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Frans Masereel

Dieser Zeit den Spiegel vorhalten? Zu große Ehre! Vitriol in die Fratze dieser Zeit!

Weggeätzt, fortgefegt diese Grimasse eines Zeitalters vom Angesicht der Geschichte.

Dem parasitischen Ungeziefer der Verdiener durch den Krieg, die Revolution, durch Niederbruch, Aufbau, durch aktive Teilnahme und neutrales Zusehn, durch Aussaugen der Sieger und der Besiegten, der ewig Betrogenen des letzten Standes – den bombensicheren Generalstabshöhlen der Aufsichtsräte, Industriekonzerne, Finanzententen – den Bordellen der Meinungsfabriken, in denen behaglich der nächste furchtbarste aller Kriege vorbereitet wird – den Kerkern des freien Gedankens, der selbstlosen Empörung, des reinen Menschheitstraums – Vitriol in die Fratze der schamlosen Hure Welt und Heute und dann einen tiefen Atemzug und auf und davon. –

Der Künstler soll ...

Der Künstler soll gar nichts. Er tut, wozu es ihn treibt. Was dasteht, aus seinem Trieb geboren, erweist Wert und Wesen seines Menschenwerkes, die Tiefe seiner Erdenspur ist bleibender Maßstab seiner Kunst, es gibt keine Tat, die in der Luft schwebte, ein Gebild aus nichts wäre, selbst Fata Morgana ahmt die Stätten dieser Erde nach, dieses Daseins unterm rollenden Sternenzelt.

Sei ein Märtyrer zuende gegangener Zeiten. Strecke die Arme sehnsüchtig aus nach irgend etwas, das nicht wiederkommen wird. Sei der verspätete lächerliche Scharfrichter eines längst geköpften Monstrums. Suche auf abseitigen Wegen verschwundener Kulturbezirke Gesetze von Religionen, die Kanons mythischer Kunst. Oder stelle dich mit schluchzendem Blick auf den Hügel vor das Gewimmel, mit segnender Gebärde oder fluchender Gebärde auf den Hügel, wo dich niemand kreuzigen wird. Stelle dich doch auf den Hügel und schreie aus vollen Lungen, wenn auch wellig aus dem Innern heraus, das Wort Brüderlichkeit in die Runde – aber lebe dann danach, wenn auf der anderen Seite du heil und ungeschoren im Glanz deines Manifests zu deinesgleichen abwärts steigst!

Selbst Dante, Shelley, Poe tauchten in der Wirklichkeit unter, sahen mit wachem Blick unter den Fluten das nackte Ringen der Elemente um sich, selbst Michelangelo, Beethoven suchten die Brandung der Volksleidenschaft auf, wo sie am erregtesten in die Höhe zischte, streiften nicht den hohen Kothurn ab, um eine Zehe vorsichtig in die vorübereilende Welle zu tauchen und den Anschein zu erwecken, als hätten sie knietief im Sumpf der Zeitwirren gewatet. – Es gibt welche, die wollen mit Konstruktionen die Welt aus den Angeln heben und sie auf den richtigen Fleck setzen, Konstruktionen geometrischer Art, oder aus Tönen, oder aus Wortgebilden absonderlicher Art, aus der Absonderlichkeit der Epoche zusammengefügt. Emsig und vergeblich suchen diese den archimedischen Punkt, von dem aus sie dem renitenten Koloß beikommen könnten, aber das verborgene Gesetz entwischt höhnisch ihrer Anstrengung, lahm und mit hängendem Kinn sehen sie sich an.

Oder man stößt auf welche, in denen die Lust darüber: daß es eine Zeit und Figuren und Arabesken und Zustände dieses nie dagewesenen, nie wiederkehrenden, kostbaren Heute gibt, sich überschlägt, und diese jagen an dem Rande der Gesellschaft dahin, johlen und zetern sich heiser, und es gelingt ihnen nicht, die schrille Welt parodistisch noch zu überschrillen.

Es gehören schon ein paar tüchtige breite Füße dazu, in dem apokalyptischen Totentanz dieser Epoche mitteninne sein Gleichgewicht zu bewahren; es gehört ein guter kühler Schädel dazu, der es verhindert, daß das heiße Herz mit den übrigen Gliedmaßen durchbrenne; der Drang, dem unheimlich mächtigen Regen einer aus dem Chaos werdenden Welt nicht dummeraugusthaft, mit läppischen Scheingesten, sondern kräftigem Zupacken an der richtigen Stelle nachzuhelfen, erfordert ein paar harte, unmanikürte Fäuste; und erst wo schöpferische Rebellion und nicht im geringsten wehleidige Gerechtigkeit sich auf natürliche, unproblematische Art die Waage halten, gewinnt eine Tat, ein Werk, ein Mensch dieser Zeit Bestand. Bestand, das heißt: sein umzirkeltes Teil an dem komplizierten Geschehen dieser Periode, die ihre Lebenselemente aus bedachtem Vernichten des Überlebten ebenso wie aus wissenschaftlicher Arbeit an der Utopie herbezieht. In einer so sehr der Mechanisierung unterworfenen Periode der Weltauflösung, wie die es ist, die wir erleiden, gilt der Phantasiemensch mit dem soliden Boden des Möglichen unter den Füßen.

Ein solch erlesenes Individuum kann natürlich, einerlei, aus welcher innersten Berufsbetätigung er auch herstamme, nur der Mensch sein, in dem der Glaube an den sozialen Kampf als einzige Verheißung einer Neuschaffung der Welt alle Fähigkeiten, jegliches Handeln, sämtliche Instinkte bestimmt und lenkt. In dem Haß und Liebe zu dieser Zeitspanne derartig dosiert sind, daß die chemische Zusammensetzung die Explosivkraft des Organismus steigert. Im erlesenen, für den sozialen Kampf, den moralischen Erneuerungswillen der Welt auserlesenen Individuum dieser Art hat sich das die Art Erhaltende sublimiert. Die Tradition jagt strömend nach dem erst in den Umrissen erkannten Besseren durch seine Seele hindurch, so daß er, rätselhaft hingerissen, selber mitreißt. Wenn er auch nicht den Anstoß zur Höherentwicklung gibt, so wird die Entwicklung doch durch ihn getrieben und beschleunigt. Es ist fast gleichgültig, woher er kommt, er wird, auch wenn er seine Zeit noch so leidenschaftlich verneint, ihr Exponent bleiben. Von wo und wann man seine Erscheinung auch betrachten wird, er wird nie anachronistisch wirken durch seine Hingabe an das Zukünftige, weil seine Verbindung mit der Masse und dem, was die Bewegung der Massen bestimmt, nicht aus einer begrenzten Zeit erklärt werden kann.

Die Formel eines solchen, für alle Zeiten wesentlichen Menschen ist: was geschieht, geht ihn zutiefst an. Er nimmt nicht nur teil an dem, was geschieht: ob er es verdammen muß oder nicht, er bekennt sich zu dem, was geschieht: ob er es bekämpfen oder von Mitleid geschüttelt beklagen muß, er ist zu sehr aus dem Stoff der Zeit, des Lebens geschaffen, und wenn es nur das Närrische ist, was ihn an dem Geschehen reizt, er wird nicht die Zähne blecken wie ein zynischer Wolf, sondern lachen, wirklich, aus voller Kehle dazu lachen.

Aber im Guten und Bösen, bei allem wird er sein gutes Messer im Stiefelschaft behalten, es verläßt ihn nicht, und er weiß, wenn er es hervorziehen wird, so wird das nicht allein zur Selbstwehr sein.

 

Einige Künstler lenken heute die Kunst zum politischen Dienst an der Gegenwart hinüber. Sie hören keineswegs auf, Künstler zu sein, so wie sich ihre Kunst nichts vergibt dadurch, daß sie gelegentlich Agitation, Mittelsperson, Zweckbereitung wird. Im Grunde wird die Kunst eines Menschen dieser phantastisch aufgewühlten, heillos widerspruchsvollen Zeit – vorausgesetzt, daß er eben der in der höheren Sphäre seines Daseins lebende Mensch sei, als der der Künstler zu gelten hat – gar nicht anders können, als in einem religiösen Sinne der Zeit, ihren Zielen, der Gesamtheit der Menschen mit voller Kraft zu dienen, bewußt oder unbewußt. Es gibt aber trotzdem nicht viele Künstler dieser Art in der gefährlichen Epoche, die wir gegenwärtig durchleben. Einer der kleinen Schar ist Masereel.

Man müßte sagen, dann und dann geboren, dort und von Eltern dieser Rasse oder jener. Damit wäre wenig getan, weder zur Erklärung des Menschen noch der Zeit, des Landes, noch der Tradition und wie das alles zusammenhängt.

Der religiöse Trieb zur Gesamtheit, aus dem heraus jedes wirkliche Werk geschaffen ist und der Saft der Energie seines Schöpfers quillt, sucht sich auf die Vorstellungswelt seiner Umgebung, auf das Milieu zu verbreiten, in dem die Zufalls-Existenz des Künstlermenschen sich abspielt. Er findet hier die Kronzeugen, die Mithelfer, die zur Verdeutlichung seines Wollens geeignetsten Figuren seiner Vision, und so läßt er selbst sich lokalisieren.

Auf diese Weise hat der Bauernbrueghel die Landsknechte zu seinem betlehemitischen Kindermord ausgesucht; Grünewald nagelt seinen bäurischen Christus ans Kreuz und stellt ihm Marien und Jünger aus der Nachbargasse hin; Meuniers Mater Dolorosa kniet am Schachtausgang einer Borinage-Grube; Charles-Louis Philippe findet die Gestalten seiner Passionsgeschichte in den Zuhälterkneipen von Montparnasse. Sogar Bosch holt sich seine Fabelwesen und Höllenausgeburten aus der Vorstellungswelt seines Dorfkatecheten heraus, und die Phantastik der ins Abstruse überkugelnden Vision Ensors zeigt und enthüllt ganz genau den Untertan des über ein verjesuitertes Belgien regierenden Congo-Leopold, der den Überdruß an der Umwelt mit der Mystik des Kirchenglaubens in sich gesogen hat – an die ihn das Glockenspiel des nahen Belfrieds viermal vierundzwanzigmal am Tage erinnert.

Das soziale Individuum Masereel, den sehenden Menschen, dem's in den Fingern zuckt, darf man sich in einer jener kleinen Verbindungsgassen vorstellen, die in belgischen Seebädern von der vornehmen Digue zum gemeinen Hafenviertel führen. Enge, geräuschvolle Gasse, von Läden, billigen Logierhäusern, mittleren Wirtschaften belebt, in ihr schlägt die Brandung des Amüsements, des Geschäftes, des Müßigganges, des harten körperlichen Robots von beiden Seiten zusammen. Ginge er entschlossen nach links, zu den schweren beladenen Schuftern der Barken, Fischzügen, Teerern und Tonnenwälzern, dem mühseligen Sichschinden am Tage und der stampfenden, Bier und Schiedam vollen Geilheit der bunten Laternen bei Nacht – der Demagog hätte es leicht. Ginge er nach rechts, zu den Flaneuren, Flirtern, dem Flausenvolk der Luxushotels, wo aus dem Erwarten der Börsenkurse und dem Kasinospiel sich Tag und Nacht zum raffinierten Halbdunkel der unbekümmerten Genießerexistenz ineinanderwebt – der Karikaturist hätte es nicht minder leicht. Zwischen Luxus und Robot mischt und verwühlt sich das kleine Gewimmel der übereinander rollenden, ineinander prallenden Klassenschichten, dieser geschäftige, nimmer zur Ruhe kommende Pfuhl, durch den die trivialen Instinkte von rechts und links wie eine rinnende Gosse der niederen Bourgeoisie hindurchlaufen. Gier und Zufriedenheit, Nachahmungstrieb und Anspannung, Trinkgeld, durch das der rechter Hand Genießende den linker Hand Schuftenden korrumpiert, Neid und versteckt geballte Faust, nach dem fertiggemachten Bett des Gemästeten im Grandhotel geschüttelt, mitteninne in der kleinen Gasse des mittleren Pharisäertums steht der breitbeinige Flame, das solide Messer im Stiefelschaft.

Mit den Karikaturisten dieser Epoche hat es seine eigene Bewandtnis. Seht den gefährlichsten, angriffstüchtigsten unter den Lebenden, George Grosz, oder den, den die Dämonie der Zeit noch tiefer gepackt hat und mystisch schüttelt, den Amerikaner Art Young. Sie treiben ihre Groteskenherden peitschenknallend durch die Avenuen der herrschenden Klasse, die Fünfte in Neuyork, den Kurfürstendamm in Berlin – da öffnen sich alle Fenster, in den Fenstern erscheinen die Urbilder, die Urtypen des Angriffs in natura, sie beugen sich lachend, entzückt und Beifall rufend weit über die Brüstung, um besser zusehen zu können, wie die Geißel, die spitze Lanze, der scharfe Bleistift sie selber dort unten vorwärts treibt. Diese Zeit ist in ihrem Kern so burlesk verworfen, über jeden Begriff, daß der Angriff abprallt, die Kraft erlahmt, die Wut sich an der ehernen Selbstsicherheit des Gemeinen zuschanden stößt. Seht die Karikaturisten dieser Zeit – verblüfft bleiben sie stehen, wischen sich mit dem Handrücken den sauren Schweiß ihres ehrlichen Sadismus von der Stirn, während das dankbare Publikum, gerade die, die sie vernichtet wähnten, ihnen aus allen Fenstern zujubelt! Die Zeit verbraucht ihre Waffen, die schweren Geschütze, die leichten, den Lohn, den Geist. Bestand hat nur eines: und das ist, das Leben verflucht ernst, blutig und bitterernst nehmen. Ohne Voreingenommenheit, ohne Staunen, ohne Übermut, ohne Grauen, nicht aus der Verkürzung, nicht von oben, nicht von unten, nicht von der Seite, nicht um die Ecke, sondern voll ins Gesicht dieses Lebens von heute schauen, en face, mitten hinein in die blutvolle, strotzende Visage, in die stahlkalten, unzwinkernden Augen, in das fleischige Raubtiermaul zwischen den festen blaurasierten Backen.

Das Leben dieser Welt so verflucht ernst nehmen wie das eigene Schicksal. Jeder Ernst bewirkt, daß die Menschen aufhorchen. Das Tremolo des Satirikers kitzelt sich ihnen zum einen Ohr hinein, zum anderen hinaus – der bare, nackte Schmerz bleibt sitzen, innen. Der Lachende dort unten mit der Peitsche hinter seinen Grotesken widerlegt ja selber die Gefahr, es ist ja nicht so tragisch gemeint, aber ein einziger wilder Ton des innersten Grimmes, der tiefsten Pein von dort unten ist genug, daß die Fenster rasch zugemacht werden, in den Häusern Stille wird.

Das Schicksal der Massen, der großen, in ihrem Aufschwung wie im Versagen gleich hilflosen, hilfebedürftigen Massen des Volkes als sein eigenes fühlen, auf Leben und Tod, das bestimmt die Wirkung des Künstlers, der den sozialen Kampf kämpft; der in diese Zeit gesetzt, sich von ihr nicht unterkriegen läßt, die Distanz wahrt und doch in allen Manifestationen unlösliche Verbundenheit erkennen läßt.

Es bewahrt ihn vor der verhängnisvollsten Klippe, an der ein großes Künstlergeschick scheitern kann – das nie ins Volk hinein wirken durfte, aus dem es doch stammte, seinen Saft herzog –, diese Klippe ist: das Leid der Gegenwart allzu einseitig, wehleidig, monomanisch auf sich selbst allein zu beziehen. Daran ist die überwältigende Kampfenergie des großen Strindberg, eines durch und durch heutigen Menschen, zerschellt, dieser Motor trieb nicht das Werk der Allgemeinheit. Das heroische Leiden der Masse in seinem kleinen Schicksal mitspüren, nicht sein eigenes Leiden heroisieren und über dem der Masse empfinden! Der kollektiv fühlende, leidende, hoffende Kämpfer, der seine Befreiung nur in dem Sieg der Allgemeinheit begründet findet und erkennt, er ist der so erlesene Künstler, der Genosse, dem der brüderliche Arm gut um die Schultern paßt. Was hat Land und Rasse, Zeit und Partei, was die speziell vorgezeichnete Disziplin der Revolte zu bedeuten. In dem Werk eines Künstlers dieser Kategorie fließt alles zusammen im guten, soliden Allgemeinbegriff Mensch. –

Den Mittelpunkt fast aller Holzschnittfolgen, in denen Masereel sein Leben im Alltag, unter den Heutigen, sein Leben unter vielen darzustellen sich bemüht, bezeichnet dieselbe Figur: ein gesunder, lang aufgeschossener Bauernkerl mit einem sensitiven Kopf, der der derbknochigen Gestalt einigermaßen widerspricht.

Diese Holzschnittfolgen, das sei rasch gesagt, sind von keinem Text unterbrochen oder zusammengehalten, sie haben etwas vom Film, aber mehr noch von der Biblia Pauperum. Man kann sie in jedem Land, vor Menschen aller Sprachen abrollen lassen, sie werden überall verstanden sein; man kann sie in Himmelsgegenden, wo neunzig Prozent der Passanten Analphabeten sind, an die Mauern kleben – ich spreche gleich davon –, und man kann sie auf Büttenpapier gedruckt als Angebinde auf Boudoirtischen hinterlassen – ich komme darauf nicht mehr zurück –, kurz, sie bewähren sich an manchem Ort: das ist auch ein Witz dieser außergewöhnlichen Kunst.

Der lange Bursche geht in einer Attitüde, als hätte er immer die Hände in den Hosentaschen, nein, er geht nicht, er stapft durch alle wechselvollen großen und kleinen, bedeutsamen und selbstverständlichen Zufälle der täglichen Existenz des Volkes, durch den Durchschnitt der Klassen sozusagen, eben jene kleine Gasse zwischen den Extremen, aber hier sind ja alle Sublimitäten und Wunderlichkeiten, Verbrechen und Gnade, Torheit und verschlagener Sinn zu Hause. Angeregt und angezogen, enttäuscht und abgestoßen sieht er sich Schritt für Schritt das Leben an, nie wie ein verträumter Esel, sondern immer recht wach und zum Mittun aufgelegt, freudig oder frech, milde gestimmt und doch mit dem Messer im Stiefelschaft, stets parat das gute geschliffene Messer. Wo er dem Drill und Zwang der sogenannten Gesellschaftsordnung nachgeht, hat man eher das Gefühl: da ist einer in das Räderwerk hineingeraten, als: daß er mit heimlichem Ehrgeiz sich hineingeschmuggelt hätte, um den Feind in seinem Schlupfwinkel zu belauern. Darum kriegt er selten Abstraktionen zu fassen, es sind auch noch in dem verstaubtesten Aktenwinkel lebendige Menschen, nur kläglich lächerliche Marionetten der Gefühls- und Gedankenträgheit, eher durch Mitverstrickung, innere Leere und hereditäre Dummheit schuldig, wenn sie auch in putzig pathetischer Gebärde den Anschein wecken möchten, sie seien es, die lenkten, nicht Geschobene.

... Die Biblia Pauperum nicht zu vergessen! Ich sah Bilderbogen ähnlicher Technik, wie sie in Masereels Büchern zusammengefaltet und geheftet vorliegen, der ganzen Höhe und Breite nach an den Wänden Moskaus, Petersburgs, Kasans und der Wolgastädte bis hinunter kleben, witzige Plakate, sie predigten mit geringstem Aufwand von Pathos oder Anklage oder Aufreizung dem großen, unerzogenen, leidenden und seiner Befreiung nach unvollkommen bewußten Volk: Ausdauer, Notwendigkeit der fortgesetzten Anstrengung, Beharren und Sichbewähren in allen möglichen Lebenslagen, Schicksalsfällen, Kampf und wieder Kampf um das hohe Ziel.

... Es ist kein Zufall, daß in Rußland von allen ausländischen Graphikern nächst George Grosz Masereel allgemeine Popularität genießt – neben dem kannibalischen Propagandisten der romantische Rufer im Streite der Massen. (Vorerst sind es wohl noch überwiegend seine im Kriege entstandenen Anklageblätter, aber auch schon solche aus dem »Stundenbuch«, auf die sich diese Volkstümlichkeit stützt; ein Beweis dafür, daß das Element der volkstümlichen Romantik im Leben der breiten Massen seinen agitatorischen Wert nicht verleugnet, auch nicht an dem Orte der härtesten, erbittertsten sozialen Machtentfaltung!) ...

Das Element der Romantik ... was hätte es in dieser Zeit der Gestaltung großer, im Grunde nüchtern ökonomischer Dinge und Neuproportionierungen zu schaffen? Nun, es spricht für Masereel, daß er niemals in die jetzt übliche romantischtuende Verherrlichung des Fabrikbetriebs noch der Romantisierung des Landwirtschaftswesens verfällt, die meist sich als captatio benevolentiae gegenüber dem revolutionären Manne der physischen Arbeitsleistung erweisen. Im Gegenteil, in verschiedenen Blättern sehen wir den langen Bauernkerl, sein sensitives Gesicht in unverhohlenem Entsetzen verzerrt, von den Stätten der splitternden Eisengüsse und surrenden Transmissionen Reißaus nehmen, und wo Bäume, Schafe und Ährenfelder um ihn zu sehen sind, sinkt er nicht in Anbetung vor einer Heugabel oder Erntemaschine in die Knie, sondern sein Trieb zur Romantik offenbart sich als seliger Wunsch, faul sein zu dürfen, dahinzuleben wie ein Stern, eine Eidechse, ein Kind, eine Sonnenblume, in der Gottverbundenheit paradiesischer Kreatur vor dem Sündenfall, vor dem Schweißausbruch des täglichen Broterwerbs.

Man könnte nun auch diese Frage stellen: was in Himmels Namen solche Weltanschauung mit diesem wildwüsten Heute, dem drängenden Stand unserer Emporentwicklung zu schaffen habe, dieser Not, in die wir Heutigen gestellt sind, die uns auferlegt ist, Sinn und Zweck unseres gefährlichen Daseins? Was soll dann noch das scharfe Messer im Stiefelschaft, wenn es weiter nichts bezweckt, als ein Instrument zu sein, um Löcher aus einer Weidenrute zur idyllischen Flöte zu schneiden?

Wie weit darf sich der Künstler, sofern er sozialer Kämpfer, ein Mensch unter diesen Heutigen ist, wie weit darf er sich in seinem Werk von der notwendig vorgezeichneten Linie des Kampfes um aktuelle Ziele, mit aktuellen Mitteln, gegen unmittelbar sich aufreckende Gegenkräfte entfernen? Darauf ist dasselbe zu sagen, was einmal schon gesagt worden ist: der Künstler darf alles, wie er nichts soll. (Doch: eines soll er, nämlich sich widersprechen.) Im Körper, im organischen Gefüge der menschlichen Gesellschaft, in den Zusammenhängen des sozialen und ökonomischen Baues der heutigen Gemeinschaft stellt dieses unverläßliche Ingrediens, dieses schwer organisierbare Agens ein Element vor, und als solches ist sein Tun innerhalb der gegebenen Notwendigkeiten nicht begrenzt zu werten. Der Künstler ist als sozialer Kämpfer der Vorwegnehmer der vollendeten Entwicklung. Ihm sind auf diesem Wege, den die Menschheit etappenweise zurücklegen wird, alle bereits durchlaufenen und noch bevorstehenden Stationen und Stadien lediglich der Vernunft nach bewußt – falls er sich der Mühe unterzogen hat, sich soziologisch zu bilden. Sein Gefühl aber – sein Gefühl ist schon weit voraus. Er lebt in der unbegrenzten Utopie des Dermaleinst – und weil der Bürger seinen Begriff von der Utopie: Geld und Ansehen, Behagen und Die-Kinder-sollen-es-besser-haben schon bei Lebzeiten, das heißt innerhalb der erlaubten Verhältnisse zu erreichen hofft und gelegentlich auch erreicht – läßt er es den Ausreißer in die Zukunft entgelten, was das heißt: sich entziehen wollen! In nichts anderem hat der soziale Kampf, den der Künstler in seinem Heute ausficht, seine Ursache und Bedeutung.

Er ist zu sehr zukünftig, viel zu reich und ungebunden bei allem Zusammenhang mit der Allgemeinheit, zu voll des transzendentalen Überschwangs, als daß er es vermöchte, sich bei der Disziplin zum Vorwärtsgelangen in die allernächste Etappe zu bescheiden. Die Revolution, Lokomotive der Weltgeschichte, begeistert ihn, weil sie dem Speed seiner Seele näherkommt als die Evolution der mit kleinen Gewichten krämerisch kompromisselnden Feilscher um das Recht. All die Kräfte seines ungestümen Begehrens, seiner Liebe, seines Hasses, seiner Revolte, seines Kampfesmuts spitzen sich zu einem Pfeil, mit dem er die Sonne zu erreichen hofft, einen Stern, eine glimmende neue Welt irgendwo unter den Planeten – dabei weiß er gut genug und hat es erfahren, was es mit der Muskelkraft des Bogenspanners und der Schwerkraft des irdischen Wollens auf sich habe!

 

Ich liebe sehr eine der kleinen Holzschnittfolgen Masereels, die »Die Sonne« betitelt ist, in der auf vielen Blättern dies zentrifugale Immeraufwärts der aus Fernen unbekannt herstammenden Menschenseele naivlustig und ohne Wehmut vorgeführt ist. Dieses schöne Buch ist das echte Produkt eines romantischen Realisten. Wir sehen da, wie der Holzschneider Frans Masereel beim offenen Fenster, durch das die Sonne hereinscheint, über seinen Holzstöcken eingenickt ist und aus seinem Kopf, den die Sonne heiß bebrütet, wie aus einem Ei, ein kleiner Astralmasereel hervorkriecht, um alsbald, unter Zuhilfenahme aller möglichen, auch der am wenigsten geeigneten Beförderungsmittel der modernen Technik, aber auch der weniger zugänglichen Vehikel beflügelter Sonnensehnsucht, immer wieder hinaufzufliegen, zum glühenden Mutterschoß. Aeroplane, Kinderdrachen, Kirmesschaukeln und Kranichzüge, sogar aufgespannte Sonnenschirme halten zum hohen Flug her – aber auch glutausstrahlende Kruzifixe, irrsinnig sich drehende Leuchttürme, Elmfeuer auf schwankenden Masten, ja die in der Aura ihrer konzentrierten Sinnlichkeit einherwandelnden Unterröcke der Matrosendirnen, die Schnapsbottel und die Bücher der Gelehrsamkeit, die sprühenden Brandfackeln, in Garben aus dem Mund gläubiger Streikapostel aufsteigend, haben die Sonne, führend zur Sonne, sind Ziel und Flügel zum lebenbringenden Element! (Es kann aber auch weiter nichts sein als eine Kerbe in dem Holzstock, schräg von unten nach oben geschnitten – kaum zu glauben, mit welcher Leichtigkeit ein Holzschneider auf einem Lichtstrahl reitet!) Immer aber, systematisch, plumpst der kleine astrale Gernegroß am Ende schmerzhaft auf die Erde nieder, was ja das unausbleibliche Ergebnis solcher Exkursionen sein muß. In diesen rasch durchblätterten Bildern ist, neben dem anmutigen Grundgedanken, auch das Symbol des künstlerischen Schaffens überhaupt gegeben. Denn so entsteht jedes Kunstwerk, ja jedes Menschenwerk, mehr, jeder soziale Aufschwung nimmt irgendwie den typisch selben Verlauf: ins Ungewisse springt der Wille zum Fenster hinaus, hinauf, woher die Anziehung kommt, und bald darauf müssen die irdischen Knochen mit Sorgfalt unten vom Pflaster aufgelesen werden, damit der Sonnensohn, das himmlisch-irdische Geschöpf beim nächsten Elan wieder springen und plumpsen könne.

 

Nach der Jahreszahl zu urteilen, um die er in Genf an der »Feuille« auftauchte, muß Masereel noch recht jung sein. (Im Grunde ist es ein Unfug, wenn man über junge Künstler, die noch am Anfang ihrer Entwicklung stehen, schon Monographien schreibt; und es ist schon alles Mögliche, wenn alte Leute sich hinsetzen, um solches zu vollbringen, wie es hier geschieht!) Den Künstler beschäftigen naturgemäß in der Hauptsache die Erlebnisse der Jugend. Wenn der Tod in seinen Blättern vorkommt, so ist das ein höchst seltsamer Macchabäer, der als Skelett den Tanz mit dem zu rasch verlassenen Erdball erst recht aufnimmt. Masereel beschäftigen die Energien der Jugend, die Anziehungs- und Abstoßkräfte der zentralen Leidenschaften der Jugend, und die Komplex- und Verdrängungstheorien der Psychoanalytiker haben in seinen durchaus gesunden und unkomplizierten priapischen Erfahrungen nichts zu suchen. Eher schon die soziologische Pointe, wenn zum Beispiel der lang aufgeschossene Bursche mit dem Bauerngestell einem zierlich verbildeten Bourgeoisfräulein begegnet, wobei die Anziehungskraft des Elementes sich auf horizontalem Niveau, vielleicht sogar etwas darunter, abspielt. In der kleinen »Geschichte ohne Worte« ist sehr anmutig der Maskeradentanz des vergeblich werbenden Männchens rund um das seiner Instinkte nicht sichere Weibchen geschildert, mit allen Hilfsmitteln der Zivilisation, der ganzen Narrengarderobe der Verführung wickelt sich das ab, Bizeps, Melancholie, Geld, Mitleiderregen, Gleichgültigkeit, Berserkerei, alles wird abgewandelt, bis dann das unvermeidliche Herunterplumpsen eintritt, aber ein für allemal und definitiv, wenn der Pfeil sein Zentrum erreicht hat und Wille, Phantasie, Illusion wie ein leerer Balg in sich zusammenfällt, ein Balg, aus dem die Puste entwichen ist.

 

Wie die Ujlenspiegels, so waren Masereels Jugendjahre vom Trommelschlag des Krieges durchschüttert. Er hat in diesen Jahren eine gute Schule durchgemacht und in der Genfer Zeitung eine gute wütende Art von Journalistik getrieben. Der Kontakt mit der internationalistisch-pazifistischen Menschheit in der neutralen Schweiz hat ihn nicht mit der bürgerlichen Hypokrisie angesteckt, die den Krieg allein aus nationalistischen Ursachen erklären will. In diesem Sinne hat er seine Knochen in Genf nicht vergeblich in Sicherheit vor den Granaten spazierengeführt. Wenn ihm seither das Messer aus dem Stiefelschaft fährt, geschieht das nicht beim Anblick von Epauletten, sondern vielleicht eher, wenn er einen rauchenden Schlot sieht. Er scheint gewillt zu sein, den Krieg weiterzuführen, erst recht den guten Krieg weiterzuführen, dort, wo er seit Friedensschluß scheinbar aufgehört hat oder vertagt worden ist. Nicht allzu viele von denen, die in der Schweiz waren, haben das getan, tun es jetzt. Der Weg vom Pazifisten zum Revolutionär verpflichtet zur Revision des ganzen Denk- und Gefühlssystems des bürgerlichen Menschenfreundes, und gar mancher, der vor 1918 das Wort Brüderlichkeit am lautesten erschallen ließ, bewies bald darauf dadurch, daß er auf halbem Wege kehrtmachte, wie hoch sein Pazifismus im Grund einzuschätzen gewesen ist.

Immerhin gehen mir jene Blätter näher zu Gemüt, in denen der derb-sensitive Bursche, einen Kopf höher als seine Umgebung, sichtbar bleibt, wie im »Stundenbuch«, als jene, in denen er hinter dem Moralisten verschwindet, wie in der rührend gesehenen Geschichte des unehelich geborenen Jungen, der zum Aufrührer werden muß, oder dem von seinem Verführer schnöd verlassenen Mädchen aus dem Volk, das ins Wasser geht, während der Verführer sich eine Zigarre anzündet. Diesen Themen scheint die Technik des Bilderbogens nach heutigem Empfinden zu primitiv – eine zart angedeutete Kopfwendung, eine bedeutungsvoll verteilte Fläche aus Schwarz und Weiß vermag die psychologische Wirkung kaum zu erreichen, die die Sprache, das erschütternde Argot des großen Charles-Louis Philippe, Masereels nahem Nachbarn im engen Quartier heutiger europäischer Menschlichkeit, so leicht und ohne beabsichtigte Nuance hervorruft.

Ich empfinde den Rebellen gut und rein genug, in der Spannweite zwischen dem grimmigen Spaßmacher, der den Marktweibern ihre Körbe umwirft, und dem sanften Franziskus, der an der Straßenecke die Sperlinge füttert, das Droschkenrößlein umarmt. Selbst wenn er auf Phantasiewegen sich in die ungekannten Regionen der wilden Völker verirrt, in Afrika einem armen gepeinigten Negerweiblein den Peiniger mit Fußtritten davonjagt, mit Negerkindern herumtollt, im Urwald seinen lieben Brüdern, den Affen, guten Tag sagt, in all den à vau-l'eau hingeblätterten Erlebnissen des Stundenbuches, Produkten der Einbildung, erschöpft sich mir diese sympathische Natur direkter und bleibt mein Vergnügen an dieser geraden Menschlichkeit unvermischt.

Zuletzt gelingt es Masereel, aus dem Aufrufhaften seiner im Kriege geschaffenen Arbeiten, den populären und die Sprache der Massen anstrebenden kurzen Bilderfolgen, die ich eben erwähnte, »faits divers«, Zeitungsnotizen oder Lokalereignissen, seinen Weg ins Monumentale zu bahnen. Es gelingt ihm damit, die Gefahrenzone des Totentanzes zu verlassen, diesen primitivsten Ausdruck, zugleich aber höchste Form des Bilderbogens, der auf die Dauer Betrachtungsfeld und Format einengt. Die Gefahr des Totentanzes ist besonders dort gegeben, wo der Intellekt des Künstlers aufs Erlebnishafte, das Literarische gerichtet ist, seine Haltung den Stoffen des Lebens gegenüber bestimmt. Der weit ausstrebende menschheitsgerechte Drang vermag sich im Engen leichter zu verlaufen, zu verirren als in der freien Komposition. Diese Emanzipation vom Bilderbogen muß keine Abkehr vom Volkstümlichen bedeuten, im Gegenteil, sie mag den Künstler reicher und wärmer dahin zurücklenken, woher er kommt. Ein Über-die-Stränge-Hauen ins Gebiet des Grotesken bekommt ihm dafür weniger gut.

 

Hier ist des öfteren von einem Messer gesprochen worden, dem Messer im Stiefelschaft, und damit war das gute scharfe Werkzeug des Holzschneiders gemeint, das sich, wie der Pulsschlag aus dem Herzen es befiehlt, leichter oder tiefer in den gefügigen Klotz versenkt. Es ist ein solides Messer, und der es bedient, verfügt über mehr als eine sichere Hand und ein tüchtiges Herz. Dieses Werkzeug, ein Skalpell, zugleich eine Waffe, gutes Selbstverteidigungsmittel im Kampf mit der Zeit ums Dasein, fordert Entschlossenheit, Kühnheit und vor allem Genauigkeit der Vision, die kein Tasten noch Gefackel zuläßt. Es ist ein zweischneidiges Werkzeug und kehrt sich unerbittlich gegen den, der es nur zaghaft zu führen versteht.

Licht und Dunkelheit, Zartheit und Wut, Anmut und Tollheit, Sonnenstäubchen und Erdenkot flirren und kleben um die Schärfe der Klinge, die die wechselnden Erlebnisse aus der Welt der Erscheinungen herauslockt. Eiter, Blut, Sperma, flüssiges Gold und Funken von Blitz und Wetterleuchten stieben aus dem Holz hervor, wenn die Hand mit dem Messer sich tief, wie in das Fleisch dieser verwesenden Gesellschaft preßt. Gewähr der Wirklichkeit, schwebend und sanft erheben sich die Nuancen zur Plastik, zum Farbigen, in der sonst so spröden Technik des Schwarzen und Weißen: aus dem ausgesparten Raum entsteht Luft und Perspektive, Horizont und Unendlichkeit. Eine gute Rauferei, Messerstich, offen und heimtückisch versetzt, endet den Gedankenaustausch zwischen dem, was werden will, und dem, was beharren möchte.

Die Meisterschaft des Handwerks hat sich bei Masereel früh eingestellt, gleichsam zugleich mit dem Bewußtsein des Rechten. Deutlicher und entschiedener als im Krieg konnte das ja gar nicht geschehen. Im Krieg stand die Moral der bürgerlichen Gesellschaft fertig und festgezeichnet da, unappellierbar und ohne Entschuldigung – man brauchte ja bloß die Augen offenzubehalten angesichts dessen, was man vor sich hatte und zu sehen bekam. Täglich stach der junge Künstler nach dem Götzen, das bewirkte die zunehmende Sicherheit seiner Hand, und damit begann seine Karriere.

Jetzt, da das Götzenbild in seiner Kontur etwas vage geworden und in die Breite gegangen ist, heißt es: den Instinkt schärfen und die Gedanken beisammen behalten, um es zu vermeiden, daß die Faust danebenhaue und die Luft treffe. Der gerade, sparsame, direkte und wirkende Arbeiter Masereel kann leicht der Versuchung unterliegen, daß er sich beschwatzen, zu Dingen und Stilarten verleiten läßt, die in der Richtung zwar seiner geistigen Absicht, aber weitab von seiner unkomplizierten, im Menschendienstlichen ruhenden Sphäre liegen. Bei jungen Künstlern, die aus Überschwang anfangen, nichts Ungewohntes: aber sicherlich irritiert es einen mehr, als wo man als Ursprung der Unsicherheit ein Zuwenig des vitalen Könnertums erkennt. Ich sage ganz einfach, daß mir die Seitensprünge ins lediglich Groteske den Genuß am Werk Masereels stören und daß die schwankend hingestellten Stricheleien bei diesen Erzeugnissen seiner auf abwegigen Mäandern oder ins rein Literaturhafte verlaufenden Sackgassen verirrten Phantasie beweisen, wie wenig er sich hier zu Haus fühlt. Schließlich stößt dann der Instinkt sich bald einen Weg zurück und läßt ihn auf der unterbrochenen Bahn seines klaren Wesens vorwärts gehen, das ihn zum Großen und den einfachen Linien einer zentralen Sendung berechtigt.

 

In der gegenwärtigen Periode der Revolutionierung aller Begriffe, der politischen, moralischen, der ästhetischen nicht zuletzt, erhebt sich allbereits, vorerst nur einigen wenigen sichtbar, der Umriß einer neuen Kunstschöpfung. Einer neuen Verbundenheit der Kunstschöpfung mit den für den Genuß nicht genügend vorbereiteten, unerzogenen Massen. Ein Stil des Lebens, der Wirklichkeit, an dem in gleicher Weise der Künstler und der, für den der Künstler wirkt, teil hat; eine Wechselwirkung, gegenseitige Befruchtung, Einheit.

Einer der großen, schöpferischen Ideen der Russen, ein von genialer Intuition zeugender Begriff: die Proletarische Kultur, lebt bereits in einigen wenigen, über die zivilisierte Welt verstreuten Künstlermenschen, Kämpfern für eine Erneuerung der Kultur auf verbreiterter Grundlage.

Es sind ihrer nicht gar viele, wie gesagt, und seltsam ist es, daß gerade Rußland, die Wiege der Idee, keinen überragenden hervorgebracht hat. Ein vollendetes Spezimen dieser Zukunftsgilde scheint mit unter den Schriftstellern Upton Sinclair zu sein, unter den bildenden Künstlern Masereel. In diesen beiden Namen heben sich auf jeden Fall die zahlreichen Mißverständnisse auf, die sich um die viel verlästerte Klangverbindung »Proletkult« in der kurzen Zeit, seit sie auftauchte, ja zeitweilig schon in Vergessenheit geraten ist, gebildet haben.

Diese neue Kunst stammt aus erster Hand, und diese Hand ist die des Arbeiters, Bauern, Soldaten, die Tuns gewohnte Hand des primitiven Volkes, die sich auch ballen kann, und zwar hart. Manche von den aus dem Bürgertum herkommenden Künstlerarbeitern der Gilde haben an den Brüsten des Pazifismus gesogen, bis ihnen die Weisheitszähne gewachsen sind. Jetzt stehen sie unter Waffen.

Es sind reine und sozusagen geweihte Waffen, denn dieser Zeit, die sich in epileptischen Todeszuckungen windet, wird nicht durch Stinkbomben allein der Garaus gemacht werden.

Immerhin verpflichtet die geringe Zahl die, die im ernsten Kampf um die Gestaltung der zukünftigen Kulturform stehen, zu einer gewissen, nicht pathetisch aufzufassenden Heiligung ihres Werkes. Ihr Widerstand gegen die giftig niedrigen Strömungen, die den Sinn des Begriffes: sozialer Kampf fälschen und schwächen, wird sicherlich ein Korrektiv in den Kampf der Klassen bringen. Denn das ist eine der schmerzhaften, gefährlichen Aufgaben des Künstlers, dieses sich in die Klassen nicht einfügenden, an dem Entstehen der klassenlosen Gesellschaft innig beteiligten Individuums: den Kampf so zu gestalten, daß der Sieg der überwältigenden Mehrheit des zutiefst gehaltenen und gedrückten Standes, den von der Kultur am wenigsten berührten, enterbten Massen gesichert sei – daß aber in diesem Kataklysmus der Klassenwelt Das nicht mit untergehe, woran der Künstler allein glaubt, wovon er allein lebt und ohne das jede Gesellschaft ein lebloses Gebilde sein muß, Ding ohne Gnade, ohne Gott.

Ich war in der Niederschrift dieser Sätze bis hierher gelangt, als die Post mir einige köstliche Photographien brachte, die Masereel von einer neuen Seite zeigten, als Bildhauer. Diese Nachzügler kamen gerade recht, wie auf ein Stichwort.

Es ist nichts Verwunderliches dabei, wenn das Helle und der Schatten einen Graphiker vom flachen Holz zum Dreidimensionalen führt: Daumier, Käthe Kollwitz haben plastisch gearbeitet, um nur die Namen zu nennen, die mir gleich einfallen. Was mir aber Masereels Skulpturen, die ich nur im Lichtbild kenne, wertvoll und kostbar erscheinen läßt, ist dies: sie zeigen in der Beeinflussung des Künstlers durch Gauguin, durch die Kunst: und Skulptur der Archipelvölker (und nicht durch die Gotik, was vielleicht näherläge!) die Heimat im Paradies, im lustvollen Beisammensein von Mensch und Natur, im Klima der Urreligionen, in der Kindlichkeit der Erde, der unbeschwerten Primitivität des Geschöpfes.

Aus dieser reinlichen Quelle fließt der Glaube aller wahren Empörer gegen das Falsche, Widrige, Tödliche unserer Scheinkultur; die Urvision des revolutionären Menschen ist das Paradies.

Im allgemeinen halte ich nicht viel von der Flucht in die Kunstübungen der »Wilden«; sie hat ihre Ursache in Übersättigung und Apathie, in einer des Esseintes'schen Pose und steht eher am Ablauf einer Zivilisationsepoche als vor dem Aufstieg zu einer noch unbekannten, erst geahnten. In diesem Falle aber verhält es sich, wie ich sagte: die Photographien bestätigen, was ich mir über Masereel gedacht habe.

In ihm ist der Funke lebendig, der in dem Tahitipilger, in Verlaine und van Gogh, in Charles-Louis Philippe und in dem rührend drolligen alten »Douanier« geglommen hat, mit wechselnder Stärke und Leuchtkraft. Er begreift darum so gut die Heiligkeit der niederen Vorgänge im beladenen Alltag, wie der unverdorbene Proletarier, er hat das zart-ernste Vergnügen der erstaunten Kinderaugen, die zum erstenmal die noch unbegriffenen Dinge der Welt vor sich aufgehen sehen, und sein Zorn über das Unwahre, Aufgeblasene entlädt sich in urmenschhafter Unbekümmertheit – in einem Strahl von vorn, einem Wind von hinten.

Da er kollektiv fühlt und die Welt nicht ausschließlich auf sich bezieht, ist sein Humor bei allem elementaren Grimm versöhnlich, und seine Satire hinterläßt keinen üblen Nachgeschmack. Kräftig wirbelt seine Welt durcheinander: hier sitzt er mit den Kindern der Armen im Guignol, und hier spielt er ihnen selber Guignol vor. Aber die Musterungskommission: ist sie nicht auch Guignol, wie der hochweise Staat? Er hält sich den Bauch vor soviel Ernst und Wichtigkeit. In den Stätten der armen Frohheit wird er vergnügt, in denen der gehobenen benimmt er sich aber so, daß die Leute entsetzt zusammenlaufen. – Ein Grubenarbeiter zieht ein reines Hemd an. Was ist daran? Eine uneheliche Mutter empfängt im weißen Hospital ihr Kind aus den Händen des freundlich bebrillten Oberarztes. Was ist daran? Ein armer Dichter sieht an der Straßenecke Magdalena auf und nieder wandeln, hat aber nur zwei Sous in der Tasche. Ein Metalldreher liest, den Briefumschlag mit dem Wochenlohn in der Hand, den Maueranschlag, der ihn zur Betriebsversammlung ruft. All diese Vorgänge könnten Themen Masereels werden, und sie würden uns Erlebnisse bedeuten, wie es einer Schar Kinder Erlebnis ist, wenn sie plötzlich am Straßenrand, vor der Prozession, die hochheilig mit Monstranz, Baldachin, Kerzenglanz und Weihrauch dahergeplärrt kommt, einen langen Bauernkerl unerwartet Purzelbaum schlagen sieht, wo er doch ein Kreuz schlagen sollte! Kräftig jagt die Welt des Künstlers Himmel, Hölle und Erde durcheinander, und er weiß, daß die Begriffe nicht lange standhalten vor dem Willen dessen, der sich befreit hat, der sie umstellt, dorthin, wohin Gewissen, Vernunft, Schöpferlaune sie haben will und sie infolgedessen hingehören. Humor gehört dazu, ein bißchen unverwässerte Gläubigkeit, Mitfühlen mit dem Wesentlichen und sonst nichts weiter als Holz und Messer.

 

Etwas muß ich korrigieren: der Ursprung des Bilderbogens ist nicht der Totentanz, sondern seine Anfänge stecken in den Heiligenlegenden auf den Tafeln der Trecentisten, der Quattrocentisten. Da sehen wir oft das Leben eines Heiligen auf geringem Raum von der Geburt bis zur Apotheose wie ein Band sich abrollen. Das Ereignis, das die Heiligkeit des Heiligen begründet hat, ist meistens im Mittelpunkt der Tafel oder am chronologischen Ende dargestellt: eine Begegnung, eine Offenbarung, ein Opfer oder eine Heilung, ein Tod. Und in primitiver Vernachlässigung des Perspektivischen der Weg mit Häusern, Felsen, Tieren, Bäumen, Figuren, mit Dem, der später der Heilige wird. Das sublime Gesetz der Komposition.

Im Mittelpunkt des Kunstschaffens dieser gegenwärtigen Epoche steht solch etwas Heiliges, will mir scheinen. Vielleicht werden wir noch bei Lebzeiten, vielleicht wird erst der posthume Betrachter der Zeit inne werden, wohin die Wege der Kunst heute, gestern und morgen führen.

Bei einigen heutigen Künstlern, ich sagte schon, ihrer sind nicht gar viele, ist die zentrale Idee, Leidenschaft, Heiligkeit: das ungeheure Geschehen der sozialen Umwandlung, das Kommen der Gerechtigkeit, dessen Zeugen wir sind. Die Krise, der Kampf um die Befreiung. Aber in den Entwicklungsphasen der heutigen Kunst gibt es wirre Wege, um wieviel mehr noch im Entwicklungskampf eines jungen Künstlers. Nichts mißlicher, als den Propheten spielen wollen. Aber Masereel hat schon, so jung er auch ist, so kurz die Zeit, die ihn aus dem Krieg in das Licht der Öffentlichkeit hat auftauchen sehen, Gültiges geschaffen. Sein Werk, das Werk eines in den Anfangsstadien der Entwicklung befindlichen Künstlers, das hier so frühzeitig in seiner notwendig fragmentarischen Gesamtheit gezeigt, auf das hingewiesen ist, hat mit dem zentralen Geschehen dieser Zeit das Gemeinsame, daß es das Heraufkommen einer neuen Menschheitsepoche begleitet, verkündet und verheißt. –


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