, wie es in Zeitungen heißt: »Kunstnachricht,« daß Maria Stuart, den gerechterweise zu machenden Ansprüchen gemäß, anständig genug über die Bretter der Kauzburger Manege ging; daß die Darstellerin der Hauptrolle, wie billig, allgemeines Entzücken ... daß hingegen Wulfs Mortimer einigen Anstoß erregte, wegen allzu naturgetreuer Wahrheit in dem mit Gottliebe so häufig probierten Auftritte. Die Damen sprachen sich darüber nur durch naserümpfendes Schweigen aus, die Herren raunten sich zu: der Bengel wird den Baron toll machen! Der Baron lächelte, wie wenn er sagen wollte: sobald der Vorhang gefallen, hat das weiter nichts mehr auf sich! Baronesse Ludmilla that große Augen auf und staunte! Gottliebe ermunterte den heftigen Akteur, stachelte ihn noch auf durch leises Flüstern: »Gut, so ist's recht!«

Nachdem er sich in der vierten Scene des vierten Aktes regelrecht totgestochen hatte und sich als wandelnder Theaterleichnam auf raschen Füßen nach dem Ankleidezimmer begab, fand er auf seinem Platze ein mit Bleistift bekritzeltes Zettelchen: »Mitternacht, hier!«

Mitternacht? das ist leicht zu verstehen: die Stunde der Gespenster, wie der Verliebten. Aber »hier?« Was ist hier? ...

Der Garderobeschneider befand sich auf der Bühne; Wulf, ganz allein im schwach beleuchteten Gemach, konnte ungestört nachsinnen. Über die Schreiberin der zwei bedeutungsschweren Worte hegte er keinen Zweifel. Er durchdachte, von den Wallungen seines erhitzten Blutes fast erstickt, alles, was sie bei den verschiedenen Begegnungen mit ihm gethan, gesprochen, bis auf ihr erstes Zusammentreffen zurück. Hinter den Coulissen war es gewesen, wo sie, plötzlich aus der kleinen Seitenthür hervorbrechend, ihm ein Briefchen für Schauspieler Müller anvertraute. Und am andern Tage war dieser primo amoroso verschwunden samt Madame Bäcker ...? Nur daraus hatte sich Wulfs Bühnenthätigkeit in einem ersten Fache entwickelt! – Seltsam genug brachte er heute, jetzt erst all' jene Begebenheiten in Verbindung. Welchen Einfluß Gottliebe auf seiner Stiefmutter und deren Begleiters flüchtige Entfernung geübt haben möge, darüber zerbrach er sich den Kopf nicht. Er hielt nur fest am Platze hinter der Bühne, wo ihre Hände zum erstenmal die seinigen berührt. Jener Platz, sagte er zu sich, ist das »hier,« kein anderer kann gemeint sein. »Hier,« das heißt in jenem Winkel will ich sie um zwölf Uhr erwarten!

Um dies unbemerkt und unbehindert ausführen zu können, verbarg er sich, sobald er umgekleidet war, in eine der ausgeleerten großen Kleiderkisten, welche im Hintergründe der Bühne zwischen allerlei Versetzstücken standen, weil sie nicht selten der Ehre gewürdigt wurden, in unterschiedlichen Baulichkeiten als Mauern, Türme, Höhlen mitwirken zu dürfen. In Johanna von Moutfaucon wäre sie Alpen gewesen. Deutlich genug drangen in besagten Verschluß die Abschiedsreden der Königin von Schottland, deren entsagende Frömmigkeit, im rührendsten Pathos kund gegeben, höchst wunderlich kontrastierte gegen die beiden Worte: »Mitternacht, hier!« Er vernahm sogar das Schluchzen und Räuspern und sich Schneuzen, welches im Publiko jedesmal sich erhob, sobald eine Kunstpause auf den Brettern eintrat.

An solchen frivolen Gegensätzen leidet das Theaterleben keinen Mangel; vielleicht liegt gerade in ihnen der versteckte, aus Opposition entspringende Antrieb zu manch' verbotenem Handel, der ohne dergleichen Würze gar nicht zustande gekommen wäre.

Bei tiefster Ehrfurcht vor Schillers Dichtung wünschte der Gefangene doch sehnsüchtig das Ende herbei. Er atmete freudig auf, da der Vorhang für diesen Abend zum letztenmal sich senkte, und die Schauspieler nebst gesamtem Hilfspersonal sich allgemach von den Brettern verloren. Standhaft hielt er aus, bis die letzte Thür ins Schloß fiel; dann erst öffnete er den Deckel seiner Kiste und stieg ... nicht ans Licht (denn es war pechfinster um ihn her!), auch nicht eigentlich an die Luft (denn es stank nach ausgeblasenen Lampen und Kerzen!), aber doch ins Freie; die geräumige Bühne schien ihm eine Welt, verglichen mit dem Umfange des hölzernen Kastens. Er tappte sich nach dem bewußten Seitenpförtlein, lehnte sich an einen Baum aus dem Parke zu Fotheringhay, der daneben an der Wand ausruhte von seiner stummen Rolle im dritten Akte. Und er wartete.

Die greise Turmuhr rasselte zwei Viertel nach Zehn ... Sie werden beim Souper sitzen, dachte er. Doch das war ein unglücklicher Gedanke, der ihn auf des eigenen Magens natürliche Bedürfnisse und Ansprüche leitete. Um ein Uhr nachmittags hatte er mäßig gespeist. Seitdem hatte er nichts zu sich genommen, wohl aber sich heftig angestrengt. Die geistige Aufregung war vorüber, leibliche Forderungen stellten sich ein. Ich habe einen Wulfs-Hunger, stöhnte er; wäre die Erwartung dessen nicht, was sich »hier« begeben soll, und gewänne diese nicht immer wieder das Übergewicht ... ich würde es bis Mitternacht nicht aushalten; denn ich fühle mich in diesem Augenblicke bereits kapabel, mit meinen Zähnen die Rinde vom Baume zu schälen, der mich beschattet ... wenn er ein lebendiger Baum wäre. Fast noch heftiger quält der Durst! Auf der Hintergardine fließt ein murmelnder Bach, wie ich weiß. Ein Glück, daß ich ihn nicht sehe, sein Anblick würde mich noch durstiger machen! Sei es nun die Schönste, sei es die Häßlichste, deren zartes Gekritzel mich hierher beschied ... ich fürchte sehr, ich werde sie anbeißen. Ist's nicht aus Liebe, so geschieht's aus Hunger und Durst. Ja, jetzt könnt' ich Blut saufen und begreife Menschenfraß!

Mit ähnlichen Selbstgesprächen suchte er sich um die Zeit zu betrügen und sie um sich.

Wer jemals lange auf etwas Ersehntes harren mußte, ohne wirksamere Zerstreuung wie unserem Wulf etwa zu Gebote stand, der wird, wofern er sonst geneigt und befähigt ist, Bemerkungen zu machen, ohne Zweifel folgende gemacht haben: Bis zu dem Termine, der dem Wartenden gesetzt ist, schleicht die Sekunde schneckengleich, man will vor Ungeduld verzweifeln; ist der Termin vorüber, dann stiegen Minuten, als wären sie Sekunden, und je länger man wartet, desto rascher vergeht die Zeit. Das scheint ein Widerspruch, ist aber doch leicht erklärlich. Die Befürchtung, ganz und gar vergebens gewartet zu haben, tritt ja erst hervor, nachdem die ersehnte Stunde schlug; dann aber wächst sie natürlich von Minute zu Minute, denen wir deshalb gern die Flügel ausreißen möchten, wenn sie sich fangen ließen.

Wulf mußte, wie er die lästige Durst- und Hungerepoche überstand, auch jene der Befürchtung durchmachen. Mitternacht ging vorüber und es kam keine Seele, nicht einmal eine arme. Jetzt stieg ihm die Angst auf, es könne ein schlechter Spaß dahinter stecken; eine von den jüngeren Schauspielerinnen, die ihm aufsässig sei, weil er sich nicht um sie bekümmere, hätte ihn zum Narren gehalten; diese werde den Schwank bekannt machen und er morgen dem Personale zum Gegenstände des Spottes dienen, daß er eine ganze Winternacht wie ein Wahnsinniger auf der Bühne gelauert. Sie würden ihn noch dort finden, besorgte er, wenn sie zur Probe kämen! Denn wie sollte er aus den rings verschlossenen Räumen entkommen? Da fiel ihm ein. daß vor dem Fenster des Ankleidezimmerchens, welches er mit Wenigen teilte, ein Baum stehe, dessen blätterlose Zweige die Glasscheiben berührten. »Aus diesem Fenster über diesen Baum!« rief er hastig; »sie sollen sich einen andern suchen, um ihn zu foppen!« Ohne Anstoß fand er sich zwischen Stricken, Latten, Blöcken, hölzernen Böcken und solchem Durcheinander zurecht bis an die Thür, die er suchte (die ehemalige Wohnung des Stallmeisters!) ... aber als er sie aufriß ... welch' ein Anblick! Auf seinem Platze stand, von zwei Wachskerzen beleuchtet, ein Körbchen mit kalten Speisen und Wein. Das Fenster war sorgfältig von innen verhangen und auf dem Teppich, der keinen Lichtstrahl nach außen durchließ, heftete an eine Nadel gespießt ein zweites Zettelchen mit: »Wohl bekomm's dem Toten!«

Das war die Meinung? Eine Kollation statt einer Schäferstunde? Nun denn, ich schäme mich nicht einzugestehen, daß in meiner gegenwärtigen Verfassung mir jene nützlicher ist als diese. Ja, es soll dem verstorbenen Sir Mortimer wohl bekommen, und kühn ans Werk! Hier spielt ein Feenmärchen; fürs erste will ich mich an seine soliden Bestandteile halten, und wenn ich mich gestärkt und vom Selbstmorde erholt habe, abwarten, was die Frau oder »Demoiselle« ... Fee weiter über mich beschließt.

Er trank ... er aß ... er trank wieder ...

Lieber, vielleicht brummiger Leser! bist du nicht Schauspieler gewesen, hast du nicht nach Beendigung einer angreifenden Rolle, nach mehrstündiger Anspannung deiner Nerven und Anstrengung deiner Lunge halbverschmachtend auf einen frischen Labetrunk gehofft und diesen lange, recht lange erwarten müssen ... dann bist du nicht fähig zu ermessen, wie meinem Helden geschah, als er den Inhalt einer Champagnerflasche in ein großes Krystallglas laufen ließ und letzteres mit einem Zuge leerte. Nein, du hast kein Recht ihn zu tadeln, daß er sich an diesem ihm neuen Getränke, welches er für »baronisiertes Weißbier« nahm, ein wenig berauschte.

Bei allen Musen, schwur er laut, ich war ein Esel, die Bedeutung des Wörtchens »hier« nicht früher zutreffen. Hier lag ja das vielverheißende Blättchen Papier; hier und nirgend sonst wo hätte ich die Erfüllung des Versprochenen suchen müssen.

Und als das Mahl beendigt war, schlug's Eins. Er dachte abermals auf seinen Rückzug. Abräumen werden die unsichtbaren Hände, meinte er, die so sauber serviert haben. Ich, für meine Person, räume das Feld. Ein Licht hatte er bereits gelöscht, wollte eben das zweite ausblasen ... da kam ihm besserer Rat: Es ist unmöglich, daß Teller, Flaschen, Gläser, Messer und Gabel in diesem Korbe durch die Luft geflogen sind. Menschenhände haben ihn getragen. Diese Hände sind noch in der Nähe, müssen noch in der Nähe sein; es ist meine Pflicht, sie ausfindig zu machen, den Kuß der Dankbarkeit darauf zu drücken. Ja, sie erwarten das, davon bin ich überzeugt. Wo soll ich sie suchen? Ha, wo anders als dort, wo ihre, unsere Herrin, wo die Zierde unseres Theaters sich zu schmücken, sich an- und auszukleiden pflegt? ...

Und er griff nach dem Leuchter und begab sich ... in Gottliebes Garderobe.

Schottlands entthronte und enthauptete Königin lag auf dem Ruhebett und schien zu schlafen. Aber das Haupt war noch nicht gänzlich vom Rumpfe getrennt, denn die halbgeöffneten Lippen lächelten wie im Traume.

Während noch manches weibliche Auge in und um Kauzburg die Kissen seines Nachtlagers mit heißen Thränen benetzte, dem poetisch-verklärten Angedenken Marias, ihrer bußfertigen Reue, ihrer himmlisch-reinen Liebe und Verzeihung für Lord Lester gewidmet ... erwachte Maria selbst (oder stellte sich an, als ob sie erst erwachte, denn sie lispelte: »Endlich?«) in Mortimers Armen.

So geht es in der Theaterwelt zu! rufen ernste Sittenrichter verächtlich aus.

So geht's in der Welt zu! sagen wir ehrlich.

*   *   *

Wo eine Schauspielertruppe sich einmal niedergelassen, um Monate hindurch ihr Wesen auf den Brettern und ihr Unwesen außerhalb der Bühne zu treiben, da bilden sich unfehlbar auch Parteien für und wider. Sei es in größeren, sei's in kleinsten Städten, sei's in Marktflecken und Dörfern; sei's in Orten, welche, wie Kauzburg, seitdem sie stehen, niemals ein Theater gesehen ... immer und überall verbreiten sich die vom Komödienspiel unzertrennlichen persönlichen Gegnerschaften über den Schauplatz ins bürgerliche Leben hinein. Liebe wie Haß und Neid erweisen sich gleich mächtig. Ja sogar Menschen, denen es an Empfänglichkeit für die Poesie der Sache mangelt, gewinnen Teilnahme für die leidige Prosa derselben und mischen sich geschäftig in jeglichen Coulissentratsch. Obenan stehen, wie auch bei anderen Ständen und Verhältnissen, die Beziehungen zwischen beiden Geschlechtern. Denn diese gerade sind es ja gewöhnlich, die mit tausend unsichtbaren Fäden Poesie und Prosa durcheinander flechten und wirren. Und sie auch sind es, welche den willkommensten Stoff darbieten, am Kaffeetisch wie auf der Bierbank besprochen zu werden.

So gut war's den Kauzburgern noch nicht geworden: Die Herrschaft auf dem Schlosse, die Fremden aus der Nachbarschaft Fuderweise, die Komödianten in der Reitbahn, die Gesellschafterin der Baronesse mitten drunter, der Sohn des Prinzipals seiner reichsfreiherrlichen Gnaden beglückter Nebenbuhler! ... denn daß Wulfs Verbindung mit Gottliebe ein öffentliches Geheimnis werde, dafür hatten schon in den ersten Tagen nach jener Nacht sämtliche »Kollegen und Kolleginnen« bestens gesorgt. In ganz Kauzburg gab es zwei Personen, die vielleicht noch nicht wußten, was die Sperlinge bei ihren Abendversammlungen hinter den Schornsteinen sich zuzwitscherten, zwei Personen: den Baron und Ludmillen, an welche sich niemand mit der skandalösen Kunde wagen wollte, auch nicht wagen konnte, weil beide sich allzu abgeschlossen verhielten gegen hin- und hertragendes Geschwätz. Aber was sie nicht wußten, daß ahnten sie wohl? Der Vater, ohne sich im geringsten dadurch beunruhigen zu lassen, als ob es unmöglich sei, daß ein Herr von seiner Bedeutung zurückgesetzt oder verdrängt werden könne, sogar dann nicht, wenn er betrogen würde. Die Tochter fühlte sich zwar desto heftiger beunruhigt, war aber dennoch zu wenig vertraut mit den Wagnissen, denen ein Weib von Gottliebens Charakter die Stirn zu bieten vermag, und deshalb blieb ihr bisweilen erwachender Argwohn noch immer weit hinter der Wahrheit zurück. Daß zwischen der »Gesellschaftsdame« und dem vormaligen Lehrjungen sich ein vertrauteres Band gewunden habe, trat an jeglichem Theaterabende unverkennbar ins Lampenlicht, da sie stets miteinander und gewissermaßen für einander spielten. Sie erwiesen sich auf der Bühne rücksichtsvolle Aufmerksamkeiten, indem eines den künstlerischen Intentionen des anderen förderlich wurde. Vermochte Ludmilla auch nicht den Zusammenhang ihres Doppelspieles kritisch zu verfolgen, so entnahm sie doch daraus die Überzeugung, daß jene sich sehr nahe stehen müßten. Was sie öffentlich zur Schau trugen, konnte nur die Blüte vorangegangener Zusammenkünfte sein. Wie beneidete des Gebieters sonst recht hochmütige Tochter die im Grunde von ihr gering geschätzte Freundin des Vaters um das Vorrecht, ein Darstellungstalent auf der Bühne entfalten zu dürfen, mit welchem sie selbst sich ebenfalls begabt wähnte. Die Theaterluft meldete sich in ihr. Nicht die angeborene, auf Erden mitgebrachte, dem Menschenkinde zum Fluche oder Segen – je nachdem sie mit seinen übrigen Gaben im Widerspruche steht oder im Vereine wirkt! – verliehene, die sich weder unterdrücken läßt, noch ausgerottet werden kann; sondern die von außen angeflogene, unter erborgtem Namen eingeschlichene, welche eben nur von ganz fremdartigen, leidenschaftlichen Gefühlen getragen sich und ihr Opfer zu täuschen sucht. Wie viele Jünglinge wähnten sich fürs Theater berufen, bloß weil sie sich in eine Schauspielerin vergafften! Wie viele Jungfrauen bildeten sich ein, Schauspielerinnen werden zu müssen, weil derjenige, nach welchem sich ihre ersten Träume von Liebe gerichtet, auf den Brettern herumgearbeitet hatte! Wulfs Persönlichkeit erzeugte Ludmillas Theaterlust; ihre Theaterlust verlieh nachher Wulfen unwiderstehlichen Zauber.

Die Gewalt der theatralischen Erscheinung ist eine unerklärbare. Mädchen und Frauen, die im Gange des gewöhnlichen Lebens kein Mann auszeichnen, kaum bemerken würde, finden Scharen von Bewerbern, sobald sie auf schmutzigem Podium, von übelriechenden Lampen umdampft erscheinen. Junge Männer, welche als Handwerksburschen, Kellner, Ladendiener, auch als akademische Bürger mit dem Lächeln einer Zofe dankbar vorlieb nahmen, ziehen die Blicke vornehmer Damen auf sich, verdrehen sentimentalen »Fräuleins« die Köpfe, wenn sie Akteurs sind oder auch nur heißen. Gesellt sich dann zu diesem rätselhaften Etwas (um nicht je ne sais quoi? zu schreiben) nur ein mittelmäßiges Talent, so wird dieses die Wirkung natürlich steigern. Waltet jedoch ein Genie vor, wie bei Wulf Bäcker, dann ist's gar nicht zum erstaunen, daß alle Weiber, alte wie junge, Dorf- wie Schloßbewohnerinnen, sich für ihn entzünden; wenn auch die verschiedenartigen Grade ihres Feuers sich nicht so gefährlich steigern wie bei Ludmillen. Diese verrannte sich so tief in ihren Irrtum, daß nach Ablauf einiger Monate eine gänzliche Verwandlung ihres Wesens erfolgte. Hatte sie sich einer Freundin schwatzhaft-vertraulich mitteilen können – wozu der immer nur flüchtig vorübergehende Verkehr mit Gräfin Krom und deren Töchtern keine günstige Gelegenheit bot – hätte sie Umgang mit ihresgleichen gehabt ... vielleicht wäre sie vor tollen Streichen bewahrt geblieben. Denn was junge excentrische Mädchen kindisch-wichtig beraten und durchplaudern, verläuft gewöhnlich ins Nichts und führt selten zu kühnen Entschlüssen. Weil sich aber gar kein näherer weiblicher Anhalt ihr darbot außer in Gottliebe, und weil sie sich gerade vor dieser absichtlich fest verhüllte und zurückzog, so sammelte sich eine Masse von Brennstoff in ihr an, der, einmal zur Flamme emporschlagend, großes Unglück anrichten mußte.

Den zündenden Funken, die Lohe auflodern zu lassen, warf eine Dichtung, welche schon gar viel verschuldet hat, welche diesmal aber nur mittelbare Veranlassung wurde, indem ein fast unglaubliches Zusammentreffen unerwarteter Begebenheiten eintrat, gegen die keine Vorsicht anzuwenden war, eben weil niemand sie vorhersehen konnte.

Mit jener vielverschuldenden Dichtung meinen wir »die Räuber« und würden solche Äußerung uns verpflichten rechtfertigend zu begründen, wenn anders von einer moralischen Wirkung des Dramas auf eine unserer Hauptpersonen hier die Rede wäre. Da es sich jedoch lediglich um Ereignisse handelt, die außerhalb dieser wunderbar-ungeheuren, poetischen Erzeugung liegen und sich ohne des Dichters Schuld hinein verschlingen, so dürfen wir unseren Lesern weitschweifige Betrachtungen erlassen und zu erzählen fortfahren.

Das Übergewicht, welches Gottliebe in dreifacher Beziehung als schönes Weib, als gewandte Darstellerin und als Direktorin der Kauzburger Hofbühne geltend machte, hatte notwendig dem Repertoire eine ermüdende Gleichförmigkeit beigebracht, und sie selbst fühlte das Bedürfnis, durch ein Stück, dessen Mittelpunkt nicht allein in der weiblichen Hauptrolle liege, belebende Auffrischung herbeizuführen. Papa Bäcker wollte so gern sein Licht ein bißchen leuchten lassen und vermeinte das als Franz Moor am besten zu können. Für den Räuber Karl war Wulf allerdings noch »viel Kalbfleisch,« wie sein Vater es nannte, doch besaß er alle Eigenschaften, die dazu vonnöten. Und Amalie von Edelreich, die thränenreiche, konnte einer der in den Hintergrund geschobenen, nach Rollen heißhungrigen Liebhaberinnen als fetter Bissen zugeworfen werden. Die General-Intendantin freute sich darauf, wieder einmal ausnahmsweise unter den Zuschauern zu sitzen. Sie verkündigte ihren Wunsch: sich überraschen zu lassen; ein Vergnügen, welches sie lange entbehrt. Vater Bäcker bekam die unumschränkte Regie und entwickelte außerordentliche Thätigkeit.

Schon in der ersten Probe äußerte Wulf sein Bedauern, daß ihm nicht vergönnt sei, den niederträchtigen Franz darzustellen. »Mensch,« ließ ihn der Vater heftig an, »dir ist, hol' mich der Teufel, dein Glück zu Kopfe gestiegen und wird dich um den Verstand bringen, befürchte ich. Wen Jugendkraft und angenehme Gestalt berechtigen, Liebhaber und Helden zu machen, der sollte seinem Schöpfer auf den Knieen danken und mit solchen guten Dingen zufrieden sein. Das ist ein Fach, wodurch aller Herzen erobert werden. Die Leute sind nun einmal so albern, daß sie sämtliche edle und grandiose Eigenschaften der Rolle auf den Schauspieler übertragen. Sie verfahren im entgegengesetzten Falle ebenso unvernünftig. Der arme Intriguant hat oft zu tragen, was der Dichter an ihm verschuldet. Ihn haßt man, je besser er spielt, während man den andern liebt, auch wenn er gar nichts kann. Ich weiß das aus Erfahrung; war ich nicht auch dereinst Liebhaber, bevor ich mich in die Bösewichter hinüberschlängelte? Sei froh, daß dir übermorgen Gelegenheit wird, dich zu präsentieren, wie dich Gott geschaffen, im vorteilhaftesten Kostüm, und daß du nicht gezwungen bist, wie dein immer noch präsentabler Vater, dir ›eine Bürde von Häßlichkeit‹ aufzupappen.«

»Weshalb thut mein Vater das?« fragte Wulf; »weshalb will er sich das Gesicht verkleistern und verschmieren?«

»Weshalb? Dumme Frage! Weil's der Dichter vorschreibt; weil Franz von Moor ein Scheusal sein soll! Ist er nicht ein Ableger von Richard dem Dritten, den ich in Weißes Tragödie oft genug geleistet? Scheusale, Scheusale, mein Junge!«

»Und dazu braucht's rote Perücken, und daß man sich eine Fratze aufschminkt? Wenn mir diese Rolle einst zufallen sollte, ich würde eine Ehre darein setzen, mir auch nicht einen Strich ins Gesicht zu malen. Die äußerliche Häßlichkeit ist nicht so buchstäblich zu nehmen. Daß Franz mit eignen Worten ihrer gedenkt, kann ausgelegt werden, wie wenn sein Gewissen, deutlicher als sein Spiegel, ihm sagte, wie häßlich die Seele sei, und wie wenn er den Widerschein dieser innerlichen Mißgestalt auf seinem Antlitz verspüre. Dazu genügt der mimische Ausdruck: Bosheit, Herrschsucht, Neid, Hochmut, feige Grausamkeit ... wenn all' diese Einwohner der Brust sich in den verzerrten Zügen des Angesichts abspiegeln, dann ist das Scheusal fertig, wie der Dichter es vorschreibt, ohne den poetischen Schönheitssinn zu verletzen.«

»Ach, da will's hinaus, eitler Laffe? Deine Schönheit soll nicht leiden unter einer passenden Maske. Steht es so mit der vielgerühmten Begeisterung für die Kunst?«

»Eben meine Achtung für die Kunst lehrt mich den Unterschied zwischen prosaischer Wirklichkeit und theatralischer Veredelung. Wo der Dichter sich vergriff, soll der Schauspieler ausgleichen. Sonst dürfte ich auch im Ballett, wenn ich einen Bauernjungen tanze, nicht weiße Beinkleider tragen und müßte mit schmutzigen Füßen Entrechat schlagen. Ich habe viel darüber nachgedacht, während ich an Franz Moor studierte.«

»Den Franz hast du ... Kerl, du bist verrückt! Den Franz hast du studiert?«

»Mit dem Karl zugleich; es ging unter einem.«

Der Vater sah seinen Sohn lange befremdet an. Dann rief er achselzuckend: »Das wird dereinst ein sehr großer Narr oder ein sehr großer Akteur! Vielleicht beides zugleich!«

Und dies gesagt, kehrte er ihm den Rücken.

*   *   *

Es machte nicht geringes Aufsehen im Auditorium, als wenige Minuten vor Beginn der Räuber Demoiselle Gottliebe mit dem Reichsfreiherrn und Baronesse Ludmilla die Galerie betrat. Herren und Damen empfingen sie huldigend und gaben ihre Dankbarkeit zu erkennen für die vielen Freuden, welche ein so »remarquables Talent« ihnen gespendet. Haß es diesen Lobsprüchen und Danksagungen nicht an der gehörigen Dosis beigemischter Bosheit fehlte; daß zum Beispiel die Frage gestellt wurde: ob Demoiselle nicht auch große Städte durch ihre Kunstleistungen beglücken werde? und was dergleichen mehr war ... das versteht sich bei der Lage der Dinge von selbst. Der Baron schnitt dazu ein finsteres Gesicht; Gottliebe that, wie wenn sie die Fragen nicht verstünde, und Ludmilla lächelte ironisch.

Allgemein war das Bedauern: »heute die Zierde der Bühne nicht bewundern zu können!« Gottliebe sagte sehr kokett zu dem alten pensionierten Major: »Mein Gott, ich bin ja hier, Herr Obristwachtmeister; bewundern Sie nicht lieber in der Nähe?«

Die Einleitungsmusik ging schon zu Ende, als plötzlich im äußersten Winkel der Galerie sich eine ungewöhnliche Bewegung zeigte, ein Zusammenstecken der Köpfe, ein Gemurmel, welches dann weiter drang und sich zuletzt bis zum Baron und dessen nächster Umgebung fortpflanzte: »Demoiselle Gottliebe wird ersucht, sich auf die Bühne zu begeben; eine Störung ist vorgefallen!« Kaum hatte sie diesem Angstrufe Folge geleistet, so sprach der Baron unumwunden die Hoffnung aus, daß der Krankheitsfall eines Schauspielers ihn vielleicht von den Räubern, die ganz Wider seinen Wunsch aufs Tapet gebracht worden, erlösen werde. »Und vielleicht,« setzte der alte Major hinzu, »wird ein Stück eingeschoben, worin Demoiselle auf dem ›Schlachtfeld‹ erscheint!«

Doch beide Hoffnungen wurden getäuscht. Demoiselle kehrte bald zurück: »Unser Entrepreneur Bäcker ist durch ein unerwartetes Familienereignis so gewaltig in Anspruch genommen, daß er sich unfähig fühlt, die sehr anstrengende Partie zu liefern. Sein Sohn hat auch den Franz von Moor übernommen, und da beide feindliche Brüder im Laufe der Scenen nicht zusammentreffen, so getraut sich Herr Wulf dies wunderliche Wagstück durchzuführen!« Leise raunte sie dem Baron zu: »Bäckers weggelaufenes Weib ist wieder da, hat ihn eine Stunde vor Beginn des Schauspiels überfallen; er ist mehr tot wie lebendig.

»Kam Herr Müller mit ihr?« fragten seine reichsfreiherrlichen Gnaden so gleichgültig, daß Gottliebe sich darüber ärgerte.

»O nein,« erwiderte sie, »der hat die Person in irgend einem kleinen Neste laufen lassen; nur die Not des Augenblicks vermochte sie zur Rückkehr. Das wird schöne Tänze absetzen!«

»Eine belebende Abwechslung!« gähnte der Baron ... und der Vorhang hob sich.

Wulf begann als Franz. Er gab diesen Bösewicht den uns bekannten, früheren Ansichten getreu, ohne alle Überladung diabolischer Zuthaten, und führte ihn – entsetzlich wahr – bis ans fürchterliche Ziel. In den Auftritten wo er sich heuchlerisch zu verstellen für nötig findet, erinnerten Antlitz und Stimme so lebhaft an Bruder Karl, daß eine unverkennbare brüderliche Ähnlichkeit hervortrat. Desto schauerlicher wirkten dann die Gegensätze, wenn er, sich selbst und seinen niedrigen Leidenschaften überlassen, die volle Häßlichkeit einer schwarzen Seele entfaltete. Dann verzerrten sich die ursprünglich nicht unedlen Züge zur Höllenfratze, und die Sprache nahm einen teuflischen Klang an.

Für den Räuberhauptmann that er eigentlich nichts, außer daß er sich gehen ließ; daß er in voller unbändiger Jugendkraft dahin stürmte gleich einem verwüstenden Orkane über blühende Fluren. Nur einer so gesunden, starken Brust war es möglich, alle Töne der Wut, der Rache, der Reue, der Verzweiflung, des Jammers, des gerechten Zornes zur vollsten Geltung zu bringen, ohne sich zu erschöpfen. Die Zuhörer vergaßen dabei sich, die Bühne und ihn selbst; niemand mehr dachte daran, daß dieser den finstern Mächten verfallene Heros, dieser Jüngling voll rasender Männerkraft derselbe Mensch sei, der wenige Minuten vorher als Vatermörder Abscheu erregt hatte. Männer, Frauen und Mädchen unterlagen dem Gewicht einer auf solche Weise ins Leben gerufenen Dichtung, deren geniale Verirrung vielleicht niemals reiner, fortreißender, und wenn das hier unpassende Wort vergönnt wäre, »naiver« versinnlicht wurde als an jenem Abende in Kauzburg durch den Helden unseres Romans, des Abends Held im ganzen Sinne. Ludmilla geriet dermaßen außer sich, daß sie ihre so lange bewahrte Fassung völlig verlor. Nur bei der allgemeinen Erschütterung konnte ihr Zustand unbemerkt bleiben. Aber Gottliebe, die eben, weil sie zum Theater gehörte, und auch wohl, weil sie Wulfen so nahe stand, neben der Anerkennung seines Talentes eine kleine Dosis Neid im Busen trug; ... Künstlerneid ist die Würze des Bühnentreibens, die Asa-Fötida, der Moschus des Kollegentums, der spanische Pfeffer an Coulissen-Liebeshändeln! ... Gottliebe, dadurch abgekühlt, behielt hinreichende Ruhe, des »Freiherrn Kind,« wie sie Ludmilla im Groll gern nannte, zu beobachten. »Sie liebt ihn bis zum Wahnsinn!« So lautete der Wahrspruch ihrer scharfen Prüfung. Und es wäre ein psychologischer Fehlschluß, wollten wir wähnen, diese nun zur Gewißheit gewordene, längst gehegte Vermutung habe die Demoiselle erschreckt oder auch nur beunruhigt. Eher dürfen wir sie anklagen, recht ehrgeizige Gedanken und Absichten, ihre eigene Zukunft betreffend, daran geknüpft zu haben ... was sogleich erörtert werden soll.

Zunächst beschäftigte sie, neben diesen Dingen, die unwillkommene Heimkehr der Frau Prinzipalin. Von Vater Bäckers duldsamer Nachgiebigkeit stand nicht zu erwarten, daß er die verlaufene Gattin mit Gewalt wieder wegjagen werde; vielmehr stand von jener zu erwarten, daß sie sich nicht wegjagen lasse, sondern entschieden bleibe. Blieb Madame aber, so trat Madame auch wieder auf, und dann konnte Gottliebe, »der Leute wegen,« meinte sie, nicht mehr mitspielen!

Auch das verdroß sie an und für sich nicht. Es ärgerte sie nur, »dem Weibsbild« weichen zu müssen. Sonst paßte der Rücktritt wohl gar in ihren Kram, kam ihr zu statten. Was sie im Sinne gehabt, da sie sich noch einmal unter Komödianten mischte: des Freiherrn Glut frisch anzuschüren, das war nun geschehen. Ihre Erscheinung auf der Bühne hatte ihr erneute Anziehungskraft verliehen. Was sie von Wulf hatte besitzen wollen: die Erstlinge einer Jünglingsneigung, das hatte sie vollauf besessen. Dem Herzen, soweit dieses dabei im Spiele gewesen, war Genüge gethan. Jetzt kam der berechnende Verstand an die Reihe, und dem versprach Ludmillas täglich wachsende Leidenschaft Unterstützung, wenn es gelang, Tochter und Vater durch einen unüberlegten Schritt der erstgenannten zu entzweien. Kurz und gut: Gottliebe Huberin ging darauf aus, Reichsfreifrau von Tauern-Kauzburg zu werden!

Und dieses Ziel zu erreichen, schien kein Opfer zu groß; weder ein selbstgebrachtes, noch ein über andere verhängtes. Mochte doch Wulf, durch unbesonnene Avancen der Baronesse geschmeichelt, die Liebschaft mit seiner bisherigen Gönnerin aufgeben und eine andere beginnen! Mochte doch Ludmilla ungewarnt ins Unglück stürzen und durch irgend einen Eklat den Zorn des in seinem Hochmut verletzten Reichsfreiherrn auf sich laden! ... dergleichen Zwischenfälle konnten nur beitragen, ihn in die Netze treiben zu helfen, die schlaue Vorsorge seit einem Jahre von verschiedenen Seiten aufgestellt hatte.

Es begiebt sich hienieden manchmal, daß dunkle Mächte selbstsüchtigen verwerflichen Unternehmungen auf halbem Wege fördernd (sei es auch nur zum Schein) entgegen kommen, die Bahn ebnend, wie wenn sie nur darauf gelauert hätten, sich hineinmischen zu dürfen. Manche düstere That, manche Verbrechen wären ohne solche Beihilfe im Keime erstickt. Hier galt es zunächst wohl nur einer feingesponnenen Doppelintrigue, für deren Gewebe sich der Teufel – denn an diesen zu glauben, sieht man sich oft gemüßigt! – besonders thätig erwies. Als Gottliebe sich in offener Frühstücksaudienz, in Gegenwart der Dienerschaft, dahin äußerte: sie werde, wenn sie auch die Ober-Intendanz des Schauspieles behalte, doch von nun an jede persönliche Mitwirkung aufgeben, weil es ihr nicht zieme, mit einer Madame Bäcker zu rivalisieren, und so weiter ... war sie nicht wenig verwundert, vom Freiherrn keinen Widerspruch zu vernehmen. Sie hatte sich auf einen Sturm vorbereitet, den sie mit großem Aufwande von Beredsamkeit werde beschwichtigen müssen. Statt dessen wurde ihr die Entgegnung zu teil: »Ich finde das natürlich und billige Ihre Ansicht; ebenso wie ich ganz begreiflich finde, daß unser Papa Bäcker die verlaufene Ehekonsortin wieder acceptiert. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.«

Diese Äußerung deutete sie zu Gunsten ihrer Absichten. Er gab ihr ja recht absichtlich anzuhören, daß er sie durchaus nicht ins Komödiantenpack eingerechnet wissen wolle!

Ludmilla ihrerseits vernahm wohlbehaglich, daß Demoiselle nicht mehr die Bühne betreten, folglich weniger Gelegenheit finden werde, mit Wulf in unmittelbare Berührung zu geraten. Auf diese Weise befanden sich alle drei in bester Laune, als der Kammerdiener anzufragen kam, ob Wirtschaftsdirektor Kleemann vorgelassen werden dürfe. Ein lautes: »Ei versteht sich!« war die Antwort und der Gemeldete trat ein. »Nun, mein Alter,« rief ihm sein Brotherr entgegen, »welch' ein Unglücksfall hat sich zugetragen? Nur heraus damit ohne lange Vorreden. Ich bin gefaßt, irgend eine Ihre Landwirtschaft betreffende Hiobspost zu vernehmen, denn etwas Gutes kann dieser ungewöhnliche Überfall nicht bringen. Ist die Rinderpest ausgebrochen? Sind die Schafe drehend geworden? Wütet in den Pferdeställen der ... Schnupfen? Oder steht gar irgend ein Vorwerk in Flammen?«

»Nichts von all' dem, reichsfreiherrliche Gnaden! Ich bringe durchaus keine Nachricht von einem schon geschehenen Unglück; ich wagte mich nur vor hochdero Angesicht, um eine drohende Gefahr möglichst im Keime zu ersticken ... wofern mir gestattet wird, mich zu expektorieren, und wofern solche meine Expektoration geneigtes Gehör findet.«

»Den Henker auch, Sie nehmen einen vielversprechenden Anlauf; ich bin begierig. Zur Sache!«

»Es sind nämlich Bemerkungen, das hiesige Theaterwesen betreffend, als welche unterthänigst vorzulegen ich mich erdreisten möchte.«

Ludmilla und Gottliebe wurden aufmerksam.

»Theaterangelegenheiten?« lachte der Baron; »Sie und Theaterangelegenheiten? Nein, darauf war ich nicht gefaßt. Das sind übrigens Dinge, die nicht in mein Departement gehören, und Sie haben sich an die Intendanz unserer Hofbühne zu wenden. Demoiselle wird Ihren Rapport entgegennehmen, mit der Schokolade ist sie aufs reine.«

»Dann desto besser,« hob der Amtmann mit Entschiedenheit an; »dann ist mir ja verstattet, gleich vor die rechte Schmiede zu treten mit meiner Beschwerde. Ja, hochgeehrte Demoiselle, ich nehme mir die Freiheit heraus, gegen die Wahl des gestrigen Trauerspieles zu sprechen, und will feierlichst Protest eingelegt haben wider künftige Fälle. Nicht etwa weil ich mich erdreistete, den Wert oder Unwert solcher Produkte zu taxieren, sondern lediglich weil ich ihre Ausführung für verderblich halte, wenigstens unserer Landbewohner wegen, die das Zeug nicht gehörig verdauen. Doch auch darüber steht mir keine Entscheidung zu. Was mich hierher führt, ist die notgedrungene Erklärung, daß unsere jungen Burschen, solange ich im Namen unseres gnädigen Gebieters hier Oberverwalter bin, nicht mehr in Räuber und Mörder vermaskeriert mitagieren werden. Das ganze Statistenwesen hat schon nachteilig gewirkt. Es mochte noch hingehen, wie man die Kerls Bauern spielen ließ, die für ihren rechtmäßigen Herrn und Ritter von Montfaucon kämpften, obgleich die Gegenpartei auch kein gutes Beispiel gab. Gestern aber war es denn doch zu toll. Diese niederträchtige Moral, daß ein liederlicher Graf, nachdem er sich von seinem Vater hart behandelt glaubt, Gesindel jeder Gattung zusammenraffen dürfe, um mit derlei Auswurf im Verein zu stehlen, zu brennen, zu schlachten; daß jeder Schurke, der sich der Bande anschließt, gewissermaßen von dem Heiligenscheine des Hauptmanns verklärt sei; daß mit einem Worte solche Galgenvögel Gott ins Handwerk greifen und an seiner Statt Recht sprechen wollen ... die geht über meinen hausbackenen Menschenverstand. Schon nach den Proben deklarierten sich traurige Folgen. Ich hörte hier und da verdächtige Äußerungen über ungleiche Verteilung irdischer Glücksgüter, und einer meinte, wenn sie nur einen tüchtigen Anführer mit blutrotem Federbusche auftreiben könnten, wollten sie auch das ungleiche auf Erden gleich machen! Wohin soll das führen? Noch zwei ähnliche Abende und sie stürmen das Schloß. Soweit kann Euer reichsfreiherrlichen Gnaden Vorliebe für das Komödienspiel doch unmöglich reichen?«

»Nein, gewiß nicht! Zwar nehmen Sie die Sache viel zu ernst, lieber Kleemann, und legen auf das Gewäsch einiger frecher Tölpel zu viel Gewicht; diese verstummen zu machen und ihnen die romantischen Räubergelüste zu vertreiben, wird eine an- und wohl aufgemessene Tracht Prügel hinreichen. Gleichwohl gebe ich Ihnen in der Idee vollkommen recht. Dergleichen Stücke dürfen hier nicht mehr aufgeführt werden, mögen sie verfaßt sein, von wem sie wollen. Danach hat sich auch unsere hochgeschätzte Intendanz gefälligst zu richten.«

Gottliebe nickte beistimmend. Ludmilla jedoch fuhr hastig auf: »So wird der junge Bäcker den Karl Moor nicht wieder spielen?«

»In Kauzburg schwerlich, meine Liebe, so lange ich hier zu befehlen habe.«

»Auch nicht, wenn ich dringend darum bitte, mein gnädiger Vater? Wenn mir dadurch die größte Freude bereitet würde? Herr Bäcker, der ältere, wird sich von seinem Schrecken über der teuern Ehehälfte Rückkehr bald erholt haben; er wird imstande sein, den Franz wieder zu übernehmen. Dann ist es dem Sohne vergönnt, sein ganzes Genie auf die eine Rolle zu wenden, und das wird ja himmlisch sein! Weshalb willst du mich und dich und alle um einen so außerordentlichen Genuß bringen? Du sagst ja selbst, daß du dich vor den Statisten nicht fürchtest! Sie können ja kurz vor Beginn des Schauspiels tüchtig durchgeprügelt werden. Meinst du nicht?«

Der Baron lachte aus vollem Halse: »Das nenn' ich Begeisterung für Poesie und darstellende Kunst! Die Bauernschlingel und Ochsenknechte willst du über die Bank legen lassen, um sie von gefährlichen prosaischen Nebengedanken zu befreien, und mit durchgegerbten Häuten sollen sie dich ms Reich der Ideale befördern helfen? Welch' ein Geist ist denn in dich gefahren?«

Ludmilla wurde feuerrot.

Der Baron blickte Gottliebe fragend an.

Diese nahm das Wort: »Ich will den Herrn Wirtschaftsdirektor keineswegs widerlegen; ich muß die von ihm ausgesprochenen Bedenklichkeiten teilen. Dergleichen extravagante Weltansichten, wie unser großer Dichter in seiner stürmischen Jugendepoche predigte, bleiben für rohe, ungebildete Hörer schädlich, trotz allen darauf gestickten allgemeinen Moralsprüchen und guten Lehren. Auf letztere achtet das Gesindel nicht, es nimmt nur heraus, was ihm zusagt. Deshalb füge ich mich auch bereitwilligst dem Interdikte wider die Wahl ähnlicher Stücke – obwohl ich eigentlich nichts Ähnliches kenne; denn Schiller ist einzig. Aber ebenso, hoffe ich, wird Freund Kleemann mir zugestehen, daß eine Wiederholung der nun doch schon gesehenen Räuber keinen schädlichen Einfluß üben, sondern vielmehr dazu beitragen könnte, den Eindruck der ersten überwältigenden Darstellung abzuschwächen. Ich sehe wahrlich nicht ein, weshalb Ludmillchens bescheidener Wunsch – das holde Kind äußert so selten einen! – nicht erfüllt werden dürfte? Des Herrn Wirtschaftsdirektors aufrührerische Untergebenen werden begreifen lernen, daß wir nicht in jener Epoche des kürzlich erst aufgehobenen Faustrechts, sondern unter seiner gründlich gehandhabten Grundpolizei leben, und daß unser Theater in der Reitbahn weder die Welt, noch die Kauzburg die Residenz der Grafen Moor ist; sie werden das hoffentlich einsehen, auch ohne die Züchtigung, die Ludmillchen ihnen a – a – wie nennt Ihr's doch auf lateinisch? ...«

» A posteriori, Mademoiselle.«

»Nicht doch! a priori zudenkt, wollt' ich sagen. Und sie selbst wird bei genauerer Kenntnis jener verführerischen Dichtung einsehen, daß der jugendliche Darsteller des Karl Moor noch gar viel zu lernen hat, bevor er der vollendete Künstler genannt werden darf, für den sie ihn jetzt betrachtet. Nur die Gewalt des ersten Eindrucks ist ihr über den Kopf gewachsen. Folglich erbitte ich mir von hoher Censurbehörde die Bewilligung zu einer Reprise ... unterwerfe mich übrigens in allem Ihrer Weisheit.«

»Ich habe mich zu fügen,« sprach Direktor Kleemann.

Der Baron gähnte: »Und ich habe nichts gegen die gewünschte Reprise, wofern Ihr nicht verlangt, daß ich ihr beiwohne. Mich fangen Eure Räuber nicht ein zweites Mal; ich bleibe sein säuberlich in meinem Schmollwinkel und lese Voltaire oder irgend einen anderen vernünftigen eleganten Autor, welcher diese Nachahmungen Shakespearescher Monstruosität perhorresziert gleich mir!«

»Und ich,« fügte Kleemann hinzu, »überwinde meinen Abscheu und mische mich unter die Zuschauer, durchaus nicht um mich an den Rasereien des schreienden Burschen zu ergötzen, welchen gnädige Baronesse ihrer Aufmerksamkeit würdigen, sondern lediglich um meine Herren Statisten zu überwachen und ihr Mienenspiel bei gewissen Stellen zu belauschen. Wer besonders rege Teilnahme an den Schandthaten der Bande pantomimisch oder durch vorlautes Geschrei kundgiebt, der brummt mir nächsten Tages vierundzwanzig Stunden im Stock, so wahr ich Amtmann bin.«

» Fiat!« rief der Baron. »Dieser Vorsatz ist lobenswert. Es würde, glaub' ich, unserm Prinzipal zu namhaftem Vorteil gereichen, dürfte er die Behandlungsweise auf seine Komödianten übertragen und bei ihnen zur Anwendung bringen.«

Hierauf gab er dem biedern Kleemann ein huldvolles Entlassungszeichen mit der Hand, und dieser entfernte sich ohne Aufschub. Ehe noch dies halbamtliche Gespräch in das vertrauliche Geschwätz übergegangen war, welches sich regelmäßig zu entspinnen pflegt, sobald ein Dritter, Vierter, Zwanzigster die Gesellschaft verließ, meldete der Kammerdiener den Schauspielunternehmer Bäcker an.

»Nicht mehr als billig,« sagte Reichsfreiherr zu Tauern; »wir hörten seinen Triumphgesang hinter der Entlaufenen; wir müssen die Elegie über die Zurückgekehrte gleichfalls hinnehmen. Er wird ein Bild des tiefsten Jammers abgeben und jedenfalls höchst possierlich sein.«

So zeigte sich Bäcker senior aber nicht. Er begann mit einer ganz verständigen Entschuldigung, daß er seine Pflicht versäumt und Konfusion im »Geschäft« verursacht habe. »Dank meinem Jungen,« sprach er, »ist die Sache noch erträglich abgelaufen, und kann ich auch aus meinem Gesichtspunkte dies Doppelspiel als ein geschmackloses Kunststück nur verdammen, so muß ich es doch auch seiner unglaublichen Kühnheit wegen anstaunen. Sogar Wulfs entschiedenste Gegnerin, sogar Klimene ... denn sie ist wieder vorhanden, die Nachbarin, ach Gott, das gute Kind! Ja, meine gnädige Herrschaft, Eulalia ist in Meinaus Arme heimgekehrt, und wie ich nicht leugnen kann, zu ihrem Vorteile verändert: mehr begossener Pudel als tyrannisierender Drache! Euer Erlaucht mitleidiges Lächeln scheint zu fragen: weshalb sie den Entführer verlassen? Darauf ist leicht geantwortet: der Entführte war es, der sie verließ. Ihn band nichts an Madame Bäcker, außer die theatralische Abhängigkeit des Schülers von der Lehrerin, die er in seiner Talentlosigkeit notwendig brauchte. Sie ist es ihm auch treulich gewesen; was er des Abends erträglich machte, hatte sie ihm vorher geduldig beigebracht. Seine Bühnenexistenz war ihr Werk, und solange er gezwungen blieb, auf und von den Brettern zu leben, so lange konnte sie auf seine Treue oder mindestens darauf rechnen, daß er ihr Treue heuchelte. Nun jedoch hat sich's, wie sie mir heulend eingestand, begeben, daß eine kleine Gutsbesitzerstochter – nämlich die Tochter ist groß, nur der Besitz ist klein – sich in ihn oder in seinen Hamlet verliebte. Sie muß eine Gans sein, denn Herrn Müllers Hamlet kenn' ich ... gleichviel! Diese Dame, das einzige Kind eines in den Viehställen grau gewordenen, nur der Ackerwirtschaft lebenden Krautjunkers, ist pfiffig genug gewesen – deshalb bleibt sie doch eine Gans in meinen Augen! – den ehemaligen Sekondeleutnant, nach abgestreiftem Komödianten Müller, unter seinem wahren Namen beim alten, leicht getäuschten Vater einzuführen. Vom Theater im Kreisstädtchen ließ sich der eifrige Landwirt so wenig träumen, als von jenen Dingen im Himmel und auf Erden, von denen unsere Philosophie sich nichts träumen läßt, wie Prinz Hamlet seinen Freund Horatio versichert. Er sah im Leutnant eben nur einen herabgekommenen Edelmann, einen der Agrikultur Beflissenen ... er verlobte solchen der überständigen Tochter und diese ihm. Klimene hatte die Wahl: sich dem Hohne der Kollegen preiszugeben, die verlassene Ariadne zu wimmern ... oder spurlos zu verschwinden, sich quasi in die Elemente aufzulösen. Sie löste sich auf, sie verschwand. Sie stürzte in mein Zimmer, da ich just den letzten Akt des Franz Moor noch einmal repetierend die furchtbaren Worte citierte: ›Träume kommen aus dem Bauche!‹ Sie weinte erbärmlich. Sie erzählte mir sämtliche Vorgänge breit und lang. Zwischen durch warf sie sich mir an die Brust, umhalste mich, daß mir die Knochen knickten und knackten und schrie einmaliger das andere: ›Denke dir, Bäcker, so hat mich unser Müller betrogen!‹ Mitten in meinem Ärger und Schrecken über die entsetzliche Störung mußte ich mich eines ähnlichen Falles erinnern, wo der erste Heldenspieler sein Verhältnis zur Anstandsdame unanständig rasch gebrochen hatte, und wo diese auf der Probe von ›Nicht mehr als sechs Schüsseln‹ der zärtlichen Mutter an den Busen sank, mit den laut geweinten Worten: ›Denke dir, Guste, dein Mann ist mir untreu geworden!‹ ... Ich benahm mich, wie damals Guste; ich erwiderte voll Mitgefühl: Nicht möglich, Klimme! – Was sollt' ich sagen? Jetzt aber, mein gnädiger Mäcen, komme ich gebührendermaßen zu fragen: ›Was soll ich thun?‹«

»Ich fürchte, mein lieber Bäcker, Sie können nicht viel thun. Sie müssen sich in Geduld fassen und leiden. Oder würden Sie vorziehen, auf Scheidung zu klagen?«

»Ich habe mir's die ganze Nacht hindurch überlegt und bin lange schwankend geblieben. Die Nachbarin lag im andern Stübchen und weinte jammervoll. Das machte mich windelweich. Heute früh trat sie als Bittende vor mich hin – so hab' ich sie niemals gesehen – und flehte, ich möge sie nicht verstoßen, sie wolle gut thun! Das gab den Ausschlag. Sie darf bleiben. Aber darf sie auftreten? ... das hängt von Euer Erlaucht hoher Entscheidung ab.«

»Sie darf nicht nur, sie soll! Demoiselle Gottliebe scheidet von der persönlichen Mitwirkung aus.«

»Was hör' ich?«

»Unwiderruflich! Die Zeit, während welcher noch der Vertrag zwischen Ihnen und meinem Wirtschaftsamte dauert, wollen wir uns mit Madame Bäcker begnügen. Den größeren Teil der schlechten Jahreszeit haben wir hinter uns, und dann sollen ohnedies die Theaterabende aufhören. Was im nächsten Spätherbst geschieht, ob ich noch einmal hier einwintere, ich weiß es selbst nicht. Benutzen Sie nur das jetzt gewonnene Ascendant gehörig und veranlassen Sie Madame, den jüngeren Frauenzimmern der Truppe mit Rat und That an die Hand zu gehen ohne eitle Nebenbuhlerei und Rollenneid. Was ihr als Lehrerin bei einem Manne gelang, muß ihr ja noch leichter bei ihrem eigenen Geschlechte gelingen. Sie soll ihre dummen Streiche durch Fleiß gut zumachen versuchen, dann gereicht ihre Demütigung nicht allein ihr, sondern auch uns zum Vorteil. Und sein Sie ein Mann, Bäcker; behaupten Sie Ihre Rechte; halten Sie die Nachbarin Klimene gehörig unter der Fuchtel. Und wenn es Ihnen an persönlicher Energie dazu fehlt, wenn Sie befürchten müssen, die vortreffliche Dame könnte Ihnen gelegentlich wieder über den Kopf wachsen ... dann schieben Sie mich vor! Erklären Sie ihr tout bonnement: Der Baron hat in dein Hierbleiben und Wiederauftreten gewilligt nur unter der Bedingung, daß du ›Kusch‹ machst; sowie die geringste Klage gegen dich laut Wird, läßt der Amtmann die Landdragoner satteln, und du wirst aus Kauzburg fortgebracht, an den ersten besten Pferdeschwanz gebunden! – Ich denke, das soll kalmieren!«

»Ich denke auch,« sagte Bäcker und atmete leichter auf.

Er wurde entlassen, nicht minder huldreich, wie kurz vor ihm sein Gegner, der Wirtschaftsdirektor, und ehe er sich empfahl, gab ihm Gottliebe noch die verbindliche Weisung mit auf den Weg: sie hoffe bei nächstens erfolgender Wiederholung der Räuber ihn als Franz zu applaudieren!

Ein Seitenblick auf Ludmilla bestätigte ihr, sie habe das richtige getroffen, und dieser sei es nur um den stattlichen Räuberjüngling, keineswegs um die geniale Auffassung des abscheulichen Bösewichts zu thun.

*   *   *

Es lag im Wesen der von ihren sanguinischen Hoffnungen und eitlen Plänen durch und durch erfüllten Intriguantin, das Eisen zu schmieden, so lange es glühte. Deshalb hielt sie an einer gelegentlich einzuwerfenden zweiten Aufführung der Räuber fest und wußte des Barons immer auflodernden Widerwillen dagegen mit dem sehr wirksamen Vorwande zu beschwichtigen, daß Madame Bäcker, die tief Gedemütigte und in ihrer Gesundheit Angegriffene, ja doch nicht sogleich alle Lücken auszufüllen vermöge, welche ihr (Gottliebens) Rücktritt von der Bühne gerissen, und daß man der Armen möglichst freie Abende gönnen müsse. »Den Räuberabend,« flüsterte sie zärtlich, »bringen wir unter vier Augen zu – und lassen sie in der Manege treiben was sie wollen. Ludmilla kann in Begleitung der Gräfin Krom auf der Galerie erscheinen!«

»Aber du hast ja Vater Bäcker versprochen, seinen Franz mit lautem Beifall zu begrüßen?« wandte der Baron ihr ein. »Soll er dich aus deinem Zimmer bis in die Reitbahn klatschen hören?«

»Zu klatschen wird es genug geben bei unserm dreistündigen Tete-a-tete,« lachte Gottliebe, »doch er braucht's nicht zu hören, und ich werde mich meines Wegbleibens wegen schon bei ihm zu entschuldigen wissen. Vernimmt er, daß ich nur unter dieser Bedingung ihm seinen Franz Moor errang, so ist er augenblicklich versöhnt. Die Rolle liegt ihm zu sehr am Herzen; er ist eifersüchtig auf seinen Sohn.«

»Der alte Narr! Freuen müßte er sich über den Jungen!«

»Das thut er; dennoch ist er eifersüchtig auf ihn. Wäre die Eifersucht nicht immer ein Gemisch von Haß und Liebe, so wäre sie nicht, was sie ist, die rätselhafteste, unergründlichste aller Leidenschaften.«

»Mir ist sie rätselhaft in jeder Art und wird's mir bleiben; ich kenne sie wahrlich nur vom Hörensagen.«

»Ich finde das seltsam genug und eigentlich kränkend für mich; denn auf diese Weise wird es ja nicht einmal gebührend anerkannt, wenn man treu bleibt?«

»Man bleibt auch nicht treu!«

»Wie war das? soll das mir gelten?«

»Weshalb nicht dir, Gottliebe, da es allen Weibern gilt? Der Mann, der ein Verhältnis eingeht wie das unsrige, der ergiebt sich ohnedies auf Gnade und Ungnade. Entweder besitzt er Stolz und Selbstbeherrschung, die ihn zurückhalten von nutzlosen Beobachtungen; er halt es unter seiner Würde, aufzustöbern und zu durchspüren, was ihn verletzen konnte; er nimmt die ihm geleisteten Schwüre gläubig hin, schließt Aug' und Ohr jeglicher Denunziation und begnügt sich mit dem Vergnügen anerkannten Besitzes ... oder er quält sich mit Zweifeln peinlich ab und macht sich lächerlich ... oder endlich er führt einen Bruch herbei und entbehrt, was ihm Freuden schuf. Zwischen diesen drei Eventualitäten bleibt ihm die Wahl. Treffe sie jeder nach seinem Charakter. Ich traf sie nach dem meinigen. Und so lange du mir sagst, daß du mir ausschließlich gehörst, so lange du mich glauben zu machen weißt, daß du mich liebst, so lange will ich glauben und will weiter nichts wissen. Damit du dich überzeugst, dieses sei meine ernstliche Meinung, studiere jene Briefe, welche dort im roten Portefeuille obenan liegen. Ich habe sie nur aufbewahrt, um bei passender Gelegenheit sie dir zu überreichen. Sie klagen dich verdächtigend an. Anonyme Briefe waren mir stets ein Greuel. Kaum hab' ich diese überflogen. Nimm sie an dich! Thue damit, was dir beliebt, doch verschone mich, ihrer noch einmal Erwähnung zu thun. Wir wechseln keine Silbe mehr über ihren Inhalt. Ich gehöre zu denen, die es unter ihrer Würde finden, im Schmutze zu wühlen Der reichsunmittelbare Freiherr zu Tauern-Kauzburg darf nicht an die Möglichkeit denken, daß ein hergelaufener Komödiantenjunge ... Genug davon! Nimm die Briefe und begieb dich damit auf dein Zimmer. Wenn wir uns wiedersehen, wissen wir beide nichts davon!«

Gottliebe gehorchte und ging. Nachdem sie die Blätter durchlesen, wußte sie zweierlei: Erstens, daß nur Ludmilla solche trotz verstellter Handschrift, leicht erkennbare Zeugnisse kindischer Eifersucht geliefert haben könne; zweitens, daß dieser unvorgesehene Zwischenfall sie weiter als je von ihrem Lebensziele zurückzudrängen drohe. Daraus zog sie den kecken Schluß: dieselbe Hand, welche mich stürzen wollte, muß mich erheben! Durch Ludmilla selbst muß ich meine Zwecke erreichen, und wie tief des Freiherrn Kind dabei fällt, bekümmert mich jetzt nicht mehr, weil tückisch und feindselig gegen mich gehandelt worden ist!

Sie gönnte sich eine Stunde zersetzender Überlegung. Oft genug war sie ja in verwickelten Schauspielen thätig gewesen, wo sein angelegte Intriguen, schlau geflochtene Netze ein Opfer umgarnen sollten. Was Leidenschaft, wirkliche Sinn und Besonnenheit umnebelnde Leidenschaft heißt, empfand sie längst nicht mehr für den jungen Schauspieler. Ehrgeiz, Habsucht, selbstsüchtiger Hochmut darf den Leidenschaften nicht beigezählt werden. Diese letzteren sind wilden, feurigen, unbändigen, ursprünglich doch edlen Tieren – jene erstgenannten Regungen dagegen kaltblütigen, schleichenden, vorsichtigen Bestien vergleichbar. Gottliebens Herz, weit entfernt in heißer Glut zu zerschmelzen, wurde ein finsteres Nest, worin giftige Ottern sich ringelnd verschlangen. Sie ging raschen Schrittes im Zimmer auf und ab, jetzt mit düstern Falten auf der schönen Stirn, dann mit bitterem Lächeln, welches den üppigen Mund entstellte. Mitten in ihrem Kreuz- und Querlaufe blieb sie vor dem Spiegel stehen, betrachtete sich aufmerksam und murmelte: so mag dem zu Sinne sein, der sich in den Franz Moor hineindenkt. Dann lachte sie höhnisch. Dann wieder versank sie in Grübeleien. Vielfältige Zweifel am Gelingen stiegen ihr auf. Ein Blick in den Spiegel, der die verführerische Gestalt zeigte, schlug die Zweifel nieder. Endlich raffte sie sich zusammen und zog heftig an der Klingelschnur. Ihr Kammermädchen erschien und erhielt den Befehl, sogleich einen Lakeien zu Herrn Schauspieler Bäcker dem jüngeren abzuschicken, welcher sich augenblicklich bei ihr einzufinden habe! Die Person meinte, sie hätte falsch verstanden. Es war gerade ihr sehr wohl bekannt, daß Gottliebe und Wulf heimliche Zusammenkünfte hielten; aber ins Schloß war der Komödiant niemals berufen worden; er hatte es seit der letzten Vorprobe von Maria Stuart, die kein Geheimnis gewesen, nie mehr betreten. Diese plötzliche Veröffentlichung eines bisher versteckt gehaltenen Einverständnisses erschreckte die Vertraute, und sie fragte blinzelnd: »Jetzt? Hierher?«

»Herr Wulf Bäcker! Hierher! Jetzt!« ... so lautete die gebieterisch erteilte Antwort.

Das Mädchen entfernte sich, niedergeschlagen von der Befürchtung, der Baron sei dahinter gekommen, habe Demoiselle entlassen, diese wolle sich in der Not mit Bäcker Sohn verheiraten oder fürs erste verloben ... und dann bin ich um meinen brillanten Dienst!«

Die gute Lisette. Sie kannte weder ihre Gebieterin noch deren Gebieter. Sie beurteilte jene nach sich und diesen nach dem Büchsenspanner, der zwar ein »Kind von einem Manne, aber alles zu viel schlau war!« Fürs Leben gern hätte sie sich selbst zu Wulf auf die Beine gemacht, um zu sehen, wie die offizielle Botschaft auf den »göttlichen Jungen« wirke. Doch blieb die Furcht vor ihrem Büchsenspanner und dessen Schalusie mächtiger denn die Neugier. Sie entsandte einen Lakaien, dem sie die Order voll feierlichen Ernstes erteilte, was diesen nicht abhielt, verschmitzt zu lächeln und auszurufen: »Herr Gott von Mannheim, das ist stark!«

Fast die nämlichen Worte wiederholte Wulf, nachdem der Lakai ihn verlassen, zwar höchst befremdet und erstaunt, doch durchaus nicht zögernd. Er folgte dem Boten auf dem Fuße. Lisette ließ ihn durch das beiden Damen gemeinschaftliche Vorzimmer ein und zog, als er in Gottliebes Stube stand, sorgfältig die Thür zu. Sie war entschlossen zu horchen, wurde jedoch in dieser edlen Absicht einigermaßen gestört durch Dorchen, welche von Ludmilla herauskam. Dorchen und Lisette hatten sich bald durch Zeichen verständigt und wurden Pantomimisch einig mit vier Ohren zu lauschen, was entschieden günstigeren Erfolg verheißt, als nur mit zweien. Doch diese Anstrengung – denn Horchen ist immer anstrengend für Kammermädchen, weil sie dabei schweigen müssen! – ward ihnen nicht zugemutet. Ihre Absichten waren sich gegenseitig kaum klar, da öffnete sich schon die Pforte und aus derselben erging in sanftesten Tönen die an Dorchen gerichtete Forderung, sie möge der Baronesse gehorsamst die Bitte vortragen, auf einige Minuten Demoiselle Gottlieben die Ehre ihrer Gegenwart zu schenken! Dorchen beeilte sich. Die Thür blieb auf. Lisette konnte Gottliebens Zimmer frei überschauen. Wulf stand mitten darin wie eine »Marmelstatue von Stein« so weiß im Gesicht. Gottliebe fußte auf der Thürschwelle, ließ Ludmillen an sich Vorbeigehen, neigte sich ehrfurchtsvoll spöttisch vor ihr und winkte dann den Zofen, andeutend, daß die Thürflügel nicht geschlossen werden dürften.

Die zwei Mädchen hielten den Atem zurück; sie harrten der Dinge, die da geschehen sollten.

Wulf und Ludmilla starrten sich an wie zwei aus tiefen: Schlafe Aufgeschreckte, von denen keiner begreift, wo der andere her-, wie sie zusammengekommen. Seine Totenblässe ging in Purpurröte über, ihre blühende Rosenfarbe verwandelte sich in bleichet Entsetzen. Demoiselle weidete sich einige Sekunden lang an ihnen. Dann sprach sie laut und ruhig: »Baronesse, ich bin schwer gekränkt; auf Ihre schwesterliche Gesinnung rechnend und von Ihrer Teilnahme für unseres gemeinschaftlichen Schützlings Talent überzeugt, will ich Sie ins Vertrauen ziehen. Denken Sie nur, eine ungenannte und mir unbekannte Feindin hat es gewagt, mit abscheulichen Anklagen mein durchaus künstlerisches Interesse für den jungen Bäcker zu verdächtigen. Ihr Herr Vater, der mich besser kennt, hat die niederträchtigen Briefe mir übergeben. Niederträchtig nenn' ich sie, weil sie ja, indem sie die Reinheit meiner Kunstliebe beflecken wollen, auf jedwede einen Fleck spritzen, welche diese Künstliche teilt, folglich auch auf die Tochter des Hauses! Und das ist nicht zu dulden. Hier nehmen Sie, lesen Sie selbst. Sie werden mir beistimmen, daß es dafür keine Entschuldigung giebt! Es müßte denn einzig die sein, welche in einer Fülle gewaltsam unterdrückter, glühender Leidenschaft liegt, und welche, blind vor ungerechter Eifersucht, jedes Maß überschritt. Ich bat um Ihre Gegenwart, damit Sie Zeugnis ablegen können von der bestimmten Weisung, die ich hiermit Herrn Bäcker dem Sohne erteile: mich zu ignorieren und sich von heute an zu benehmen, als wäre ich gar nicht mehr in Kauzburg anwesend. Das wird um so leichter gelingen, da ich, wie Sie schon vom Frühstück her wissen, die Bretter nicht mehr zu betreten habe. Und so danke ich Ihnen für gütige Erfüllung meiner Bitte.«

Dies gesprochen, verneigte sie sich abermals gegen die Baronesse und fügte zu Wulf gewendet hinzu: »Adieu, Herr Bäcker, und viel Glück!«

Wulf begriff, daß hier eine Komödie aufgeführt wurde; ob ein lyrisches Drama? ob eine kecke Farce? ob gar ein Trauerspiel? darüber gab er sich noch keine Rechenschaft. Daß er bei solcher Ungewißheit mit einer stummen Rolle am besten fahren würde, sah er ein. Er begnügte sich folglich gern mit einem stummen Abgang.

Ludmilla hielt krampfhaft die (ihr allzu bekannten) Blätter. Ihr Herz schlug heftig, sie zitterte. Angst, Groll, Beschämung raubten ihr die Sprache. Sie wollte gehen... die Füße versagten ihr den Dienst.

Gottliebe näherte sich ihr, so daß die Kammermädchen nichts verstanden, zutraulich flüsternd: »Ihr Geheimnis, Baronesse, ist bei mir gut aufgehoben. Sie täuschten sich in Ihren Voraussetzungen, wie ich jetzt bewiesen habe. Ich täusche mich nicht in den meinigen. Von Ihnen allein hängt es ab, zu erproben, ob ich Ihr Vertrauen verdiene. Sie haßten mich, weil ich für Ihres Vaters Freundin gelte. Ich liebe Sie wegen Ihrer kindlich-rührenden Liebe für einen armen Künstler; dadurch stehen Sie mir jetzt näher als sonst. Gebieten Sie über mich! ... Aber nun suchen Sie Ihr Zimmer und in diesem die Fassung, deren Sie bedürfen, um bei Tafel unbefangen zu erscheinen!«

Wie kam es doch, daß des »Freiherrn Kind,« bisher jeglicher, auch der harmlos-wohlwollendsten Ansprache der sogenannten Gesellschafterin unzugänglich, ja widersetzlich, diesem fast wie ein Befehl klingenden guten Rate sogleich die Ausführung folgen ließ? Wie kam es doch, daß Baronesse Ludmilla zu Gottlieben aufsah mit zwei Augen, aus denen nicht Geringschätzung gegen die Maitresse ihres Vaters, in denen vielmehr feurige Ungeduld leuchtete, aus denen die Frage funkelte: Was meinst du mit deinem Vertrauen?

Es war nur ein Blick, doch er fragte viel und sagte noch mehr!

Der Mund sprach nichts, und schweigend begab sich die Jungfrau nach ihrer Stube. Die verdächtigenden Briefe nahm sie zwar mit, doch nur um sie sämtlich im Kamin verbrennen zu lassen. Als Dorchen sich einschlich, hörte sie die Herrin noch klagen: »und hatte mir doch alle Mühe gegeben, meine Schrift zu verstellen!« Dann wurde die Zofe fortgeschickt mit dem freundlicher als gewöhnlich ausgesprochenen Befehle: »Ich möchte ein Stündchen allein und ungestört zubringen, ehe ich Toilette mache! ...«

Gottliebe dagegen ließ Lisetten sonder Aufschub Vorbereitungen für den Anputz treffen. »Mache mich recht hübsch,« lächelte sie der schlauen Person zu. Und während diese ihr die Haare kämmte, salbte, bürstete, abteilte, flocht, sah sie im Spiegel der triumphierenden Schönheit Lippen sich regen und meinte die kaum hingehauchten Worte zu vernehmen: »Ich habe sie! ich halte sie!«

»Ich habe dich auch!« dachte Lisette und schlang die wundervollen Haare fester um ihre Finger.

Wie hat denn aber unserem jungen Freunde die unverschämte Behandlung angeschlagen, womit seine bisherige Gönnerin ihm den Abschied gab? Hat er sich's zu Herzen genommen? Sitzt er vielleicht daheim in Thränen gebadet, wie Jünglinge seines Alters sie leicht und gern vergießen, wenn ihre erste Liebe sie belog? Flucht er etwa gar einer herzlosen Verräterin. Gottliebe genannt, in seinen vier Pfählen, laut, da er es im Schlosse leise nicht wagen durfte? Rauft er die vollen Locken, die sein Haupt schmücken, die sich folgsam jedem Griffe fügen, und wühlt er sich mit zitternden Händen einen Kopf à la Verzweiflung? Nichts dergleichen. Im Gegenteil, er fühlt sich froh und behaglich, daß der schon längst herbeigewünschte Schritt gethan, und daß doch dabei seinerseits nichts geschehen ist, was ihm nur den leisesten Vorwurf der Undankbarkeit zuziehen könnte. Er empfindet nicht einmal jene bei derlei gewaltsamen Trennungen so gewöhnliche Regung menschlicher Schwäche, die uns, was wie eine Last gedrückt hat, schmerzlich vermissen laßt, sobald wir frei sind. Nein, er ist einverstanden mit Gottliebens Frechheit, den verworrenen Knoten auf so energische Weise zu durchschneiden und einem dunklen, unheildrohenden Geheimnisse eine fast öffentliche Lösung zu geben. Er findet auch seine Eitelkeit nicht beleidigt durch den Gedanken, daß sie seiner satt gewesen sei! Warum sollte sie nicht? ... so entschuldigt er; ...war ich es doch ihrer? Schön ist sie; besitzt, was ein Weib schmücken, was einen Mann beglücken kann ... ausgenommen die Hauptsache, den Mittelpunkt der Liebe: ein reines, warmes Herz. Das fehlt ihr, und darum ... sie fahre wohl!

So lautete Wulfs Ausspruch, nachdem er alle Freuden, alle Ängste verflossener, auf den Raub genossener Stunden an sich vorüberziehen lassen, wie er das immer zu thun liebte, von der ersten heimlichen unerwarteten Begegnung hinter den Coulissen bis zur heutigen Haupt- und Staatsaktion bei offener Antichambre.

Sie fahre wohl! wiederholte er und setzte hinzu: sie fahre fort den Baron zu betrügen ohne mich!... da stockte plötzlich der Fluß seines Monologes. Eine warnende Stimme von außen drang die Frage auf ihn ein: wer aber hat jene anonymen Briefe geschrieben? Denen dank' ich meine Freiheit zunächst! Wer ist die unbekannte Helferin? ... Und er sah Ludmilla vor sich. Seine Phantasie schlug neue Wege ein; sie geleitete ihn zurück in den kürzlich vergangenen Herbst, in seine schauderhafte Lehrjungenzeit, in die Seelenmartern, die er damals erduldet, in die Finsternis jenes leeren Daseins, durch nichts erleuchtet als durch zauberhafte, unerklärliche Erscheinungen des Schloßfräuleins auf dem Schauplatze seiner Leiden, seiner geistigen Unterdrückung. Und jetzt begann das tiefere Leben vieler kleiner Züge, Bilder und Eindrücke, die nur in ihm geschlummert hatten, verdrängt und bedeckt von überwältigender Gegenwart, von eitlen Genüssen, die nun, vom Hauche edlerer Erfindungen geweckt, seine Seele erfüllten, ihn über sich erhoben. Sie thaten ihm wohl und weh. Sie thaten ihm weh, weil die Vernunft ihn ermahnte: sei kein Thor! Vergleiche nicht des Barons jungfräuliche Tochter mit seines Vaters Buhlerin! Sie thaten ihm wohl, weil er sich in dem Gedanken tröstete: eben deshalb darf ich sie verehren! Und diese Verehrung, einem reinen Mädchen gewidmet, zieht mich aus der Erniedrigung hervor, der ich durch unwürdige Leidenschaft verfallen war. Wenn ich Ludmilla liebe, so ist keine irdische Absicht oder Hoffnung dabei. Sie ist ein Stern hoch über mir, ein Stern, der mir leuchtet wie das höchste Ziel in meiner Kunst. Unerreichbar werden beide mir bleiben, aber sie leuchten mir doch, sie erhellen meinen Lebenspfad!

*   *   *


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